Wie gewaltig kommt der Fluß daher - Gudrun Pausewang - E-Book

Wie gewaltig kommt der Fluß daher E-Book

Gudrun Pausewang

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Beschreibung

Das alte Trichtergrammophon quäkt wie immer, als der Raddampfer «Patria» nach einer Sechs-Tage-Reise auf dem südamerikanischen Urwaldfluß in den Zielhafen einläuft. Doch neun Menschen haben auf dieser Höllenfahrt ihr Leben verloren. Die blutigen Auseinandersetzungen zwischen den reichen Viehzüchtern und den rechtlosen Tagelöhnern bringen Aufruhr über das ganze Land. «Es ist schon ein Witz», sagt der Schiffskoch, «daß Unterdeck und Oberdeck immer in dieselbe Richtung fahren müssen.»

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Seitenzahl: 420

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Gudrun Pausewang

Wie gewaltig kommt der Fluß daher

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Über dieses Buch

Das alte Trichtergrammophon quäkt wie immer, als der Raddampfer «Patria» nach einer Sechs-Tage-Reise auf dem südamerikanischen Urwaldfluß in den Zielhafen einläuft. Doch neun Menschen haben auf dieser Höllenfahrt ihr Leben verloren. Die blutigen Auseinandersetzungen zwischen den reichen Viehzüchtern und den rechtlosen Tagelöhnern bringen Aufruhr über das ganze Land. «Es ist schon ein Witz», sagt der Schiffskoch, «daß Unterdeck und Oberdeck immer in dieselbe Richtung fahren müssen.»

«Gudrun Pausewang ist eine Erzählerin von gewaltigem Format.» (Österreichischer Rundfunk)

Über Gudrun Pausewang

Gudrun Pausewang, geboren am 3. März 1928 in Wichstadt/Ostböhmen, war von 1956 bis 1963 als Lehrerin an deutschen Schulen in Chile und Venezuela tätig. Von 1968 bis 1972 arbeitete sie als Lehrerin in Kolumbien, ab 1973 an einer Grundschule in Süddeutschland. Eindrücke ihrer Aufenthalte in Lateinamerika spiegeln sich nicht nur in ihrem Buch «Südamerika aus erster Hand», sondern auch in ihren Romanen und Erzählungen wider: «Rio Amargo», «Der Weg nach Tongay», «Guadalupe», «Die Entführung der Doña Agata» und «Karneval und Karfreitag».

Inhaltsübersicht

Die Geschehnisse auf ...1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel

Die Geschehnisse auf der PATRIA zwischen dem sechzehnten und zweiundzwanzigsten Januar des Jahres neunzehnhundertsechsundsechzig, in deren Verlauf neun Menschen ums Leben kamen, lösten Unruhen im gesamten Tiefland aus und griffen auch auf das Hochland über, wo sie bekanntlich fast die Regierung zum Sturz brachten.

1

Eigentlich sollte die PATRIA schon am vierzehnten Januar von Santa Elena abgefahren sein, aber noch am sechzehnten Januar lag sie ein Stück außerhalb der Stadt, flußaufwärts, und lud Vieh: ein hölzerner Raddampfer, dessen Jungfernfahrt in der frühen Kindheit der ältesten noch lebenden Bürger Santa Elenas stattgefunden hatte – ein überaus schwerfälliges Monstrum, und doch für einen Raddampfer so lächerlich klein, daß einmal ein Nordamerikaner, der seine Jugend an den Ufern des Mississippi verbracht hatte, bei seinem Anblick in Gelächter ausgebrochen war.

Die PATRIA fuhr, soweit der Wasserstand des Rio Pardo es erlaubte, etwa zweimal im Monat zwischen den beiden fast gleich großen Städtchen Santa Elena und Boca Grande hin und her. Innerhalb der Landesgrenzen waren diese zwei Orte die größten Ansiedlungen an den Ufern des Flusses, der sich träge durch die Urwälder des Tieflands schlängelt, bevor er, sich dem großen Amazonas nähernd, in den Rio Andrade mündet.

Flußabwärts dauerte eine Fahrt drei, flußaufwärts vier Tage. Das gewaltige Heckrad beherrschte die PATRIA: bemoost, algenbehangen, von Muscheln und Schnecken behaftet, bewegt von der Dampfkraft aus dem Kessel, der sich auf dem Unterdeck hinter der Kombüse befand. Dieser Kessel wurde mit Holz geheizt. Das Schiff mußte mindestens dreimal am Tag an bestimmten Uferstellen anlegen, wo indianische Holzfäller Holzkloben zu stapeln pflegten, die sie dann, jedesmal unter zähem Feilschen, an die PATRIA verkauften. Neben dem Kessel wurden die Kloben aufgeschichtet. Umschichtig waren vier Heizer damit beschäftigt, den Kessel Tag und Nacht unter Feuer zu halten: Indios alle vier, angeblich Brüder – zähe, struppige, schmutzige Kerle, armselig bezahlt.

Vor dem Kessel, bugwärts, lagen Wand an Wand die halbdunkle Kombüse und die Kammer, in der die Reissäcke und das Trockenfleisch aufbewahrt wurden. Darüber, auf dem Oberdeck, klebte die nach vorn ausgebuchtete Brücke, die so winzig war, daß sich Kapitän und Zahlmeister gegenseitig behinderten, wenn sie sich zufällig darin trafen. An ihrer Rückfront, über den Kesselanlagen, hatte der Kapitän seine Kajüte. Sie wurde fast ganz ausgefüllt von einem riesigen Schreibtisch, über dem in vergoldetem Rahmen ein mit Fliegendreck besprenkeltes Bild des Staatspräsidenten in Galauniform hing. Nachts schlief der Kapitän in einer liebevoll bequasteten Hängematte, die, an mächtigen Haken befestigt, diagonal über dem Schreibtisch schaukelte.

Das Steuerrad befand sich vor der Brücke im Freien, weithin sichtbar, unter dem vorgezogenen Sonnendach.

Das Oberdeck war für die Passagiere der Ersten Klasse reserviert. In seinem Heck lagen zweimal je vier Kabinen, alle acht ausgerüstet mit einem Spind, einem Wandklapptisch, einem Spucknapf, Kleider- und Hängemattenhaken sowie einem übergroßen Spiegel. Die Hängematten mußten die Passagiere selbst stellen. Die Kabinen waren sehr schmal, aber so lang und hoch, daß drei Hängematten übereinander bequem anzubringen waren. Hinter den Kabinen gab es zwei Waschräume und zwei nach Geschlechtern getrennte Aborte.

Diese Aborte hingen rechts und links vom Schaufelrad. Sie waren unter der Sitzfläche offen: Was fiel, versank im Fluß. Somit erledigte sich die schwierige Frage der Wasserspülung von selbst. Allerdings konnte es bei ungünstiger Windrichtung geschehen, daß die Passagiere der Dritten Klasse im schadhaften Unterdeck-Abort trotz eines Schutzdachs aus Blech von oben benäßt oder beschmutzt wurden. Aber bei freundlicher Witterung verlief alles reibungslos, und stets folgte dem Dampfer unter dem Schweif grauen Qualms ein Schwarm von Fischen, die alles, was die PATRIA abwarf, gierig verschlangen.

Für die Besatzung gab es keine Kajüten. Sie schlief, wo sich gerade Platz fand. Tagsüber zogen sich jene, die nachts Dienst getan hatten, gern in die Trockenfleischkammer zurück. Dort störte sie niemand außer dem Koch. Oder sie krochen in den Stauraum hinab und schliefen zwischen der Fracht. Meistens aber, besonders nachts, knüpften sie ihre Hängematten vor Kombüse und Trockenfleischkammer an die hölzernen Säulen, die das Oberdeck trugen, und genossen, sanft über der Reling schaukelnd, die frische Brise.

Die PATRIA transportierte alles nur mögliche: Waren, Vieh und Passagiere. Die Waren wurden größtenteils im flachen Schiffsrumpf verstaut, in dem es von Ratten wimmelte. Auf dem Unterdeck hinter den Kesselanlagen drängten sich die Passagiere Dritter Klasse und das Vieh zusammen, gleichgültig, wieviel Vieh geladen wurde, denn das Vieh brachte mehr ein und hatte deshalb Vorrang.

In dunkelblauen Buchstaben prangte auf dem schmutzigweißen Bug der Name des Schiffes: PATRIA. Unter diesen Buchstaben konnte man noch deutlich den früheren Namen erkennen: LA GAVIOTA. Hätte man ihn weggekratzt, so wäre ein noch älterer Name zum Vorschein gekommen: VALENCIA. Aber nur die allerältesten Leute konnten sich erinnern, daß das Schiff bei seiner Jungfernfahrt einem Spanier gehört und VALENCIA geheißen hatte.

 

Am Vormittag des sechzehnten Januar lag die PATRIA vor dem Verladecorral von Santa Elena und lud Rinder aus dem Besitz des allmächtigen Arturo Troncoso. Das kam einem Volksfest gleich. Die Buben des Ortes hockten auf den Latten der Spalierzäune, die einen schmalen Gang vom spitz zulaufenden Pferch bis auf die Verladerampe bildeten. Rind um Rind mußte durch dieses Nadelöhr getrieben werden: sechs Zuchtbullen und sechzehn Kühe, die Zierde der Troncososchen Weiden, auserwählt für die landwirtschaftliche Ausstellung in Boca Grande, die als sehenswert galt und sogar viele Landwirte aus Brasilien herüberlockte.

Die Buben johlten und schlugen mit Stöcken und Zweigen auf die störrischen Zebus ein, die überallhin, nur nicht vorwärtsstrebten. Der Lärm hallte bis zum Stadthafen: das verzweifelte Muhen des Viehs, das Kindergeschrei, die Flüche der Viehtreiber hinter der Herde, das Geschnatter der fliegenden Händler und auf der PATRIA die schallenden Gesänge des Zahlmeisters.

Ein paar fliegende Händler hatten für ein paar Stunden den Hafen verlassen und waren mit Karren, Koffern, Bündeln und Bauchläden die kleine Viertelstunde am Flußufer aufwärts gewandert, obwohl es außer der halben Besatzung und den Viehtreibern weit und breit rings um die Verladerampe niemand gab, der ihnen etwas hätte abkaufen können. Aber was tat das schon. Es war unterhaltsam zuzusehen, wie sich die Zebus sträubten. Sie schnaubten und rammten ihre Hörner gegen die Zäune und stemmten sich gegen die anderen, die von hinten nachdrängten. Aber es half nichts: Die Schläge, die auf sie einprasselten, zwangen sie schließlich doch zu dem letzten Sprung auf die Planken des Unterdecks, wo sie sogleich von Lassos gebändigt und eng nebeneinander an die Säulen gekettet wurden.

Ach ja, es war schon ein Fest zuzuschauen, wie auch andere geschlagen, getrieben und gefesselt wurden! Und der Höhepunkt kündigte sich an, als ein starker Bulle am Ende des Ganges mit einer wuchtigen Kopfbewegung den Zaun durchbrach. Eine ganze Reihe Buben, die eng nebeneinander auf der obersten Latte gesessen hatten, purzelten kopfüber herunter. Zwei von ihnen fielen in den Gang und wurden von einem Melonenverkäufer im letzten Augenblick herausgezogen, bevor die nächsten Rinder nachdrängten.

Der Bulle rollte, von seinem eigenen Gewicht und Ungestüm überwältigt, den Hang hinab in das brackige Wasser zwischen Ufer und Schiffsrumpf. Es gelang ihm, schwimmend den offenen Fluß zu erreichen, bevor ihn jemand mit einem Lasso einfangen konnte. Halbnackte Kinder stürzten sich ins Wasser und umschwärmten ihn kreischend. Die Viehtreiber fluchten ihm nach, suchten verstört nach Booten. Die Matrosen johlten und pfiffen, die fliegenden Händler barsten vor Lachen. Der Bulle schwamm dem anderen Ufer zu. Die Kinder mußten von ihm ablassen, wenn sie nicht in die Strömung geraten wollten. Seelenruhig erklomm er die jenseitige Böschung, begann zu grasen und verschwand im Urwald.

Ein paar Viehtreiber setzten ihm, unter spöttisch-ermunternden Zurufen der fliegenden Händler, in einem Boot nach und verschwanden ebenfalls im Schilf und Gestrüpp des jenseitigen Ufers. Sie hatten allen Grund sich zu bemühen, den Bullen wieder einzufangen, denn er war sozusagen Troncosos Herzblatt, und außerdem war Troncoso wegen seiner Wutausbrüche berüchtigt. Erst im vergangenen Herbst hatte er einen seiner Hirten über den Haufen geschossen.

Die übrigen Viehtreiber lagerten sich nun, weiter landeinwärts, zwischen den Zäunen des Corrals. Ein Verbindungsmann blieb am Ufer sitzen mit der Weisung, beim Auftauchen des Bullen und seiner Bändiger Alarm zu schlagen. Aber er ließ sich nach hinten sinken und schlief ein in der Gewißheit, die Rückkehr des Bullen werde genug Lärm auslösen, um ihn zu wecken.

 

Als bis auf den entflohenen Bullen alle Rinder wohlvertäut an Bord waren, gab es auch für die Matrosen vorerst nichts mehr zu tun. Sie zogen sich in ihre Hängematten am Bug des Unterdecks zurück, wo auch schon die Heizer hingen und schnarchten. Die übrigen Besatzungsmitglieder hatten frei und waren in die Stadt gegangen. Der Zahlmeister, der zugleich so etwas wie Erster und einziger Offizier und somit Stellvertreter des Kapitäns war, hörte auf zu singen, übergab das Kommando dem ältesten Matrosen und schlenderte auch in Richtung Hafen davon. Die fliegenden Händler zerstreuten sich, die Kinder warteten noch eine Weile auf den entwichenen Bullen, aber als sich am anderen Ufer nichts rührte, trollten sie sich.

Stille und Schlaf umfingen jetzt die alte PATRIA. Sie lockten den Schiffsjungen auf das leere Oberdeck. Er genoß es, für eine Weile Herr des Bereiches zu sein, der den Passagieren der Ersten Klasse vorbehalten und ihm während der Fahrt nur als Dienender zugänglich war. Langsam, gelassen, mit dem Gang und den Gebärden der Reichen schritt er zwischen Korbsesseln und Tischchen hin und her, verschränkte die Arme auf dem Rücken oder beschattete die Augen mit der flachen Hand und sah nach allen Richtungen in die Landschaft hinaus. Und dann kam der feierlichste Augenblick: Er bediente das Grammophon.

So ein Grammophon gab es nur auf dem Oberdeck. Es hatte einen riesigen, messingfarbenen Trichter. Pablito legte die einzige noch intakte Platte auf, die letzte eines Dutzends. Über mehr Auswahl an Grammophonmusik hatte die PATRIA in ihrer Geschichte nie verfügt. Eine Platte war vor mehr als zweiundzwanzig Jahren bei einem Wirbelsturm über Bord gegangen, zwei andere waren im Verlauf einer Rauferei zertreten worden, eine vierte hatte Troncosos Vater am Kopf eines Stewards zertrümmert. Der Rest war entweder gestohlen oder bis zur Unkenntlichkeit abgenutzt worden. Nun war also nur noch eine einzige Platte übrig, jene, die Pablito an diesem heißen Nachmittag auflegte, um besser träumen zu können. Ein Tenor schluchzte darauf ein dreistrophiges Liebeslied, dessen Refrain den Schiffsjungen jedesmal von neuem entzückte:

«Königin in Seide,

wie stolz ist doch dein Blick –

laß mich nicht so schmachten,

füll mir mein Herz mit Glück –

Wirf mich nicht mit Rosen,

den dornigen, mein Kind,

wirf mich doch mit Veilchen,

die so viel zarter sind …»

Hingegeben lauschte er der breitgequetschten Musik und sah vor sich die Dame in Seide, die der Tenor besang – ein hellhäutiges, behütetes Wesen, das sicher noch nie in irgendeinen Schmutz getreten war und immer nur Erster Klasse zu reisen pflegte. Aber auch er, Pablito, reiste jetzt Erster Klasse, schlief in einer Kabine und konnte es sich leisten, den oberen Abort zu benutzen! Mehr noch: Er allein hatte das Oberdeck gemietet! Mit dem hochmütig-gelangweilten Gesicht Troncosos blinzelte er auf den schlafenden Viehtreiber hinab. Keiner wagte ihn zu stören, und von den Ufern spähte man respektvoll zu ihm herüber: Don Pablo, der reichste Mann, der König der Provinz!

«Fee im Schleppenkleide,

wie spröde ist dein Wort –

laß mich nicht so leiden,

küß meine Sehnsucht fort –

Wirf mich nicht mit Rosen …»

Die Hitze prallte auf das Sonnendach und ließ die Luft flimmern. Auf dem Unterdeck muhte und scharrte unruhig das Vieh und mistete. Alle Mückenschwärme der Umgebung zogen sich rings um das Schiff zusammen. Den Heizern und Matrosen in den Hängematten konnten sie nichts anhaben, die hatten lederne Häute. Aber Pablito wurde empfindlich gestört. Er war noch verwundbar. Er wedelte mit den Händen und versuchte seine Träume gegen Mücken, Nachmittagshitze und Müdigkeit abzuschirmen. Lässig lehnte er in der Pose des Kapitäns am Steuerrad.

«Engel in Geschmeide,

wie lockt mich doch dein Mund –

höre du mein Flehen:

Mach mir mein Herz gesund!

Wirf mich nicht mit Rosen,

den dornigen, mein Kind,

wirf mich doch –»

«He, Pablito, verdammtes Miststück, stell den Schmachtkasten ab, oder ich mach dich zu Kleinholz!» brüllte einer der Matrosen herauf.

Pablito fuhr zusammen, zog den Kopf ein und stellte hastig das Grammophon ab. Mit einem jämmerlich klagenden Ton verstummte der Tenor mitten in der Beschreibung seiner Liebe.

Jetzt wurde es so still, daß man die Grillen zirpen und die Fische springen hören konnte. Pablito rollte sich im Schatten der Korbsessel wie ein Hund zusammen und schlief ein.

So brütete der alte Dampfer vor sich hin, bis Lärm aus dem Dickicht des jenseitigen Ufers brach. Der Bulle tauchte auf, die Treiber gestikulierten und brüllten herüber. Pablito auf dem Oberdeck hatte einen leichten Schlaf, er weckte den schnarchenden Verbindungsmann am Ufer. Der gab das Gebrüll schlaftrunken weiter, und so wurde es rund um das Schiff wieder lebendig. Aber der Bulle war so störrisch, daß es noch eine gute Stunde dauerte, bis sie ihn durch den Fluß und dann auf die PATRIA gezerrt und gestoßen hatten.

Als er endlich vertäut war, zogen die Viehtreiber erleichtert davon. Gottlob, der Bulle war wieder eingefangen worden, es war noch alles gutgegangen, der Herr würde keinen Anlaß haben, sie zu bestrafen, und sie waren sich einig, nichts von dem Ausbruch des Bullen zu verraten. Darin konnte sich einer auf den anderen verlassen.

Nur der alte Hirte Juan Cayupi blieb bei den Rindern auf dem Schiff. Er sollte den Transport begleiten, das Vieh versorgen und melken. Er spannte seine Hängematte über den Rücken der Rinder auf. Sie konnten, fest angebunden, nicht nach ihm stoßen.

2

Schon seit dem frühen Morgen warteten die Passagiere der Dritten Klasse im Hafen von Santa Elena auf die PATRIA. In Gruppen saßen, standen und kauerten sie auf der breiten Plattform am Ende des Landestegs, schützten sich mit breitrandigen Hüten gegen Licht und Hitze und fächelten sich Kühlung zu – die Frauen in sorgfältig geflickten und frisch gewaschenen Kleidern, die Kinder herausgeputzt, mit Pomade gekämmt und sauber gescheitelt, die Männer mit gewichsten Schuhen, sofern sie nicht Riemensandalen trugen oder barfuß gingen. Koffer, Bündel, Säcke und Schachteln wurden wachsam umkreist, Frauen klemmten pralle Taschen zwischen die Waden, Kinder mußten stundenlang auf Körben sitzen, um Dieben keine Chance zu geben. Denn die fliegenden Händler umschwärmten die Wartenden in der berechtigten Hoffnung, Reisenden sitze das Geld lockerer in den Taschen. Reisen ist ein Ausnahmezustand, wer weiß, was alles auf einen zukommt – was man hat, das hat man, und so eine Sonnenbrille, so eine Brosche, so ein Fächer sieht nach etwas aus! Fliegende Händler waren nicht die Ehrlichsten, eine solche Tugend konnten sie sich gar nicht leisten. Deshalb verschwand im Lauf des Tages allerlei aus dem Gepäck der Wartenden, und es rächte sich, wenn sie vergaßen, wachsam zu sein.

Es war nicht einfach, Abschiedswehmut mit Wachsamkeit zu verbinden, und so achtete der Vater auf das Gepäck, während die Mutter weinen mußte, und waren beide in ihren Sorgen versunken, so paßten die Kinder auf.

Man mußte nicht nur die Händler beobachten, sondern auch die Bettler. Die meisten von ihnen waren noch Kinder. Sie kauerten sich zwischen das Gepäck und lauerten. Die alte Hebamme Arcadia, die allein reiste und in ihrer ganzen Breite mißtrauisch auf ihrem Koffer und der sorgfältig zusammengefalteten Hängematte thronte wie eine Glucke auf ihren Eiern, fiel um die gleiche Zeit, in der beim Corral der Stier ausbrach, einem Trick zum Opfer: Jemand ließ vor ihren Füßen einen goldenen Ring fallen. Niemand schien diesen Vorfall bemerkt zu haben, niemand schien den Ring zu vermissen. Sie beugte sich vor und streckte ihre Hand gierig nach ihm aus. Dabei hob sie ihr Hinterteil von Koffer und Hängematte. Als sie enttäuscht feststellte, daß es sich um einen Gardinenring aus Messing handelte, war die Matte auch schon weg.

Was für ein Gedränge! Ganze Sippen gaben das Geleit. Angehörige seufzten und erhofften Aufschub der Abreise, andere sehnten sie herbei. So eine Reise war ein aufregendes und kostspieliges Abenteuer, dessen Ausgang völlig ungewiß war! Einige liefen heim und bereiteten Essen für die Verwandten im Hafen, andere improvisierten neben der Plattform am Ufer eine Feuerstelle. Gab es kein Treibholz, so gab es rings im Hafen doch genug brennbaren Müll, der einen Suppenkessel erhitzen konnte. Da wurde gekocht und gebraten, Rauchsäulen stiegen rund um die Wartenden auf, Teller und Töpfe wurden im schmutzigen Uferwasser abgespült, Kinder wurden gewaschen, Windeln ausgeschwenkt. Das Reisegeld schmolz zusammen, und dabei hatten sie das Schiff noch gar nicht betreten.

Die Passagiere der Dritten Klasse hatten allen Grund, sich rechtzeitig auf der Plattform einzufinden, denn auf dem Unterdeck gab es keine Platzreservierung. Jeder mußte zusehen, wo und wie er seine Hängematte unterbrachte.

Die Passagiere der Ersten Klasse hatten solche Sorgen nicht. Sie hatten ihre Kabinen reserviert, der Platz war ihnen sicher. Ohne sie fuhr das Schiff nicht ab. Also konnten sie in Ruhe zu Hause oder im Hotel abwarten. Dann und wann schickten sie einen Hausknecht oder ein Dienstmädchen zum Hafen, um den neuesten Stand der Dinge zu erfahren.

 

Zwei Tage später als ursprünglich angekündigt war die PATRIA von Boca Grande heraufgekommen, also hatte sich auch das Abfahrtsdatum um zwei Tage verschoben, und jetzt verging der dritte Tag Stunde um Stunde, ohne daß sie erschien. Gerüchte liefen um: Der Kapitän sei noch in der Stadt und habe sich eben zu einem Besuch in die Villa Quintana begeben. Nein, er zeche seit vier Stunden im STERN VON RIO und sei bereits in einer solchen Verfassung, daß ihm eine Abreise am heutigen Tage unmöglich sei.

Kurz darauf erschien er selbst für einen Augenblick am Hafen, augenscheinlich nur leicht betrunken und zur Erleichterung aller noch Herr seiner Sinne: ein dickbäuchiger, aufgeschwemmter Mann mit der kaffeefarbenen Haut seiner Mestizenmutter und dem braunen Haar seines kroatischen Vaters, der sich vor einem halben Jahrhundert auf der Suche nach einer Existenz in diesen abgelegenen Teil des Landes verirrt hatte und hier auch umgekommen war – erschlagen von Goldwäschern in einem unergiebigen Flußlauf. Unter den Einwohnern von Santa Elena fiel der Kapitän auf, einmal durch seine goldbraunen Augen. Als Kapitän der PATRIA hatte er es zu bescheidenem Ansehen gebracht, weshalb er stets die Gesellschaft der Vornehmsten beider Städte suchte. Dabei wußte jeder Bürger von Santa Elena und Boca Grande, daß er von seinem Brotherrn Arturo Troncoso abhängig war, dem Besitzer des Schiffes.

Immerhin: Der Kapitän war ein halber Europäer, das galt etwas, außerdem hatte er das Schiff schon geführt, als es noch LA GAVIOTA geheißen hatte, und das war fast zwanzig Jahre her. Im ganzen Tiefland kannte man ihn. Er wiederum kannte alle Leute im Tiefland, die es sich leisten konnten, Erster Klasse zu fahren.

Jetzt wandelte er selbstbewußt, die Hände auf dem Rücken, über den Landesteg auf die Plattform, nahm es als selbstverständlich hin, daß die Wartenden respektvoll für ihn eine Gasse bildeten, scheuchte Kinder mit grimmigem Blick aus seinem Weg und ließ sich devot grüßen, ohne zurückzugrüßen. Mit armen Leuten verkehrte er nicht, und die Passagiere der Dritten Klasse existierten für ihn nur als Einnahmequelle.

Vor dem Wagen des reichen Viehzüchters und Bierbrauers Simon Sálazar aus Boca Grande, der Arturo Troncoso an Macht und Besitz gleichkam, neigte er sich beflissen, erhielt aber nur einen zerstreuten Gegengruß. Den drei Geschäftsleuten, die Fracht für Boca Grande neben dem Steg aufgestapelt hatten, schüttelte er die Hände und wechselte ein paar Worte mit ihnen.

«Was die Fracht betrifft», sagte er, «wenden Sie sich an meinen Zahlmeister, wie immer.»

Dann verschwand er wieder, ohne daß jemand der Wartenden gewagt hätte, ihn um Auskunft über die Abfahrtszeit des Schiffes zu bitten.

Kurz darauf entstand ein neues Gerücht: Die PATRIA liege manövrierunfähig am Corral, der Kessel sei geplatzt. Da aber niemand dieses Gerücht bestätigte, wagten die Passagiere nicht, den Hafen zu verlassen. Ein fliegender Händler, der mit seinem Bauchladen voller Sonnenbrillen, Jojos und billiger Ohrringe vom Corral heimkehrte, zeigte sich erstaunt, denn ihm war nichts von einem geplatzten Kessel bekannt, wohl aber von einem entwichenen Bullen.

Schließlich vermutete jemand, der Kapitän, ein Junggeselle, habe noch vor, dem Bordell einen Besuch abzustatten. Daraus entstand das Gerücht, er sei im Bordell verunglückt. Aber etwa eine Stunde vor Sonnenuntergang berichteten ein paar Buben, daß er eben zum Corral hinausfahre, begleitet vom Zahlmeister, und daß Leute von der Besatzung zu Fuß zum Schiff unterwegs seien.

Unter den Passagieren wuchs die Hoffnung. Und wirklich, kurz vor Sonnenuntergang verdichteten sich die Gerüchte, das Schiff lege vom Corral ab. Alle starrten erwartungsvoll flußaufwärts, wo die letzte Sonne des Tages die Pfahlhütten am diesseitigen Ufer rot einrahmte und das hochgetürmte Dickicht jenseits feurig aufglühen ließ. Das Wasser glitzerte golden, man mußte die Augen schließen und blinzeln. Mit Rufen der Erleichterung und Freude wurde der heisere Ton der Schiffssirene begrüßt, der aus geringer Entfernung herüberwehte.

Dann tauchte das Monstrum endlich aus der Röte, hielt auf die Plattform zu, die storchbeinig auf muschelverkrusteten Pfählen aus dem Wasser ragte, und legte an. Sanft stieß es gegen die stoßdämpfenden alten Gummireifen. Zwei Matrosen sprangen vom Schiff und vertäuten die PATRIA.

Der Fluß stand hoch. Er brachte das Unterdeck fast auf die Höhe der Plattform. Auf dem Oberdeck schimmerte eine Lampe, unten war nur die Kesselanlage fahl erleuchtet. Schwere kuhmistverklebte Mahagoniplanken wurden als Gangway vom Unterdeck schräg herüber auf die Plattform geschoben.

Ein wildes Gedränge entstand. Die Passagiere und ihre Angehörigen, mit Gepäck beladen, schoben sich lärmend auf die Planken zu. Aber der Zahlmeister, der mit einer Liste erschien, scheuchte die Vordersten wieder zurück. Ein Matrose half ihm.

«Wer unbedingt von der Planke kippen will», rief er, «darf sich vordrängen!»

Die Passagiere lachten.

Wer ihn kannte, mochte ihn gut leiden. Auch die Besatzung schätzte ihn, denn im Gegensatz zum Kapitän war er zugänglich und rechnete sich selber dem Unterdeck zu. Als Schiffsjunge hatte er auf der PATRIA angefangen. Er kannte jeden Handgriff, der auf dem Schiff zu tun war, und jede Windung des Flusses.

Der Kapitän kümmerte sich unterwegs selten um die Führung des Schiffes. Er plauderte, spielte und trank mit den Passagieren der Ersten Klasse, kurz: Er repräsentierte. Die PATRIA überließ er dem Zahlmeister, der ohne Besitz und ein reiner Indio war. Er unterhielt keine freundschaftlichen Beziehungen zu ihm und zahlte ihm ein nur sehr bescheidenes Gehalt.

«Man muß sich seine Leute ziehen, wie man sie braucht, und muß sie vor allem kleinhalten», war die Devise des Kapitäns. Die des Zahlmeisters aber war: «Es ist sinnlos, gegen Herren aufzumucken, denn sie sitzen am längeren Hebel.»

Der Zahlmeister Rufino Retamal war klein und drahtig und zwanzig Jahre jünger als der Kapitän. Zwischen seiner dichten schwarzen Mähne und den hervorspringenden Backenknochen kniff er seine Lider zusammen und rollte seine dunklen Pupillen darunter aufmerksam hin und her. Es entging ihm nichts.

«Er gleicht einer schnurrenden Wildkatze», hatte einmal eine Dame gesagt, die auf dem Oberdeck gereist war.

Er hatte eine Frau in Santa Elena, die ihm drei Jungen geboren hatte, obwohl sie nicht mit ihm verheiratet war. Auch in Boca Grande besaß er eine Lebensgefährtin. Die hatte zwar erst zwei Töchter zustande gebracht, war aber der Nebenbuhlerin im Bett weit überlegen. Die beiden Frauen wußten voneinander und hatten sich miteinander abgefunden, schickten sich sogar Kinderkleidung zu, aus denen die Großen herausgewachsen waren.

«Bei mir daheim herrscht Frieden», pflegte der Zahlmeister zu sagen.

Ob er nun nach Santa Elena oder Boca Grande unterwegs war – er fuhr immer nach Hause.

 

«Mögen die Herrschaften die Güte haben, ihre Passagen vorzuweisen!» rief er.

Ein Passagier nach dem anderen zwängte sich an ihm vorüber, beladen und bepackt, und hastete an den Kesselanlagen und den Rindern vorbei zu dem spärlichen noch freien Raum auf dem Unterdeck, um dort in aller Eile seine Hängematte zwischen den Innen- und Außenstützbalken aufzuspannen. Niemand konnte es sich leisten, den Angehörigen auf der Plattform zuzuwinken. Drei Tage sollte die Reise dauern. Wer jetzt keinen Platz für die Hängematte ergattern konnte, mußte drei Nächte auf dem bloßen Fußboden und womöglich noch auf dem Mittelgang zwischen den Rindern schlafen!

Eigentlich war das Unterdeck von den Behörden auf vierzig Passagiere limitiert worden. Aber wer hielt sich schon an solche Bestimmungen? Vierzig Passagiere – wo wäre dabei der Gewinn geblieben? Schließlich ging es in der Dritten Klasse um besitzloses Volk, das daheim doch auch zusammengepfercht in den Hütten hauste. Es war keinen Komfort gewöhnt. Es war auch nicht gewöhnt, Ansprüche zu stellen. Es wünschte nur, von einem Ort zum anderen transportiert zu werden, und dieser Wunsch wurde ihm erfüllt. Noch nie war irgendeine Instanz auf den Gedanken gekommen, die Anzahl der Passagiere auf der PATRIA zu kontrollieren. Arturo Troncoso, der Schiffseigner, hätte sich eine solche Kontrolle auch energisch verbeten. Er hatte seine Agentur (die aus einer alleinstehenden Frau mittleren Alters mit Kasse und klappriger Schreibmaschine unter einem Bild des Präsidenten hinter einem Schalterfenster bestand) angewiesen, allen Reisewilligen der Dritten Klasse eine Passage zu verkaufen, wie viele es auch sein mochten.

Diesmal waren es zweiundachtzig Passagiere Dritter Klasse: neunundzwanzig Männer, einundzwanzig Frauen und zweiunddreißig Kinder – eine Rekordzahl innerhalb der letzten zwei Jahre. Bei den meisten Fahrten waren kaum über siebzig Personen zusammengekommen. Dagegen hatten sich für die Erste Klasse nur zwölf Passagiere angemeldet: sieben Herren, vier Damen und ein Kind. Während der letzten Fahrt von Boca Grande herauf hatte die PATRIA fünfzehn Passagiere auf dem Oberdeck beherbergt.

Die geringe Anzahl wurde aber wettgemacht durch den gesellschaftlichen Rang einiger Reisender: Nicht nur der reiche Simon Sálazar geruhte samt Gattin und Tochter die PATRIA mit seiner Anwesenheit zu beehren, sondern sogar der Schiffseigner selber, Arturo Troncoso – die beiden reichsten und mächtigsten Männer an den Ufern des Rio Pardo!

Der Kapitän war entzückt. Auch die übrigen Passagiere der Ersten Klasse waren nicht zu verachten: der pensionierte Oberst und Stadtrat von Boca Grande Leopold Arrieta mit seinem Sohn Nicanor; der Geschäftsmann Cristóbal Barriga mit Gattin und siebenjähriger Tochter; die Arztwitwe Laura de Molina, die, ebenso wie die Sálazars, ein Dienstmädchen in der Dritten Klasse mitreisen ließ.

Dazu kamen zwei Ausländer, beide Nordamerikaner: ein Tourist und ein Missionar. Dem Kapitän war nur der Missionar bekannt. Er arbeitete oberhalb von Boca Grande in irgendeiner weltabgeschiedenen Indianergegend und kehrte nun von seinem Heimaturlaub in den Staaten zurück. Wenn diese beiden Ausländer auch keine Bürger von Santa Elena oder Boca Grande waren, so betrachtete sie der Kapitän doch als Zierde der Ersten Klasse, denn sie gehörten einer der mächtigsten Nationen der Welt an. Ihnen konnte kein Haar gekrümmt werden, ohne daß daraus die schwierigsten politischen Verwicklungen entstanden.

O ja, der Kapitän sah dieser Fahrt zufrieden entgegen. Sie würde nicht langweilig werden. Man konnte allerlei von der großen weiten Welt erfahren und zugleich die gesellschaftlichen Beziehungen zu den einheimischen Mächtigen pflegen.

Er überflog auch die Liste der Dritten Klasse: lauter unbekannte, unbedeutende, einflußlose Leute: Landarbeiter, Dienstboten, Krämer, Gelegenheitsarbeiter, Häusler, kleine Handwerker und dergleichen. Nur ein männlicher Passagier fiel aus dem Rahmen, ein gewisser Orlando Vargas, Sohn der Haushälterin des alten Apothekers Adolfo Sálas, ehemaliger Schüler eines Priesterseminars in der Hauptstadt, aber wegen Aufsässigkeit und Ungehorsam kurz vor der Priesterweihe unrühmlich ausgestoßen und nun schlechtbezahlter Lehrer in einer staatlichen Schule in Boca Grande.

Der Kapitän wunderte sich: Auf der Herfahrt war Vargas in der Ersten Klasse gefahren, Ende November, zu Beginn der großen Ferien. War er inzwischen so auf den Hund gekommen, daß er sich eine Rückpassage Erster Klasse nicht mehr leisten konnte? Hatte der Mann keine Ehre im Leib? Wenn er auch über keinen Besitz verfügte, so doch wenigstens über Bildung – wie konnte er sich so erniedrigen, zwischen Vieh und Indios zu reisen? Er hatte ihn als einen schweigsamen jungen Mann mit untadeligen Umgangsformen in Erinnerung, an dem ihm nur manchmal ein ironisches Lächeln aufgefallen war, und freilich auch die Gitarre.

Er nahm sich vor, mit ihm zu reden.

Prächtig gelaunt trat er aus der Brücke und beugte sich über die Reling. Er hatte sich fein herausgeputzt. Zum Empfang der Passagiere pflegte er seine Galauniform anzulegen: ein Phantasiegebilde aus Weiß und Gold. Jetzt war der richtige Augenblick gekommen, sich zu zeigen, denn die halbe Stadt strömte auf dem Hafenplatz zusammen, der zugleich auch Marktplatz war. Ringsum aus den Fenstern spähten Neugierige auf den spärlich beleuchteten Landesteg. Abfahrt und Ankunft der PATRIA waren große Ereignisse in der Eintönigkeit des Tieflandalltags. Noch Tage danach unterhielt man sich in den Frisiersalons, Kneipen und Cafés angeregt über Garderobe und Reisezweck der Passagiere Erster Klasse.

 

Die Passagiere der Dritten Klasse waren inzwischen alle auf dem Unterdeck versammelt. Aufgeregt drängten sie sich gegenseitig hin und her auf der Suche nach einem Platz für ihre Hängematten und ihr Gepäck. Verstört kauerten Scharen von Kindern auf Stapeln von Schachteln und Pappkoffern. Für die meisten von ihnen gab es keine Hängematten. Sie würden die Nächte auf Säcken und Koffern verbringen müssen. Auch manche der Frauen hatten keine Aussicht, ihre Hängematte noch irgendwo aufhängen zu können. Nur die Männer hingen schon fast alle in ihren Matten. Sie besaßen Kraft genug, sich durchzusetzen.

Am Heck, vor dem Abort, war kaum durchzukommen. Jedesmal wenn jemand den Abtritt benutzen wollte, mußte er sich mühsam einen Weg durch die auf dem Boden Kauernden und das Gepäck bahnen und erntete wüste Flüche. So war es kein Wunder, daß die Männer und Buben einfach über die Reling pinkelten. Trotzdem bildete sich vor dem Abort eine Schlange. Zwei Frauen gerieten in Streit, wer von beiden ihn zuerst benützen dürfe, und ohrfeigten sich gegenseitig.

Die Rinder warfen sich hin und her, soweit es ihre Ketten erlaubten, stießen mit den Hörnern um sich und brüllten. Durch das Gewühl und den Lärm gerieten sie in Panik. Säuglinge schrien, Kinder kreischten, Zurufe schwirrten hin und her. Von der Plattform herüber riefen Verwandte und Freunde und winkten, aber die Passagiere konnten es sich nicht leisten, an die Reling zu treten, um ihnen zu antworten. Verließen sie ihren mühsam erkämpften Platz, so besetzte ihn sofort ein anderer, und außerdem hingen auch schon Hängematten über der Reling. Nur den Pinkelnden wurde für einen Augenblick Platz gemacht. Dies war eine Notwendigkeit, der man kein Argument entgegensetzen konnte.

«Bis hier unten reicht Gott nicht hin, sonst würde er schon für Ordnung und Gerechtigkeit sorgen», sagte ein junges, hochschwangeres Dienstmädchen, das mit einem Haufen Gepäck hilflos zwischen den Rinderhintern stand und vor Müdigkeit fast umfiel.

3

Inzwischen wurden die Planken vom Unterdeck abgezogen und auf das Oberdeck geschoben. Wieder lagen sie schräg, aber diesmal aufwärts zum Schiff. Zu beiden Seiten wurden in aller Eile Stricke in Ellbogenhöhe gespannt, um den Passagieren der Ersten Klasse mehr Sicherheit zu bieten – eine Art Geländer, vor allem für die Damen gedacht.

Die Angehörigen der Dritte-Klasse-Passagiere, die noch auf der Plattform ausharrten, formierten sich respektvoll zu einer Gasse, durch die die Passagiere der Ersten Klasse geleitet wurden. Schiffsjunge und Steward waren eifrig um sie bemüht, führten die Damen über die Planken, schleppten Gepäck, drängten Händler, Bettler und Gaffer zurück.

Zuerst betrat der amerikanische Missionar, Bob Thrope, das Schiff, ein überlanger, hagerer Mann mit farblosem Haar und ledriger Haut. Seine wasserblauen Augen lagen tief in ihren Höhlen, und ebenso auffallend erschienen seine abstehenden Ohren. Seine Gesichtszüge waren die eines verbitterten Idealisten mittleren Alters. Er schleppte zwei gewaltige Reisetaschen, die eine nur mit Büchern theologischen Inhalts gefüllt. Um die Trinkgelder zu sparen, trug er sie selbst. Er kannte die Spielregeln des Tieflands nicht: den Mächtigeren den Vortritt zu lassen. Zu seiner Bestürzung war er während seines Urlaubs mit seiner Heimat, den Staaten, nicht mehr zurechtgekommen. Deshalb konnte er es jetzt kaum erwarten, heimzukehren zu seinen Indios, zu der heilen Welt seiner kleinen Missionsstation.

Nach ihm zog die Familie Sálazar auf dem Oberdeck ein: er in tadellosem weißem Leinenanzug, ein fast unscheinbarer Mann mit dem Gesicht eines Magenkranken und der Gelassenheit der Macht. Seine Frau, Doña Bernarda, unter einer kunstvoll aufgetürmten Frisur füllig und würdevoll und unermüdlich lauernd, ob ihr auch jede Ehre zuteil wurde, die ihrem Namen zustand. Die Tochter Miriam mit weißgepudertem Nacken, nicht mehr ganz schlank, eingehüllt in eine prächtige, sorgsam gepflegte Haarfülle, die sie bei jeder Bewegung zur Geltung zu bringen bemüht war – das einzige Kind des großen Sálazar, ebenso selbstbewußt wie gelangweilt.

Ein Hausknecht trug ihnen das Gepäck nach. Das Dienstmädchen folgte den Herrschaften hinauf auf das Oberdeck, um die beiden Kabinen einzurichten.

Nach den Sálazars erschien Arturo Troncoso. Ihm gehörten außer dem Schiff vier riesige Haciendas in der Umgebung von Santa Elena.

«Ein nobler Mann», pflegte der Bischof zu sagen, wenn von Troncoso die Rede war. «In welches Elend gerieten die Allerärmsten unseres Tieflands, wenn seine großzügigen Spenden nicht wären? Er ist unserer Kirche eine rechte Stütze.»

«Wenn ich so was höre», hatte der alte Apotheker Sálas, als er noch gelebt hatte, die Worte des Bischofs kommentiert, «sehe ich rot: nobel? Die Spenden tun ihm doch nicht weh! Mit denen kauft er sich frei von anderen Verpflichtungen, die ihm weher täten.»

«Aber er ist wirklich großzügig», hatte ihm der junge Orlando darauf geantwortet. «Ich habe gehört, daß er manchen Pächtern ihre Schulden erlassen hat. Und mehrere Burschen hat er auf Bitten ihrer Mütter vom Militärdienst freigekauft –»

«Mag sein», hatte der Apotheker geantwortet, «wenn die Bittsteller sozusagen auf den Knien zu ihm hingerutscht sind. Ich möchte ihn sehen, wenn jemand etwas von ihm fordert!»

«Und heißt es nicht, daß er an jedem Weihnachtsabend sieben Häftlinge aus dem Gefängnis holt?» hatte der junge Orlando weitergefragt.

«Darüber», hatte Sálas geantwortet, «kann ich nur lachen.»

 

Troncoso war ein großer, breitschultriger Mann, neununddreißig Jahre alt und Junggeselle. Gegenüber Leuten, die ihm gesellschaftlich nicht gewachsen waren, verzichtete er auf Manieren. Da es kaum jemand gab, der ihm hier im Tiefland an Macht gleichgekommen wäre, benahm er sich, wie es ihm gerade gefiel.

«Angst müssen sie vor einem haben», pflegte er zu sagen. «Dann kommt man mit ihnen am besten aus.»

Seine enormen Lachsalven erfüllten den Hafenplatz. Er duzte fast alle, auch den alten Oberst, der zusammen mit seinem Sohn nach ihm das Schiff betrat.

Die Arrietas gehörten nicht zu den Reichsten, aber trotzdem zur ersten Garnitur, denn die Frau des Alten, schon seit Jahren tot, war eine entfernte Verwandte Sálazars gewesen. Neben dem Posten eines Stadtrats besaß er noch einige zum Teil recht einträgliche Ämter, die es ratsam sein ließen, sich gut mit ihm zu stellen.

«Musik, Kapitän, Musik!» rief Troncoso. «Und zwar laut, damit man den Lärm von unten nicht hört!»

Er ließ sich in einen Korbsessel fallen. Auf einen Wink des Kapitäns stürzte Pablito zum Grammophon und stellte es auf volle Lautstärke. Aus einer Wolke parfümierter Harmonien erhob der Tenor seine Stimme:

«Königin in Seide,

wie stolz ist doch dein Blick –

laß mich nicht so schmachten,

füll mir mein Herz mit Glück –»

«Doch nicht so laut!» rief der Oberst verstimmt. «Das tötet ja jedes Gespräch!»

Aber niemand wagte das Grammophon leiser zu stellen, und so flehte der Tenor nach dem Refrain weiter:

«Fee im Schleppenkleide,

wie spröde ist dein Wort –

laß mich nicht so leiden,

küß meine Sehnsucht fort –

Wirf mich nicht mit Rosen,

den dornigen, mein Kind –»

«Das ist ja nicht auszuhalten!» rief der Oberst erbost.

«Jaja, ich verstehe», rief Troncoso, «dieses Getöse stiehlt dir die Schau, was? Wo du doch so gern den Salonlöwen spielst, mein Bester, wie?»

Und er schlug dem alten Oberst seine Hand auf die Schulter und lachte schallend, während der Tenor sein Lied vollendete:

«Engel in Geschmeide,

wie lockt mich doch dein Mund –

höre du mein Flehen:

mach mir mein Herz gesund –»

«Spaß beiseite», sagte Troncoso. «Das Grammophon ist für alle da. Wenn die meisten, die da unten auf dem Landungssteg warten, schon nicht genug zu essen haben, so sollen sie wenigstens Musik im Überfluß haben, verstehst du, Leopoldo? Man darf da nicht so kleinlich sein.»

«– wirf mich doch mit Veilchen,

die so viel zarter sind!»

quäkte das Grammophon. Der Oberst antwortete nicht. Er war verstimmt.

 

Die Arztwitwe Laura de Molina war nicht schwindelfrei. Es war schwierig, sie über die Planken zu bringen: eine zierliche alte Dame, Präsidentin eines Wohltätigkeitsvereins, durch ihr langes Witwentum ungewöhnlich selbständig geworden. Sie hatte es nicht nötig, sich einzuschränken, denn ihr gehörten zwei Villen und drei Geschäftshäuser in Boca Grande.

Den Barrigas, die ihr folgten, schenkten die Gaffer weniger Beachtung. Man wußte, daß sie Neureiche waren. Um so ergiebiger, vor allem für die Ärmsten der Stadt, war der letzte Passagier, Gilbert Mushroom, glatzköpfig, an den Unterarmen rötlich behaart auf zart rosafarbener Haut, ein Mann von fünfzig Jahren, jederzeit bereit, freundlich nach allen Seiten zu nicken und zu lächeln. Er trug Sandalen, kurze Hosen und eine Art Safarihut – eine Bekleidung, die die Leute im Tiefland selten zu sehen bekamen.

Mr. Mushroom war froh, Santa Elena verlassen zu können. Er war mit einem kleinen Flugzeug vor drei Tagen angekommen, in der Hoffnung, gleich nach Boca Grande weiterfliegen zu können. Aber in dieser Jahreszeit war die Piste dieser Stadt, eine holperige Wiese zwischen zwei Flüssen, meistens überschwemmt und somit für den Luftverkehr unbrauchbar. Mushroom war also gezwungen worden, in Santa Elena auf die PATRIA zu warten. Er hatte sich im besten Hotel, dem LIDO, niedergelassen, das aus etwa zwanzig um ein Freilichtkino aufgereihten, boxenartigen Gästezimmern bestand. Drei Tage hatte er hier festgesessen ohne Dusche, ohne Wagen, ohne Fernseher, ohne Klimaanlage, gezwungen, die Abende entweder auf einem eisernen Klappstuhl vor der Leinwand zu verbringen, auf der ein nichtssagender Film ablief (immer derselbe, denn das Programm wurde nur jede Woche einmal gewechselt), oder aber in der stickigen Box zu bleiben, in der sich nur ein einziges Möbelstück befand, nämlich ein eisernes Bettgestell unter einem Moskitonetz. Diese Bettgestelle machten das LIDO vornehm. Alle anderen Hotels in Santa Elena (es gab noch drei) boten nur leere Kammern mit Haken für die Hängematten an.

Ja, Mushroom war wirklich sehenswert und vielleicht im Augenblick noch weit interessanter als Troncoso und die Sálazars zusammen. Vor der Brust hing ihm eine Kamera, auf der Hüfte baumelte die Zubehörtasche. Er hatte kein anderes Gepäck bei sich als einen mächtigen Rucksack, zu dem ihm ein Freund, ein alter Globetrotter, geraten hatte und den er zur maßlosen Verblüffung aller Gaffer selber auf dem Rücken trug, obwohl er längst bewiesen hatte, daß er dies nicht aus Geiz tat. Denn ein ganzer Schwarm von Bettlern zog hinter ihm her wie ein Kometenschweif, in der berechtigten Hoffnung, ein fettes Almosen von ihm zu erhalten, das einem zu ein paar Bananen verhalf oder zu einem Stück Fleisch oder einem Teller Reis. Während der paar Tage hatte es sich schnell herumgesprochen, daß dieser merkwürdige sommersprossige Fremde Almosen auszustreuen pflegte an Krüppel, Alte, Kranke und Kinder.

Nun entschwand er, der Wohltäter, für immer – Grund zur Trauer! Vielleicht warf er noch einmal eine Handvoll Kleingeld zwischen sie, bevor er in die unerreichbaren Höhen des Oberdecks stieg? Und er tat es, ein Regen kleiner Münzen klingelte und klimperte auf die Wartenden nieder. Ein wildes Geraufe begann, und sogar die Familienangehörigen der Dritte-Klasse-Passagiere, die noch immer auf der Plattform warteten, bekamen etwas ab. Das meiste erhaschten die Straßenjungen, die die Krüppel umstießen und die Alten und Kranken zurückdrängten.

«Wohltäter!» kreischte eine Alte mit gichtigen Krallenfingern. «Warum gibst du mir’s nicht in die Hand, was du mir schenken willst? Ich kann mit meinen Händen nicht mehr greifen! Ich kann sie nur noch aufhalten!»

Aber der Amerikaner ließ sich nicht mehr blicken. Aus dem Olymp wimmerte statt dessen das Grammophon herab:

«Wirf mich nicht mit Rosen,

den dornigen, mein Kind,

wirf mich doch mit Veilchen,

die so viel zarter sind …»

«Scheißkerl», sagte ein Brillenverkäufer mit einem Bauchladen zu einem anderen fliegenden Händler. «Hätte er mir nicht wenigstens eine Brille abkaufen können, wenn er sie auch nicht braucht?»

«Stimmt», antwortete der andere und spuckte aus. «Für ihn ist das doch nur ein Klacks.»

Mushroom steuerte auf den Kapitän zu, schüttelte ihm schmerzhaft die Hand, stellte sich vor mit «Gilbert Mushroom, Fabrikant, aber nennen Sie mich ruhig Gilly!» Und ließ sich dann vom Steward, einem hemdsärmeligen und zahnlückigen jungen Mestizen, zu seiner Kabine führen, die zu seinem Entsetzen kein Bett enthielt und auch nicht mehr Komfort bot als die Box im LIDO.

Aber er war nicht der erste ausländische Tourist, der je auf der PATRIA gefahren war. Aus dem Stauraum schaffte der Steward eine modrig riechende Matratze herauf, und sogar Bettwäsche fand sich. Man war auf solche Fälle eingerichtet. Thrope, der Missionar, aber wies ein Matratzenangebot des Stewards weit von sich: Er hatte sich in seinen Urwaldjahren längst an die luftige, praktische, mobile Hängematte gewöhnt. Ja er hatte sie sogar in die Staaten mitgenommen, um dort darin zu schlafen.

«He!» rief der Kapitän dem Schiffsjungen Pablito zu, der eben half, die Planken wieder auf das Unterdeck herabzusenken. Hastig stürzte Pablito die Eisentreppe hinauf und näherte sich ihm wie ein Hund seinem Herrn.

«Geh aufs Unterdeck», sagte der Kapitän mit gedämpfter Stimme, «und sag dem Vargas, er kann seine Hängematte hier oben zwischen den Säulen aufspannen, für einen geringen Aufpreis.»

Nach einer Weile kehrte Pablito zurück.

«Er will nicht, Herr Kapitän», sagte er.

«Dann soll er’s bleibenlassen», knurrte der Kapitän ärgerlich. «Stell das Grammophon ab.»

 

Die Sonne war längst untergegangen, die Mücken beruhigten sich, die Hitze des Tages verwandelte sich in eine angenehme Kühle. Die lange Wartezeit, die Ungewißheit, das Abschiednehmen, das Drängeln und Gedrängeltwerden, das Suchen und Verteidigen des Schlafplatzes hatte die Passagiere des Unterdecks erschöpft. Die Glücklichen schaukelten sanft in Hängematten, die weniger Glücklichen lagen dichtgedrängt zwischen und auf den Gepäckstücken. Hier und dort gab es Ärger: Juan Cayupi war beim Füttern seines Viehs auf die Hand des hochschwangeren Dienstmädchens getreten, das im Mittelgang auf dem bloßen Boden schlief. Er hatte es nicht mit Absicht getan, aber sie fuhr hoch und schrie, wohl mehr aus Schreck als aus Schmerz. Kurz danach fiel weiter heckwärts, in der Nähe der Latrine, ein Mann auf ein unter ihm schlafendes Kind, weil ein Strick seiner Hängematte riß. Das Kind brüllte, blutete aus der Nase und ließ sich lange nicht beruhigen. Und ein paar Leute, die ihre Matten längs der Reling aufgehängt hatten, unterhielten sich noch mit ihren Angehörigen auf der Plattform, die nicht heimgehen wollten, bevor das Schiff abgelegt hatte.

Orlando Vargas saß auf der dem Hafen abgewandten Reling zwischen den Rinderköpfen und zupfte auf seiner Gitarre eine Melodie. Über ihm hing der Rinderhirt in seiner Hängematte.

«Warum fahren wir noch nicht?» fragte Vargas, ein schmaler, hellhäutiger junger Mann mit einer Nickelbrille.

«Wir warten auf den Mond», antwortete Cayupi. «Mit dem Mond geht es viel leichter. Das Wasser steht hoch. Die Januarfahrten sind gefährlich, vor allem von hier bis nach Lagarta.»

«Sind Sie schon oft den Fluß hinuntergefahren?» fragte Vargas.

«Hinauf und hinunter», antwortete der Alte. «Zwölf-, vielleicht auch schon dreizehnmal. Es bleibt immer an mir hängen. Es ist eine Vertrauenssache. Der Herr vertraut mir. So ein Rind ist was wert.»

«Mehr wert als ein Mensch», warf Vargas ein.

«Ja», seufzte der Hirt, «das ist wahr. Was ist schon ein Mensch? Man kann ihn nicht verkaufen. Für ein gutes Zebu bekommt man ein schönes Stück Geld. Da muß man schon die Hand drüberhalten, daß es gut genährt und gepflegt wird. Aber spielen Sie noch was, Mann, ich höre sonst immer nur das Gemuhe.»

Vargas stimmte ein Lied an, das jeder im Land kannte:

«Wie gewaltig kommt der Fluß daher,

wie groß zieht er weiter zum Meer …»

und begleitete seine klare Stimme mit sparsamen Akkorden. Die Passagiere, die noch wach waren, lauschten dankbar. Als das Gitarrengezirp verstummte, sagte Vargas: «Was für ein Abend. Jetzt, wo das Rad noch nicht geht, hört man sogar die Fische springen.»

«Fische?» antwortete der Rinderhirt. «Unsinn. Das ist die Scheiße von oben. Dort oben kackt noch jemand. Scheiße Erster Klasse.»

Vargas lachte leise.

«Für mein Leben gern», seufzte der Alte, «möchte ich einmal von dort oben herunterscheißen. Es muß ein großartiges Gefühl sein –»

 

Der Zahlmeister hatte mit der Fracht zu tun. Er dirigierte seine Leute hin und her, die Stapel auf der Plattform schmolzen, verschwanden langsam im Schiffsrumpf. Zwei Polizisten, die durch die nächtliche Stadt schlenderten, kamen über den Landesteg bis zum Schiff und musterten die letzten Wartenden. Sie genossen es, den Matrosen zusehen zu können, die Sack für Sack und Kiste für Kiste auf ihren Rücken über die Planken auf das Schiff schleppten. Es waren arme Teufel, alle beide, der Zahlmeister kannte sie gut. Der eine hatte sechs, der andere acht Kinder, das Gehalt war lächerlich und wurde immer verspätet ausgezahlt. Die Kinder des einen hatte der Zahlmeister hinter dem Amerikaner herlaufen sehen.

«Holla», sagte er und winkte ihnen zu. Sie winkten zurück und grinsten.

«Auf dieser Fahrt seid ihr nicht zu beneiden», sagte der eine halblaut. «Mit zwei solchen Kostbarkeiten an Bord. Da werdet ihr springen müssen.»

«Für die seid ihr alle nur Würmer», sagte der andere und lachte laut, als habe er einen Witz erzählt.

«Wissen wir, wissen wir», antwortete der Zahlmeister. «Aber es sind ja nur drei Tage.» Und er fügte leiser hinzu: «Ihr seid schlechter dran. Ihr habt sie dauernd im Nacken.»

«Ich weiß», sagte der eine und seufzte. «Wir stehen auf der falschen Seite. Aber was hilft’s – es geht um den Lohn.»

Der andere beugte sich vor und flüsterte dem Zahlmeister zu: «Wenn ich mal so einen festnehmen dürfte – Herrgott, gäb das ein Fest! Mit Knüppel und allem Drum und Dran ihn kleinzumachen! Da könnten seine Leute noch so viele Tausender schwenken – ich bliebe unbestechlich.»

«Schöne Träume», sagte der andere trübe. «Es ist schon eine elende Scheiße. Komm, Alberto.»

Sie verschwanden, hinter ihren Schatten her, zwischen den Pfahlbauten am Ufer.

 

Auch oben war es still geworden. Die Passagiere hatten sich nach Begrüßung der Bekannten in ihre Kabinen zurückgezogen, die Dienstmädchen der Sálazars und der Witwe de Molina hatten das Oberdeck verlassen und kauerten nun auf ihrem Gepäck zwischen den Passagieren des Unterdecks, weil sie sich nicht rechtzeitig einen Platz hatten sichern können.

Die Verpflegung begann erst mit dem Frühstück des kommenden Tages. Wer in dieser Nacht Hunger bekam, mußte selbst sehen, wie er ihn stillte. Mushroom verging der Appetit, denn hier in der Hafenbucht, wo unzählige Abwässerrinnsale aus Rohren, Gräben und Gossen ins Uferwasser sickerten, wo der Müll in den Fluß gekippt wurde und wo alle die Frauen, die in den Pfahlbauten rings am Hafen wohnten, täglich ihre Kinder und ihre Wäsche wuschen, stank der Fluß.

Auch der Missionar fühlte sich nicht wohl. Er lag halbnackt in seiner Hängematte, horchte, nachdem das Grammophon verstummt war, auf die exotischen Vogelrufe aus den Wäldern des anderen Ufers und auf die Gitarrenklänge vom Unterdeck, versuchte vergebens zu beten und sehnte die Abfahrt herbei.

Die aber zögerte sich noch bis nach Mitternacht hinaus. Rings um den Hafenplatz waren die Gesichter in den Fenstern längst verschwunden. Bis auf die wenigen Unentwegten, die noch auf der Plattform aushielten, lag der weite Hafenplatz leer im trüben Laternenlicht.

Als der Mond aufging über dem stinkenden Hafen und den armseligen Hütten und Häusern, die sich inmitten unermeßlicher Urwälder, Seen und Sümpfe eng um ihre Kathedrale und ihr Bolívardenkmal auf der Hauptplaza scharten, war endlich alles bereit zur Abfahrt. Milchiges Licht lag über Fluß und Uferwäldern. Kurz nach Mitternacht stieß die PATRIA einen langen, heiseren Pfiff aus, der die Passagiere von unten und oben hochschrecken ließ und bis in die Träume aller Bürger von Santa Elena drang. Die Tauben auf den Dächern der Pfahlbauten flatterten auf.

Die Matrosen lösten die Taue und sprangen auf das Schiff zurück. Aus dem dünnen hohen Schornstein quoll Qualm. Das riesige Schaufelrad am Heck begann sich gemächlich zu drehen. Langsam legte die PATRIA ab und glitt, ein plumper Schatten, in den Fluß hinaus.

4

Der Rio Pardo ist ein Fluß unter vielen anderen des Tieflands, das an Gewässern keinen Mangel hat, sehr flach und deshalb schwierig zu befahren. Er ist einer der breitesten Nebenflüsse des großen Andrade und nimmt selber zahllose Nebenflüsse auf. Die abgelegene Provinz La Verde im Tiefland mit ihrer Hauptstadt Santa Elena gleicht einem vollgesogenen Schwamm. Pfahlbauten säumen die Ufer der Gewässer und scharen sich auf den dampfenden Lichtungen des Dschungels zusammen. Tümpel und Lagunen brüten zwischen den Weideflächen Moskitos aus. Die Haciendabesitzer ziehen Gräben durch ihre Ländereien, um sie von der übergroßen Feuchtigkeit zu befreien. Binsen und Schilf wuchern überall, sogar auf den Straßen und Wegen am Stadtrand von Santa Elena und Boca Grande, und Schimmel, weiß und grünlich, kriecht in den Ecken der Wohnräume an den Wänden hinauf. Jährlich ertrinken ein paar Dutzend Leute, vor allem Kinder, und die meisten von ihnen werden nicht mehr gefunden. Es gibt nicht mehr so viele Kaimane wie früher, als man ihnen noch auf dem Weg vom Hafen zum Verladecorral begegnen konnte. Aber in Nebenflüssen der Nebenflüsse und in abgelegenen Lagunen lauern sie noch, heimtückisch, wie sie sind.

Die ganze Stadt ist feucht, ob in Santa Elena oder Boca Grande. In den Holzhütten wuchern Pilze. In den Villen der Reichen lösen sich die Tapeten von den Wänden. Die Wäsche ist von Stockflecken übersät. Alles rostet. In dem alten Taxi, das den Kapitän zum Verladecorral hinausbrachte, hatte der Rost faustgroße Löcher in die Bodenplatte gefressen, so daß der Schlamm in den Innenraum spritzte, wenn es durch eine Pfütze fuhr.

«Bleib länger als vier Wochen im Tiefland, und du beginnst zu schimmeln», pflegen die Hochländer zu sagen.