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NOLA Knights - New Orleans, Louisiana: Ungezügeltes russisches Heißblut und dunkle Vergangenheit. Wenn diese rauen Männer der Bratva eine bestimmte Frau als ihr Ziel auserkoren haben, setzen sie alles daran, dass sie ihnen gehört. Als "avtoritet" des mächtigsten Verbrechersyndikats in New Orleans dient alles, was Kir Vasilek sagt und tut einem bestimmten Zweck. Niemals verliert er seine Coolness, denn das Leben seiner Brüder - seiner Familie - hängt davon ab. Aber dann spaziert Cassie McClintock zurück in sein Leben, und es ist so gut wie unmöglich, cool zu bleiben. Cassie war diejenige, die entkommen ist - und Kir ist bereit, all seine eigenen Regeln zu brechen, um zu verhindern, dass dies noch einmal passiert. Es ist eine Sache, über die russische Mafia zu berichten, doch es ist etwas ganz anderes, mit einem von ihnen zu schlafen - besonders mit einem, der so gefährlich und sündhaft sexy ist wie Kir Vasilek. Obwohl die Informationen, die er Cassie einst zur Verfügung stellte, ihre Karriere beflügelten - und die Erinnerung an seine Berührungen sie nachts immer noch wach hält -, weiß Cassie viel zu viel über Kirs Welt. Aber als Kir sie bittet, einen grausamen Mord zu untersuchen, kann Cassie nicht widerstehen – weder der Mordermittlung, noch der Leidenschaft, die sie direkt in Kirs Arme zurückzieht ... und in sein Herz. Kir zu zähmen - und dabei zu helfen, die Familie zu retten, wie sie sich selbst nennt - ist nicht die Story, die sie ursprünglich schreiben wollte. Aber nun ist Cassie fest dazu entschlossen, dass diese Story ein Happy End bekommt. Teil 2 des Haven Brotherhood-Spin-offs der Erfolgsautorin Rhenna Morgan.
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Seitenzahl: 454
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Rhenna Morgan
NOLA Knights: Hers to Tame
Aus dem Amerikanischen ins Deutsche übertragen von Jazz Winter
© 2020 by Rhenna Morgan unter dem Originaltitel „Hers to Tame (NOLA Knights #2)“
© 2021 der deutschsprachigen Ausgabe und Übersetzung by Plaisir d’Amour Verlag, D-64678 Lindenfels
www.plaisirdamour.de
© Covergestaltung: Sabrina Dahlenburg (www.art-for-your-book.de)
© Coverfoto: Shutterstock.com
ISBN Print: 978-3-86495-503-7
ISBN eBook: 978-3-86495-504-4
Dieses Werk wurde im Auftrag von Harlequin Books S.A. vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.
Die Personen und die Handlung des Romans sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten oder lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.
Dieser Roman darf weder auszugsweise noch vollständig per E-Mail, Fotokopie, Fax oder jegliches andere Kommunikationsmittel ohne die ausdrückliche Genehmigung des Verlages oder der Autorin weitergegeben werden.
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Epilog
Danksagung
Autorin
Für meine Töchter.
Zu beobachten, wie ihr erwachsen und euer eigenes einzigartiges Selbst werdet, ist einfach wundervoll.
Ich liebe euch beide – genauso wie ihr seid.
Eine weiße Fassade, klapprige braune Fensterläden und eine nussbraune fleckige Eingangstür. Nichts von alledem passte zusammen, und die Kombination davon ließ die etwa fünfzig Quadratmeter große Hütte in der Mandeville Street so aussehen, als wäre sie aus Bauschutt zusammengewürfelt worden. Doch seit knapp vierundzwanzig Stunden nannte sie sie offiziell ihr Zuhause.
Cassie könnte nicht glücklicher sein.
Tante Friedas müde Schritte und ihr schweres Keuchen erklangen hinter ihr, eine Sekunde bevor ihre Lieblingsverwandte an Cassie vorbei auf die verblasste, lackierte Treppe mit dem klapprigen Eisengeländer zulief. Mit sechsundfünfzig war Tante Frieda nach wie vor ein verdammter Hingucker – mit dunkelbraunem Haar in einem wilden Pixieschnitt, grünen Augen voller Wissen und Unfug darin und Kurven, die junge Mädchen zum Weinen bringen konnten. Aber mehr noch als das besaß sie eine Persönlichkeit, mit der sie Menschen mitreißen und auf einen wilden Ritt mitnehmen konnte.
Heute war ihr Outfit genauso frech wie ihr Auftreten – abgeschnittene Jeans, ein ärmelloses Hemd, rote Sneaker und ein passendes Bandana, das sie, wie die Frauen auf den Werbetafeln in den 1950er-Jahren, um den Kopf gebunden trug. „Weißt du, wenn du mit dem Umzug fertig werden willst, bevor dein Urlaub vorbei ist, solltest du aufhören, wie eine Idiotin in die Gegend zu grinsen, und die Kisten abladen.“
„Ich grinse gar nicht wie eine Idiotin.“ Okay, vielleicht tat sie es doch. Aber nachdem sich Cassie drei Jahre lang beim besten Fernsehsender von New Orleans den Hintern aufgerissen hatte, hatte sie allen Grund dazu. Sie nahm die letzte Kiste vom Rücksitz und kickte mit dem Fuß die Tür ihres heruntergekommenen Hondas zu. „Ich bewundere das alles nur mit tiefer Wertschätzung.“
Tante Frieda gab einen Grunzlaut von sich und stieß die Haustür mit ihrer Hüfte auf, dennoch lächelte sie wissend, während sie das tat. „Du und deine Wortklauberei“ Sie blieb mit dem Fuß auf der Schwelle stehen und deutete mit dem Kinn in Richtung der Reihe von Grundstücken mit baufälligen Häusern die Straße hinunter. „Was immer du auch tust, beeil dich lieber. Je weniger deine Nachbarn mitbekommen, wie süß du bist, desto weniger nervös werde ich sein, wenn ich dich heute Nacht hierlasse.“
Oh Gott, nicht das schon wieder.
Cassie eilte ihrer Tante hinterher und schloss die Tür, bevor die kostbare kühle Luft in den Sommertag nach draußen entweichen konnte. Es war zwar erst der erste Juni und hatte kaum dreißig Grad, aber die Luftfeuchtigkeit kam der im August gleich, was bedeutete, dass ihre Miniklimaanlage bereits Überstunden machte.
Die Aufteilung ihres Mietshauses gab nicht viel her – ein Wohnzimmer, in dem man sofort nach Betreten stand, eine Briefmarke von einer Küche ohne Wände, die die beiden Räume voneinander trennte, und ein Schlafzimmer im hinteren Bereich. Aber die korallenfarbigen Wände, die weißen Zierleisten und die gelb gestrichenen Schränke hatten ihr von Anfang an gefallen.
Sie wich den ausgepackten Klamotten, dem Geschirr, den Töpfen und Pfannen aus, die überall willkürlich verteilt waren, und ging zielstrebig auf den Tisch im Diner-Stil der 1950er-Jahre zu, auf dem ihre Tante bereits ihre Kiste abgestellt hatte. „Marigny ist keine so schlechte Gegend.“
„Schlecht nicht. Es liegt nur Arsch an Arsch am French Quarter, wo du in alle möglichen Schwierigkeiten geraten kannst. Und du weißt, was man über Scheiße sagt, die bergab läuft.“
Das heftige Geräusch, während Cassie das Klebeband vom Umzugskarton riss, füllte den winzigen Wohnraum. „Ich habe mich schlaugemacht. Es gibt hier nur sehr wenig Scheiße. Die einzigen Verbrechen, die sie im letzten Jahr hier in der Gegend gemeldet haben, waren ein paar Raubüberfälle und ein Ehestreit. Und es ist ja nicht so, dass ich nicht schon früher mit zwielichtigen Leuten in widerlichen Ecken der Stadt zu tun gehabt hätte.“
„Das sagst du so, als ob du ein Cop wärst anstatt einer Reporterin.“ Frieda zog den rosa Plüschhund, den sie Cassie geschenkt hatte, als diese drei Jahre alt geworden war, aus der Kiste und betrachtete ihn. Früher hatte Frieda in Houston gelebt, wo Cassies Eltern und ihr älterer Bruder immer noch wohnten. Sie allerdings war bereits vor Jahren den erstickenden und liebevollen Grenzen ihrer Familie entkommen und im temperamentvollen Leben in New Orleans gelandet. Nachdem sie ihre Überraschung darüber, dass das Stofftier nach wie vor existierte, scheinbar überwunden hatte, schüttelte sie den Kopf des Plüschhundes in Cassies Richtung. „Und tu nicht so, als würdest du diese Storys allein machen. Du hast stets einen Kameramann und einen Tontechniker bei dir, die Gott sei Dank dafür sorgen, dass du nicht in Schwierigkeiten gerätst.“
„Du predigst schon wieder, Tante Frieda.“
„Nein, tu ich nicht.“ Frieda packte immer weiter Gegenstände auf den Tisch, blickte jedoch lange genug unter ihren Wimpern hervor, um klarzustellen, dass sie ihr den Unsinn nicht abkaufte. „Ich setze mich nur vehement für dein Wohlergehen ein.“
Cassie kicherte. Ein nicht besonders schönes Geräusch, das irgendwie nach einer Mischung aus besoffener Hexe und Ferkel klang. So wie sie ihr Glück kannte, würde es ihr garantiert irgendwann einmal auch vor der Kamera rausrutschen. „Wer macht hier jetzt die Wortklauberei?“
„Touché!“
Das Lachen, das folgte, war unbeschwert, und das Gespräch, während sie gemeinsam die Kisten auf dem Boden auspacken, noch leichter. Sie waren einander so ähnlich, duellierten sich mit Worten, konnten in einer Minute über alles Mögliche diskutieren und im nächsten Moment bei Musikern und Schauspielern zu Fangirls mutieren. Es war egal, dass Frieda mehr als doppelt so alt war wie Cassie – solange sie denken konnte, war es so zwischen ihnen gewesen.
Ihre Tante stapelte ihren leeren, zusammengefalteten Karton auf die bereits am Boden liegenden, stemmte die Hände in die Hüften und seufzte. „Das Haus hat einen gewissen Boheme-Charme, aber ich verstehe immer noch nicht, warum du nicht einfach weiterhin bei mir wohnen willst. Du hattest deinen eigenen Eingang. Privatsphäre.“ Ihr Blick wanderte durch den chaotischen Raum. Die Klamotten türmten sich auf dem kastanienbraunen Plüschsofa, das Frieda bei einer Haushaltsauflösung für sie gefunden hatte. Geschirr stapelte sich auf dem himmelblau und rot gestrichenen Wohnzimmertisch, den Cassie in einem Secondhand-Laden ergattert hatte. Ebenso wie der Hügel aus übergroßen goldfarbenen, burgunderroten und jadegrünen Kissen, die hoffentlich als zusätzliche Sitzgelegenheiten geeignet waren, sollte Cassie jemals mehr als drei Personen zu Besuch bekommen. „Du hättest sicherlich mehr Platz, um dich auszubreiten.“
„Dein Haus ist großartig, aber es ist deins.“ Nachdem Cassie ihren Karton gefaltet hatte, öffnete sie einige Küchenschränke. Sie besaß nicht viel Geschirr, doch angesichts des begrenzten Stauraums waren eine gute Planung und ordentliches Stapeln angesagt. „Ich bin fünfundzwanzig Jahre alt. Ich habe keine eigene Familie, und die einzige Möglichkeit, bei meiner Art von Arbeit vorwärtszukommen, besteht darin, den Markt zu verändern. Zu mieten statt zu kaufen macht einfach Sinn, aber die Tatsache, dass ich noch nie allein gelebt habe, ist ein wenig peinlich.“
Mit einem dumpfen Geräusch ließ Tante Frieda sich mit einem müden Seufzer hinter ihr in den Stapel Kissen fallen. „Sagst du das oder kommt das eher von deinen Eltern?“
Es war eine liebevoll gemeinte Frage, eine, die sie mit Herz und Sorge stellte, doch sie traf den Nagel auf den Kopf.
Cassie starrte in die offen stehenden leeren Schränke. Die Außenseiten der Türen waren in einem fröhlichen Gelb gestrichen worden, aber das ursprüngliche dunkel gebeizte Holz war innen so verblieben. Es starrte zurück, wie das schwarze Loch voller Enttäuschung, das jedes Gespräch zu charakterisieren schien, das sie mit ihrer Mom und ihrem Dad jemals geführt hatte.
Sie schüttelte die Tristesse von sich und machte sich an die Arbeit, das Geschirr vom Wohnzimmertisch dorthin zu räumen, wo sie es haben wollte. „Du weißt, wie Mom und Dad sind. Logik diktiert alles. Wenn das, was du beruflich tust, nicht ausreicht, um dir ein angenehmes, vorhersehbares Leben zu bescheren, dann machst du etwas falsch.“
„Das haben sie gesagt?“
„Nicht genau in diesen Worten. Ich denke, Dad hat etwas Wortgewandteres benutzt wie: ‚Ein Fachmann sollte in der Lage sein, die Kosten für eine angemessene Wohnung und die Grundbedürfnisse des Lebens zu decken.‘“
Frieda kicherte über die übermäßig tiefe Tonlage und die ausgesprochenen Worte, als Cassie ihren Vater imitiert hatte. „Du klingst genau wie er.“
„Nun, ich habe genug seiner Vorträge gehört, um das eine oder andere aufzuschnappen.“ Cassie hielt kurz inne und überlegte, wo sie diverse Kochgeschirrteile unterbringen wollte, die noch ein Zuhause suchten. „Wie ich in einer Familie voller Gelehrter landen konnte, ist mir nach wie vor schleierhaft. Wenn es dich nicht gäbe, würde ich schwören, dass man mich im Krankenhaus vertauscht hat.“
Frieda schnaubte bittersüß. Als sie redete, klang ihre Stimme wie eine Mischung aus schönen Erinnerungen und Traurigkeit. „Weißt du es war einmal vor langer Zeit, dass sich deine Mutter wie das schwarze Schaf der Familie gefühlt hat.“
Die Aussage hielt Cassie davon ab, einen Stapel Rührschüsseln in das letzte Regal zu räumen. Sie drehte sich um, um zu sehen, ob Friedas Gesicht Anzeichen des üblichen Foppens zeigte, für das sie bekannt war. „Du machst Scherze, oder?“
Frieda schüttelte den Kopf. „Nope!“ Ihr Blick wurde weicher, distanzierter und sie strich mit der Handfläche über eins der Seidenkissen. „Unsere Eltern waren laut und ausgelassen, liebten es, Orte zu besuchen und Dinge zu erleben. Ich meine, sie wollten, dass wir guten Noten bekamen, und erwarteten, dass wir unsere Hausaufgaben erledigten, aber sie ermutigten uns auch, Kunst zu erforschen, unseren Instinkten zu folgen und das Leben zu genießen.“ Ihr Blick wurde schärfer, konzentrierte sich nun auf Cassie. Ein sanftes Lächeln umspielte ihre Lippen. „Deine Mutter hatte Probleme damit, zu spielen und loszulassen, genauso wie es dir nicht leichtfällt, mit Mathe und Wissenschaften klarzukommen.“
Das war nicht schwer vorstellbar. Was allerdings nicht so einfach zu begreifen war, war, dass ihre Mutter sich ebenso geächtet gefühlt haben könnte wie Cassie, während sie aufgewachsen war, und dass sie ihrem jüngsten Sprössling keinerlei Verständnis entgegenbringen konnte. Am Ende war es genau diese Sturheit und mangelnde Unterstützung, die sie dazu veranlasst hatte, Houston zu verlassen und eine Karriere als Nachrichtenreporterin in New Orleans zu verfolgen.
Nachdem Cassie die wenigen Küchensachen kreativ verstaut hatte, schloss sie die Schranktüren. „Ich hatte nie Probleme mit Mathematik und Naturwissenschaften. Ich mag sie bloß nicht.“
Frieda schnappte theatralisch nach Luft und legte ihre Hand aufs Herz. „Cassie! Wie kannst du nur?“
„Ich weiß, furchtbar, nicht wahr? Diese Schande, keine höhere und gebildetere Berufung zu verfolgen.“ Sie bahnte sich einen Weg zur Couch und ließ sich zwischen zwei Kleiderstapeln darauf fallen. Ihre Füße legte sie auf den nun größtenteils leeren Wohnzimmertisch. „Ich habe es versucht. Ich habe es wirklich versucht, aber hier zu leben macht mich einfach so viel glücklicher.“
„Und doch bist du aus einem perfekten, komfortablen Apartment ausgezogen, das mehr finanzielle Sicherheit geboten hätte, wenn du es dir nicht selbst beweisen müsstest.“
Autsch!
Mitten ins Herz.
Das war typisch Tante Frieda, in einer Wunde zu bohren und es mit diesem Lächeln einer guten Fee zu tun. „Willst du mir damit sagen, dass du mir helfen willst, all das wieder zusammenzupacken und einen Weg zu finden, aus meinem Mietvertrag zu kommen?“
„Nein, du wirst brav die sechs Monate hierbleiben, für die du unterschrieben hast, und mir Zeit geben, dein altes Apartment in herrlich wilden Farben zu streichen. Danach suchen wir ein paar heiße Kerle, die dir dabei helfen, alles wieder zurückzubringen. Es sei denn, du findest ein paar Galerien für deine Fotografien, machst einige Millionen Dollar und kickst den Reporterjob. Dann kannst du dir ein schickes Zuhause kaufen und ich kann bei dir einziehen.“
„Ha! Ein schöner Traum, nicht realistisch, aber schön.“
Frieda warf ihr einen mütterlichen Blick zu, obwohl sie nie eigene Kinder gehabt hatte. „Das ist dein Vater, der da wieder spricht. Deine Bilder sind fabelhaft. Nur weil dir jemand gesagt hat, dass du etwas nicht kannst, heißt das noch lange nicht, dass es wahr ist.“ Sie stieß einen scharfen, verärgerten Atemzug aus und nickte in Richtung der Stapel von gerahmten Fotos, die an der Wand und an den aufgetürmten Kartons mit Cassies gesamter sorgfältig eingepackter Kameraausrüstung lehnten. „Wenn wir schon beim Thema sind – wo willst du deinen Sachen aufbauen?“
Eine sehr gute Frage, auf die sie noch immer keine gute Antwort wusste. Durch den Auszug aus dem Haus ihrer Tante im Landhausstil am östlichen Rand von New Orleans hatte sie bereitwillig viel Stauraum aufgegeben. „Vielleicht spare ich etwas Geld und finde einen antiken hübsch verzierten Schrank. Etwas, was hier reinpasst und worin ich auch meinen Laptop unterbringen kann.“
„Weißt du, ich habe vor ein paar Monaten einen Schrank bei Margery‘s gesehen. Im Vintage-Look, komplett restauriert und mit einer Schreibtischplatte, die sich hochklappen und verschließen lässt. Ich werde dort hingehen, wenn ich das nächste Mal in der Gegend bin und schauen, ob er noch da ist. Wäre ein schönes Einweihungsgeschenk.“
„Du hast bereits die Hälfte meiner Möbel und all mein Geschirr bezahlt. Ich glaube, mehr Einweihung brauche ich nicht.“
„Kleines Mädchen, ich habe meine Hypothek vor fünf Jahren abbezahlt, und ich habe keine Kinder, die ich verwöhnen kann, außer dich und deinen Bruder. Wenn ich dir also einen Schrank kaufen und ihn als Einweihungsgeschenk bezeichnen möchte, dann lässt du mich gefälligst.“ Ihr Blick wanderte zu der Ansammlung von Portfolios vor Cassies Fotoausrüstung. Sie nahm das oberste vom Stapel, legte es auf ihre Knie und blätterte es durch. „Außerdem musst du deine Ersparnisse wieder aufbauen. Du weißt nie, wann du mal Geld für einen beschissenen Moment brauchen wirst.“
„Und wer klingt jetzt wie mein Dad?“
„Ich bin nicht im Geringsten wie dein Daddy. Es gibt einen deutlichen Unterschied zwischen sicherstellen, dass du deine Rechnungen begleichen kannst, und einer gusseisernen Stange, die in deinem Hintern steckt.“ Sie blätterte um, und ein Stapel Fotos, den Cassie noch nicht einsortiert hatte, rutschte auf ihren Schoß. „Oh, sind die neu?“
Cassie beugte sich zur Seite, konnte die Bilder aber vom Sofa aus immer noch nicht gut sehen. „Welche?“
„Das French Quarter in der Nacht … die Einkaufsmeile von Jackson Square … Lake Pontchartrain …“, zählte sie auf, studierte jedes einzelne Foto davon und schob sie dann auf die Rückseite des Stapels. „Und oh, oh, oh … was haben wir denn hier?“ Sie neigten ihren Kopf und ein anerkennendes Grinsen kroch über ihr Gesicht.
Cassie rappelte sich auf und versuchte, den Fotostapel zu packen.
Frieda zog ihn außer Reichweite, bevor Cassie ihn erwischen konnte, drehte ihn jedoch so, dass das obere Foto erkennbar wurde. „Wer ist dieser Typ? Er ist heiß.“
Oh. Heilige. Kacke.
Von all den Bildern, die Tante Frieda im Moment wirklich nicht sehen sollte, war es das Foto, das sie vor einem Monat von Kir Vasilek aufgenommen hatte. „Tante Frieda, gib es mir.“
„Warum? Wenn ein Mann so aussieht, ist das Letzte, was ich will, es hergeben. Besonders, wenn er einen Anzug trägt, einen Mund hat, der dich in den Wahnsinn küssen könnte, und er wirkt, als könnte er mit einem Fingerschnippen die Welt regieren. Wenn du mich fragst, sind anzugtragende Männer eine gefährdete Spezies. Wir sollten sie um jeden Preis schützen.“
Herr, hilf ihr. Wenn Tante Frieda nur wüsste. Der Mann, für den sie Schutz befürwortete, war laut ihrer Kollegen ein Killer. Schade, dass Cassie dieses Detail nicht erfahren hatte, bevor sie herausgefunden hatte, dass er genauso gut küssen konnte, wie ihre Tante es vermutete. Zumindest würde ihre Libido nicht jedes Mal mit ihrem gesunden Menschenverstand in Konflikt geraten, während ihre Gedanken in die Vergangenheit schweiften – was in letzter Zeit zu oft passierte.
„Du bist meine Tante. Tanten nennen Männer nicht heiß. Schon gar nicht, wenn die Typen halb so alt sind wie sie selbst.“
„Ähm, diese Tante tut es.“ Sie hob das Bild für einen weiteren, näheren Blick zu sich. „Und auf gar keinen Fall ist er halb so alt wie ich. Ich bin erst sechsundfünfzig und er muss mindestens Mitte dreißig sein.“
„Er ist fünfunddreißig“, sagte Cassie, schnappte erneut nach dem Bilderstapel und erwischte ihn endlich.
„Siehst du“, erwiderte Frieda. „Absolut legal. Und ich wette, er wüsste eine ältere Frau zu schätzen.“ Sie hielt einen Moment inne und beobachtete, wie Cassie die Abzüge zurück in ihr Portfolio steckte. Als sie wieder sprach, lag ein Glitzern in ihren Augen. „Andererseits, wenn ich deine Reaktion richtig deute, hat er dich schon zu schätzen gewusst. Erzähl!“
„Auf keinen Fall. Ich erzähle dir wirklich viel, aber mein Sexleben ist tabu.“ Mit diesen Worten stand Cassie auf und trug die dicke ledergebundene Mappe zur Essecke.
„Ähm, ich hasse es ja, dir das sagen zu müssen, Zuckerschnute, aber du redest hier mit der Frau, die dir detaillierte Tipps und Tricks verraten hat, bevor du dich auf den Weg gemacht hast, um dir deinen ersten batteriebetriebenen Freund zu kaufen.“
Kissen verschoben sich und Friedas Sneaker quietschten auf dem Laminatboden. Statt erneut nach dem Portfolio zu greifen, zog Tante Frieda sich einen Stuhl heraus, setzte sich an den Esstisch und stützte ihr Kinn auf ihre Handfläche, bereit, alle Details zu erfahren. „Also, erzähl mir von Mr. Hottie und warum du dich gezwungen fühlst, ihn geheim zu halten.“
Cassie atmete müde aus und ließ sich auf den Stuhl neben Frieda nieder. Der dunkelblaue Lederbezug fühlte sich butterweich und kühl unter ihren Handflächen an, eine willkommene Linderung für die Hitze, die ihr im Nacken emporkroch. „Er war derjenige, der mir all die Geschichten erzählt hat, für die ich beim Nachrichtensender so viel gutes Feedback bekommen habe.“
„Die über diesen Mafiosi? Wie war noch sein Name?“
„Stephen Alfonsi. Und ja, genau die.“ Cassie schlug das Buch auf, und die Seite, wo die Fotos mit einer Büroklammer gegen den Rücken geklemmt waren, fiel wie von selbst auf. „Ich bin mir nicht sicher, ob ich so einen guten Lauf gehabt hätte, wenn Kir nicht gewesen wäre. Oder überhaupt einen.“
„Kir?“
Cassie nahm das oberste Foto und hielt es zwischen den Fingern. Die Komposition der Fotografie war bestenfalls amateurhaft, aber mit Kir im Fokus war nichts anderes daran wichtig. Diesem Mann stand ein Anzug verdammt gut. Wenn er an einem Terrassentisch aus Eisen und Glas saß, konnte man allerdings nicht wirklich einschätzen, wie gut seine Einmeterzweiundachtzig in einen Anzug passten. Doch der Grund, warum er tatsächlich die Aufmerksamkeit vieler Frauen auf sich zog, waren seine Gesichtszüge. Blondes Haar, das gerade lang genug war, um zu beweisen, dass er engelsgleiche Locken aus irgendeiner Linie in seiner Familie geerbt hatte, eine scharfe aristokratische Nase und ein kräftiges Kinn. „Kir Vasilek.“
„Mhhh, du sprichst seinen Namen so aus, wie ich Häagen-Dazs sage. Entweder bist du schwer verknallt, oder du hattest bereits eine Kostprobe und kannst es nicht erwarten, eine weitere zu bekommen.“
Oh, sie hatte tatsächlich bereits eine Kostprobe gehabt.
Zwei, um genau zu sein.
Und hier war sie nun, sieben Monate später, und konnte den Einfluss, den er auf sie gehabt hatte, noch immer nicht abschütteln.
„Er ist ziemlich charmant“, sagte Cassie. „Selbstbewusst und gebildet. Besitzt gute Verbindungen. Er hat mir alle Informationen gegeben, die ich brauchte, um eine Reihe fortlaufender Geschichten liefern zu können, als Alfonsi verschwunden ist.“
Frieda schnaubte. „Jeder weiß, dass Alfonsi tot ist. Verschwunden ist nur die politisch korrekte Umschreibung, um nicht sagen zu müssen, dass er endlich die falsche Person angepisst hat. Und zu Recht, wenn du mich fragst.“ Sie zeigte auf das Foto. „Also hast du das gemacht, als du ihn getroffen hast?“
Über ihre Wirbelsäule kroch der gleiche schleimige Ekel, den sie an dem Tag empfunden hatte, an dem sie das Bild geschossen hatte. „Nein.“ Sie steckte das Foto wieder zurück, schloss die Mappe und stand auf. Mit der Geschwindigkeit, mit der sie an die Arbeit ging, würde sie riskieren, ihren Job zu verlieren, oder für ein schmuddeliges Klatschmagazin arbeiten. „Hast du mein Smartphone irgendwo gesehen?“
„Whoa, du hast gerade aber sehr schleunig das Thema gewechselt.“
„Habe ich nicht.“ Cassie schob die Kleidung auf dem Sofa hin und her und sah hinter den Kissen nach. „Ich muss nur den Moderatorenplan für nächste Woche checken.“
„Bullshit, du hast den Mann angesehen, als wäre er das Sahnehäubchen auf der Torte.“
„Niemand redet mehr so.“
„Ich tue es. Und wenn ich einen Mann so ansehe, behalte ich ihn auch.“
Unter normalen Umständen würde sie ihrer Tante zustimmen. Aber Kir war nicht irgendein Mann. Gerüchten zufolge war er die rechte Hand eines weiteren aufstrebenden Mafiabosses in New Orleans. Eine Tatsache, die sie erst erfahren hatte, nachdem sie ihr zweites heißes Gerangel mit ihm gehabt hatte. „Kir ist nicht der Typ, mit dem du eine Beziehung führen willst.“
„Warum nicht? Hast du mit ihm geschlafen?“
Cassie ignorierte ihre Tante und suchte hinter den Bildern weiter.
„Mhhh-mhhh.“ Frieda erhob sich und schlenderte zur Küchenzeile. „Keine Antwort ist auch eine Antwort. Ist er scheiße im Bett?“
Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Bloß nicht an Kir im Bett denken.
Aber es war zu spät. Das gleiche angenehme Beben, das sie in der ersten Nacht gespürt hatte, als er im Bacchanal Wineauf sie zugeschlendert kam und dieses verheerende Grinsen auf sie abfeuerte, schlug erneut tief in ihrem Magen Wurzeln. Darüber nachzudenken, wie sich sein Körper an ihrem angefühlt hatte – wie seine leise und tiefe Stimme in ihrem Ohr geklungen hatte, mit diesem russischen Akzent und dem Flüstern von köstlichen, schmutzigen Dingen, die er mit ihr machen wollte –. Wenn sie das wagen würde, würde sie tagträumen und wochenlang unruhig schlafen. „Ich hätte schwören können, dass ich mein Handy mitgenommen habe. Vielleicht habe ich es im Auto gelassen.“
„… und er ist hervorragend im Bett. Gut zu wissen.“ Frieda hob Cassies Handtasche von der weißen Arbeitsplatte. „Es ist genau hier.“
Gott sei Dank. Süße Ablenkung
Cassie marschierte die paar Schritte in die Küche und wühlte in ihrer großen Umhängetasche nach ihrem Handy.
Natürlich kannte Frieda keine Gnade. Wenn es darum ging, das Leben bei den Eiern zu packen (wie sie es ausdrückte), dann war die Frau ein wahrer Hund. „Wenn du unterwegs bist, um ihn zu fotografieren, dann bist du auch interessiert. Warum gehst du nicht einfach zu ihm und redest mit ihm?“
„Ich habe ihn nicht fotografiert, weil ich mit ihm schlafen will. Ich habe ihn verfolgt.“
„Warum?“
„Weil alle meine Hinweise ins Leere laufen und ich eine Story brauche.“ Das Geständnis brach heftiger aus ihr heraus, als sie es gewollt hatte. Was noch schlimmer war, war die Schuld, die sie im letzten Monat mit sich herumgeschleppt hatte und die ihr nun wie bösartiger Äther die Lebenskraft auszusaugen drohte.
Frieda musterte sie einen Moment lang. Besorgnis und Obacht waren ihr ins Gesicht geschrieben. „Ich bin verwirrt.“
Der ganze Kampf, die Sorgen und diese widersprüchlichen Gefühle, mit denen sie seit Ende letzten Jahres gerungen hatte, bluteten alle auf einmal aus Cassie heraus, bis sie einen Punkt erreichte, an dem sie völlig leer war. Sie hatte Glück, dass hinter ihr ein Stuhl stand. Sie nahm Platz und starrte zu ihrer Tante hoch. „Ich auch.“
„Okay, dann entwirr das mal für mich. Und bitte in kleine, mundgerechte Happen.“
Klar. In kleine, mundgerechte Happen. Auf die gleiche Art setzte sie ihre Geschichten zusammen, bis die Botschaft zusammenkam und Sinn ergab.
„Wir haben uns letztes Jahr im Bacchanal getroffen. Er war charmant und heiß und schien ein wirklich guter Kerl zu sein. Wir haben miteinander geschlafen und es war fantastisch. Und wir reden hier von: ‚OH MEIN GOTT, das ist es, was ich mein ganzes Leben lang vermisst habe‘ fantastisch. Als er mich anrief, um mit mir ein richtiges Date auszumachen, war ich wie berauscht. Euphorisch. Und die Zeit mit ihm in und außerhalb des Bettes fühlte sich an wie bei einer dieser Insta-Lovestories. Doch dann gab er mir die Hinweise zu Alfonsi. Er hat mich hinterher angerufen, um sich ein drittes Mal mit mir zu verabreden, aber ich habe ihn nie zurückgerufen.“
„Warum? Nach allem, was du erzählt hat, ist er großartig, und diese Geschichten haben dir eine Gehaltserhöhung beim Sender eingebracht, oder etwa nicht? Das klingt nach einem verdammt guten Grund, sich auf ein drittes Date einzulassen und auf noch einige mehr, wenn du mich fragst.“
„Es ist eine schlechte Idee, denn auch wenn er klug, witzig, wunderschön und herausragend im Bett ist, sagen die Jungs beim Sender, dass er ein Gangster ist.“
Friedas Augen weiteten sich, und das Verständnis in ihnen spiegelte wahrscheinlich den gleichen Schock wider, den sie selbst empfunden hatte, als sie herausgefunden hatte, für wen Kir arbeitete. „Oh.“
„Genau. Oh.“
„Er ist wie Alfonsi?“
„Nein, Alfonsi war der Boss seiner Organisation. Kir arbeitet für den Boss seiner familia. Ein Typ namens Sergei Petrovyh.“
„Und dieser Sergei-Typ ist ein Idiot wie Alfonsi, aber Kir ist ein guter Kerl?“
So eine direkte und einfache Frage. Trotz all der Nachforschungen, die sie in den letzten Monaten vorgenommen hatte, konnte sie die Informationen, die sie erhalten hatte, nicht bestätigen. „Die Wahrheit ist, ich weiß es nicht. Gerüchten zufolge sind Kir und Sergei vor ungefähr anderthalb Jahren mit einem anderen Freund hierhergezogen und sind tief verwurzelt mit der russischen mafiya. Allerdings kann ich keinerlei Beweise finden, die sie mit dem organisierten Verbrechen in Verbindung bringt. Ehrlich gesagt, ich kann nicht einmal eine Quelle ausfindig machen, die etwas Schlechtes über die beiden aussagt. Ebenso kann ich nicht sagen, ob Sergei sie einschüchtert, damit sie nicht reden, oder ob die Gerüchte alle falsch sind.“
„Und du weißt das, weil du an einer Story über sie gearbeitet hast?“
„Ich würde nicht sagen, dass ich an einer Story gearbeitet habe.“
„Nun, wie würdest du es dann beschreiben?“
„Keine Ahnung. Eine Geschichte möglicherweise in Betracht ziehen?“
Tante Frieda starrte auf sie herab, eine Augenbraue hochgezogen und ihren Mund in Bestürzung zusammengepresst. Zweifelsohne lief ihr agiler Verstand gerade in Warp-Geschwindigkeit, und sie näherte sich dem, was an Cassie seit Monaten nagte. „Also, im Grunde hast du gedacht, dieser Typ hätte das Potenzial dazu, der Eine für dich zu sein, aber weil man ihm nachsagt, ein Gangster zu sein, hast du ihn abgeschossen.“
„Richtig.“
„Jetzt, ein halbes Jahr später, fordert dein Chef von dir, Gas zu geben und neue Storys an Land zu ziehen. Also hast du angefangen zu graben, in der Hoffnung, ein paar saftige Geschichten zu finden, was dir aber nicht gelungen ist. Du fühlst dich scheiße, weil du daran gedacht hast, diesen Kir-Typen übers Ohr zu hauen, obwohl er dir nicht nur geholfen hat, sondern immer noch deine Glocken zum Läuten bringt.“
Cassie rutschte etwas tiefer auf ihrem Stuhl, ließ den Kopf hängen und spielte mit ihrem Handy. „Das ganze Szenario klang nicht so fies, als es bloß in meinem Kopf herumpirschte.“
„Das tut es nie. Und die Wahrheit ist, es war vielleicht wirklich klüger, einen Bogen um diesen Kerl zu machen. Nur weil du die Gerüchte nicht beweisen kannst, heißt das noch lange nicht, dass sie nicht wahr sind. Es ist nichts Falsches daran, vorsichtig zu sein.“ Friedas Stimme wurde leiser und sie trat näher. „Aber ich hätte nie gedacht, dass du jemand bist, der einen anderen in die Pfanne haut, obwohl er dir geholfen hat.“
Cassie schaltete ihr Handy ein und öffnete ihren E-Mail-Account. „Leicht für dich, das zu sagen. Mein Redakteur fragt mich fast jeden Tag, an was ich gerade arbeite. Wenn mir nicht bald etwas einfällt, geben sie möglicherweise meinen Wochenend-Moderatorenplatz an jemand anderen. Ich habe zwei Jahre gebraucht, um ihn zu bekommen.“
Sie ging ihre E-Mails durch; die letzte Nachricht stammte von ihrem Herausgeber Ed.
Während die Stimme ihrer Tante in den Hintergrund trat, registrierte sie den Inhalt nicht. Alles, was sie wahrnahm, war der Plan für nächste Woche, der auf sie zurückstrahlte, und der Vulkanausbruch, der aus ihrem Bauch sprudelte.
„Fuck!“ Cassie warf das Smartphone auf den Tisch, stand auf und wanderte auf und ab.
Frieda stemmte die Hände in die Hüften. „Was ist los?“
„Einer der Hauptnachrichtensprecher ist am Dienstag nicht da.“ Cassie wirbelte herum, ging zurück zum Tisch und schnippte gegen ihr Handy. „Sie haben Lizbet als Ersatz genommen.“
„Na und? Du bist im Urlaub. Und soweit ich weiß, ist es nicht möglich, dich zur Arbeit zu rufen, es sei denn, es handelt sich um eine massive Krise. Und außerdem – ich habe gesehen, wie dieses Mädchen arbeitet. Sie kann dir nicht das Wasser reichen. Du wirst zurück zur Arbeit gehen und alles wird wieder normal laufen.“
Bevor Cassie erneut umherwandern konnte, schnappte Frieda ihren Arm und drehte sie zu sich um. „Kleines, du musst damit aufhören. Natürlich kannst du behaupten, dass dich dein Editor dazu drängt, aber wir beide wissen, dass das nicht der wirkliche Grund ist. Du musst nichts beweisen. Du machst einen Job, in dem du gut bist, auch wenn es nicht der ist, den du eigentlich willst. Einen, für den du ein unglaubliches Talent besitzt. Ruinier es nicht, nur weil du der Bestätigung deiner Eltern nachjagst.“
„Es geht nicht um Bestätigung. Es geht darum, erwachsen zu sein.“
„Ach wirklich? Die Cassie, die ich kenne und liebe, würde niemanden übers Ohr hauen, um weiterzukommen, egal, wie gut die Geschichte sein mag. Wenn es Zeit ist, eine Geschichte zu finden, dann wirst du sie auch finden. Aber wenn du weiterjagst und versuchst, die Dinge zu erzwingen, wirst du es eines Tages mehr bereuen, als dir lieb sein wird.“
Ein kräftiger Hieb in den Magen hätte keine größere Wirkung haben können. Und die Wahrheit, die in dem Kommentar ihrer Tante mitschwang, klang so laut und widerhallend wie ein riesiger Gong.
Du hast es bereits bereut.
Einiges davon.
In der Sekunde, als sie ihr erstes Interview über Sergei geführt hatte, wusste Cassie, dass sie es verkackt hatte, indem sie Kir ausgewichen war, anstatt ihm die Fragen direkt zu stellen. Ihr war ebenso klar, dass sie für ihre Tante ein finanzielles Problem war, wenn sie weiterhin, im reifen Altern von fünfundzwanzig Jahren, bei ihr wohnen blieb. Ihr Auszug allerdings ließ ihre Tante nun allein zurück, obwohl Liebe und Gesellschaft alles war, was sie sich wünschte.
Die Ledermappe lag etwas schief auf dem Tisch und eine Ecke von Kirs Foto ragte oben heraus. Cassie rutschte auf ihrem Stuhl näher und schlug die Mappe wieder auf. Auf dem Bild sah man Kirs Profil; seine Aufmerksamkeit und sein Lachen galten einem Riesen von Mann, der gerade nicht zu sehen war. Es handelte sich dabei, wie sie später herausgefunden hatte, um Roman Sokolov, seinen Partner bei allem, was sie taten.
Ja, es hatte Momente mit Kir gegeben, in denen er fordernd und kommandierend wie ein Mafiosi gewesen war. Aber größtenteils erinnerte sie sich daran, wie angenehm es gewesen war, Zeit mit ihm zu verbringen. Wie engagiert, wie aufmerksam und konzentriert er gewesen war.
Besonders, wenn die Dinge zwischen ihnen körperlich geworden waren.
Sie strich mit den Fingerspitzen über den Rand des Fotos. „Was würdest du an meiner Stelle tun?“
Tante Frieda lehnte sich auf den Stuhl neben ihr und beugte sich vor, um das Bild besser sehen zu können. Ihre Stimme war voller Zärtlichkeit und Mitgefühl „Ich weiß es nicht, Kleines. Aber ich weiß, dass das Leben verdammt kurz ist.“ Sie bedeckte Cassies Hand mit ihrer eigenen und wartete, bis Cassie sie ansah. „Vielleicht ist es an der Zeit, dass du aufhörst, dir Gedanken darüber zu machen, was andere denken und ob sie dein Leben gutheißen oder nicht. Lass es einfach mal langsam angehen und genieße das Leben, das du hast.“
Wenn jemand Kir vor drei Jahren gesagt hätte, dass er seinen sechsunddreißigsten Geburtstag in den Staaten mit einem hausgemachten Kuchen und einer eigenen Familie feiern würde, hätte er denjenigen entweder ausgelacht oder verprügelt. Aber hier war er nun, nicht nur umgeben von den Männern, denen er am meisten vertraute, sondern auch von der Frau seines pakhan, Evette, und ihrem Sohn, den Sergei als seinen eigenen ansah.
Alles Gute zum Geburtstag, Onkel Kir!
Den Glückwunsch, den Emerson mit hellblauem Zuckerguss auf das weiße Frosting geschrieben hatte, war kaum lesbar und stellenweise verschmiert, dennoch konnte sich Kir nicht daran erinnern, jemals zuvor ein solches Geschenk erhalten zu haben, das ihm so viel bedeutete. Zur Hölle, wenn er darüber nachdachte, war es der einzige Kuchen, den er jemals bekommen hatte. Eine traurige Tatsache für einen Mann in seinem Alter.
Überall auf der Terrasse des Bacchanal drängten sich die Gäste, redeten und lachten, während die lebhafte Musik der Zydeco-Band, die im Restaurant spielte, durch die angenehme Nachtluft ertönte. Sogar die kleinen weißen Lichter, die über ihm hingen, schienen etwas heller zu sein als bei seinen sonstigen Besuchen hier. Es wirkte wie eine Verschwörung zwischen Evette, Emerson, Sergei und Roman, um sie ebenfalls zu einem Teil der Feier zu machen.
Neben ihm trat Emerson unruhig von einem Fuß auf den anderen und starrte ihn an. Sein dunkelblondes Haar war inzwischen lang genug, dass es über die scharfsinnigen Augen fiel. „Müssen wir zuerst das Geburtstagslied singen? Oder dürfen wir endlich essen? Olga hat mir nicht erlaubt, ihn vor dem Verzieren zu probieren.“
„Junge, erzähl deinem Onkel Kir keine Schwindeleien an seinem Geburtstag.“ Evette saß neben ihrem Ehemann, mit dem sie inzwischen sechs Monate verheiratet war. Sie wirkte wie der Inbegriff von legerer Klasse mit ihrem kurzen dunklen Haar, das kunstvoll chaotisch geschnitten war, ihren scharfsinnigen haselnussbraunen Augen, die stets ein Lachen zeigten und ihrer unheimlichen Anmut, die zu ihrer zierlichen Statur passte. Sie zwinkerte Kir verschwörerisch zu und musterte ihren Sohn. „Du weißt so gut wie ich, dass ich ein zweites Mal Frosting auftragen musste, bevor wir heute Abend losgefahren sind, weil ich ein verdächtiges Loch auf der Rückseite des Kuchens verdecken musste.“
Die meisten Kinder hätten sich vielleicht zurückgehalten oder versucht, sich rauszureden, aber Emerson war nicht wie die meisten Kinder. Er war mehr wie ein Erwachsener mit messerscharfem Humor, gefangen in einem schnell wachsenden Körper. Er grinste seine Mutter gleich wieder an und hob sein Kinn. „Das kann man nicht als Bissen bezeichnen. Das war nur ein Vorgeschmack auf die Verzierung mit ein paar Krümeln für die Fahrt.“
Kir lachte ebenso wie die anderen laut auf, richtete seine Worte jedoch an Sergei. „Er ist klug, moy brat.“ Er sah wieder zu Emerson und zerzauste dem Jungen das Haar. „Ich sollte dich leiden lassen und dich zwingen, das Lied abzuwarten.“
„Aber das wirst du nicht tun“, erwiderte Emerson. „Du magst gutes Essen und gute Musik viel zu sehr, um hier zu sitzen und darauf zu warten, dass wir das Lied zu Ende singen. Und jeder weiß, dass Olgas Kuchen der Knaller sind.“
Gegenüber von Kir ertönte Romans leises Lachen. Zwar redete sein langjähriger Freund nicht viel, doch seine Stimme klang bedrohlich tief und sein Knurren war ebenso einschüchternd wie seine Größe. „Damit hat er dich.“
„In der Tat“, sagte Sergei. Der Stolz in seinem Blick, als er Emerson betrachtete, war unverkennbar – selbst für einen Mann, der nie das Vergnügen besessen hatte, einen solchen Blick zu erhalten.
„Na dann. Anscheinend sind wir uns da alle einig.“ Kir stopfte die deprimierende Erinnerung an seine Jugend zurück in die Tiefen seines Gedächtnisses, griff nach seinem Glas mit dem Edelwodka Stoli Elit und hob ihn zum Gruß. „Lasst uns den Kuchen anschneiden und essen.“
Er hatte etwas Einfaches erwartet – entweder einen Vanille- oder Schokoladenkern. Er hätte es besser wissen und ahnen müssen, dass Sergeis Köchin – die direkt aus dem Mutterland Russland importiert worden war, nachdem sie in die Staaten gezogen waren – das Unerwartete tun und etwas Unbeschreibliches backen würde.
„Das ist so gut“, grunzte Roman, nachdem er den zweiten Bissen zu sich genommen hatte. „Was ist da drin? Schmeckt nach Mandeln.“
Evette leckte sich einen Tropfen Zuckerguss von den Lippen und nickte. „Mandel- und Gold- und Teufelskuchen, alles zusammengemixt, plus Himbeergelee und Rum.“
„Sie ist ein Genie“, grinste Emerson, der den Mund voll hatte und sich damit einen scharfen Blick von seiner Mutter einhandelte. Er schluckte pflichtbewusst, bevor er weitersprach. „Du solltest eine Bäckerei eröffnen, Dad. Wir könnten ein Vermögen mit Olgas Backkünsten machen.“
„Nyet“, sagte Sergei zwischen zwei Bissen. „Wenn sie für alle anderen kocht, kann sie das nicht mehr für uns tun.“
Die großen Augen, die mit Emersons Verständnis einhergingen, sahen komisch aus. „Oh, richtig.“ Er lud ein weiteres Stück Kuchen auf seine Gabel und schüttelte heftig den Kopf. „Ganz schlechte Idee.“
Mit nur fünf Personen schafften sie es, einen Großteil des Kuchens zu vertilgen, und die Völlerei des Abends und der Zuckerschub ihres Desserts machten die Gespräche erheblich träger. Sogar Emerson, der sonst unermüdlich war, wirkte müde, als er wie alle anderen seinen Teller von sich schob.
Evette bemerkte die Müdigkeit ihres Jungen und beugte sich zu Sergei, um ihm etwas ins Ohr zu flüstern.
Sergei nickte, erhob sich und bedeutete Emerson, dasselbe zu tun. „Komm. Es ist Zeit, dich und deine Mutter nach Hause zu bringen.“
Kir und Roman standen ebenfalls auf.
„Aber Onkel Kir hat doch Geburtstag. Die Jungs haben gesagt, wir machen nach dem Abendessen noch mehr Geburtstagskram.“
„Nein, sie machen später Geburtstagskram.“ Evette schob ihren Stuhl unter den Tisch mit der Glasplatte und legte ihre Serviette neben ihren leeren Teller. „Dort, wo sie hingehen, lässt man Achtjährige nicht mitkommen. Du musst zu Hause bleiben und deiner Mutter Gesellschaft leisten.“
„Warte nur ab“, sagte Kir zu Emerson. „Wenn du einundzwanzig wirst, werden dich die Jungs ausführen und du musst nicht nach Hause gehen, wenn du nicht willst.“
Evette war etwa dreißig Zentimeter kleiner als Kir, aber ihre verspielte Frechheit war enorm groß und jeder liebte sie dafür. „Halt den Mund, Kir Vasilek. All die Ideen, die der Junge von dir und deinen Männern erhält, sind schon schlimm genug. Er braucht keinen dreizehnjährigen Vorsprung, um all die Schwierigkeiten zu planen, in die er geraten will, sobald er volljährig ist.“
Kir drückte seine Hand auf seinen übervollen Bauch und verneigte sich neckend vor ihr. „Natürlich, Madame“
Sie schnaubte und winkte ab. „Gott schütze mich vor so viel Testosteron.“
Sergei lachte und zog sie eng an sich. „Du musst es nur sagen und wir werden damit anfangen, die Waage mit einem kleinen Mädchen auszugleichen.“
Dazu rollte Evette mit den Augen, grinste jedoch gleichzeitig auf eine Weise, die deutlich zeigte, dass sie nichts dagegen hätte, für ein solches Ergebnis zumindest zu üben.
„Gebt mir fünfundvierzig Minuten, um sie abzusetzen und dann zurückzukommen“, wandte sich Sergei nun an Kir und Roman.
Kir lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Die Passform seiner Anzughose war unangenehmer, als er zugeben wollte. „Lass dir Zeit. Ich brauche Wodka und eine Pause, bevor mehr gefeiert werden kann.“
„Könnte von einem alten Mann kommen“, sagte Roman und nahm einen Schluck von seinem Wodka zu sich. „Bist du sicher, dass du nicht lieber nach Hause willst, damit du gut schlafen kannst?“
Evette kicherte und kuschelte sich näher an Sergei, ihr Kopf lehnte wie selbstverständlich an seiner Brust. „Armer Kir. Du wirst dir heute Abend wohl noch einige Spitzen anhören müssen.“
Sergei schüttelte den Kopf, doch das liebevolle Lächeln auf seinem Gesicht, während er seine Frau Richtung Ausgang drehte, bewies, dass er ihre Neckereien liebte.
Evette reckte ihren Kopf zu Kir, lange genug, um zu winken. „Habt viel Spaß und seid vorsichtig, ihr beiden.“
„Alles Gute zum Geburtstag, Onkel Kir“, rief Emerson ebenso laut.
Und dann waren sie weg; wie am Ende eines Märchens verschwand das Dreiergespann in den schwülen Schatten des Hauptgebäudes der Bar.
„Sie tut ihm gut“, murmelte Roman. „Erdet ihn.“
Es war keine Überraschung, dass sein alter Freund das aussprach, was Kir im selben Moment gedacht hatte. Solange Kir sich erinnern konnte, hatten sich die beiden in den gefährlichsten Ecken von St. Petersburg herumgetrieben. Roman war einer der wenigen Menschen gewesen, die stets hinter ihm gestanden hatten, trotz des Verrats seines Vaters.
„Sergei war schon immer geerdet.“ Kir starrte einen Moment länger auf die nun verschlossene Tür und wandte sich dann erneut seinem leeren Teller zu. Er legte ein Handgelenk auf sein Knie und griff nach seinem Wodkaglas. „Ich muss jedoch zugeben, dass ihre Anwesenheit gut ist.“
„Hmmpf.“ Roman nahm sein Glas auch wieder in die Hand. „So, wie du klingst, scheint es hart für dich gewesen zu sein, das zuzugeben.“
Jetzt nicht mehr so, aber zu Beginn war er absolut dagegen gewesen, dass Sergei jemandem näherkam. Zumindest, bis er Evette besser kennengelernt hatte. Kir stellte seinen Tumbler auf den Tisch vor sich und fuhr mit den Fingerspitzen durch das Kondenswasser, das sich auf der Außenseite gebildet hatte. „Sie ist nicht wie die meisten.“
„Du tust gerade so, als ob man niemandem, der eine Pussy hat, trauen könnte.“
„Und du tust so, als ob du viele getroffen hättest, denen man trauen kann.“
Anstatt darauf zu antworten, schwieg Roman. Eine besonders merkwürdige Reaktion, wenn man bedachte, dass die beiden sich seit Jahren immer wieder über dieses Thema stritten.
Als Kir nicht länger grübelte und aufblickte, bemerkte er, dass Roman in der Menge hinter seinem Rücken jemanden mit einem Stirnrunzeln ansah. Bevor er sich umdrehen und Romans Blick folgen konnte, richtete Roman seine Aufmerksamkeit wieder auf ihn. „Nur weil deine Mutter ein fauler Apfel war, heißt das noch lange nicht, dass das gesamte Geschlecht fehlerhaft ist.“ Er trank seinen Wodka aus, schob das Glas zurück auf den Tisch und wechselte das Thema. „Also. Wie schnell willst du dich heute Nacht zwischen den Schenkeln einer Frau niederlassen? Oder sollen wir lieber einen der Männer anrufen, um dich früh ins Altersheim bringen zu lassen?“
Kir konzentrierte sich auf den Themenwechsel und ließ den Seitenhieb mit seiner Mutter in der Vergangenheit, wo er hingehörte. „Du bist nur neidisch, weil du zu brachial bist, um den Ladys zu gefallen.“ Er hob sein Glas zum Scheingruß. „Außerdem muss einer von uns, jetzt, da Sergei unter der Haube ist, die Lücke schließen und das Gleichgewicht bewahren.“
„Ist es das, was du tust? Das Gleichgewicht halten?“
Kir hob die Schultern und hätte sonst etwas darum gegeben, die Anzugjacke endlich loszuwerden. „Und mich amüsieren.“
„Interessant.“ Roman beobachtete erneut die Menge, sein Blick geschärfter als üblich. „Sieht für mich eher so aus, als wärst du ein Mann, der der Wahrheit aus dem Weg geht.“
Etwas stimmte nicht.
Obwohl er nicht behaupten würde, dass Roman unruhig wirkte, hatte er das entspannte Auftreten vom Moment zuvor verloren. „Welcher Wahrheit?“
Romans Fokus lag eine Sekunde länger auf dem Raum und sein Stirnrunzeln verschwand. Er konzentrierte sich auf Kir. „Dass Sergei möglicherweise recht hatte, sich niederzulassen.“
Ein spöttisches Geräusch drang aus Kirs Kehle. „Für mich? Keine Chance. Evette ist ein seltener Fund. Unser pakhan hatte vielleicht Glück, aber ich würde auf keinen Fall das, was ich heute habe, für eine Frau riskieren.“
Roman neigte den Kopf zur Seite und seine Stimme fiel auf das Level eines Mannes, der sich einer tickenden Zeitbombe näherte. „Ich will dich nur daran erinnern, dass du eine deiner kostbaren Regeln letztes Jahr für diese Reporterin gebrochen hast.“
Kir studierte die Menge um sich herum. Es waren viele schöne Menschen hier, die das Wochenende bei gutem Essen, guten Getränken und in guter Gesellschaft feierten.
Cassie McClintock war einer dieser schönen Menschen. Groß, kurzes platinblondes Haar und ein geschmeidiger Körper. Ein Megawattlächeln, das jeden entwaffnen konnte. Außerdem lustig und verführerisch intelligent. Diese berauschende Mischung hatte ihm ganz schön den Kopf verdreht.
„Ich habe keine Regeln“, sagte Kir.
„Du hast einer Frau nie öfter als einmal deine Zeit und Aufmerksamkeit geschenkt, aber bei ihr hast du es getan. Jetzt, wo ich näher darüber nachdenke, hat deine Besessenheit, jede Frau in New Orleans ins Bett zu kriegen, zugenommen, nachdem du dich ein zweites Mal mit ihr getroffen hattest. Hat sie dich vielleicht erschreckt?“
Okay, möglicherweise hatte er doch Regeln. Sorgfältig ausgearbeitete Protokolle, um sicherzustellen, dass er niemals Opfer von Fallen oder Betrügereien wurde, wie er es bei so vielen Männern gesehen hatte, mit denen er zusammengearbeitet hatte. „Ich interessiere mich nicht für Beziehungen. Ich habe sie nur ein zweites Mal kontaktiert, um unsere Pläne mit Alfonsi weiterzutreiben. Nicht, weil ich mehr von ihr wollte.“ Und der unendliche Sommer würde nach Russland kommen, bevor er jemals zugeben würde, dass er mehrfach versucht hatte, sie zu erreichen, und herrschaftlich abgeblitzt war.
Für einen kurzen Augenblick fiel Romans Blick auf eine Stelle knapp über Kirs Schulter, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder auf Kir richtete. Er grinste und griff nach seinem Glas. „Ist das so?“ Er stand auf, genau in dem Moment, als Kir jemanden hinter sich bemerkte.
Roman sagte auf Russisch: „Denk dran, Bruder, die schlimmsten Lügen sind die, die wir uns selbst erzählen.“
Bevor er verarbeiten oder fragen konnte, was Roman damit meinte, ertönte hinter ihm eine unverkennbare weibliche Stimme. „Kir?“
Er hätte sich erheben sollen.
Er hätte sich zumindest zu ihr umdrehen und sie ansehen sollen, doch die Manieren, die seit seiner Geburt tief in ihm verwurzelt waren, konnten sich nicht von dem Schock und der fremdartigen Panik befreien, die seine Muskeln erfasst hatten.
Roman nickte kaum wahrnehmbar, die stille Herausforderung in seinen grauen Augen war laut und deutlich. Er richtete seine Aufmerksamkeit auf Cassie und sein strenger Blick veränderte sich, dass er auf einmal fast umgänglich wirkte. „Miss McClintock. Schön, Sie zu sehen.“ Mit seinem leeren Glas in der Hand deutete er auf Kir. „Bitte nehmen Sie Platz und unterhalten Sie meinen Bruder. Ich muss mir einen Drink besorgen.“
Er ging ohne ein weiteres Wort.
Cassie hingegen rührte sich nicht.
Aber sie war immer noch da. Kir konnte sie fühlen. Das Gewicht ihres Blickes auf seinem Rücken und das gleiche prickelnde Bewusstsein, das er in der Nacht gespürt hatte, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte. Er zwang seine Muskeln dazu, sich zu entspannen, und deutete auf Romans frei gewordenen Stuhl. „Setz dich doch. Ich glaube nicht, dass eine Unterhaltung mit meinem Hinterkopf erfreulich wäre.“
Es dauerte noch ein paar zögerliche Momente, bevor sie sich bewegte. Die Energie pulsierte von ihr wie bei einem Reh, das sich einem Gewehrlauf gegenüber fand.
In der Sekunde, als sie in Sicht kam, bereute er seine Einladung. Er erkannte, dass er sich nicht angemessen auf das bevorstehende Gefecht vorbereitet hatte, weil die verstrichene Zeit seine Erinnerung deutlich gedämpft hatte. Vielleicht war das eine Überlebenstaktik des Verstandes. Ein Weg, um vergangene Verletzungen zu lindern und seine Lunge, sein Herz weiterarbeiten zu lassen, nachdem sie ihn fallen gelassen hatte.
Weil sie schön war.
Nicht schön wie diese x-beliebig austauschbaren nichtssagenden Models, sondern einzigartig und lebendig. Blaue Augen, eine kleine Stupsnase, die zu ihrer kühnen Persönlichkeit passte, und volle Lippen, die sich himmlisch an seinen angefühlt hatten.
Er konnte sie nach wie vor auf seiner Zunge schmecken.
Er konnte dieses kehlige Geräusch hören, das sie von sich gegeben hatte, wann immer er eine sensible Stelle an ihrem Körper gefunden hatte.
Sie war vor Romans Stuhl stehen geblieben und umklammerte ihre winzige Handtasche mit beiden Händen. Das korallenfarbene Leder passte zu ihren Nägeln und den fantasievollen Blumen auf ihrem weißen Sommerkleid. Sie hatte sich absichtlich so angezogen, um die Blicke der Männer auf sich zu ziehen. „Bist du dir sicher, dass es dir nichts ausmacht?“
Er räusperte sich und nippte an seinem Wodka, um seine Bitterkeit zu vertreiben. „Gibt es einen Grund, warum du denkst, dass es mir etwas ausmacht?“
„Vielleicht, weil ich mich kacke verhalten und dich nie zurückgerufen habe?“
Er lachte leise. „Deine Direktheit war immer etwas, was ich geschätzt habe.“ Er nickte mit dem Kopf in Richtung Stuhl und stellte sein Glas auf dem Tisch ab. „Bitte nimm Platz.“
Sie legte ihre Handtasche ab und überflog die leeren Teller und Reste seiner Geburtstagstorte, während sie sich setzte. „Es waren mehr Leute hier, als ich reingekommen bin. Habt ihr etwas gefeiert?“
„Meinen Geburtstag.“
„Oh, das wusste ich nicht.“ Sie lächelte, doch dem Lächeln mangelte es an der üblichen Kraft. „Alles Gute zum Geburtstag.“
Er nickte anstelle eines Dankes.
„Waren das Verwandte?“
„Keine Blutsverwandte, aber trotzdem Familie.“
Ihr Lächeln verblasste und sie senkte den Blick. „Nun, es hat so ausgesehen, als hättest du eine gute Zeit gehabt.“
Seltsam. Er hatte zwar nur zwei außergewöhnliche Nächte mit ihr verbracht, jedoch hatte er nie gesehen, dass sie sich so steif verhielt. So, als wäre sie bereit, jederzeit wegrennen zu können. Von jemandem in seinem Fadenkreuz würde er so etwas erwarten, aber dass sie sich so gab, war ungewöhnlich.
Sie hat Angst vor dir.
In der Sekunde, als dieser Gedanke durch seinen Kopf flüsterte, wusste er, dass es die Wahrheit war. Die Frage war nur, warum.
„Ich habe euren Werdegang verfolgt, nachdem wir uns das letzte Mal gesehen haben. Es scheint, als hättet ihr viel Boden gutgemacht seit Alfonsis Sturz.“ Sie sah ihn unter ihren langen Wimpern an und hob dann ihr Kinn. „Ich habe selbst einiges dazugewonnen, weil du den Ball ins Rollen gebracht hast. Ich bin mir nicht sicher, ob ich den gleichen Erfolg gehabt hätte, wenn du nicht gewesen wärst.“ Sie zögerte einen Herzschlag lang und ihre Lippen verzogen sich zu einem sanften und aufrichtigen Lächeln. „Ich habe dir nie wirklich dafür gedankt, aber ich wusste es sehr zu schätzen.“
Interessant. Ein Dankeschön und Angst in einem Treffen gemischt. „Bist du deshalb heute Abend hier? Um mir zu danken?“
Sie schüttelte den Kopf und rümpfte die Nase. Eine entzückende Geste, bei der er sich fragte, wie sie wohl ausgesehen hatte, als sie klein gewesen war.
„Nicht nur. Ich meine, ich bin dankbar und wollte es dir sagen, aber …“ Sie verschränkte die Hände fester auf ihrem Schoß und holte tief und langsam Luft. „Ich wollte mich auch entschuldigen.“
„Für?“
Das schüchterne Zögern verschwand blitzschnell und sie zog eine Augenbraue hoch, um dem trockenen Humor ihrer Stimme zu entsprechen. „Echt jetzt? Ich habe mindestens fünf Sprachnachrichten von dir ignoriert. Und du fragst mich, wofür ich mich entschuldige?“
Da war es. Der Mumm und der Witz, die er für so kurze Zeit so genossen hatte und die alles andere verblassen ließen. „Ich hätte etwas weniger Ausweichendes bevorzugt, aber eine Zurückweisung erfordert kaum eine Entschuldigung.“
„Tut sie sehr wohl, wenn die Person, die mich angerufen hat, alles getan hat, um mir auf der Karriereleiter hochzuhelfen.“
Die Gespräche, die Musik und die Energie des beginnenden Wochenendes um ihn herum veränderten sich nicht, aber alles in Kir wurde unheimlich still. „Ich habe nur angenommen, dass du alles von unserer … Bekanntschaft … bekommen hast, was du brauchtest.“
Ihr Hals rötete sich, und sie verzog den Mund, als hätte sie auf eine saure Traube gebissen. „Ich nehme an, dass es so aussehen musste. Aber glaube mir, du hast mir wirklich sehr geholfen. Nicht nur mit meinem Job, sondern auch mit meiner Familie. Und nein, das war nicht der Grund, warum ich dich nicht zurückgerufen habe.“
Er zwang sich dazu, seinen Gesichtsausdruck weiter teilnahmslos wirken zu lassen, sich völlig still zu verhalten, obwohl sein Instinkt ihm riet, sich nach vorn zu beugen und zu fordern, dass sie mit ihrer Erklärung weitermachte.
Sie schluckte so schwer, dass es fast aussah, als würde es schmerzen, aber sie hielt seinem Blick stand. „Ich wusste nicht, wer du bist.“
„Wer ich bin?“
„Für wen du arbeitest.“ Sie kreiste mit der Hand vor sich, als würde diese Geste die Worte aus ihrem Kopf drängen „Was du arbeitest. Ich meine, um deinen Lebensunterhalt zu verdienen.“
Sie hat tatsächlich Angst vor dir.
Warum der Gedanke beim zweiten Mal so viel mehr wehtat, konnte er nicht sagen, allerdings konnte er ihr auch nichts vorwerfen.
„Ich habe angefangen, mich mit den Details zu befassen, die du mir damals gegeben hast“, sagte sie. „Dann fragten mich die Kollegen, wer meine Quelle sei. Ich habe ihnen deinen Namen genannt, und sie haben mir erzählt, dass du für Sergei Petrovyh arbeitest.“ Sie verzog das Gesicht, als wäre sie sich nicht sicher, was sie als Nächstes sagen sollte. „Es ist einschüchternd, weißt du? Erschreckend. Als du angerufen hast, wusste ich nicht, was ich machen sollte. Dann trudelten die Folgestorys ein, und mein Redakteur begann, meine Arbeit zur Kenntnis zu nehmen, also habe ich es so weiterlaufen lassen. Zum ersten Mal in meiner Karriere hat mein Vater das Wort Beeindruckendverwendet.“ Sie pausierte, um tief Luft zu holen und ihn zu mustern. „Rückblickend denke ich, dass ich all den Schwung und die Aktivität genutzt habe, um die Tatsache zu ignorieren, dass ich mich ziemlich arschig verhalten habe und … nun, es tut mir leid.“
Sie log nicht. Bei keinem einzigen Wort. Er hatte sein ganzes Leben lang Menschen lesen können, und oft war sein Überleben davon abhängig gewesen, sie richtig zu lesen. Sie war absolut aufrichtig. Ebenso hatte sie ihm einen kleinen Einblick in ihr Leben gewährt. „Ich dachte, du redest nicht gern über deine Familie.“
Ihr Kopf ruckte zurück, als wäre sein Kommentar aus der Luft gegriffen. „Bitte?“
„Bei unserem zweiten Date habe ich dich nach deiner Familie gefragt und woher du kommst, und du hast das Thema geschickt gewechselt. Und heute Abend hast du gleich zweimal davon gesprochen. Warst du zuvor zurückhaltend oder schüchtern?“
Sie stieß einen müden Seufzer aus und ihre Schultern sanken herab. „Ehrlich gesagt, ich spreche normalerweise nicht über sie. Der Umgang mit ihnen ist anstrengend und deprimierend genug. Mit jemand anderem über die Einzelheiten zu reden, ist wie Salz in eine offene Wunde zu streuen.“
„Inwiefern anstrengend?“
Sie betrachtete ihn einige Sekunden lang und Widerwille spiegelte sich in ihren stürmisch blauen Augen wider. Ob es an ihrem schlechten Gewissen lag, das an ihr nagte, oder weil sie beschlossen hatte, sich ihren Ängsten zu stellen, konnte er nicht genau sagen, aber irgendetwas brachte sie dazu, sich ihm zu öffnen. „Ich bin so was wie das schwarze Schaf in meiner Familie.“ Sie rümpfte erneut die Nase, obwohl die Aktion ohne das Lächeln, das sie zuvor damit kombiniert hatte, etwas traurig wirkte. „Eher das absolut schwarze Schaf, sozusagen.“
„Wieso das?“
Sie zuckte mit den Schultern. „Meine Mutter ist Neurowissenschaftlerin und mein Vater ein Nuklearingenieur und dann gibt es noch den Experimentalphysiker in Form meines Bruders. Ich habe jahrelang versucht, etwas ähnlich Anspruchsvolles anzustreben, doch am Ende hat sich herausgestellt, dass mein Talent eher bei der Reportage liegt. Dabei spielt es auch keine Rolle, dass ich meinen Bachelor mit Auszeichnung absolviert habe. Dad sagt dazu nur, dass es ein Bachelor für Insolvenz wäre.“
„Klingt nicht besonders unterstützend.“