NOLA Knights: Mine to Keep - Rhenna Morgan - E-Book

NOLA Knights: Mine to Keep E-Book

Rhenna Morgan

5,0

Beschreibung

NOLA Knights - New Orleans, Louisiana: Ungezügeltes russisches Heißblut und dunkle Vergangenheit. Wenn diese rauen Männer der Bratva eine bestimmte Frau als ihr Ziel auserkoren haben, setzen sie alles daran, dass sie ihnen gehört. Bonnie Drummond stammt aus einer Familie von Lügnern und Kriminellen. Egal, wie sehr sie versucht, gesetzestreu und geradlinig durchs Leben zu gehen, wird sie immer wieder in das Familiendrama hineingezogen und ist gezwungen, alles zu opfern, um ihre Familie zu schützen. Aber dieses Mal sind sie zu weit gegangen – sie haben sich mit den falschen Leuten angelegt. Um sie zu retten, muss Bonnie diesmal sogar ihr Leben aufs Spiel setzen. Roman Kozlov, Vollstrecker einer Mafiya-Familie in New Orleans, ist ein Paradebeispiel für das Leben, dem Bonnie zu entkommen versucht. Doch er ist ebenso verlockend wie er auch gefährlich ist - und es dauert nicht lange, bis beider Leben miteinander kollidieren. Mit Roman findet Bonnie die Familie, die sie nie hatte. Während der Wettlauf um Antworten immer heftiger wird, wächst auch die aufkeimende Romanze zwischen ihnen. Und da ihr die Gefahr auf den Fersen ist und die Liebe ihr Herz bedroht, muss Bonnie sich ihrer Vergangenheit stellen, wenn sie eine Zukunft haben will.

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Man kann sich nicht von der Lektüre losreißen

Auch der letzte Teil der Buchreihe ist fesselnd geschrieben.Man kann nur schwer aufhören zu lesen.
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Rhenna Morgan

NOLA Knights: Mine to Keep

Aus dem Amerikanischen ins Deutsche übertragen von Jazz Winter

© 2020 by Rhenna Morgan unter dem Originaltitel „Mine to Keep (NOLA Knights #3)“

© 2021 der deutschsprachigen Ausgabe und Übersetzung by Plaisir d’Amour Verlag, D-64678 Lindenfels

www.plaisirdamour.de

[email protected]

© Covergestaltung: Sabrina Dahlenburg (www.art-for-your-book.de)

© Coverfoto: Shutterstock.com

ISBN Print: 978-3-86495-514-3

ISBN eBook: 978-3-86495-515-0

Dieses Werk wurde im Auftrag von Harlequin Books S.A. vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Die Personen und die Handlung des Romans sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten oder lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.

Dieser Roman darf weder auszugsweise noch vollständig per E-Mail, Fotokopie, Fax oder jegliches andere Kommunikationsmittel ohne die ausdrückliche Genehmigung des Verlages oder der Autorin weitergegeben werden.

Für meine Leser*innen

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Danksagungen

Autorin

Kapitel 1

Das Gute an öffentlichen Verkehrsmitteln war, dass man sich besser auf sie verlassen konnte als auf Bonnies schrottreifen Ford Focus.

Der Nachteil?

Die Busse und Bahnen von New Orleans wurden leider nicht auf Abruf betrieben. Das würde später am Nachmittag eine lange Heimfahrt bedeuten. Nicht gerade ideal, wenn du versuchst, dem Albtraum von einem Viertel zu entkommen, in dem du aufgewachsen bist.

Bonnie lehnte sich gegen die harte Plastiklehne des Sitzes im Bus, kreuzte ein Bein über das andere und warf einen Blick auf die Fahrgäste. An diesem Montagnachmittag hatte die Linie 80 nicht viele Passagiere, aber diejenigen, die hier drinsaßen, sahen aus, als ob sie alle mindestens drei Tage lang nichts außer Schlaf nötig hätten.

Alle bis auf den Mann im grauen schmutzigen Overall, der ganz hinten im Bus saß. Er hatte sich über drei Sitze ausgestreckt und schlief bereits, als sie in der Nähe ihres Apartments in Tremé eingestiegen war. Keine Ahnung, ob er betrunken war oder sich nur vor dem plötzlichen Kälteeinbruch, der seit gestern herrschte, versteckte. Doch bisher hatte er sich nicht ein Mal bewegt. Nicht mal, wenn die Bremsen des Busses an jeder einzelnen Haltestelle schmerzhaft aufkreischten.

Es waren zwölf, um genau zu sein.

Wenn das so weiterging, würde Bonnie einen Hörsturz erleiden, noch bevor sie dort angekommen war, wo sie hinwollte.

Als hätte der Fahrer ihre Gedanken hören können und sie als persönlichen Angriff gewertet, trat er erneut auf die Bremse und sorgte für ein weiteres heftiges Aufquietschen. Die Passagiere hatten sich kaum von dem scharfen Vorwärtsruck erholt, da öffnete er die Türen und murmelte ins Mikrofon: „Louisa und Abundance Street.“

Bonnie seufzte und stand auf. „Trautes Heim, Glück allein.“

Eigentlich hatte sie ihren bissigen Kommentar nur leise gemurmelt, aber eine Frau mittleren Alters, die die ganze Zeit bemüht war, zwei energiegeladene Jungs in Schach zu halten, antwortete ihr. „Sieh es einfach mal so: Wo immer du von hier aus hingehst, geht es nur aufwärts.“

Mit einem scharfen Lachen verließ Bonnie den Bus, trat auf den Bürgersteig und schob sich den Rucksack etwas höher auf die Schulter. Die Frau lag nicht falsch. Für ein Viertel, das Desire genannt wurde, war es meilenweit von dem entfernt, was man sich wünschen konnte. Es wirkte eher wie ein kleines Dorf, das man in den 1970ern vergessen hatte und das in diesem Jahrzehnt stecken geblieben war. Einige winzige Häuser standen in dem ehemals vollständig besiedelten Gebiet. Ein paar wenige wirkten gepflegt und waren von Maschendrahtzäunen umgeben, während andere fast auseinanderfielen. Dazwischen befanden sich viele leere Grundstücke, die jetzt mit Unkraut bewachsen waren, das hoch genug war, um mit den Bäumen in Konkurrenz treten zu können. Das einzige neu gebaute Gebäude war eine recht große Kirche, die von jungen Kreppmyrten umgeben war.

Der Busfahrer startete den Motor und fuhr davon. Bonnie war zwei Blocks und eine fruchtlose Konversation entfernt von ihrem Zufluchtsort. Während sie die Straße überquerte, schlug sie den Kragen ihrer Jeansjacke hoch und senkte das Kinn, um sich vor dem frischen Wind zu schützen. „Ich muss dringend meinen Wagen reparieren lassen.“

Die Clouet Street ließ sie rasch hinter sich. Der Anblick, der sie begrüßte, war derselbe wie immer – Papas Chevy parkte ein wenig abseits der winzigen Auffahrt, das Tor des Maschendrahtzauns stand offen und der Mülleimer, der nie reingeholt wurde, war übervoll.

Im Grunde genommen war das Gebäude doppelt so breit, wie es den Anschein hatte, und in dem hellsten Braunton gestrichen, den es gab. Früher hatten die Eichen im vorderen Bereich und im Garten hinter dem Haus dem Ganzen ein gemütliches Gefühl verliehen. Allerdings waren sie schon ewig nicht mehr beschnitten worden und verdeckten mittlerweile das Gebäude.

Sie ging an der Triumph, dem Motorrad ihres Bruders vorbei, die ständig den Bürgersteig blockierte, joggte die Zementtreppe hoch und war sicher, dass die Haustür mal wieder nicht abgeschlossen war.

Das Wohnzimmer war dunkel und unordentlich. Die Jalousien an den Fenstern waren geschlossen, obwohl der Himmel draußen voller Wolken hing, und auf dem Wohnzimmertisch und dem Sofa lagen lauter Rechnungen und Werbung verstreut. Auch in der Küche brannte kein Licht. Wenigstens fiel etwas Helligkeit durch das unbedeckte Fenster dort. Sie lief in die Richtung und öffnete ihren Mund, um Hallo zu rufen, blieb jedoch stehen, als sie die Stimme ihres Vaters aus seinem Zimmer am Ende des Flurs brüllen hörte. „Junge, du hast nur Scheiße im Hirn. Was hast du dir dabei gedacht?“

Nun, das beantwortete wenigstens die Frage, wo sie waren. Sie änderte ihre Richtung und räumte einen Stapel Motorradmagazine vom Sofa.

Die Antwort ihres Bruders Kevin war vom Wohnzimmer aus nicht zu verstehen, aber der Tonfall erinnerte sie an all die Lektionen, die er im Laufe der Jahre bekommen hatte. Sie könnte darauf wetten, dass er dastand, seine Hände tief in den Hosentaschen vergraben, mit finsterem Blick und gerötetem Gesicht, wie all die Male zuvor.

Die Ironie dieser Diskussionen war, dass Dad oft mindestens genauso schuldig war, etwas getan zu haben, was er nun Kevin vorwarf (und noch einiges mehr). Was meistens der Grund dafür war, dass sich ihr Bruder schwer zusammenreißen musste, um nicht auszurasten.

Ah, die Freuden, eine Familie zu haben.

Sie ließ sich auf die Couch fallen, öffnete ihren Rucksack und holte einige Arztrechnungen heraus, mit denen sie sich in den letzten Wochen beschäftigt hatte. Sie könnte es sich genauso gut gemütlich machen und ihre Sachen auf die Reihe bekommen, während die beiden ausfochten, was immer es war. Es war besser, als sich einzumischen. Diese Lektion hatte sie auf die harte Tour gelernt, nachdem ihre Mutter gestorben war und sie versucht hatte, den Schiedsrichter bei einem Faustkampf zwischen zwei Betrunkenen zu spielen.

„Es reicht!“ Kevins Stimme hätte man noch draußen auf der Straße hören können. „Du kannst mich beschimpfen, wie zum Teufel du willst, aber wenn du denkst, dass Bonnie genug hat, um dich bei Pauley auszulösen, dann hast du sie nicht mehr alle.“

Bonnies Kopf ruckte so schnell von dem Stapel Rechnungen auf ihrem Schoß empor, dass ihr Genick knackte. Pauley? So wie Pauley Mitchell?

Sie warf die Unterlagen zu dem anderen Müll auf dem Wohnzimmertisch und ging in das Zimmer ihres Vaters. Sie hatte noch nicht einmal das Ende des Flurs erreicht, als sie bereits in die Diskussion mit einstieg. „Sag mir jetzt nicht, dass du dir schon wieder was bei diesem Geldhai geliehen hast? Hast du eine Ahnung, wie viel Zeit es mich gekostet hat, deine letzten Schulden zu begleichen?“

Die Männer richteten ihre Aufmerksamkeit auf sie, die Augen weit aufgerissen und die Münder offen.

Übersetzt bedeutete das: Sie fühlten sich beide verdammt schuldig wegen irgendetwas.

Ihr Vater erholte sich zuerst von dem Schock, schüttelte den Kopf und nahm dieses für ihn so typische Bullshit-Verhalten ein. Das tat er immer, wenn er etwas unter den Teppich kehren wollte. „Mit Pauley läuft nichts, was du wissen musst, Kleines.“ Er richtete einen warnenden Blick an Kevin und watschelte dann mit eindeutigen Schmerzen, die ihn in letzter Zeit plagten, auf sie zu. Er packte ihre Schulter, nachdem er nahe genug war, und lenkte sie zurück in Richtung Flur. „Na komm, ich habe dieses Schlafzimmer so satt, dass ich kaum mehr richtig sehen kann. Machen wir es uns gemütlich, und dann kannst du mir erzählen, warum du hier bist.“

Als ob er das nicht wüsste. Das Einzige, worüber ihr Bruder und ihr Vater mit ihr reden wollten, war Geld.

Kein Wunder, denn sie war die Einzige, die für mehr als ein paar Monate einen Job behalten konnte. Oder in Bonnies Fall, zwei oder drei Arbeitsstellen gleichzeitig.

Doch so etwas rieb man einem sterbenden Mann nicht unter die Nase, also tat sie so, als ob sie auf das Schöngetue reinfiele, und pflanzte ihren Hintern zurück auf das Sofa.

Ihr Vater ließ sich nicht so rasch nieder. Die geschwollenen Gedärme, ein Nebenprodukt seiner versagenden Leber, war nur eine der traurigen Realitäten, denen er sich stellen musste. „Nun“, sagte er, nachdem er es in seinen Sessel geschafft und die Beine hochgelegt hatte. „Erzähl mir, was dich hierher bringt.“

Ernsthaft? Sie wollten um den heißen Brei reden? Normalerweise war er recht fix dabei, sie nach den Geldgesprächen wieder loszuwerden, damit er in Ruhe seinen Whiskey trinken konnte.

„Ähm, Rechnungen?“

Ihr Dad – oder Buzz, wie ihn seine Kumpels nannten, weil er ständig auf der Suche nach dem nächsten Hoch war – schob ihre Bemerkung beiseite und lächelte. „Genug von den Rechnungen. Diese allmächtigen Arschlöcher haben mir bereits gesagt, dass sie mir keine Transplantation geben werden. Es hat keinen Sinn mehr, dass einer von uns Wasser mit einem Fingerhut schöpft, während ich am Ende doch ins Gras beiße. Jetzt … erzähl mir lieber davon, wie dein neuer Job so läuft.“

Neuer Job?

Welcher? Der als Rezeptionistin eines Fernsehsenders? Oder der als Bedienung in der Bar, die sie praktisch komplett allein schmiss? Und wie zum Geier kam er darauf, sie als neu zu bezeichnen, wenn man bedachte, dass sie beide Arbeitsstellen bereits seit über sechs Monaten hatte? Das war seltsam.

„Nun, äh …“ Sie warf einen Blick zu Kevin, der die Lamellen der Jalousie auseinandergezogen hatte und auf das leere Grundstück neben dem Haus starrte, als lägen dort all die Antworten, die das Universum bereithielt. „Die Sache beim Fernsehsender läuft gut. Ich sitze den ganzen Tag auf meinem Hintern, gehe ans Telefon und lasse keine verrückten Leute ins Haus. Es ist leicht verdientes Geld, solange ich nicht meine Geduld mit irgendwem verliere.“

Ihr Vater lachte – oder versuchte es. Er stieß ein Gackern aus, das in einem heftigen Raucherhusten mündete. „Öffentlichkeitsarbeit. Du warst schon immer gut darin, dafür zu sorgen, dass die Leute sich benehmen. Deswegen können wir uns immer auf dich verlassen, so wie sie es tun.“

Auf sie verlassen? Nun, sie würde es eher als ausnutzen bezeichnen. Aber hey – sie hatte nie den Mut gehabt, Nein zu ihrer Familie zu sagen, also hatte sie auch keinen Grund, sich zu beschweren, oder? „Ja, sie nennen es nicht direkt Öffentlichkeitsarbeit. Sie sagen dazu Empfangsdame. Aber es ist ein Schreibtischjob und ich hatte noch keine Kampfausbrüche. Was ich von den meisten Nächten im Dusty Dog nicht sagen kann.“

„Oh, richtig.“ Dem Gesichtsausdruck ihres Vaters nach zu urteilen, hatte er vergessen, dass sie auch noch als Bedienung arbeitete. „Wie läuft der Laden überhaupt? Zuletzt habe ich gehört, dass dieser rostige alte Bastard, der das Ding gekauft hat, kurz davorsteht, das Zeitliche zu segnen.“

Okay. Hier stimmte etwas ganz und gar nicht. Dad war nun wirklich nicht der gesprächigste Mensch. Nur dann, wenn er jemanden zu einer seiner Betrügereien überreden wollte.

Bonnie gab es auf, gute Miene zum bösen Spiel zu machen, und richtete ihre Aufmerksamkeit auf ihren Bruder. „Willst du mir erzählen, was hier los ist?“

Kevin warf ihrem Vater einen wütenden Blick zu. „Wie er sagte. Es ist nichts“, gab er bissig von sich.

Von wegen, nichts. Das wollte sie gerade laut aussprechen, als ihr Bruder etwas vor sich hin murmelte, was sie jedoch nicht verstehen konnte. Er stolzierte zu dem abgenutzten Clubstuhl, über dessen Rückenlehne sein Mantel hing, und griff unter den Stuhl, um einen schlanken, glänzenden Laptop hervorzuholen. „Hier. Ich habe deinen Computer wieder mitgebracht.“

„Halleluja und preiset den Herrn.“ Sie sprang auf und wiegte das MacBook Pro, das sie vor einigen Monaten von Cassie bekommen hatte, wie ein Baby in ihren Armen. „Ich dachte schon, du hättest ihn verpfändet.“

Kevin schnaubte, schob seine Jacke aus dem Weg und setzte sich. „Fängst du jetzt auch noch an und willst mir das Leben schwer machen?“

„Weiß nicht“, gab Bonnie zurück. „Kommt ganz darauf an, wieso Dad es tut.“

„Nichts, worin du involviert sein wirst“, antwortete ihr Vater, bevor Kevin etwas sagen konnte. „Wenn ihr beide schlau wärt, würdet ihr euch von all dem Technik-Gedöns fernhalten. Irgendwann fliegt uns das um die Ohren und was macht ihr dann?“

Bonnie senkte den Kopf, um ihr Lächeln zu verbergen, und streichelte über den Computer. Die Vorbereitung auf Armageddon oder die gute alte technologische Revolution war das Lieblingsthema ihres Vaters, seit Kevin ihm das Internet zum ersten Mal gezeigt hatte. Dennoch würde er keinerlei Mühen in seine Prepper-Ideen stecken.

Statt näher auf das Gespräch mit ihrem Vater einzugehen, konzentrierte sie sich weiter auf Kevin. „Ich verstehe immer noch nicht, warum du einen Mac gebraucht hast. Was stimmt denn nicht mit dem neuen Windows-Computer, den du letztes Jahr bekommen hast?“

Ihr Vater schnaufte und rutschte in seinem Sessel herum.

Kevin räusperte sich und rutschte tiefer auf seinem Stuhl. „Ich dachte, ich könnte ein paar Apps damit erstellen. Es gibt eine Menge Nachfrage nach Leuten, die so was machen können – besonders für Dinge, die auf einem iPhone laufen. Mit einem Windows-Computer geht das nicht.“

„Ach ja? Und wie es ist gelaufen?“

Kevin rieb sich mit dem Handrücken die Nase und starrte auf den Wohnzimmertisch, während er antwortete. „Anscheinend ist das nicht mein Ding. Ich denke, ich halte mich besser an Netzwerke und Datenbanken.“

„Oder du könntest dich aus all dem Unsinn raushalten und dir einen richtigen Job suchen, wie deine Schwester“, warf ihr Vater ein.

Kevin war offensichtlich noch nicht mit dem Streit fertig. „Nur weil ich nicht in einer arschlangweiligen Firma die Stechuhr benutze, heißt das nicht, dass es Unsinn ist, was ich tue.“

„Oh, natürlich“, sagte Dad. „Es ist kein Unsinn. Es ist die eine Sache, die dich immer tiefer in die Scheiße reitet.“

Mmm. Gutes Argument. Was ihr Bruder als Arbeit mit Netzwerken und Datenbanken meinte, wurde von anderen Menschen als Hacking bezeichnet. Er war ein Hacker.

Statt darüber zu diskutieren, hob Kevin die Schultern und konzentrierte sich auf Bonnie. „Ein guter Rat an dich – ich habe die Ortungsdienste auf deinem Computer ausgeschaltet, an deiner Stelle würde ich es dabei belassen.“

„Was zum Teufel sind Ortungsdienste?“, fragte Dad.

Bonnie mischte sich ein, bevor die beiden wieder anfingen. „Es hilft dir dabei, den Laptop wiederzufinden, wenn du ihn verloren hast oder er dir gestohlen wurde.“

Dad sah zu Kevin. „Ist das wahr?“

„Zur Hölle, natürlich stimmt das. Ist bei Handys nichts anderes. So funktionieren die Dinge heutzutage.“

„Das ist Schwachsinn.“ Dad schnippte mit den Fingern in Richtung ihres Laptops. „Du wirst auf deinen Bruder hören und dieses Ortungsdings auslassen. Die Regierung hat nichts in deinen Angelegenheiten zu suchen.“

Bonnie hob kapitulierend die Hände. „Okay, okay. Ich werde es so machen. Können wir uns jetzt auf die verdammten Rechnungen konzentrieren, damit ich wieder nach Hause komme und meinen freien Tag genießen kann?“

Ihr Vater kreuzte die Hände über seinem geschwollenen Bauch.

Durch die Jalousielamellen, die Kevin zuvor auseinandergeschoben hatte, fiel nun mehr Licht in den Raum, und die Gelbsucht auf Dads Haut wurde deutlicher sichtbar. „Ich habe es dir schon gesagt. Ich werde mir keine Gedanken mehr um Rechnungen, Medikamente und Arzttermine machen. Ich werde die Zeit, die ich noch habe, so leben, wie ich es will. Ich will davon nichts mehr hören.“ Sein Blick wanderte zu Kevin und er fügte hinzu: „Von keinem von euch beiden. Verstanden?“

Nein, das tat sie nicht. Nicht ein bisschen. Sie hatte bereits ihre Mutter wegen Alkohol und Partys verloren. Sich zurückzulehnen und zuzusehen, wie ihr Vater aufgab, war nicht einmal im Entferntesten akzeptabel.

Ein Auto fuhr vor und hielt an. Das Rumpeln drang bis durch das einfach verglaste Wohnzimmerfenster. Da ihr Anwesen das letzte in einer Sackgasse war, wusste sie, dass die Freunde ihres Vaters angekommen waren, um mit ihm zu saufen.

„Willst du mich verarschen?“ Bonnie drehte sich um, um einen Blick zwischen den Jalousielamellen hindurch zu werfen. „Es ist noch nicht einmal drei Uhr nachmittags.“

Bevor sie etwas sehen konnte, schlug Kevin ihre Hand fort, um selbst nachzusehen.

Er richtete sich auf und warf Dad einen Blick zu, der mehr als geschäftlich aussah. „Sie sind es.“

„Verdammt noch mal, Junge. Ich habe dir gesagt, dass das nicht gut ist.“

Er klappte die Fußstütze seines Sessels hinunter wie ein Revolverheld, der seine Waffe bereit machte. Dad erhob sich, so schnell es ging, und winkte zum Flur. „Schaff Bonnie hier raus.“

„Sie kann nicht gehen. Wenn sie sie sehen, ist sie am Arsch.“

„Dann bring sie in mein Zimmer. Versteck sie im Waffenschrank. Ich werde uns Zeit verschaffen.“

„Seid ihr beide verrückt geworden?“, warf Bonnie ein.

Anstatt ihr zu antworten, schnappte Kevin sich ihren Laptop, schob ihn in ihren Rucksack und schubste sie den Flur entlang. Er senkte seine Stimme, während sie sich dem Zimmer ihres Vaters näherten. „Du musst still sein, Bonnie. Mach keinen Scheiß, okay? Kein verdammtes Wort, egal was passiert.“

„Ist das jetzt dein Ernst?“ Bonnie drehte sich, soweit es das Geschiebe ihres Bruders zuließ. „Was zur Hölle ist hier los?“

„Nichts, was du wissen musst.“ Kevin riss die Falttür des Kleiderschranks auf, schob die Klamotten beiseite und öffnete den Waffenschrank. Es war das Versteck, in dem ihr Vater früher seine illegalen Schusswaffen aufbewahrt hatte. Kein richtiger Schrank, sondern mehr ein Loch in der Wand mit nun leeren Gewehrhalterungen im Innern. Die Außenseite jedoch verschmolz mit dem Rest der Wandverkleidung im Raum. Kevin schob sie hinein und hielt nur einen Moment inne. „Versprich es mir.“

 Jemand klopfte an die Haustür und Kevins bereits blasses Gesicht wurde noch weißer. In all den Jahren und all den verrückten Situationen, in die er geraten war, hatte sie noch nie so viel Angst in seinen Augen gesehen.

Bonnie schluckte schwer und zog den Rucksack fest an ihre Brust. „O-okay.“

Dann presste sie ihre Lippen fest aufeinander. Kevin nickte und schloss die Tür.

Die Kleiderbügel kratzten auf der Metallstange und die Falttüren glitten leise wieder zu.

Was zur Hölle hatten die beiden vor?

Was sie immer tun, flüsterte ihr Gewissen ihr zu. Dinge außerhalb des Rahmens, in dem der Rest der Welt lebt, und ihre Ärsche in der ein oder anderen Schlinge landen.

Im Wohnzimmer ertönten Stimmen, aber ihr Herz pochte so laut, dass sie nichts von den Gesprächen verstehen konnte. Ein unangenehmer Schweißfilm bildete sich auf ihrem Rücken und ihrem Nacken.

Gott, sie hatte diese Kacke so satt. Ihr ganzes verdammtes Leben lang hatte sie ihr Bestes getan, um außerhalb des Schattens und des Chaos, das ihre Familie verursacht hatte, zu bleiben. Wieso sie keine normalen Jobs haben, ihre Steuern bezahlen und ein ruhiges Leben führen konnten wie jeder andere, das würde sie wohl niemals verstehen können. Alles musste eine einzige riesige Party sein. Oder irgendeine Intrige. Oder der nächste große Betrug.

Die Stimmen wurden lauter und der Ich-lass-mir-nichts-gefallen-Tonfall ihres Vaters ergab ein Hin und Her mit einem anderen, den sie nicht kannte.

Eine Sekunde später knackte etwas. Dann ein heftiger Schlag gegen Holz, gefolgt von Kampfgeräuschen und Grunzen. Eine Metalltür klapperte gegen ihren Rahmen.

Plötzlich war es ruhig.

Schmerzhafte, erschreckende Stille.

Doch sie hielt ihr Versprechen und wartete.

Und wartete.

Ihre Beine zitterten vor Bewegungsdrang, und ihre Unterarme, mit denen sie den Rucksack an sich presste, schmerzten.

Wo zum Teufel waren sie? Sie musste inzwischen mindestens dreißig Minuten in dem engen Raum sein. Vielleicht sogar länger.

Scheiße, es fühlte sich definitiv nach mehr an. Wenn wer immer es auch gewesen war weg war, warum gaben sie ihr dann keine Entwarnung?

Was ist, wenn sie dich nicht holen kommen können?

Viel zu leicht wiederholten sich die Kampfgeräusche und das Grunzen in ihrem Kopf.

Wenn du glaubst, dass Bonnie genug hat, um dich bei Pauley auszulösen, dann hast du sie nicht alle.

Auf keinen Fall.

Pauley und seine Schläger waren nicht die Typen, die Schädel einschlugen.

Sie waren eher kleine Kredithaie, die einem auf die Nerven gingen, wenn man die Schulden nicht bezahlte.

Es sei denn, Pauley hatte keine andere Möglichkeit mehr und war den Mist mit ihrem Vater leid. Ja, Kevin konnte sicherlich mithalten, wenn sich jemand mit ihm prügeln wollte, aber Dad hatte null Chancen, für sich selbst einzustehen.

Eins stand jedoch fest: Einer musste den Kopf rausstrecken und herausfinden, was als Nächstes zu tun war.

Wie üblich meldete sich niemand anderer für diesen Job.

Mit einem tiefen Atemzug schob sie ihren Rucksack aus dem Weg und tastete im Dunklen nach der Entriegelung. Als sie mit den Fingerspitzen über das kalte Metall streifte, war sie erleichtert. Allerdings hörte sich das leise Klicken, das ertönte, bevor sie den Riegel beiseiteschob, sehr laut an.

Sie hielt inne, lauschte. Die Luft im Schlafzimmer ihres Vaters strömte durch den kleinen Spalt, den sie geöffnet hatte, und wehte Strähnen ihres Haares in ihr Gesicht und gegen ihren Hals.

Doch sonst war nichts zu hören. Keine Bewegung. Keine Stimmen. Absolute Abwesenheit von Aktivität.

Sie stupste die Tür gerade so weit auf, dass sie hinausschlüpfen konnte, und duckte sich unter die Kleidung ihres Vaters. Mit einem akribischen Schritt nach dem anderen umrundete sie das unordentliche Bett auf dem Weg in Richtung Schlafzimmertür. Im Flur war nichts zu sehen außer dem alten zotteligen Teppich, der schon vor Jahren hätte ersetzt werden müssen, und einem Lichtstrahl durch das Fenster, wo Kevin die Lamellen der Jalousie auseinandergeschoben hatte.

Sie hielt sich dicht an der Wand, ging auf Zehenspitzen weiter und blieb bei den beiden anderen Schlafzimmern stehen, um einen Blick hinein zu riskieren.

Ihr Herz pochte, ihre Lungen bettelten nach Luft, als wäre sie einen Marathon gerannt. An der Ecke, wo sich der Flur zum Wohnzimmer öffnete, zögerte sie, schloss die Augen und machte sich bereit. Was auch immer auf der anderen Seite war, sie könnte damit umgehen. Sie hatte ihr ganzes Leben lang genug Training gehabt, um mit so einem Mist klarzukommen. Dies war nur ein weiterer Tropfen auf den heißen Stein.

Sie drückte eine Hand gegen die Wand und beugte sich vor …

Nichts.

Keine einzige Seele.

Aber die Rechnungen und Werbeprospekte, die auf dem Wohnzimmertisch gelegen hatten, waren nun überall auf dem Boden verstreut und der Sessel ihres Vaters war in einem merkwürdigen Winkel verdreht. Die Haustür war einen Spalt weit offen gelassen worden. Nur die Fliegengittertür hielt die kühle Januarluft noch in Schach.

Also was? Sie hatten sie einfach hiergelassen? Hatten vergessen, dass sie sich im Wandschrank versteckt hatte?

Nein, ihre Familie war vielleicht verrückt und absolut unzuverlässig, aber sie wäre nicht so gefühllos und würde sie zurücklassen. Jedenfalls würden sie das nicht tun, wenn sie nicht betrunken waren. Was ein oder zweimal vorgekommen war, als ein spezielles Schulevent mit einer rauschenden Party kollidiert war.

Mit einem beleidigten Schnaufen nahm sie den Rucksack von ihrer Schulter, stellte ihn vor dem Beistelltisch ab und ging, um die Haustür zu schließen. Das Letzte, was sie brauchte, war, das jemand anderes unerwartet auftauchte, während sie versuchte, herauszufinden, was zum Teufel hier los war.

Sie schob die Tür zu und erstarrte.

War das Blut?

Sie öffnete die Haustür wieder, um mehr Licht hineinzulassen, und bewegte sich zur Seite, um besser sehen zu können.

Es war Blut. Ein ordentlicher Streifen davon, der sich über die Türschwelle fortsetzte und ungefähr zur Größe ihres Vaters passte. Auf den Stufen der Treppe waren auch zwei fette Tropfen zu sehen. Ihr Magen drehte sich und ein erstickter Schrei blieb ihr in der Kehle stecken. Sie rannte zurück ins Haus, schlug die Tür zu und verriegelte sie. Dann kroch sie außer Reichweite.

Das war schlimm.

Sehr schlimm.

Sie wischte die Handflächen an der Jeans ab, ging zum Fenster, musterte die Straßen draußen und schloss die Lamellen der Jalousie komplett.

Okay. Sie musste nur die Dinge überdenken und herausfinden, was zu tun war.

„Die Polizei“, sagte sie in den leeren Raum. Jeder ruft die Polizei. Sie kramte in ihrem Rucksack nach ihrem Handy, holte es heraus und schaltete den Bildschirm an.

Kleines Problem, Hitzkopf. Wir reden hier von deinem Dad und Kevin. Wenn du jetzt die Polizei rufst, wer weiß, in welche Schwierigkeiten du sie damit bringst.

Sie starrte auf ihr Smartphone, drückte den Knopf, um es wieder auf Stand-by zu stellen, und ließ sich dann auf ihre Lieblingsstelle auf dem Sofa fallen. Selbst wenn sie es riskieren würde und die Polizei anriefe, würden sie sie wahrscheinlich mit in dieses Chaos verwickeln – schuldig, bis die Unschuld bewiesen ist und so weiter.

Eine verdammt schwierige Situation, wenn man die Leute, die mit so einem Scheiß ihren Lebensunterhalt verdienten, nicht anrufen konnte. Das war wie die Wahl zwischen Pest und Cholera. Wenn du es tust, ist es falsch, wenn nicht, ist es auch nicht richtig.

Mit verbissenem Blick stützte sie ihre Ellbogen auf ihre Knie und starrte auf ihre Tasche. Die Polizei war keine Option. Kevins Freunde ebenfalls nicht.

Schon gar nicht die ihres Vaters. Die einzigen Menschen, die sie außerhalb ihrer Familie kannte, waren alles gesetzestreue Leute, die zu viel Angst hätten, auch nur einen Fuß in dieses Viertel zu setzen.

Sie seufzte leise und versuchte, die Muskeln in ihrem Nacken und Schultern zu entspannen. Zwischen dem geöffneten Reißverschluss ihres Rucksacks blitzte eine Ecke des Laptops hervor, den Cassie ihr gegeben hatte. Im Vergleich zu allem anderen in diesem Raum hatte das gebürstete Aluminium eher das Aussehen von Weltraumzeitalter.

Moment mal.

Vielleicht gab es eine nicht ganz gesetzestreue Option.

Nicht Cassie. Sie war ein süßer und guter Mensch.

Doch Cassies frisch angetrauter Ehemann Kir und die knallharten Typen, mit denen er arbeitete, waren angeblich Mafiosi. Russische noch dazu. Sicher würde einer von ihnen wissen, was in solchen Situationen zu tun war.

Das würde allerdings bedeuten, Cassie anrufen zu müssen, damit einer von ihnen helfen konnte. Und das wiederum hieß auch, ihr von der hässlichen Seite ihres Lebens erzählen zu müssen. Kein idealer Plan, wenn sie daran dachte, was sie alles getan hatte, um das vor ihrer neuen Freundin zu verheimlichen.

Selbst wenn sie sich trauen würde, Cassie anzurufen und ihr zu zeigen, woher sie kam – endete die Hilfe der Mafia nicht damit, dass man ihnen dann etwas schuldig war?

Sie stand auf und wanderte im Wohnzimmer auf und ab, während sie das Blut musterte, das auf der Elfenbeinfarbe um die Tür verschmiert war.

Es musste eine andere Möglichkeit geben.

Eine Zwischenoption davon, die Polizei zu rufen und die Mafia um Hilfe zu bitten.

Sie blieb auf halbem Weg stehen, stemmte die Hände an die Hüften und starrte den Blutfleck an. Tatsächlich waren die einzigen Optionen, die übrig blieben, entweder wegzugehen und ihre Familie ihrem Schicksal zu überlassen, oder auf eigene Faust loszuziehen, um herauszufinden, was geschehen war. Beides würde zu Ergebnissen führen.

Sie kann nicht gehen. Wenn sie sie sehen, ist sie am Arsch.

Richtig. Ein anderes Problem, sollte jemand das Haus beobachten.

Witzig. Das schicke Gerät, mit dem Cassie sie beschenkt hatte, nachdem ihr Ehemann ihr einen neuen leistungsstärkeren Laptop gegeben hatte, um ihre Fotografie zu unterstützen, war wahrscheinlich das Wertvollste, was Bonnie besaß.

Einschließlich ihres schrottreifen Autos.

Cassie hatte keinerlei Gegenleistung verlangt, hatte nur gesagt, dass sie gern mit Bonnie abhing und ihrer Freundin etwas Gutes tun wollte.

Keine Verpflichtungen.

Keine Hintergedanken.

Nur ein Lächeln und eine Umarmung, bevor sie zu einem Fotoshooting gegangen war.

Von allen Menschen, die Bonnie kannte, war Cassie die Letzte, die urteilen würde.

Ein Teil von ihr wollte daran glauben, der andere war zu verdorben von heuchlerischen Leuten, die in ihrem Leben ein- und ausmarschiert waren.

Tatsache war, dass die einzige Familie, die sie noch hatte, vermisst wurde. Und so, wie es aussah, waren sie nicht freiwillig gegangen.

Erneut schaltete sie den Bildschirm ihres Smartphones ein. Ein Kloß steckte in ihrer Kehle, und ihr Blut rauschte, als hätte sie tagelang nicht anderes außer Koffein zu sich genommen.

Sie scrollte zu Cassies Telefonnummer und versuchte zu ignorieren, wie sehr ihr Daumen über dem Touchscreen zitterte. Sie betätigte die Anruftaste, hob das Handy an ihr Ohr und murmelte ins Zimmer: „Ich schwöre bei Gott, wenn meine beschissene Familie mir die einzige Freundschaft ruiniert, die ich habe, dann werde ich sie beide selbst umbringen.“

Kapitel 2

Dicke Mäntel und Schals? Bei gerade mal sieben Grad?

Roman schüttelte den Kopf, lenkte seinen Ford Raptor an den eleganten historischen Häusern zu beiden Seiten vorbei und lachte über die zwei Jungs, die den Block seines pakhans hinuntergingen. Wenn sie Mäntel brauchten, obwohl es so warm war, würden sie es in Mutter Russland niemals schaffen. Die Durchschnittstemperatur im Januar belief sich dort bestenfalls auf minus drei Grad.

Und die Nächte?

Brutal.

Stechend kalt. Besonders in Kombination mit einem Wind, der sich bis zu den Knochen durchfraß.

Er lenkte seinen Pick-up die Einfahrt zu Sergeis Anwesen empor und bemerkte die Männer, die draußen vor dem restaurierten Haus als Wachen eingeteilt waren. Sie hatten ihre Hände tief in ihren Taschen vergraben.

Ach, was soll’s. Wer war er schon, dass er darüber urteilte? Wenn die Einwohner von New Orleans ab und an mal einen Winterkuss ertragen mussten, dann sei es drum. Sie und ihre Stadt hatten ihm ein neues Leben geboten. Einen Neuanfang mit einer Familie, auf die er stolz sein konnte. Wenn sie dickere Klamottenschichten brauchten, um einen kurzen Kälteeinbruch zu verkraften, dann würde er eben jedem der Männer in seiner Crew einen russlanderprobten Parka kaufen.

Er parkte, schaltete den Motor aus und ging ins Haus. Auf dem Weg dorthin begrüßte er die Wachen mit ein paar Worten und einem kurzen Nicken. Kaum hatte er einen Schritt durch die Hintertür getan, traf ihn der Duft von allem, was Olga zum Abendessen zubereitete. Reiche, scharfe Gewürze umwehten seine Nase, sodass er sich wünschte, er könnte auf die vier Stunden Arbeit, die noch vor ihm lagen, verzichten und im Gegenzug dazu einen Platz am Tisch seines vors bekommen. Während die Küche leer war, erklangen Stimmen aus dem Esszimmer dahinter. Das Lachen, das damit einherging, gehörte unverkennbar Sergeis Sohn Emerson.

Er wandte sich in die Richtung, und mit jedem Schritt, den er näher kam, breitete sich eine Wärme in seiner Brust aus, die nichts mit der Zentralheizung zu tun hatte. Sein pakhan war wirklich ein gesegneter Mann. Ebenso wie sein Bruder Kir. In der Zeit, seit sie in New Orleans Wurzeln geschlagen hatten, hatten beide außergewöhnliche Frauen gefunden. Außergewöhnliches Glück. Und obwohl er es besser wusste, als selbst jemals darauf zu hoffen, war er äußerst zufrieden damit, seine Brüder von der Seitenlinie aus zu beobachten. Sergei und Kir waren guten Männer, weise Männer, die solch einen Segen verdient hatten.

Er ließ die gemütliche Essecke in der Nische hinter sich und betrat das Wohnzimmer. Die Seidenvorhänge und Möbel aus der Plantagenzeit erinnerten an vergangene Tage, doch Sergeis Ehefrau Evette und Kirs neue Braut Cassie gehörten zu einer modernen Familie. Sie umrundeten gerade Emerson am Tisch.

Roman hatte sie kaum zu Gesicht bekommen, als die Frauen unisono zu kreischen begannen und vor dem zurücksprangen, was sie soeben sahen.

Sein erster Instinkt sagte ihm, zu seiner Waffe zu greifen, die unter seiner Anzugjacke verstaut war. Allerdings hielt er sich zurück, sobald er Emersons entzücktes Gackern bemerkte. „Was ist los?“

Die plötzliche Frage eines unerwarteten Gastes – insbesondere einem von seiner Größe und in einem so ruppigen Tonfall – mochte die meisten Menschen erschrecken, doch das Trio bemerkte lediglich seine Ankunft und jeder von ihnen schenkte ihm ein warmes, einladendes Lächeln.

„Roman! Du hast es verpasst.“ Emerson stand auf, schob seinen Stuhl mit den Kniekehlen zurück und winkte Roman näher. „Ich baue einen Vulkan für mein Wissenschaftsprojekt und er ist einfach explodiert.“

Er blieb hinter Emerson und Evette stehen und spähte über deren Köpfe. In der Tat hatte es einen Ausbruch gegeben, der aus einem schlammigen Hügel explodiert war und nach Seife und Essig stank. „Es sieht sehr … chaotisch aus.“

Beide Frauen warfen ihm ironische Blicke zu, die ihre Belustigung über seine mangelhafte Wortwahl zum Ausdruck brachten.

Emerson war das egal. Er hatte damit begonnen, den Überschuss abzuwischen, bevor dieser drohte, von der dicken Pappbasis auf die glänzende Oberfläche des Tisches zu gelangen. „Chaotisch zu sein ist das Beste daran.“

„Das ist Ansichtssache“, sagte Evette und reichte ihm einen frischen Stapel Papiertücher. „Ich bin mir sicher, dass dein Daddy ein kleines Vermögen für diesen Tisch ausgegeben hat, und ich werde nicht diejenige sein, die ihm sagen wird, dass wir ihn neu aufarbeiten lassen müssen.“

„Ha!“ Cassie hatte sich bereits involviert und half mit, die rote Lava einzudämmen, die in alle Richtungen sickerte. „Als ob Sergei das interessiert. Er würde eher dazu neigen, das toppen zu wollen und zu sehen, ob er nicht einen doppelt so großen Vulkan bauen könnte.“

Damit lag sie nicht falsch. Emerson war vielleicht nur durch besondere Umstände und Adoption Sergeis Sohn geworden, doch das würde man nie erkennen, wenn man sah, wie angetan sein pakhan von dem fast neun Jahre alten Jungen war. „Und warum baust du einen Vulkan, moy zaychik?“

Emerson runzelte die Nase bei diesem Kosewort. „Ich bin kein Hase. Und es ist mein wissenschaftliches Projekt. Ich muss es am Freitag abgeben, wollte es aber einmal vorher testen.“

Roman weigerte sich, den Hasen-Teil zu diskutieren. Jeder, der gesehen hatte, wie düster und ernst dieses Kind gewesen war, als es zum ersten Mal in sein Leben getreten war, würde nicht nur zustimmen, sondern jetzt auch Emersons Lebendigkeit feiern. „Ein pädagogisches Unterfangen.“ Er nickte Cassie und Evette zu und wich zurück. „Ich denke, du hast recht. Sergei wird eine Chance fordern, um seine Unterstützung für die höhere Bildung unter Beweis stellen zu können.“

„Und genau das ist der Grund, warum ich das aufgeräumt haben will, bevor er und Kir aus Houston nach Hause kommen.“ Evette griff nach der Küchenrolle und sah Roman an. „Hast du etwas von ihnen gehört, seit sie gelandet sind?“

Roman nickte. „Kurz bevor sie zu ihrem Geschäftstreffen gegangen sind. Wenn die Verhandlungen auf Kurs bleiben, sollten sie ihren Flug um sechs Uhr ohne Probleme erreichen können.“

Auf der anderen Seite des Raumes klingelte ein Handy. Das gedämpfte Geräusch stammte aus einer Handtasche, die auf dem kunstvoll dekorierten Büfetttisch lag.

„Oh.“ Cassie wischte sich die Hände ab und eilte hinüber. „Vielleicht ist es Kir.“

Roman hoffte, dass es so war. Während der Zusammenschluss zwischen den Sergeis Beteiligungen in Louisiana und den Unternehmen in Texas mehr Einkommen für die gesamte Familie bedeuten würde, musste sich Roman allein um die lokalen Angelegenheiten kümmern. Er arbeitete deswegen doppelt so viele Stunden wie normal. Wenn er vor Einbruch der Dunkelheit noch etwas Zeit haben wollte, um St. Patrick’szu besuchen, dann musste er langsam in die Gänge kommen. Er blickte zu Evette und senkte seine Stimme, um Cassies Telefonat nicht zu stören. „Ich lege die heutigen Quittungen auf Sergeis Schreibtisch. Brauchst du noch etwas, bevor ich gehe?“

Ehe sie antworten konnte, schnitt Cassies scharfe Stimme durch den Raum, und sie zog damit die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf sich. „Whoa, Moment mal.“ Sie schüttelte den Kopf und starrte auf den Boden. „Warte, sagt das noch mal, aber diesmal bitte langsamer.“

Seine auf den Straßen Russlands geschliffenen Instinkte flammten augenblicklich auf. Auf seiner Haut breitete sich ein verstärktes Kribbeln aus, ebenso wie in seinen Muskeln. Er war bereit, umgehend zu handeln. Evette und Emerson hörten sofort auf, sauber zu machen und konzentrierten sich ebenfalls auf Cassie.

Es konnte nicht Kir am Telefon sein. Sein langjähriger Waffenbruder war stets ruhig und gesammelt. Besonders, wenn er mit seiner Braut sprach.

Das Stirnrunzeln bei Cassie wurde tiefer. „Bist du sicher, dass sie weg sind?“ Ihre Augen wurden groß und ihr Körper wurde ganz steif. „Bist du in Ordnung?“

Emerson sah zu Evette.

Evette warf Roman einen Blick zu. „Was ist los?“

Er wusste es nicht, doch er war sich verdammt sicher, dass er es herausfinden würde.

„Okay. Okay. Warte.“ Cassie kramte in ihrer Handtasche und zog einen kleinen Notizblock hervor. „Gib mir die Adresse noch einmal.“ Sie zog die Kappe vom Stift und warf ihn auf den Büfetttisch. „4738 Clouet Street?“ Eine Pause. „Okay, gib mir ungefähr zwanzig Minuten. Ich werde so schnell wie möglich da sein.“

Oh nein, das würde sie nicht. Roman wusste genau, in welchem Viertel die Clouet Street lag, und eher würde Hölle zufrieren, bevor er die Braut seines Bruders irgendwo in die Nähe lassen würde. Cassie beendete ihr Telefonat, warf ihr Handy in ihre Handtasche und legte den Gurt um ihre Schulter, ohne von dem begierigen Publikum Notiz zu nehmen. „Hey, Leute. Es tut mir leid, aber ich muss gehen.“

Roman stellte sich ihr in den Weg, noch bevor sie drei Schritte in Richtung Küche machen konnte. „Was glaubst du, wo du hingehst?“

Sie versuchte, an ihm vorbeizukommen.

Er trat zur Seite und blockierte sie erneut.

„Würdest du bitte damit aufhören?“, sagte sie. „Ich muss einer Freundin helfen.“

„Deine Freundin wohnt in Desire. Du wirst nicht in die Nähe dieses Viertels fahren.“

Cassies Kopf schnappte zurück. „Sagt wer?“

„Sage ich. Und dein Ehemann. Und dein vor.“

„Oh Junge“, murmelte Evette. Sie räusperte sich und klopfte Emerson auf die Schulter. „Kiddo, wie wäre es, wenn du nach oben rennst und den Lehm von deinen Händen wäschst. Momma braucht eine Minute, um deiner Tante und deinem Onkel Vernunft einzutrichtern.“

Emerson beäugte Roman und Cassie mit einer Mischung aus Heiterkeit und Besorgnis, wollte sich aber offensichtlich nicht mit seiner Mutter streiten. Er verließ seinen Stuhl und ging in Richtung Treppe. Auf dem Weg dorthin wischte er sich mit Küchentüchern die Hände ab. Kurz bevor er außer Sichtweite war, hielt er inne. „Sei nicht böse auf ihn, Cassie. Onkel Kir würde es nicht gefallen, wenn du wo hinfährst, wo es gefährlich ist, während er nicht da ist.“

Onkel Kir würde es nicht mögen, wenn sie auch nur daran denken würde, allein nach Desire zu fahren, ob er in der Stadt war oder nicht.

„Geh.“ Evette scheuchte ihn mit einer Handbewegung davon. „Und verteil den Schlamm nicht überall.“ Evie wartete nicht darauf, dass ihr Sohn die Treppe emporstieg, sondern sah Cassie an. „Jetzt noch mal von vorne, und erzähl mir, wer diese Freundin ist.“

„Nicht du auch noch“, sagte Cassie.

„Oh ja“, erwiderte Evette. „Definitiv auch ich. Vielleicht hätte ich vor einiger Zeit noch die Nase gerümpft über so viel Vorsicht, aber ich habe aus erster Hand gelernt, wie meine Verbindung zu Sergei gegen ihn eingesetzt werden kann. Du bist mit Kir in der gleichen Position. Das heißt, du musst nachdenken, bevor du handelst.“

„Ich habe Wachen.“

„Ja, die hatten Emerson und ich auch und sind trotzdem auf einem Boot auf halbem Weg Richtung Mexiko mit einer verrückten Frau mit Rachegelüsten gelandet. Oder hast du die kleine Eskapade schon vergessen?“

Wenn man die Röte, die sich auf Cassies Gesicht ausbreitete, bedachte, war die Entführung, die erst vor knapp sechs Monaten geschehen war, noch recht frisch in ihrer Erinnerung. „Nein, die habe ich nicht vergessen.“ Sie sah Roman an. „Aber hier geht es nicht um irgendeine Irre, die sich rächen will. Hier dreht es sich um meine Freundin Bonnie. Sie braucht Hilfe.“

„Welche Art von Hilfe?“, wollte Roman wissen.

Cassie warf die Hände in die Luft. „Ich kenne die Details nicht. Sie war wirklich aufgeregt und klang zu Tode erschrocken. Erzählte, dass jemand bei ihrem Vater aufgetaucht sei, und sie glaubt jetzt, dass diejenigen ihren Vater und ihren Bruder mitgenommen haben.“

„Sie glaubt das? Warum weiß sie es nicht sicher, wenn sie doch dort war? Und warum würden sie sie in Ruhe lassen?“

„Noch mal … ich habe sie nicht gedrängt, Details auszuspucken, aber Bonnie ist ein guter Mensch. Ein bisschen schweigsam vielleicht, wenn es um Privates geht, aber eine gute Person, und sie hat mir ein- oder zweimal geholfen. Und wenn sie mich um Hilfe bittet, werde ich sie ihr geben.“ Sie stemmte ihre Hände in die Hüften und wechselte ihren Blick von Roman zu Evie und zurück. „Und jetzt sagt mir bloß nicht, ihr würdet es anders machen.“

Evette verzog den Mund, als ob die Wahrheit unangenehm schmeckte. „Ist Bonnie diejenige, die du vor ein paar Monaten zum Mädelsabend eingeladen hast und die dann nicht gekommen ist?“

„Wie ich schon sagte, sie ist ziemlich zurückhaltend, was Privates angeht. Ich hatte sie vor einiger Zeit auch zu Lizzys Konzert eingeladen, wo sie auch nicht aufgetaucht ist. Gott weiß, was der Grund dafür war, aber sie ist wirklich cool. Sie scheint einfach Gruppensachen nicht zu mögen.“

Evette warf Roman einen Blick zu und starrte Cassie dann besorgt an. „Bist du sicher, dass sie nur schüchtern ist?“

„Sie arbeitet beim Fernsehsender. Sie ist keine hinterhältige, weibliche fleischfressende Pflanze, die mich in eine Falle locken will.“ Mit einer fast beängstigenden Entschlossenheit sah sie Roman ins Gesicht. „Du wirst mich nicht aufhalten. Ich werde jetzt meine Wachen nehmen und melde mich auf dem Weg dorthin.“

„Nein“, sagte Roman mit einer Endgültigkeit, die ihn selbst überraschte. Zumal die Ablenkung, die er damit für sich schaffte, ihn nur noch weiter in seinem Plan zurückwerfen würde, als es ohnehin schon der Fall war. „Ich werde dich hinbringen. Wir werden uns um diese Bonnie-Person kümmern und dann werde ich dich wieder hierher zurückfahren.“

„Das willst du tun?“ Das Lächeln, das er für seine Ankündigung nicht nur von Cassie, sondern auch von Evette erntete, war es wert, seinen heutigen Besuch im Waisenhaus zu verschieben. Cassie schoss nach vorn und umarmte ihn heftig. Sie murmelte ein „Danke“ an seiner Brust.

Sie zog sich ebenso schnell wieder zurück und zupfte an seinem Arm. „Jetzt aber los. Sie klang wirklich verängstigt.“

Evette zwinkerte Roman zu und schenkte ihm ein wissendes Lächeln. „Klingt so, als solltest du dich besser beeilen, Mr. Teddy Bear. Stellt nur sicher, dass mich einer von euch mit Details anruft, damit ich mir keine Sorgen machen muss.“ Sie drehte sich um und musterte das Chaos auf dem Tisch. „Ich werde hier sein, um mich von den wissenschaftlichen Bemühungen meines Sohnes zu erholen.“

Die Fahrt nach Desire dauerte fast eine halbe Stunde statt der zwanzig Minuten, wie Cassie es Bonnie versprochen hatte. Es lag an der Flut von Menschen, die im Garden District und French Quarter arbeiteten und nun auf dem Weg nach Hause in die abgelegeneren Viertel waren. Cassie blieb währenddessen einigermaßen ruhig, schrieb ihrer Freundin regelmäßig eine SMS und kaute auf ihrer Unterlippe.

Roman verließ die 610 auf die Louisa Street. „Hast du ihr erzählt, dass du jemanden mitbringst?“

Cassie schüttelte den Kopf. „Nein, ich wollte sie nicht noch mehr beunruhigen, als es schon der Fall ist.“ Sie runzelte für einen Moment die Stirn und wandte ihre Aufmerksamkeit dann zu Roman. „Weißt du, ich habe nie verstanden, warum sie so zurückhaltend und vorsichtig war, wo wir uns treffen. Ich habe sie zu Kir und mir eingeladen und angeboten, mich mit ihr bei ihr zu treffen, aber sie hat immer irgendwelche Cafés und Restaurants vorgeschlagen. Du und Evette seid ausgeflippt, als ihr erfahren habt, wo sie lebt. Glaubst du, dass sie deshalb so zögerlich ist? Weil sie vielleicht Angst hat, was ich denken könnte?“

„Du hast gesagt, sie ist im Haus ihres Vaters. Nicht bei sich zu Hause.“

„Hmm.“ Sie starrte wieder nach vorn durch die Windschutzscheibe. „Das hat sie tatsächlich gesagt. Aber vielleicht lebt sie auch in dem Viertel.“ Mit einem Seufzen beobachtete sie die roten Rücklichter vor ihnen, die sie daran hinderten, schneller voranzukommen. „Ich weiß, dass sie sehr vorsichtig mit Geld ist. Ähnlich wie ich es sein musste, bevor ich Kir kennenlernte und mein eigenes Unternehmen gründete.“

„Es ist nichts falsch daran, vorsichtig mit Geld umzugehen.“ Roman wusste das besser als die meisten anderen, denn es fiel ihm, im Gegensatz zu Kir und Sergei, immer noch schwer, leichtfertig Geld auszugeben. Und das, obwohl er genug davon auf der Bank hatte, dass er nie alles würde ausgeben können.

Unabhängig davon stand für ihn fest, dass er mehr über diese Bonnie-Person wissen würde als sie selbst, ehe der Tag vorüber wäre.

Sie kamen an einem Baseballfeld und einem Basketballplatz vorbei, die zu ihrer Linken lagen. Beide Spielfelder waren voller Kinder und umgeben von rostigen Maschendrahtzäunen, die etwa drei Meter hoch waren. Gleich dahinter befand sich eine neu errichtete Kirche.

Zwei Blocks weiter westlich bogen sie in die Clouet Street ein. Wo die anderen Anwesen auf der Straße etwas gepflegt wirkten, schien das Haus an der Adresse, die Bonnie Cassie gegeben hatte, völlig vergessen worden zu sein. Besonders in Kombination mit den von Unkraut überwucherten leeren Grundstücken daneben und gegenüber. Eins der Anwesen hatte nur noch eine Zementtreppe und bröcklige Grundmauern, die erahnen ließen, dass hier einst ein Haus gestanden hatte.

Roman drehte mit seinem Pick-up in der Sackgasse und parkte unter der riesigen Eiche, die weit auf die Straße hinausragte. Er griff nach Cassies Handgelenk, bevor sie die Beifahrertür öffnen konnte. „Du wirst dich an meine Anweisungen halten.“

Cassie kniff die Lippen zusammen, nickte jedoch. „Na gut. Aber verhalte dich nicht wie ein Neandertaler und lass den finsteren Gesichtsausdruck. Sie ist schon verängstigt genug.“

Er stieß ein Brummen aus, checkte die Umgebung nach verdächtigen Aktivitäten und öffnete dann die Fahrertür. Im Gegensatz zu Kir und Sergei bevorzugte Roman Jeans und T-Shirts für den täglichen Gebrauch. Kleidung, die für ein Viertel wie Desire weitaus geeigneter war.

Er öffnete Cassies Wagentür, half ihr aus dem erhöhten Pick-up und blieb dicht hinter ihr, während sie zur Haustür eilte.

Zwei dicke Tropfen getrockneten Blutes befanden sich auf dem Treppenabsatz.

Cassie bemerkte sie nur Sekunden nach Roman und ging an ihnen vorbei. „Nun, das sieht verdächtig aus.“

In der Tat. Suspekt genug, dass Roman sich selbst fragte, ob es klug gewesen war, Cassie überhaupt hierherzubringen.

Bevor er den Gedanken laut äußern oder reagieren konnte, öffnete sich die Haustür, und eine Frau, die mindestens dreißig Zentimeter kleiner war als er, stieß die Fliegengittertür weit auf. Ihr alarmierter Blick landete zuerst auf Roman, und für einen Moment schien es so, als würde sie es bereuen, die Haustür geöffnet zu haben. Sie schluckte schwer und entdeckte dann eine Sekunde später Cassie. Die Frau trat beiseite, um sie hereinzulassen. „Hey. Danke fürs Kommen. Ich wusste nicht, wen ich sonst hätte anrufen können.“

Das heisere Geräusch ihrer Stimme war so einzigartig wie ihre Gesichtszüge – große moosgrüne Augen, die eine Menge Lebenserfahrung widerspiegelten, und Sommersprossen, die über den Nasenrücken und die engelsgleichen Wangen verteilt waren. Das Ganze umrahmt von dunklem rotbraunen Haar, das ihr bis zu den Schultern reichte. Ein bemerkenswertes Gesicht. Vielleicht nicht in der klassischen Definition von Schönheit, aber unvergesslich faszinierend.

Cassie umarmte sie. „Hey, dafür sind Freunde doch da, oder?“ Sie wich zurück, griff Bonnies Schultern. „Hast du irgendetwas von deinem Vater oder Bruder gehört?“

Bonnies Blick wanderte zu Roman. Sie trat zwei Schritte zurück und schob ihre Hände in die Gesäßtaschen ihrer Jeans. „Nein“, erwiderte sie und richtete dann ihre Aufmerksamkeit auf Cassie. „Kein Wort.“ Sie räusperte sich und sah Roman erneut an. Eine eigenartige Reaktion, die besagte, dass sie entweder tief erschüttert war oder unter erheblichen sozialen Problemen litt. „Sorry. Ich will nicht unhöflich sein, aber ich dachte, du bringst Kir oder vielleicht einen der Typen mit, die dir immer folgen.“

Nun, das erklärte zumindest das verstörte Verhalten.

„Schon okay“, erwiderte Cassie. „Ich hätte euch einander vorstellen sollen. Roman, das ist meine Freundin Bonnie Drummond. Wir haben uns beim Fernsehsender kennengelernt, bevor sie mich gefeuert haben.“ Sie deutete auf Roman. „Das ist Kirs Bruder, Roman Kozlov. Ich meine, er ist nicht sein eigentlicher Bruder. Aber …“ Sie hielt inne und hob die Hände. „Weißt du was? Vergiss es einfach. Es ist verwirrend. Kir ist geschäftlich in Houston, aber Roman war bei mir, als du angerufen hast, und hat sich freiwillig angeboten, mitzukommen.“

Freiwillig war ein grober Missbrauch des Wortes. Keine andere Option zu haben, umschrieb die Situation wesentlich besser.

Anscheinend sagte Romans Gesichtsausdruck genau das aus, weil Cassie ihn stirnrunzelnd ansah. Die unausgesprochene Botschaft in ihrer Mimik war eine weibliche Form von Warnung. Sie wurde sie schnell wieder los, bevor sie Bonnie in Richtung der Sitzecke dirigierte, die übersät von Rechnungen und Werbeprospekten war. „Wie wäre es, wenn wir uns alle setzen und du uns erzählst, was passiert ist?“

Bonnie rührte sich nicht. Sie knabberte nur an ihrer Unterlippe und musterte Roman mit der Angst eines in die Enge getriebenen Rehs, das seine Flucht plante.

Roman zog eine Augenbraue hoch und blieb ebenfalls stehen.

„Oh, meine Güte, ihr zwei.“ Cassie ließ sich auf eine Ecke der Couch nieder, die nicht mit Papier bedeckt war. „Bonnie setzt dich endlich. Er ist harmlos, ich schwöre es.“

„Er? Harmlos?“ Bonnies Blick wechselte zwischen den beiden hin und her. „Das ist so, als würde man einen Pitbull als Schoßhund bezeichnen.“

Er hätte auf diese Erwiderung nicht reagieren sollen. Er hätte sein verwegenes Lachen und das anschließende eisige Grinsen besser ins Schach halten sollen, aber ihre unbedachte bissige Bemerkung war zu gut, um sie nicht angemessen zu schätzen.

Ganz zu schweigen davon, wie tödlich exakt ihre Beobachtung war.

Cassie rollte mit den Augen und warf die Hände in die Höhe. „Also schön. Er ist uns gegenüber harmlos. Es sei denn, du starrst ihn weiterhin so an, als hätte er drei Dämonenköpfe. Dann könnte er dich nur aus Spaß erschrecken.“

Mit einer letzten Musterung seiner ein Meter dreiundneunzig umrundete Bonnie schließlich die Sitzecke und nahm weit weg von ihm auf dem Sofa Platz.

„Gut“, sagte Cassie. „Und jetzt erzähl uns, was passiert ist.“

„Äh …“

Roman hatte Mitleid mit der Frau und lief auf und ab, bemerkte dabei jedes Detail. Im Gegensatz zu den anderen Möbeln stand der Sessel schief. Eine Handvoll Rechnungen und Werbebriefe lagen auf dem Boden verstreut. Zwei mögliche Anzeichen eines Kampfes. Beides könnte allerdings der allgemeinen Unordnung zugeschrieben werden. Alles andere schien in Ordnung zu sein, wenn auch abgenutzt und spärlich.

Roman öffnete eine Jalousie am gegenüberliegenden Fenster und studierte das leere Grundstück draußen. Keine Seele regte sich auf der Straße. Nebenbei bemerkte er, wie Bonnie die Ellbogen auf ihren Knien abstützte und ihre Hände aneinander rieb, wobei eine ganze Reihe von Perlenarmbändern an jedem ihrer Handgelenke zart klirrten und die Stille durchbrachen.

„Ich kam her, um mit Dad über die Rechnungen zu sprechen“, erzählte sie. „Ich habe mit den Leuten im Krankenhaus zusammengearbeitet, um einen Zahlungsplan zu erstellen, damit er eine weitere Behandlung planen kann.“

Cassie neigte ihren Kopf und drehte ihn dann zur Tür, als würde sie ihre Ankunft noch einmal in Gedanken durchspielen. „Wo ist dein Auto? Ich habe es draußen nicht gesehen.“

Bonnie grummelte. „Schon wieder kaputt. Also habe ich den Bus genommen.“ Sie schüttelte den Kopf. „Wie auch immer, als ich hier ankam, haben Kev und Dad sich angeschrien. Dad hat ihm an den Kopf geknallt, dass er nur Scheiße im Hirn hätte. Ich weiß nicht, warum er das zu ihm gesagt hat, aber ich muss gestehen, bei Kevin weiß man nie, was er als Nächstes verzapft. Aber dann hat Kevin erwidert, dass ich nicht genug Geld hätte, um es Pauley diesmal zurückzuzahlen.“

„Wer ist Pauley?“, fragte Cassie.

„Pauley Mitchell. Ein Kredithai, mit dem Dad sich schon seit Jahren einlässt. Ihn einen Kredithai zu nennen, ist eigentlich sehr weit hergeholt. Er ist eher ein Pfandhausbesitzer ohne Ladenlokal. Wenn du nicht bezahlst, verschwindet dein Kram, bis du die Summe plus Zinsen aufbringen kannst.“ Bonnie machte eine kurze Pause, aber die Wut in ihrer Stimme, als sie fortfuhr, wuchs. „Ich habe sechs Monate gebraucht, um seine letzten Schulden abzubezahlen. Ich schwöre bei Gott, wenn er sich wieder mit ihm eingelassen hat, werde ich ihn erschießen.“

Die Frau hatte Feuer. Anscheinend hatte sie keine Angst, ihre Meinung zu sagen, oder auf ihre Wortwahl zu achten, solange er nicht derjenige war, den sie dabei anstarrte.

Ihr Vater klang jedoch wie ein Verschwender. Wie jemand, der andere benutzte. Kein Mann sollte sich bezüglich Geld auf eine Frau verlassen, geschweige denn auf die eigene Tochter.

Roman schloss die Jalousie wieder, drehte sich um und ging in die winzige Küche neben dem Wohnzimmer.

„Also, dein Vater und Kevin haben sich gestritten“, nahm Cassie das Gespräch wieder auf. „Was ist dann passiert?“

Bonnie erklärte es ihr, während Roman den Rest des Wohnraumes inspizierte und die umliegenden Grundstücke draußen studierte. Sie erzählte, wie jemand vor dem Haus ihres Vaters aufgetaucht war und ihr Bruder nicht gewollt hatte, dass ihre Anwesenheit bekannt wurde. Wie sie sie dann im Waffenschrank im hinteren Teil des Hauses versteckt hatten und wie hitzig die Auseinandersetzung gewesen war, die sie mitbekommen hatte. Von lauten Stimmen, der anschließenden Rangelei und dann der Stille.

Sicher, dass niemand das Haus beobachtete, kehrte Roman zurück ins Wohnzimmer, blieb neben Cassie stehen und steckte die Hände in seine Anzughosentaschen.

„Und dann bist du herausgekommen und alle waren weg?“, hakte Cassie nach.