Nordland 2061 - Gabriele Albers - E-Book
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Nordland 2061 E-Book

Gabriele Albers

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Beschreibung

In einem Land, in dem Mädchen nichts wert und Frauen das Eigentum ihrer Männer sind, kämpft Lillith unermüdlich für Freiheit und Gleichheit. Bo, ihr wichtigster Verbündeter in diesem Kampf, sitzt nach wie vor im Gefängnis – ihretwegen. Als es Lillith endlich gelingt, ihn zu befreien, ist der Preis höher als gedacht. Viel höher. Gleichzeitig ist die Chance für einen echten Wandel im Land zum Greifen nah. Aber hat Lillith dafür die richtigen Mitstreiter an ihrer Seite?

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Gabriele Albers

NORDLAND

2061 – Gleichheit

Near Future Science-Fiction

für dich, Schwester

Inhalt

GESCHICHTE NORDLANDS

Mädchen

α Deichbau α

Regatta

Ω Nenita Ω

Stockholm

Ω Widerstand Ω

Wunschdenken

Midsommar

Lockstedter

α Boxkampf α

Schatten

Ω Boomgarden Ω

Rückflug

Petersen

Ω Schule Ω

Verfassung

Nachspiel

Ω Geheimnisse Ω

Optionen

Ω Feuer Ω

Vorbereitungen

Eheschließung

Ω Aufbruch Ω

Feier

α Nachrichten α

Auburg

α Luft α

Flucht

α Chaos α

Schuld

Drobos

Weiches Hart

α Omega α

Realpolitik

Pompadour

Ω Unterstützung Ω

Pläne

α Elbbrücken α

Weißer Ritter

α Rathaus α

Besuch

Ω Familienbande Ω

Gefühle

Ω Oberhafenquartier Ω

Ω Waisenhaus Ω

DNA

α Wahlkampf α

Hochzeit

α Tiiu α

Goldener Käfig

Druck

α Paranoia α

Die Wahl

α Illusionen α

Wechselbad

α Zweifel α

Abschied

Eskorte

α Dornen α

Zustand

Ω Enttäuschung Ω

Freunde

Ω Die Birds Ω

Unter Strom

Zerwürfnis

Ω Homestory Ω

Zweiter Bürgermeister

Ω Entlassungen Ω

Grisselgrau

Neustart

Verrat

Ω AG Gleichheit Ω

Santa Fu

Komplikation

Wahrheit

Untergrund

Ω Licht Ω

Feenrat

Hinrichtung

Erkenntnis

Utopia

Ω Hubschrauberträger Ω

Zeppeline

α Weiße Weihnacht α

Veränderung

Restauration

Tod und Leben

Ω Die Autorin Ω

Danke

Personenliste (Stand Juni 2061)

Diese Geschichte ist frei erfunden. Namen, Charaktere, Orte und Ereignisse entstammen entweder der Fantasie der Autorin oder werden fiktiv genutzt. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlich existierenden, lebenden oder bereits verstorbenen Personen, Unternehmen und Ereignissen ist rein zufällig.

Aber »Nordland 2061« hat eine Vorgeschichte!

Hier

www.gabriele-albers.de/nordland-2059

gibt es das Wichtigste in einem kurzen Überblick.

»Von ihrer Geburt an sind und bleiben die Menschen frei und an Rechten einander gleich.«

– Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, 1789

»Denn die Gleichheit und Gerechtigkeit wollen, sind immer die Schwächeren, während die Stärkeren sich über diese Dinge keinen Kummer machen.«

– Aristoteles

GESCHICHTE NORDLANDS

Oktober 2035

Die Stadt ging vor die Hunde. Und die einzige Chance, daran noch etwas zu ändern, steckte in seiner Hosentasche.

Über ihm warf der Vollmond sein Licht durch die Ritzen des Kanaldeckels. Er presste sich an die Leiter, spürte die kalten Sprossen im Rücken. Den Deckel hatte er zurück über die Öffnung gezogen, aber die pinkfarbenen Müllsäcke lagen wie Signallampen links und rechts davon und schrien: Hier versteckt er sich! Hier!

Er musste weiter. Weiter die Leiter hinunter.

Was für eine Scheißidee, in die Kanalisation zu flüchten. Sein Ehering schlug an die Sprosse, und der helle Ton hallte durch das kathedralenartige Gewölbe. Warum trug er das Ding überhaupt noch?

»Da war was«, sagte jemand direkt über ihm. Eine hohe, fistelige Stimme, fast noch eine Kinderstimme. Ein Kind, das Räuber und Gendarmen spielte. Nur, dass die Gendarmen in diesem Spiel die Bösen waren.

Eine S-Bahn ratterte vorbei. Jetzt oder nie. Er rutschte die letzten Sprossen herunter, landete auf dem überraschend nachgiebigen Boden und stolperte in die Dunkelheit des Siels. Über ihm schob jemand den Kanaldeckel zur Seite, und der Strahl einer Taschenlampe richtete sich auf eine fette Ratte, die auf dem Modder davonrannte.

Auf. Nicht im.

Seine Füße sanken bis zu den Knöcheln ein. Kälte und Feuchtigkeit krochen die Jeans hoch. Der Kaffee von vorhin kam hoch, aber er presste ihn zurück.

»Das hätten wir doch gesehen, wenn er da runtergeklettert wäre.«

»Der ist in der Roten Flora, mit Sicherheit, da verstecken die sich immer!«

»Ach, und die Müllsäcke haben die Anwohner hier so ordentlich neben den Deckel gelegt, oder was? Los jetzt, rein da!« Trotz Fistelstimme war der Mann überraschend autoritär.

»Die Siele sind kurz vorm Einstürzen, Joschi«, warnte eine ältere Stimme. »Senator Hawik hat eindringlich davor gewarnt, sie zu betreten, solange sie nicht saniert sind.«

Als ob Hawik die Kanalisation jemals sanieren würde. Der Mann war am schnellen Gewinn interessiert, nicht an einer funktionierenden Infrastruktur. Die rundgemauerte Wand, an der er sich gerade entlangtastete, fühlte sich im Übrigen stabiler an als manche Hauswand.

»Dann gehe ich allein runter, ihr anderen sucht hier oben weiter. Wir müssen den Kerl finden, bevor er seine Lügen veröffentlicht!«

Er tastete nach dem Datenstick in seiner Hosentasche. Solange das Abwasser nicht tiefer wurde, war er dort gut aufgehoben.

Mondlicht fiel durch die Löcher des nächsten Kanaldeckels, direkt dahinter schien der Siel einen kleinen Bogen zu machen. Wenn er den erreichte, bevor der Polizist die Leiter herunter war, hatte er vielleicht eine Chance. Seine Turnschuhe waren inzwischen komplett durchweicht, und als er das nächste Mal die Füße aus dem sämigen Abwasser zog, blieb erst der eine Schuh zurück, dann der andere. Die Konsistenz erinnerte ihn an pürierten Kinderbrei, und die Wunde in seinem Herzen riss wieder auf.

Für dich, Milla. Ich tue das hier für dich.

Wenn er genug Geld gehabt hätte, würde sie noch leben. Aber die Ärzte in Altona arbeiteten nur gegen Vorkasse. Sie waren an dem röchelnden, nach Luft ringendem kleinen Mädchen vorbeigeeilt, graue Gestalten mit tiefen Ringen unter den Augen, getrieben von dem Profitstreben der Eigentümergesellschaft.

Warum nur hatte er nicht bemerkt, dass ihr Halsweh mehr als eine Mandelentzündung gewesen war? Früher war er bekannt gewesen für seine Beobachtungsgabe. Warum hatte er nicht gesehen, wie ernst es um seine Tochter stand?

Klonk. Etwas Metallenes schlug an die Sprossen der Leiter. Der Bogen war immer noch ein ganzes Stück entfernt, als die Füße seines Verfolgers mit einem ekligen Schmatzen in den Morast einbrachen.

Er drückte sich an die Wand. Das Licht der Taschenlampe streute den Tunnel hinunter, erreichte ihn aber nicht. Und drehte dann in die andere Richtung. Gott sei Dank!

Der Gestank wurde schlimmer. Im Krankenhaus hatte es auch so gerochen. Unter dem scharfen Geruch der Desinfektionsmittel und dem künstlichen Lavendel der Duftkerzen hatte er das stinkende Wasser in der Blumenvase auf dem Informationstresen wahrgenommen. Seine Frau hatte ihn angeschrien, als er sie darauf aufmerksam gemacht hatte: »Unsere Tochter stirbt, Enoch! Und du machst dir Gedanken über ein paar vergammelte Blumen?«

Und jetzt stank es wieder nach vergammelten Blumen. Nach einem ganzen Laden voll vergammelter Blumen.

Er konnte Millas Hand in seiner fühlen. Sie war gestorben, dort in der Eingangshalle. Erstickt an einer Krankheit, gegen die er und seine Frau noch geimpft worden waren: Diphtherie. Der Würgeengel der Kinder. Wenn er doch nur früher kapiert hätte, wie todkrank sie gewesen war. Er hätte das Geld für Antitoxin und Antibiotika aufgetrieben. Irgendwie hätte er es aufgetrieben.

»Ihr verdammten Scheißviecher!«

Der Schrei des Polizisten holte ihn die Gegenwart zurück. Das Licht der Taschenlampe flackerte wild durch den Tunnel.

Im nächsten Moment unterdrückte er selbst nur mit Mühe einen Schmerzensschrei. Etwas hatte ihn in den Oberschenkel gebissen. Er fasste etwas Dickes, Weiches und riss es von sich los. Die Ratte quiekte, als er sie gegen die Wand schleuderte.

Diese Stadt ging vor die Hunde, und das zeigte sich nicht nur an den Sielen, in denen das Abwasser nicht mehr abfloss, seitdem »Hamburg Wasser« an Meik Hawik verkauft worden war. Verkauft? Eher verschenkt.

Nach Millas Tod hatte er Tag und Nacht recherchiert. Ohne Auftraggeber, ohne einen Cent daran zu verdienen. Gefunden hatte er einen Sumpf, gegen den dieser Abwasserkanal die Karibik war. In einer einzigartigen Allianz hatten sich Unternehmer, Politiker und die alten Pfeffersäcke Hamburgs zusammengeschlossen und den Reichtum Norddeutschlands unter sich aufgeteilt. Das Volk hatten sie derweil mit Versprechen ruhiggestellt, die keiner dieser Männer je einlösen würde.

Bei seinen Recherchen war er über Omega gestolpert, eine Gruppe junger Widerstandskämpfer. Ihm war klar gewesen, welches Risiko er eingegangen war, als er sich ihnen angeschlossen hatte. Aber er hatte nicht länger zuschauen können, wie die Starken und Skrupellosen alles an sich rissen und das Land zugrunde richteten. Diese verdammten Birds, die mit ihrem Geld alles kaufen konnten: Politiker, Richter, Frauen.

Auch seine eigene.

Omega hatte noch mehr Material herangeschafft. Gemeinsam hatten sie zahllose Informationen gesichtet, illegal erworbene Akten gewälzt, heimlich mitgeschnittene Gespräche abgehört und die vielen kleinen Details zu einem großen Ganzen zusammengefügt. Das Ergebnis befand sich jetzt auf dem Stick in seiner Hosentasche.

Direkt vor ihm, endlich, der Knick. Keine Sekunde zu früh. Hinter ihm flackerte das Licht der Taschenlampe über die Wände, der Polizist lief nun in seine Richtung. Noch drei Schritte, noch zwei – er tauchte ab in die Finsternis.

Zum ersten Mal konnte er sich die Redewendung »Die Luft ist zum Schneiden« bildlich vorstellen, und er atmete so flach er konnte. Alles in ihm drängte zurück. Aber ihm blieb nur der Weg nach vorne, weiter in den Gestank hinein, an den sich sein Gehirn einfach nicht gewöhnen wollte.

Weiter. Weiter.

Vorsichtig bewegte er sich durch die Dunkelheit. Die Hose hing schwer an seinen Hüften, vollgesogen mit dem Ausfluss der Stadt. Der Gestank war bestialisch. Ob die Ratten hier im großen Stil verwesten? Kein Mondlicht, keine Taschenlampe half ihm zu erkennen, was unmittelbar vor ihm war. Er fasste in eine weiche, schmierige Masse, tastete weiter, spürte kalte Metallstäbe. Eine Art … Gitter. In seinem Gehirn breitete sich dunkler Schwindel aus. Und dann Panik. Er drückte mit aller Kraft gegen das Gitter. Es bewegte sich nicht.

Filter. Natürlich. In den Sielen gab es Filter, um größere Gegenstände daran zu hindern, die Kläranlagen zu verstopfen. Hektisch strich er über die Wände, suchte nach einer Nische, in der er sich verstecken konnte. Die Taschenlampe des Bullen leuchtete den Gang hinter ihm aus, gleich würde er um die Ecke kommen. Er tastete nach dem Stick. So kurz vor dem Ziel, verdammte Scheiße. Er musste den Text online stellen. Die Bevölkerung musste erfahren, was in Hamburg passierte. Wer für dieses ganze Elend verantwortlich war und sich die Taschen vollmachte. Sie mussten auf die Straße und sich wehren. Sie mussten –

Der Lichtstrahl erreichte das Filtergitter. Er drückte sich an die Wand und hoffte, wider besseren Wissens, nicht gesehen zu werden.

»Was zur Hölle …?« Mit schmatzenden Schritten kam der Polizist um die Kurve und leuchtete auf das Gitter.

Hände streckten sich ihm entgegen, die angenagten Finger anklagend auf ihn gerichtet, Körper pressten sich gegen das Metall. Ratten blinzelten ins Licht, krallten sich an Reste von Kleidung und machten keine Anstalten, zu verschwinden.

Er zwang sich, genau hinzusehen, kein einziges Detail zu ignorieren. Wenn er hier lebend rauskam, würde er auch darüber berichten.

Das bin ich dir schuldig, Milla.

Die Taschenlampe fiel hinunter und leuchtete dem Polizisten kurz ins Gesicht. In der braunen Uniform steckte ein schmaler Mann mittleren Alters, das dunkle Haar streng gescheitelt.

Der Polizist starrte verständnislos auf das Gitter. Streckte seine Hand aus, als müsse er begreifen, was er da sah. Zog sie zurück.

Die Lampe versank. Und in dem rötlichen Licht, das für kurze Zeit noch durch das Abwasser schimmerte, sah er, wie der Polizist sich die Seele aus dem Leib kotzte.

In der Politikwissenschaft wird im Allgemeinen angenommen, dass eine Materialsammlung, die für kurze Zeit unter dem Namen »DER TEXT« durch das damals noch existierende World Wide Web kursierte, der Auslöser für die sogenannte »Blutnacht« in Nordland war. Zu dieser Sammlung gehörte eine zusammenfassende Analyse der jüngeren nordländischen Vergangenheit sowie zahlreiche Anlagen, die als Beweismaterial für die in der Analyse erhobenen Anschuldigungen dienten.

Vor allem die zusammenfassende Analyse verbreitete sich viral und veranlasste die Einwohner Nordlands, mit einem »Marsch aufs Rathaus« friedlich gegen das herrschende Regime zu protestieren. Nach Angaben unabhängiger Beobachter versammelten sich im November 2035 etwa eine halbe Million Demonstranten auf dem Rathausmarkt. Auf wessen Befehl die Polizei wahllos in die Menge schoss, wurde genauso wenig ermittelt wie die Zahl der Menschen, die während der »Blutnacht« und in den Wochen danach starben. Sämtliche Kopien der Materialsammlung »DER TEXT« gelten als vernichtet oder verschollen. Selbst im Vidya-Netz kursiert keine Kopie mehr davon.

Die »Blutnacht« gilt in vielen autoritären Regimen als Best-Practice-Beispiel, wie zivilgesellschaftlicher Protest schnell und effizient niedergeschlagen werden kann.

Aus: Alice Tingsten und Nils Lindberg, Lehrbuch für modernePolitik, 3. Auflage, Stockholm 2057.

Juni 2061

Mädchen

Dunst lag über dem Wasser. Das Boot tauchte aus dem Nichts auf, und es war eindeutig auf Kollisionskurs.

»Fritjof! Pass doch auf!« Im allerletzten Moment steuerte Lillith ihren Einer zur Seite.

»Guten Morgen, meine Hübsche«, rief Fritjof, als sein Skiff dicht an ihrem eigenen vorbeiglitt. Sein Lächeln reichte fast von einem Ohr zum anderen. »Keine Panik. Ich hab alles im Griff.«

Lillith hob eine Augenbraue. »Wirklich? Du bist spät dran.«

»Es ist sechs Uhr morgens. Um diese Uhrzeit ist niemand spät dran!« Fritjofs Lächeln machte einem ebenso breiten Gähnen Platz.

Lillith spritzte ihm eine Handvoll Wasser ins Gesicht. »Besser?«

»Na warte!« Fritjof tauchte sein Ruderblatt ein, aber der Schwall Wasser, den er damit aus den Tiefen der Alster holte, fiel ins Leere.

»Da musst du früher aufstehen!« Lillith zog an den Skulls. »Wer zuerst an der Krugkoppelbrücke ist.«

Sie liebte diese morgendlichen Ausfahrten auf der Hamburger Außenalster. Wenn der Tag so klar und kühl und die Hitze und die Sorgen weit weg waren. Wenn sie jeden Muskel im Körper spürte und die Gedanken sich endlich zur Ruhe legten. Wenn alles, woran sie dachte, der ideale Eintauchwinkel und das gleichmäßige Ziehen der Skulls war. Und vielleicht noch, ob sie Fritjof gewinnen lassen sollte, damit er nicht den ganzen Tag lang schlecht gelaunt durch die Gegend lief.

Heute war ihr nach einem Unentschieden.

»Ha, gewonnen!«, rief Fritjof, als sie zeitgleich die imaginierte Ziellinie erreichten.

»Du scheinst immer noch nicht wach zu sein, mein Lieber.« Aber sie ließ seine eigenwillige Interpretation der Fakten auf sich beruhen. Nebeneinander ruderten sie unter der Brücke hindurch. Ein verschlafen aussehender Sicherheitsmann nickte ihnen aus seinem Wachhäuschen zu. Hier, an der Krugkoppelbrücke, endete Lilliths Grundstück und das Anwesen der Kropps begann. Deutlich sichtbar an den grünen und üppigen Rasenflächen, die von einem Ruderschlag auf den nächsten ihren eigenen vertrockneten Garten ablösten.

»Ich versteh nicht, warum die ihren Rasen immer noch bewässern«, sagte Lillith. »Glauben die, das merkt keiner?«

»Wenn ich so viel Geld hätte wie Jay Kropp, würde ich mich auch vom Wassersparen freikaufen.«

»Es geht doch hier nicht ums Freikaufen. Wir haben nicht mehr genug Wasser! Und das, was wir haben, brauchen wir für die Landwirtschaft. Nicht für ein paar hübsche Rasenflächen.« Lillith fasste die Griffe ihrer Skulls fester und nahm Tempo auf.

»Machst du dir Sorgen, dass deine Betriebe im Süden nicht mehr genug Profit machen?« Fritjof zwinkerte ihr zu, aber Lillith spürte seinen Neid. Ein galliges Gefühl, das ihr den schönen Morgen madig machen wollte. In Momenten wie diesen konnte Lillith gut auf ihre Fähigkeit verzichten, die Gefühle anderer Menschen zu erspüren. Sie dachte sich eine Nebelschicht und ließ Fritjofs Neid im Dunst verschwinden.

»Ich mache mir Sorgen um die ganzen Kleinbauern, die gerade versuchen, sich eine neue Existenz aufzubauen«, sagte sie. »Boomgarden, mein Verwalter da unten, fordert inzwischen wöchentlich neue Hilfsgelder. Aber die ersten Brunnen sind bereits trockengefallen. Da nützt dann auch kein Geld mehr.«

Lillith ließ die Blätter ihrer Skulls auf der Wasseroberfläche gleiten und wartete, bis Fritjof wieder gleichauf war. Die Sonne kam hinter den Gebäuden hervor; in Fritjofs Nacken glitzerten erste Schweißperlen, aber seine gute Laune war ungetrübt. Auch der Neid war verschwunden.

Er holte die Skulls aus dem Wasser und grinste zu ihr rüber. »Wenn das Volk kein Wasser hat, soll es eben Champagner trinken.«

»Das ist nicht witzig!« Lillith schlug mit dem Ruderblatt so heftig aufs Wasser, dass dieses Mal nicht nur ihr Freund, sondern auch sie selbst nass wurde.

»Hey, reg dich ab.« Der Spott war aus Fritjofs Stimme verschwunden, sein Lächeln deutlich schmaler. »Darf ich dir einen Rat geben?«

»Seit wann fragst du um Erlaubnis?« Lillith versuchte, ihren Ärger zu verscheuchen. Fritjof war ihr Freund. Ohne ihn hätte sie all die Kämpfe und Kleinkriege der vergangenen Monate nicht durchgestanden. Er sah sie halb belustigt, halb ernst an. Sie seufzte. »Also, raus damit!«

»Krieg deine Emotionen in den Griff. Du kannst in dieser Welt nichts erreichen, wenn du immer allen zeigst, wie frustriert oder wütend du bist, oder wie sehr dich das Schicksal der einfachen Menschen bewegt. Merkst du nicht, wie die anderen sich lustig machen, wenn du mal wieder eine deiner herzblutenden Reden hältst?«

Natürlich merkte Lillith das. Die höhnischen Bemerkungen der anderen Senatoren. Die lautstarken Ausatmer. Die gepressten Seufzer. Die in gespielter Verzweiflung vors Gesicht geschlagenen Hände.

Aber es war ihr egal. »Die sollen sich nicht an mir abarbeiten, sondern unsere neue Verfassung beschließen. Dann liefern uns die Schweden die fehlenden Teile für die Entsalzungsanlagen und ein Großteil unserer Probleme gehört der Vergangenheit an. Du bist der Präsident der Bürgerschaft, Fritjof! Wann setzt du endlich die Abstimmung auf die Tagesordnung?«

»Wir haben keine sichere Zweidrittelmehrheit. Und wenn wir mit dieser Abstimmung scheitern, war die ganze Arbeit umsonst.«

»Pff«, machte Lillith nur, fasste die runden, glatten Griffe der Skulls noch etwas fester, drückte sich kräftig mit den Füßen vom Stemmbrett ab und schob sich auf ihrem Rollsitz zum Bug. Aber sie war aus dem Rhythmus. Fritjof zog an ihr vorbei, egal wie kontrolliert sie ihre eigenen Ruderblätter ins Wasser tauchte.

Sie ließ ihn ziehen. Ihre Gedanken wanderten zurück zu den vielen Konferenzen der vergangenen anderthalb Jahre, in denen die Kommission an der neuen Verfassung gearbeitet hatte. Viele, viele Stunden hatten sie in fensterlosen Räumen gesessen und um Nordlands Zukunft gerungen. Vor zwei Wochen schließlich hatten sie nach einer letzten durchverhandelten Nacht endlich den fertigen Verfassungsentwurf präsentiert.

Alle waren einverstanden gewesen mit der neuen Verfassung. Alle! Mit dem neuen Wahlrecht, das allen Menschen Nordlands die Möglichkeit geben würde, ihre Stimme abzugeben – egal, ob sie Geld hatten oder nicht. Mit der Gleichberechtigung der Frauen, die nicht länger Eigentum ihrer Väter oder Ehemänner wären und die künftig eigenes Vermögen besitzen und erben dürften. Mit der Landreform, dank derer alle Menschen in ganz Nordland die Möglichkeit haben würden, ein Stück Land zu bewirtschaften. Und auch mit dem Wiederaufbau eines echten Staates, der die öffentlichen Güter verwalten und die Gewinne daraus wieder der Allgemeinheit zukommen lassen würde.

Lilliths Energiekonzern würde künftig ebenso dem Staat gehören wie Hawiks Wassernetz, Krawinkels Gesundheitszentren, Rabes Straßen und Benz’ Vidya-Netz. Heister würde die Infrastruktur für sein Informations- und Mediennetzwerk weiteren Anbietern zur Verfügung stellen, das dichte Netz aus Überwachungskameras und Sicherheitsmaßnahmen würde von Foth zurück an den Staat gehen, genauso wie Kropps Hafeninfrastruktur, das Luftverkehrsnetz, das seit seiner Wahl zum Bürgerschaftspräsidenten unverhofft in Fritjofs Hände gefallen war, und die Gasleitungen, deren Durchleitungsgewinne seit Liborius’ Tod an dessen Nachfolger KjellMatthewes ausgezahlt wurden.

Der Gedanke an Liborius ließ sie erneut aus dem Takt kommen. Mit seiner Hilfe hatte sie die Senatoren von den Vorteilen der neuen Verfassung überzeugt. Aber dann hatte sein Herz letzte Woche einfach aufgehört zu schlagen. Sie wischte sich den Schweiß aus der Stirn und tauchte die Ruderblätter erneut viel zu tief ein. Sie drehte sich zu Fritjof um, der heute wirklich gut in Form und schon fast am alten Kloster, dem Wohnhaus der Kropps, vorbei war. Deren Bootsanleger endete inzwischen auf dem Trockenen, und der frische Morgen roch ein wenig nach Algen. Da konnten die Kropps ihre Rosen wässern, so viel sie wollten: Die Dürre machte auch vor ihrem Grundstück nicht halt.

Sie brauchten so dringend die Filter für die Entsalzungsanlagen. Lillith begriff nicht, warum einige wenige Männer die Zukunft Nordlands derart leichtsinnig aufs Spiel setzten.

Als sie nach den kräftezehrenden Verhandlungen vors Rathaus getreten war, hatten neben ihr die Vertreter von Omega gestanden, der Widerstandsgruppe aus dem Volk, die aufbegehrt und diesen ganzen Prozess erst ins Laufen gebracht hatte; außerdem die Secundi, die Zweitgeborenen, die sich nicht länger damit abfinden wollten, dass Vermögen, Titel und Ämter komplett an ihre großen Brüder gingen; die Parlamentarier, die von Fritjof angeführt worden waren. Und dank Liborius hatte sich sogar die alte Elite mit der neuen Verfassung einverstanden erklärt. Ein frischer Wind hatte geweht. Als ob er das Elend der vergangenen 30 Jahre fortblasen wollte.

Aber so unbeständig die Winde, so wechselhaft die Männer.

Ihre Ruderblätter klatschten aufs Wasser. Am Rande von Liborius’ Beerdigung hatte sie dann erfahren, dass sie keine Mehrheit mehr im Parlament hatten. Petersen hatte im Hintergrund die Fäden gezogen und Hawik, Krawinkel und ein paar Erstgeborene dazu gebracht, ihre Meinung zu ändern und sich gegen die Verfassung zu stellen. Gemeinsam hatten sie mehr als ein Drittel der Parlamentarier davon überzeugt, dass die neue Verfassung eine schlechte Idee wäre.

Das Bett der Alster verbreiterte sich, aber es floss nicht mehr genug Wasser, um den Dreck an den Rändern fortzuspülen. Die Algen vermehrten sich ungehemmt, ein glänzend grüner Schimmer lag auf der Wasseroberfläche, und die Luft roch inzwischen nach alten, verfaulten Eiern. Der Widerstand wuchs von Schlag zu Schlag. Lillith schaute sich zu Fritjof um.

»Na? Schwere Arme?«, fragte der und holte gönnerhaft seine Ruder ein. Weder die Algen noch der Gestank schienen ihn zu stören.

»Und wovon träumst du nachts?« Lillith drehte ihre Skulls minimal, sodass sie nicht länger gegen die Algen ankämpften, sondern sich vom chaotischen Gewirr der Unterwasserpflanzen abstießen wie von einem Sprungbrett. Mit wenigen Schlägen hatte sie zu Fritjof aufgeholt.

»Wir sollten nächste Woche über die Verfassung abstimmen«, rief sie, als ihr Skiff neben seines glitt. »Je länger wir warten, umso mehr Erstgeborene wird Petersen auf seine Seite ziehen. Und irgendwann wird es für uns komplett unmöglich sein, diese Abstimmung zu gewinnen.«

Fritjof schüttelte den Kopf. »Das Risiko ist viel zu hoch. Wenn diese Abstimmung scheitert, werden wir exakt da weitermachen, wo wir vor anderthalb Jahren aufgehört haben: Die Secundi werden sich Waffen besorgen, sie werden zum Rathaus marschieren, wahrscheinlich zusammen mit den Omegas, und sie werden versuchen, die Senatoren gewaltsam aus dem Amt zu jagen. Und die Senatoren werden die Armee in Stellung bringen und alles niederschießen. Hallo, Bürgerkrieg.«

Er hatte ihren Rhythmus aufgenommen und ruderte nun neben ihr. »Wir brauchen mehr Zeit. Dann kriegen wir die Mehrheit schon noch zusammen.«

Lillith versuchte, den vom Wasser aufsteigenden Gestank zu ignorieren. »Wie weit bist du mit Hundertmark?«

Fritjof schüttelte erneut den Kopf.

»Lord Rook?«

»Der redet nicht mit mir, das weißt du doch.«

»Nein, weiß ich nicht. Was hat er gegen dich?«

Das spöttische Grinsen war zurück. »Er glaubt, dass ich mal was mit Cissy hatte.«

Der Schmerz kam aus dem Nichts, und Lillith verharrte mitten in der Bewegung. Sie kannte diese Krallen, die sich um ihr Herz schließen wollten. Sie drückten und rissen und kratzten in ihr. Sie taten es jede Nacht, wenn sie nicht schlafen konnte und ihre Gedanken um Bo kreisten. Wenn die Schuld zu groß wurde und sich aus dem Teil ihres Herzens erhob, den sie tagsüber verschloss.

Auch der Selbstmord ihrer Freundin war in jenen Tiefen verschlossen gewesen. Bis eben. Die unsichtbaren Finger drückten fester zu. Sie rang nach Atem, während Fritjof erneut davonzog.

Fritjof hatte recht. Diese dämlichen Emotionen machten ihr das Leben unnötig schwer. Sie musste lernen, den ganzen Gefühlskram zur Seite zu schieben. Also drängte sie die Schuldgefühle zurück hinter die Mauern und verriegelte jeden Ausgang mit den größten und stabilsten Schlössern, die sie sich vorstellen konnte. Der Druck auf ihrem Herzen ließ etwas nach. Sie konzentrierte sich erneut auf ihre Rudertechnik und war mit wenigen Schlägen bei Fritjof.

»Und? Hattest du was mit Cissy?«, fragte sie und versuchte, Fritjofs spöttischen Ton zu kopieren. Dabei schaute sie ihm ins Gesicht. Wenn er sie anlog, würde sie es merken. Aber bevor er antworten konnte, touchierte ihr Skiff das Boot ihres Freundes. Ihr letzter Ruderschlag hatte zu viel Kraft gehabt, und sie konnte das Gleichgewicht nicht halten. Während sie kenterte, hörte sie noch Fritjofs »Woh-ho, nicht so schnell.« Dann schlug das Wasser der Alster über ihr zusammen.

Es war schleimig, und es stank. Sie konnte ihn riechen, den grünalgigen Geruch nach Tod und Verwesung. Mit einer routinierten Bewegung öffnete Lillith die Klettverschlüsse der Schuhe, um ihre Füße vom Stemmbrett zu befreien. Aber sie kam nur aus einem Schuh raus. Etwas hielt sie in dem anderen fest. Sie konnte nichts sehen, hier unter Wasser. Ihre Arme endeten am Ellbogen, und ihre Hände verschwanden im grünen Nebel. Sie zog und zerrte an dem gefesselten Fuß. Nichts. Sie versuchte, sich mit einer Eskimorolle wieder nach oben zu drehen, aber das Boot bewegte sich nicht, klemmte, steckte irgendwo fest. Ihre Lunge brannte, forderte Sauerstoff.

Luftbläschen tauchten überall um sie herum auf. Und da war Fritjof, er drückte und rüttelte und presste, bis der Schuh endlich nachgab. Lillith brach durch die Wasseroberfläche und schnappte nach Luft. Sie hielt sich am Boot fest und wartete, bis die schwarzen Punkte vor ihren Augen wieder verschwanden.

»Das war knapp. Danke.«

Fritjof klammerte sich an die andere Seite des Bootes. »Purer Eigennutz, meine Liebe. Ich will den ganzen Mist hier in Nordland schließlich nicht alleine aufräumen.« Er warf ihr den abgebrochenen Schuh zu – inklusive der dicken Algenstränge, die sich darum geschlungen hatten.

Es tat gut, ihre Panik, ihr Adrenalin, ihre Angst von Fritjofs gelassenem Spott dämpfen zu lassen.

»Komm, lass uns die Boote rausziehen, ich brauch eine Pause«, sagte Lillith und schwamm ans Ufer. Sobald sie Boden unter den Füßen hatte, zog sie ihr Boot an Land. Fritjofs Skiff hatte sich derweil ein ganzes Stück fortbewegt. Er kraulte ihm hinterher, und jetzt nahm er offenbar doch den Gestank wahr. Lillith spürte seinen Ekel. Aber durch die zunehmende Entfernung waren seine Gefühle auszuhalten. Sie konzentrierte sich auf die Schuhhalterung am Stemmbrett. Fritjof hatte ganze Arbeit geleistet – da war nichts mehr zu retten. Okay, kein weiteres Training heute. Sie würde gleich gemütlich nach Hause paddeln.

Ihr Herz raste, ihre Hände wurden feucht, und Lillith konnte nur mit Mühe den Impuls unterdrücken, davonzulaufen. Himmel. Schon wieder spürte sie, wie jemand ihr Herz zusammenpressen wollte. Aber sie hatte ihre Schuld doch gerade weggesperrt. Wie konnte sie so schnell zurücksein? Und woher kam die Angst? Sie spürte nach. Die Gefühle waren heftig, aber sie hallten nicht nach, waren ohne Echo. Sie waren stumpf wie einzelne Wassertropfen, die auf dem Boden zerplatzten. Es war nicht ihre eigene Schuld. Nicht ihre Angst.

»Hallo? Ist hier jemand?«, rief sie. Zwischen den Hortensien am Ende des Hayns Parks verschwand eine schmale Gestalt und mit ihr das Gefühl der Schuld. Aber die Angst blieb. »Hallo?«, rief Lillith noch einmal und suchte die Umgebung nach einer weiteren Person ab. Nur wenige Meter vom Ufer entfernt wuchs ein riesiger Rhododendronbusch. Als sie sich ihm näherte, beschleunigte sich erneut ihr Herzschlag. Alles in ihr wollte weg. Das Licht war zu grell, die Vögel viel zu laut, sie war verzweifelt, verwirrt.

Hinter sich hörte sie den gleichmäßigen Ruderschlag von Fritjof. »Was ist los?«, rief er wie durch einen dichten Vorhang. »Suchst du was Bestimmtes?«

Lillith hob die Hand, lauschte. Sie hörte ein leises Wimmern, so zart, dass es von dem Gesang der Amseln und Lerchen um sie herum fast übertönt wurde und sie es nicht lokalisieren konnte. Ganz anders als die Angst, die stärker wurde, je näher sie dem Rhododendron kam. Eine Verzweiflung, so tief, so elementar, wie Lillith sie noch nie zuvor gespürt hatte. In ihrem Bauch verkrampfte sich alles, und instinktiv dachte sie sich ein Stück Leinen, das die fremden Gefühle herausfilterte. Das Wimmern wurde lauter. Lillith ging um den Busch herum und fand ein kleines weißes Bündel.

Ein Baby.

Sie hob es hoch. Es wog fast nichts und war kaum größer als ihre beiden Hände. Es konnte noch nicht lange auf der Welt sein. Sobald es Lilliths Wärme spürte, hörte es auf zu wimmern. Die Angst ließ ein wenig nach.

Fritjof kam zu ihr und schaute auf das winzige Wesen hinab. »Armes Ding«, sagte er. »Wollte deine Mutter dich nicht?« Lillith bemerkte Mitleid, eine Regung, die sie bei Fritjof noch nicht oft gespürt hatte. Er strich dem Baby über die Wange. »Sei ihr nicht böse. Wahrscheinlich hat sie schon ein paar wie dich und kriegt euch einfach nicht alle satt.«

Lillith bemerkte das feingewobene Laken, in dem das Baby eingewickelt war. Dieses Kind war nicht ausgesetzt worden, weil die Familie hungerte. Sie hob das Tuch an, nur kurz, um sich zu vergewissern. Ihr war eiskalt, trotz der Sonnenstrahlen, die von Minute zu Minute wärmer wurden.

»Die Eltern dieses Babys sind nicht arm«, sagte sie. »Sie wollen nur kein Mädchen.«

α Deichbau α

Die Sonne stand hoch am Himmel. Bo drehte den Schirm der Mütze nach hinten, sodass sein Nacken nicht weiter verbrannte. Sein Gesicht war geschützt, wenn er den Kopf nur tief genug hielt. Den Kopf unten halten … irgendwann würde er das auch noch lernen. Vielleicht, wenn er endlich kapiert hatte, dass Lillith ihn hier nicht rausholen würde.

Als er vor knapp anderthalb Jahren in Santa Fu angekommen war, hatte er noch fest damit gerechnet, nur ein paar Tage, höchstens ein oder zwei Wochen im Gefängnis verbringen zu müssen. Aber mit jedem Monat, der verging, schwand ein Stück Hoffnung. Er sollte sich langsam an den Gedanken gewöhnen, dass Lillith sich einen Scheiß für ihn interessierte und er weitere dreizehneinhalb Jahre Zwangsarbeit würde überstehen müssen.

Egal, was Sunna bei ihren Besuchen behauptete.

Er stach in den Berg aus entwässertem Schlick und schaufelte den Klei in die Schubkarre. Vollbeladen schob er die Karre über die schmalen Holzbohlen zum Deich. Kurz vor der Steigung holte er tief Luft und stemmte sein ganzes Körpergewicht gegen die Last. Die Muskeln in den Armen brannten nach wenigen Metern, aber wenn er jetzt absetzte, würde er die Karre nicht wieder in Gang kriegen. Noch zwanzig Schritte, noch zehn, sie kippelte bedrohlich, und für einen Moment war er sicher, dass er diese Runde verloren hatte. Aber die Schubkarre schwankte zurück ins Gleichgewicht, und Bo kippte sie an der vorgesehen Stelle ab. Er richtete sich auf und wischte mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn. Der Stoff seiner Häftlingsuniform färbte sich von einem verwaschenen Pink zu einem dunkleren Rot.

Hinter ihm kam der Neue den schmalen Plankenweg hinauf. Bo wartete und nutzte die Zeit für eine winzige Erholungspause. Nur ein kurzes Stück weiter die Elbe hinunter bewegten sich Bagger und Lkw mühelos zwischen dem Vorland mit den Pütten voller Kleiboden und dem neuen Deich hin und her. Aber da Petersen kein schweres Gerät auf seinem Grundstück erlaubte, mussten sie hier wie Deichbauarbeiter vor 400 Jahren schuften. Während der de-facto-Bürgermeister wie immer um diese Uhrzeit ein Stück oberhalb der Baustelle in seinem Garten saß und Kaffee trank. Heute zur Abwechslung mal wieder mit seiner Frau.

Die Schubkarre des Neuen schwankte. Der Junge hatte sie viel zu voll geladen. Wenn Skoruppa das sah … Bo ließ seine eigene Karre stehen und rannte dem Jungen entgegen. Aber er kam zu spät. Der Kleiboden verteilte sich bereits über die Bohlen und rutschte den Hang hinunter. Der Junge stand mit hängenden Schultern vor seiner Schubkarre und kämpfte mit den Tränen. Seine Hände bluteten. Bo hatte keine Ahnung, warum der Kleine verurteilt worden war. Aber er war mit Sicherheit kein Gewaltverbrecher.

Er wollte ihm gerade den Arm um die Schulter legen und ihn zurück nach unten schicken, als Skoruppa auftauchte. Der Schlagstock in seiner Hand schimmerte orange, nicht rot. Immerhin. Offenbar hatte er Anweisung bekommen, die Arbeiter nicht ständig auszuknocken.

»Ich hatte gerade eine Gewinnsträhne, du Arsch«, schnarrte Skoruppa. Bo schaute zum Bauwagen am Fuß des neuen Deiches. Auf dem Tisch lagen Skatkarten. Der offizielle Aufseher der Gefangenen, Aldag, öffnete gerade eine Bierflasche und schob sie dem zweiten, inoffiziellen Aufseher rüber: Erik Drach.

Kopf unten halten!

Bo ging zurück zu seiner Schubkarre. Wenn er nicht auch einen Elektroschlag abbekommen wollte, sollte er sich besser wieder an die Arbeit machen. Aber dann schrie der Junge mit so einer kindlich-hellen Stimme, und Drach rief von unten: »Lass mir noch was übrig, den Kleinen hab ich mir für heute Nacht reserviert«, und in Bos Kopf explodierte die Wut.

Er verpasste Skoruppa einen Faustschlag und riss ihm den Stock aus der Hand. Diese sinnlose Gewalt, er war sie so leid. Er wollte ihm den Elektroschlagstock auf die Brust pressen, aber Skoruppa wich aus, und Bo traf ihn mitten in seinem riesigen, brotkastenförmigen Gesicht. Skoruppas Kopf schoss nach hinten, er verdrehte die Augen und schlug ungebremst auf dem Sand auf. Für den Bruchteil einer Sekunde lag er still, dann zuckten Arme, Beine, Kopf in einem unkontrollierten, epileptischen Anfall, und aus Skoruppas Mund drang ein gurgelnder Schrei.

Aldag stürmte den Hang hinauf, Erik Drach nur wenige Schritte hinter ihm. Den Jungen, der zusammengekauert neben seiner Schubkarre lag, ignorierten sie. Aldag brüllte in seine Vidya: »Wir brauchen sofort medizinische Versorgung am Deich!« Skoruppa zuckte, gurgelte, dicker, roter Schaum kam aus seinem Mund, und Drach schaute voller Abscheu auf seinen Kumpel, bewegte aber keinen Finger, um ihm zu helfen. Nach einer gefühlten Unendlichkeit wurden die Zuckungen langsamer, bis Skoruppa sich schließlich gar nicht mehr bewegte. Die Augen aufgerissen, das Weiße darin von dicken roten Adern durchzogen, der Kiefer heruntergeklappt … Erik stupste ihn mit dem Fuß an. »Da hilft kein Arzt mehr«, sagte er. Und dann, mehr zu sich selbst: »Schade um die Investition.«

Bo hielt immer noch den Schlagstock in seiner Hand. Das orangefarbene Licht pulsierte. Orange! Wieso hatte dieser fiese, aber keinesfalls tödliche Stromschlag Skoruppa umgebracht? Lag es an der Epilepsie? Wenn man der Gerüchteküche glauben durfte, hatte Skoruppa in den letzten Wochen einige Anfälle gehabt. Aber daran starb man doch nicht. Oder?

Und warum um Himmels willen hatte er sich überhaupt eingemischt? Hatte er denn nichts gelernt? Scheiß Mitleid. Der Junge hatte die Beine vor den Bauch gezogen, kauerte sich wie ein Embryo zusammen. Der würde keine zwei Wochen hier überstehen, egal, ob Bo versuchte, ihm zu helfen oder nicht. Verdammter Idiot!

Erik Drach lächelte ihn an, sein kantiges Gesicht verschob sich dabei wie tektonische Platten kurz vor einem Erdbeben.

»Auf Mord steht lebenslänglich, Thorn.«

»Unter deiner Aufsicht dauert das ja nicht besonders lange, Drach.«

»Klappe!«, rief Aldag und zielte mit seiner Pistole auf Bo. »Wir können dich auch gleich abknallen.«

»Aber, aber, Herr Aldag, warum sollten wir uns um einen kleinen Zusatzverdienst bringen? Haben Sie den rechten Haken gesehen?«

Aldag senkte die Pistole, ein schmieriges Grinsen im Gesicht. »Wir hatten lange keinen ebenbürtigen Gegner mehr für unseren Champion. Die Quoten werden phänomenal sein.«

Kurz überlegte Bo, ob er es hier und jetzt beenden sollte. Ein kurzer Fluchtversuch, eine Kugel im Rücken, und alles wäre vorbei.

Andererseits: Er war ein guter Boxer. Er konnte diesen Kampf gewinnen. Freiwillig wäre er nie in den Ring gestiegen, hätte sich nie auf den Kampf eingelassen, den der Verlierer immer mit dem Tod bezahlte. Aber wenn er gewann …

Er war noch nicht fertig mit dem Leben.

Regatta

Das Wasser glitzerte wie tausend Diamanten. Das gebrochene Licht auf den Wellen der Alster bohrte sich direkt in Lilliths Gehirn, genauso wie das Geplapper der Frauen um sie herum, die tausend schweren Düfte, die sie auf der Haut trugen und – am schlimmsten von allem – die zahllosen Gemütszustände: Langeweile, Nervosität, Gleichgültigkeit, Aufregung, Resignation, Freude, Verbitterung.

Das alles konnte sie gerade nicht gebrauchen. Sie musste sich konzentrieren, den einen Moment sehen und nutzen, wenn ihr Plan heute Erfolg haben sollte. Um Nordland zu einem gerechteren Land machen zu können, musste Bo ihr neuer Bürgermeister werden. Was schwierig war, solange er im Gefängnis saß.

Sie schloss die Augen und stellte sich einen orientalischen Palast vor, in dem Hunderte Tücher von den Decken hingen. Tücher, mit denen sie die Gefühle der Menschen einwickelte, bevor sie ihr Innerstes erreichten. Und das Geplapper und den Geruch und die glitzernden Diamanten um Hals und Arme gleich mit.

Lilliths Gedanken wanderten zu dem Baby, das sie vor ein paar Tagen gefunden und ins Waisenhaus gebracht hatte. Ob sich das kleine Mädchen später einmal wünschen würde, in diese Welt der Reichen und Schönen hineingeboren worden zu sein? Nicht wissend, wie kurz davor sie gewesen war, Teil dieser oberflächlichen Gesellschaft zu werden?

»Noch 200 Meter bis zum Ziel«, brüllte der Kommentator. »Der Achter der Bürgerschaft hat eine sensationelle Aufholjagd hinter sich. Jetzt überholt er die Öffentliche Ordnung, aber der Achter der Senatoren ist immer noch eine ganze Bootslänge voraus. Wie viel Kraft haben die Jungs um Steuermann Fritjof von Eschenburg noch? Können sie das Tempo halten?«

Auf der Ehrentribüne des Ruderclubs waren fast alle Zuschauer aufgesprungen. Nur Benedikt Rabe saß auf seinem Platz; in Gedanken war der demenzkranke Bürgermeister vermutlich gerade an einem ganz anderen Ort. Trotzdem war er der Einzige, der Bo vorzeitig begnadigen konnte.

Das Problem dabei: Der Bürgermeister empfing keinen Besuch mehr. Er ging zu keinem offiziellen Empfang. Und wenn er mal bei einer Senatssitzung auftauchte, dann in enger Überwachung durch Lüntje Petersen, der für ihn die Geschäfte führte. Und Petersen vertrat beim Thema »Begnadigung für Bo Thorn« eine eindeutige Meinung: Niemals.

Deshalb hatte Lillith zusammen mit Fritjof und Sunna dieses Rennen organisiert und darauf bestanden, den Bürgermeister zum Schirmherrn zu machen, ihn den Startschuss abgeben zu lassen und ihm für diesen Job einen nicht unerheblichen Geldbetrag auf sein Konto zu überweisen. In der Hoffnung, Rabe endlich einmal ohne seinen Schatten zu erwischen.

Aber noch klebte Petersen neben ihm, obwohl er sich ebenfalls nicht für das Rennen zu interessieren schien. Gerade beugte er sich zu seiner Frau Aenne und flüsterte ihr etwas ins Ohr, wobei sein riesiger weißer Schnurrbart sowohl seinen Mund als auch ihr Ohr fast vollständig verdeckte. Es war zu laut, als dass Lillith etwas hätte verstehen können, aber aufgrund von Aennes starrer Körperhaltung war es mit Sicherheit keine Liebeserklärung gewesen.

Die Unterstützerinnen des Bürgerschaftsachters drängten derweil nach vorn an die Absperrung und feuerten die Männer an. Allen voran Sunna. »Zieht, Leute, zieht!«, rief sie. »Ihr kriegt sie!« In ihrem leichten Sommerkleid und mit den langen rotblonden Locken wirkte sie mädchenhaft unschuldig, trotzdem war es ihr gelungen, die anderen, sonst eher zurückhaltenden Frauen der Bürgerschaftsabgeordneten in einen Fanclub zu verwandeln.

»Zeigt’s den Senatoren!«, rief Victoria. Sogar ihre Schwester Patricia, die älteste der drei Hawik-Töchter, ließ sich dazu herab, ihren Mann anzufeuern: »Los Zach, gib alles! Ihr kriegt sie!«

Lillith beobachtete das alles von ihrem Platz aus der zweiten Reihe. Von Amts wegen hätte sie den Achter der Senatoren anfeuern müssen. Aber warum sollte sie Männer unterstützen, die darauf verzichtet hatten, den besten Ruderer aus dem Führungskreis Nordlands mit an Bord zu nehmen? Genauer: die beste Ruderin. »Frau an Bord bringt Unglück und Mord«, hatte Lüntje Petersen orakelt und die anderen Männer dazu gebracht, Lilliths Platz im Boot dem Sohn seines Cousins zu überlassen.

Es war immer das gleiche Spiel: Noch akzeptierten sie – widerwillig – Lillith als gleichberechtigte Senatorin in ihrer Runde. Aber sobald sich eine Gelegenheit ergab, zeigten sie ihr, was sie von Frauen in Führungspositionen hielten.

»Der Abstand zwischen Bürgerschaft und Senat schmilzt weiter. Auch die Öffentliche Ordnung holt auf«, rief der Kommentator. »Unsere Polizisten und Soldaten sind hervorragend in Form, das wird noch mal ganz eng da vorne. Der Achter der Richter und Anwälte ist dagegen weit abgeschlagen; dessen Besatzung wird sich nicht mehr um die vorderen Plätze streiten. Jedenfalls nicht auf dem Wasser. Noch 80 Meter bis zum Ziel. Noch 70. Noch 60.«

»Los, los, los!«, hörte man Fritjofs Stimme quer über die Alster. Seinen Ruderern mussten die Ohren dröhnen bei der Lautstärke, mit der er sie anfeuerte. »Come on!«, schrie er, als wäre er wieder auf dem Internat in Oxford. »Go, go, go!« Mit absolut gleichmäßigen Schlägen näherten sich die Männer aus der zweiten Reihe dem führenden Boot.

»Ihr schafft es!«, rief Sunna, und ihre Stimme überschlug sich. »Go, go, go!«

Lüntje Petersen saß wie festgebunden neben Bürgermeister Rabe. Musste dieser Mann denn nicht wenigstens mal aufs Klo? Sie versuchte eine andere Taktik: Aus voller Kehle stimmte sie in Sunnas Anfeuerungsrufe mit ein.

Lüntje störte sich nicht daran, aber Aenne drehte sich irritiert zu ihr um. Lillith hatte sie länger nicht gesehen und erschrak, wie unförmig die sonst so schlanke und elegante Frau in den vergangenen Monaten geworden war. Das Gesicht war aufgedunsen, unter den rot geränderten Augen lagen dunkle Schatten, und über die Stirn zog sich ein breiter, brauner Fleck, eine Pigmentstörung, die kein Make-up der Welt wegschminken konnte. Nur die Zunge war so spitz wie immer. »Wie kannst du dich so mit ihnen gemein machen?«, zischte Aenne. »Hast du denn gar nichts kapiert?«

»Ich weiß nicht, was du meinst, Aenne«, erwiderte Lillith und feuerte weiter den Bürgerschaftsachter an.

Der Schlusskommentar übertönte Aennes Antwort. »Die Bürgerschaft ist jetzt gleichauf, es sind nur noch zwanzig Meter, und ihr Bug ist eine Handbreit vorn, und da ist die Ziellinie, und da – die Jungs aus der Bürgerschaft fahren als Erste ins Ziel. Der Achter der Bürgerschaft gewinnt den Hamburg-Cup, denkbar knapp vor dem Senatsachter und der Öffentlichen Ordnung. Herzlichen Glückwunsch!«

Unten auf der Terrasse hüpfte Sunna auf und ab, umarmte Victoria und Patricia und winkte zu Lillith hoch. »Komm runter«, rief sie ihr zu und war dabei so voller Sonnenschein, dass Lillith die Tücher zur Seite schob und die gute Laune ihrer Freundin in sich aufsog. Lüntje Petersen machte immer noch keine Anstalten, seinen Platz zu verlassen. Sei’s drum. Lillith sprang die Stufen der Tribüne herunter und ließ sich mitreißen.

Nicht nur Sunna freute sich. Lillith spürte Glück und Hoffnung. Nordland veränderte sich. Nichts hielt ewig. Auch nicht die Vormacht der bislang herrschenden Familien.

Die neun Männer im Boot der Bürgerschaft glitten an den Zuschauern vorbei, strahlten, reckten die Hände in die Luft, klopften sich auf die Schultern. Fritjof stand als Erster auf, klatschte sich mit Zach ab, der ihm am nächsten war – nur, um ihn im nächsten Moment mit vom Boot zu reißen. Die anderen Parlamentarier ließen sich nicht lange bitten. Innerhalb von Sekunden waren alle im Wasser, tauchten sich gegenseitig unter und kraulten schließlich zum Anleger am Clubhaus.

Als Fritjof sich zur Terrasse hochstemmte, klebte das Trikot an seinem Körper, und Lillith spürte den Neid der Männer und das Interesse der Frauen in ihrer Nähe. Aber ihr Casanova war vergeben. Sunna flog ihm in die Arme und mit einem langen Kuss zeigte Fritjof den Anwesenden, was er von der steifen nordländischen Etikette hielt. Als er sie endlich losließ, strahlte er in die Runde und rief, unter dem Jubel seiner Freunde und derer, die gerne seine Freunde sein wollten: »Champagner!«

Natürlich schüttelte Fritjof die Magnumflasche, bevor er sie öffnete. Er würde niemals erwachsen werden. Der Korken flog wie ein Geschoss heraus, und feinster französischer Champagner regnete auf sie alle nieder. Sunna griff sich die nächste Flasche, schüttelte und richtete sie auf Fritjof. Der Korken flog nur knapp an Fritjofs Ohr vorbei, der Champagnerstrahl erwischte ihn voll. Fritjof wirkte für einen Moment wütend, aber Sunnas Strahlen war viel zu ansteckend. Innerhalb von Sekunden waren alle Flaschen geköpft und der Champagner in die Alster geflossen. Die Bürgerschaft trieb derweil führungslos auf der Alster. Im Glanz des Erfolgs fühlte sich niemand dafür verantwortlich.

Während sich alle um die Sieger drängten, beobachtete Lillith weiter die inzwischen fast leere Ehrentribüne. Um sie herum sorgten Klimapilze dafür, dass die Hitze des Frühsommers auf angenehme 22 Grad heruntergeregelt war, aber sie waren nicht der Grund, warum Lillith plötzlich eine Gänsehaut bekam. Das Ehepaar Petersen war aufgestanden und offenbar im Begriff, die Tribüne zu verlassen. Lillith tat, als würde sie sich zwischen die Feiernden mischen, aber sobald Lüntje in dem angrenzenden Restaurant verschwunden war, rannte sie zurück zu den Ehrenplätzen. Niemand beachtete den alten Mann, der allein in der ersten Reihe saß. Niemand bemühte sich um ein Gespräch mit Bürgermeister Rabe.

Auch Lillith hatte nicht vor, Small Talk zu halten.

Aus ihrer Handtasche holte sie Bos Begnadigung und einen Stift. »Herr Bürgermeister«, sprach sie Rabe an. »Mein Vater schickt mich und lässt fragen, ob Sie kurz dieses Dokument unterschreiben könnten.«

»Bürgermeister? Suchst du Bürgermeister Tschentscher? Ich hab ihn vorhin gesehen, aber …« Der Rest des Satzes ging in einem undeutlichen Murmeln unter. Lilliths Herz sank bis in die Kniekehlen. Rabe wusste nicht einmal mehr, dass er Bürgermeister war.

»Nein, nein, ich habe Sie gesucht, Herr Rabe. Ich bräuchte hier einmal eine Unterschrift.« Sie hielt ihm Schreiben und Stift unter die Nase.

Rabe sah sie freundlich, aber unwissend an. Er lächelte, schien aber nicht zu wissen, was er tun sollte.

»Wenn Sie hier einmal unterschreiben könnten«, versuchte Lillith es erneut. Nervös überflog sie die Menge vor sich. Lange würde Petersen Rabe nicht alleinlassen.

Bürgermeister Rabe nahm den Stift in die Hand. »Ein schönes Schreibgerät«, sagte er. »Wo soll ich unterschreiben?«

Lillith zeigte auf die Stelle. Eine schnelle Signatur und Bo war ein freier Mann. Aber Rabe bewunderte immer noch den Stift.

»Warte, Ben! Lass mich einmal draufgucken.« Lüntje Petersen näherte sich. Rabe hob den Kopf und sah Lillith verwirrt an. Sie versuchte, ihm die Begnadigung aus der Hand zu nehmen, aber Petersen war schneller.

»Netter Versuch, Lillith.« Petersen nahm Rabe den Stift ab und gab ihn ihr zurück. Die nicht unterschriebene Begnadigung zerriss er in mehrere Teile und warf sie in die Alster.

Sunna, die unten am Steg mit Fritjof und seinen Freunden feierte, bemerkte die Papierschnipsel und sah zu Lillith hoch. Ihre sonnige Freude verlöschte. Lillith hüllte Sunnas Enttäuschung in eines der Tücher, und weil ihre eigene Enttäuschung ihr die Luft zum Atmen nahm, packte sie die gleich mit hinein.

Sie waren so kurz davor gewesen.

Ω Nenita Ω

»Hör auf, so herumzuspringen, Schwesterherz! Du musst völlig fertig aussehen!« Nenita beendete die Aufnahme mit einem leichten Druck auf den Brillenbügel, nachdem die kleine Kameradrohne zum dritten Mal heute lieber den unbeweglichen Zeppelin am Himmel anstelle ihrer herumhüpfenden Schwester gefilmt hatte.

»Es ist Sonntag. Die Sonne scheint. In zwei Tagen wird endlich die Schule eröffnet, und ich hab den ersten bezahlten Job meines Lebens!« Philine drehte sich ein weiteres Mal um die eigene Achse und versuchte, ein paar Ballettschritte in ihren Tanz einzubauen. Was mit zwei leeren Eimern in der Hand und dem tiefen Sandboden unter den Füßen nicht einfach war.

»Wo nimmst du nur die ganze Energie her?«, fragte Nenita und stellte ihre eigenen Eimer kurz ab. Sie war müde von der täglichen Bewässerungsarbeit auf dem Allmende-Feld. Vom Schleppen der schweren Wassereimer, vom ständigen Bücken, um das kostbare Wasser mit einer kleinen Kanne direkt an den Stängel der Weizenähre zu gießen. Und nicht zuletzt von der Nachtschicht in dem kleinen Vidya-Studio. Auch wenn diese Arbeit die allerletzte wäre, die sie aufgeben würde.

»Ich werde mir was von dem Stoff mit dem Blumenmuster kaufen, den der Höker beim letzten Mal dabeihatte. Und für die Lütten kaufe ich Bonbons und Schoko. Und wenn du willst, können wir für dich ein Abo bei einem dieser Nachrichtensender abschließen.«

»Danke, Süße. Aber vermutlich werden wir dein Geld brauchen, um über den Winter zu kommen.«

Philine verzog das Gesicht. »Spielverderberin.«

»Bleib so!«, rief Nenita und startete erneut die Kamera.

Nenita konnte nur wenige Sekunden Traurigkeit festhalten, dann strahlte ihre kleine Schwester wieder über das ganze gebräunte Gesicht. Der zerzauste Pferdeschwanz wippte im Takt ihrer Schritte, und ihr kleiner, drahtiger Körper verschwand aus dem Bild.

»Wer zuerst am Tor ist«, rief Philine.

Nenita schüttelte den Kopf. Es war wirklich schwer zu glauben, dass ihre Schwester im nächsten Monat 16 werden würde. »Ich film noch ein bisschen«, sagte sie. »Lauf schon vor.«

Sie schickte die Kameradrohne über das Feld zu ihrer Linken. Auf ihren Brillengläsern erschienen die Details der Allmende, die alle Einwohner Freistatts gemeinsam bewirtschafteten: der Weizen auf der einen Hälfte, die Kartoffelpflanzen auf der anderen. Wenn nicht ein plötzliches Unwetter alles zerstörte, würde die Ernte für alle reichen.

Dann ließ Nenita die Kamera nach rechts über den Zaun hinwegfliegen, wo ein dichtes, gelbes Getreidefeld wogte. Der Weizen hier war deutlich höher, die Ähren waren um ein Vielfaches praller. Modernste Technologie beförderte das Grundwasser in die oberen Erdschichten. Dünne Rohrleitungen versorgten die Pflanzen direkt an der Wurzel mit Wasser. Die Ernte auf den Feldern der Civetta würde ähnlich üppig ausfallen wie in den vergangenen Jahren. Die Frau Senatorin wusste vermutlich nicht mal, dass in Nordland eine nie dagewesene Dürre herrschte, oder dass der Grundwasserspiegel wegen ihrer tollen Agrartechnologie stetig sank. Der Brunnen im Dorf war bereits trockengefallen, und das Wasser der Wagenfelder Aue wurde immer schlammiger. Frustriert zoomte Nenita auf das kleine Leck in einem der Rohre. Ein dünner Wasserstrahl schoss in die Luft und bewässerte als feiner Sprühnebel den Sandweg neben dem Feld.

Nur gut, dass Philine den Job an der Schule bekommen hatte. Sie brauchten das Geld. So sehr, wie Nenita ihre Arbeit für die Rehdener Nachrichten liebte – das Honorar, das ihr der Sender für die Filme zahlte, war nicht mehr als ein Almosen.

Sie schickte die Kameradrohne ihrer Schwester hinterher. Vielleicht würde sie eines Tages auch mal einen fröhlichen Beitrag drehen.

Ein leises mechanisches Surren ließ Nenita innehalten. Der elektrische Maschendrahtzaun zu ihrer Rechten summte leise, aber das tat er schon die ganze Zeit. Das Geräusch verstummte, bevor sie es näher eingrenzen konnte. Auf einem der Holzpfähle saß eine Krähe und schaute in Philines Richtung. Nenita versuchte, sie aufzuscheuchen, aber der Vogel beachtete sie nicht, sondern blickte Philine hinterher.

Eine Drohne! Drecksviech.

Es war nie gut, wenn eines der Überwachungsgeräte sich auf eine Person fokussierte. »Wegrennen« war in dem Programm als verdächtiges Verhalten gespeichert, und nicht alle Vögel konnten zwischen »Rennen aus Lust an der Freude« und »Rennen nach Wasserdiebstahl« unterscheiden.

Die Drohne stieg in die Luft und folgte Philine.

»Warte, Philly, halt an!«, schrie Nenita. Die Mauer, die ihr Dorf vor Überfällen schützte und außerdem die Grenze markierte, an der die Civetta-Drohnen umkehrten, war zu weit entfernt, der Vogel würde sie einholen, bevor sie das Tor erreichte. Nenita ließ die Eimer fallen und begann nun ebenfalls zu rennen. »Bleib stehen, Philine! Stopp!«

Aber Philine hatte die Drohne nicht bemerkt. Sie drehte sich zu Nenita um, lachte und schien das Ganze immer noch für einen Wettlauf zu halten.

Nenita öffnete einen Kommunikationskanal: »Maja, ich brauche deine Hilfe, sofort! Eine Vogeldrohne hat es auf Philly abgesehen. Wir sind kurz vorm Südtor.«

Das Betäubungsmittel, das diese Scheißvögel geladen hatten, war übles Zeug. Nenita hatte gesehen, wie es einen der Jungs aus ihrem Dorf ausgeknockt hatte, einen der Zwei-Zentner-Typen, der tatsächlich Wasser geklaut hatte. Nach drei Tagen hatte er endlich mehr als seine Augen bewegen können.

Die Vidya-Brille drohte ihr von der Nase zu rutschen. Sie schob das Gestell wieder hoch und aktivierte dabei versehentlich die maximale Vergrößerung und die Zeitlupenfunktion.

In Zeitlupe brach aus der Brust der Vogeldrohne eine spitz zulaufende Kanüle hervor.

In Zeitlupe bewegte sich das Geschoss auf Philine zu.

In Zeitlupe wippte Philines Pferdeschwanz auf und ab.

In Zeitlupe bohrte sich die Miniaturspritze in ihren Rücken, in Zeitlupe drehte sich ihre kleine Schwester zu ihr um.

In Zeitlupe gaben die Beine nach, in Zeitlupe stürzte sie zu Boden – aber die Zeit verlangsamte sich nicht wirklich, und Nenita war viel zu weit entfernt, um irgendetwas davon zu verhindern.

»Philly!«

Das Südtor öffnete sich, und eine kleine, grauhaarige Frau eilte hindurch, rannte auf Philine zu, die ganz verdreht auf dem Boden lag. Nenita erreichte ihre Schwester als Erste, stürzte zu ihr und drehte sie um. Philines Augen waren geöffnet, aber die weit geöffneten Pupillen starrten an ihr vorbei.

»Nein!«

Sie tastete nach einem Puls, aber egal, wo sie tastete, sie spürte nur ihren eigenen hämmernden Herzschlag unter Zeige- und Mittelfinger. Sie schaute hoch zu Maja, hoffte, dass die Dorfärztin noch Leben in Philly spürte, dass sie ein Mittel aus einer ihrer vielen Taschen hervorzog, mit dem Philly wieder atmen würde. Die alte Frau hatte schon ganz andere Wunder vollbracht. Aber Maja schüttelte nur den Kopf.

Nenita schlug mit der Faust auf den Boden. Die Tränen wollten aus ihr herausbrechen, sie schleuderte die Vidya-Brille von sich und drückte mit den Handballen gegen die Augäpfel. Sie spürte, wie Maja den Arm um sie legte und sie an ihre Brust zog. Aber sie machte sich von ihr los. Sie wollte nicht getröstet werden. Sie wollte den Schmerz und die Wut in ihrem Innersten am Kochen halten.

Stockholm

Lilliths Gedanken kreisten immer noch um die verpasste Chance bei der Regatta gestern, während in regelmäßigen Abständen die Durchsagen zur Sicherheit auf Schwedisch, Mandarin und Russisch an ihr vorbeiwaberten. Auf dem gesamten Flug hatte sie mit Fritjof über die verbliebenen Optionen diskutiert. Den regulären Rechtsweg hatten sie ausgeschöpft, das oberste Gericht Nordlands hatte bereits entschieden, dass Bos Verurteilung rechtmäßig war. Eine offizielle Begnadigung konnten sie vergessen – sie würden den Bürgermeister kein weiteres Mal allein erwischen. Eine gewaltsame Befreiung war ausgeschlossen, wenn Bo Nordland nach den nächsten Wahlen führen sollte. Sie konnten auf Rabes baldiges Ableben spekulieren und darauf, dass ihm jemand nachfolgte, der Bo gewogener war. Aber das war genauso unsicher und langwierig wie der Versuch, mit weiteren Bestechungsgeldern ein neues Gerichtsverfahren aufzurollen.

Vor Lilliths innerem Auge tauchte zum trillionsten Mal der Moment auf, als sie Bo vorgeschlagen hatte, gemeinsam mit ihr zu fliehen. Damals, auf dem unterirdischen Strom, der sie ins Rathaus brachte. Kurz bevor sie ihn verraten hatte. Erneut presste die Schuld alles in ihr zusammen, und sie umklammerte den Griff ihres Koffers, bis ihre Knöchel weiß wurden.

»Lillith?« Fritjof stupste sie an, und erst da bemerkte sie, dass sich in der Schlange vor ihr eine große Lücke aufgetan hatte. Sie musste ihre Emotionen wirklich in den Griff bekommen. Der Termin gleich war zu wichtig. Sie schob den Koffer nach vorne und erweiterte dabei den gedachten Mantel, der die Gefühle der anderen fernhielt, um eine extra Schicht und legte diese um ihr Herz. Der pochende Schmerz verschwand sofort. Als ob ihr ein fauler Zahn gezogen worden wäre.

Drei Reisende standen noch zwischen ihr und dem rot leuchtenden Rahmen, der in der vor ihnen aufragenden Milchglaswand den Durchgang markierte. Ein asiatisch aussehender Geschäftsreisender wurde von der künstlichen Intelligenz befragt, die den Einlass regelte. Sehnsüchtig blickte Lillith zu dem Bereich, über dem in verschlungenen Buchstaben »Skandinaviska Unionen« stand. Hier hielten die Menschen ihre Vidyas kurz vor einen Scanner, die KI prüfte sekundenschnell die Identität der Person, dann löste sich die Milchglaswand in Luft auf, und der Weg war frei. Für alle Nicht-Mitglieder der Skandinavischen Union war der Prozess der Einreise um ein Vielfaches komplizierter. Und langwieriger.

»Wir hätten wirklich früher losfliegen sollen«, murmelte Lillith.

»Noch früher?« Fritjofs Stimme kippte. Nicht nur sie war nervös und angespannt. »Die haben uns zwei Stunden auf dem Rollfeld warten lassen, bevor wir dein Flugzeug überhaupt verlassen durften. Welche Schikanen willst du denn noch mit einplanen?«

»Das war doch alles nur ein Missverständnis.«

»Nein, war es nicht! Die Schweden hassen uns Nordländer und nutzen jede Gelegenheit, das zu zeigen.«

Kurz fürchtete Lillith, Fritjof würde seinen Koffer nehmen und wieder umdrehen, aber noch pumpte er sich nur weiter auf. »Wenn die uns heute nicht endlich den Liefertermin für die Filter geben, dann reiß ich die Entsalzungsanlagen eigenhändig wieder ein.«

»Und was genau gewinnst du dadurch?«

»Meinen Stolz!«

»Super! Warum sind wir da nicht gleich draufgekommen? Stolz! Lass uns dem Volk vorschlagen, damit ihre Felder zu bewässern!«

Vor dem asiatischen Geschäftsmann verschwand die Wand, er trat ein in das gelobte Land, und Fritjof beförderte seinen Koffer mit einem Tritt nach vorne.

»Ich kapier immer noch nicht, warum du glaubst, dass ein persönliches Treffen an der ganzen Misere etwas ändern könnte«, sagte er.

Lillith zuckte mit den Schultern. Tatsächlich hoffte sie, durch ihre besondere Fähigkeit bei der neuen Staatssekretärin etwas erspüren zu können, was ihnen helfen könnte. Aber da Fritjof nichts von ihrer Gefühlslesekunst wusste, begnügte sie sich mit einem Allgemeinplatz. »Ein persönliches Gespräch hilft oft mehr als noch eine Vidya-Konferenz.«

Wie erwartet, gab Fritjof sich damit nicht zufrieden. »Wir kommen hier an wie die letzten Bittsteller und müssen dankbar dafür sein, dass sich die Staatssekretärin mit uns trifft, die Staatssekretärin!, nicht einmal der Minister. Die Frau hat doch überhaupt nichts zu entscheiden. Der ganze Termin ist eine grandiose Zeitverschwendung.«

»Wenn deine Parlamentarier nicht abgesprungen wären und weiterhin die Verfassung unterstützen würden, dann bräuchten wir heute nicht zu betteln. Dann würden uns die Schweden, wie vertraglich vereinbart, die letzten Teile liefern.«

»Dann ist diese ganze Misere also meine Schuld?«

Lillith schluckte ihre Antwort herunter. Es brachte nichts, mit Fritjof zu streiten. Sie brauchte ihn an ihrer Seite, brauchte seinen Charme und seine Überzeugungskraft, wenn sie die Schweden davon überzeugen wollte, dass die Verabschiedung der Verfassung unmittelbar bevorstand und es keinen Grund gab, die aktuelle Ernte auf den Feldern vertrocknen zu lassen.

»Nein, natürlich nicht. Aber die Schweden können auch nichts dafür, dass Petersen und seine Freunde mit all ihrer Macht und all ihrem Geld gegen uns arbeiten. Ich bin ja schon froh, dass sie überhaupt eingewilligt haben, uns zu treffen.«

»Wahrscheinlich nur, um uns weiter zu demütigen.« Fritjof deutete auf die Milchglaswand vor ihnen. »Das hier ist doch deutlich genug, oder? ›Wir wollen euch nicht! Bleibt, wo ihr seid.‹ Die ganzen Hilfsprogramme, die Lehrgänge für die Kleinbauern, das Saatgut, die Technik, die Volksvidyas – das machen die doch nur, um ihre eigene Wirtschaft zu unterstützen.«

»Möglich. Aber wenn unser Volk davon profitiert, ist mir das egal.«

»Aber es profitiert nicht davon. Wenn die Schweden sich weiterhin weigern, uns die fehlenden Teile zu schicken, dann wird kein einziger Bauer auch nur einen Teelöffel Getreide ernten. Egal, wie viel er theoretisch über den Ackerbau gelernt hat.«

»Genau das werden wir ihnen gleich erklären. Und genau deshalb sind wir hier, Fritjof. Wir werden sie bitten, uns zu helfen. Bitten! Obwohl wir unseren Teil der Vereinbarung noch nicht erfüllt haben.«

Wie oft musste sie Fritjof das noch erklären?

Das rot umränderte Feld löste sich erneut in Luft auf. Lillith schob den Koffer mit so viel überschüssiger Energie nach vorne, dass er umkippte und dem glatzköpfigen Mann vor ihr in die Waden fiel. Er drehte sich um und beschimpfte Lillith in schnellem Russisch.

»Sorry«, sagte sie ohne ernsthaftes Bedauern. »Es geht weiter.« Dabei zeigte sie auf die nun wieder geschlossene Wand und ließ den schimpfenden Russen davonziehen.

Sie stellte ihren Koffer auf, nestelte den schmalen Goldarmreif unter dem Jackenärmel hervor, tastete nach der unscheinbaren Vertiefung und schaltete ihre Vidya ein. Kaum war das Gerät aktiv, lief auch schon die erste Nachricht über ihre Kontaktlinse: »Es ist 13:53 Uhr. Bis zu Ihrem Termin sind es noch 67 Minuten. Aufgrund der aktuellen Umgebungsparameter werden sie mit einer Verspätung von circa sieben Minuten ankommen.«

»Ja, danke, weiß ich selbst«, murmelte sie und twinkerte den Alarm weg. Gleichzeitig setzte die automatische Übersetzungsfunktion ein und überflutete sie mit Gesprächsfetzen. Sie reduzierte den Radius und regelte die Lautstärke herunter. Trotzdem nahm das elektronische Gehör der Vidya immer noch deutlich mehr wahr, als nötig gewesen wäre. Wie zum Beispiel das Interview des Russen mit der KI vor ihr: »Business.« – »Bitte spezifizieren Sie.« – »Allgemeiner Handel.« – »Bitte spezifizieren Sie.« – »Im- und Export.« – »Bitte spezifizieren Sie.« Die Glatze des Mannes wechselte von einem milchigen Weiß zu einem zarten Rosé. Lillith drehte an ihrem Ohrstecker und reduzierte so den Radius auf 50 Zentimeter. Es interessierte sie nicht, welche Geschäfte der Russe hier machen wollte. Er sollte sich nur mit seinen Antworten beeilen.

An Fritjofs hin- und herhuschenden Augenbewegungen erkannte sie, dass auch er sich seiner Vidya widmete. Hoffentlich versuchte er, weitere Parlamentarier zu gewinnen. Sie selbst hatte Hundertmark heute Morgen das Angebot gemacht, mit seiner Kanzlei erneut die Position ihres Haus- und Hofanwalts zu übernehmen. Mit diesem Auftrag war ein siebenstelliges jährliches Budget verbunden. Er hatte nicht sofort abgelehnt. Immerhin.

Sie hatte nicht gedacht, dass sie diesem Mann jemals verzeihen würde, dass er sie im Gefängnis hätte verrotten lassen, damals, als Erik Drach kurz davor gewesen war, die Macht in Nordland zu übernehmen.

Aber Dinge änderten sich.

Und alles – und jeder – hatte seinen Preis.

»Blyat, blyat, blyat!«, brüllte der Russe vor ihr und übertönte die automatische Übersetzung. Seine Glatze schimmerte in einem kräftigen Rot. Der Mann holte aus und schlug mit voller Kraft gegen das Tor, über das im selben Moment ein Warnhinweis lief: »Vorsicht! Die Wand steht unter Strom. Bitte nicht berühren.« Zu spät. Der Russe sprang laut fluchend zurück und schüttelte die Hand, als ob der Strom immer noch durch seine Finger floss. Über das Milchglas lief der nächste Satz: »Bitte begleiten Sie unsere freundlichen Mitarbeiter. Wir kümmern uns gerne persönlich um Ihr Anliegen.«

Fritjof trat zur Seite und ließ die beiden Sicherheitsleute vorbei. Der Russe diskutierte, beschimpfte die beiden Männer und schien dann erneut mit Fäusten argumentieren zu wollen. Einer der unbewaffneten Flughafenmitarbeiter hob ihn mit solch einer Leichtigkeit vom Boden, dass der Widerstand sofort erlahmte. Lillith machte unwillkürlich einen Schritt zurück: ein Android