Normopathie - Das drängendste Problem unserer Zeit - Christian Salvesen - E-Book

Normopathie - Das drängendste Problem unserer Zeit E-Book

Christian Salvesen

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Beschreibung

Das weit verbreitete Phänomen der Normopathie wird in diesem Buch in seinen verschiedenen Aspekten und seiner sozialen, geschichtlichen und philosophisch-spirituellen Bedeutung dargestellt. Der Bezug zum alltäglichen Leben eines jeden wird deutlich: Ab welchen Punkt ist das unkritische Mitmachen und normal sein wollen "pathologisch"? Jeder Mensch sucht nach seiner wahren Identität und Bestimmung, doch oft bleibt er in den Vorgaben anderer gefangen. Wo und wie kann der Mensch den Halt finden, den er so dringend sucht und braucht? Die Autoren sehen die Lösung im inneren Halt, im unmittelbar gegebenen Hier und Jetzt – wie es in den großen spirituellen Traditionen und der Mystik empfohlen, in unserer Gesellschaft jedoch zumeist ignoriert wird.

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Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird im Text verallgemeinernd das generische Maskulinum verwendet. Diese Formulierungen umfassen jedoch gleichermaßen weibliche Personen sowie Personen des diversen Geschlechts.

Christian Dittrich-Opitz | Christian Salvesen

Normopathie

Lektorat:

Dr. Richard Reschika

Gestaltung Umschlag/Innenteil:

Wilfried Klei

Covergrafik:

© iStockphoto

Druck & Verarbeitung:

Westermann Druck Zwickau

© Kamphausen Media GmbH, Bielefeld 2021

[email protected] | www.kamphausen.media

ISBN Printausgabe: 978-3-95883-545-0

ISBN E-Book: 978-3-95883-546-7

1. Auflage 2021

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Funk, Fernsehen und sonstige Kommunikationsmittel, fotomechanische oder vertonte Wiedergabe sowie des auszugsweisen Nachdrucks vorbehalten.

Einleitung

Die Multidimensionalität der Stille

Null – Leere und unendliches Potenzial

I. Was ist Normopathie? Zur Begriffsgeschichte

1.Erich Fromms Pathologie der Normalität

2.Seelische Gesundheit in der modernen Welt

3.Merkmale der modernen Gesellschaft

4.Bedingungen des Menschen und psychische Bedürfnisse

5.Psychische Gesundheit und das Bedürfnis nach Religion

6.Aspekte der Sinnfrage in der gegenwärtigen Kultur

7.Die Entfremdung als Krankheit des Menschen von heute

8.Sozialistische Visionen zur Überwindung der kranken Gesellschaft

9.Zukünftige Aufgaben

10.Rainer Mausfeld: Die Normopathie des Neoliberalismus

11.Hans-Joachim Maaz: Falsches Leben, falsches Selbst

12.Die Normopathie in der jüngeren deutschen Geschichte

13.Beziehungskultur

II. Normopathie wiederholt sich in der Geschichte

1.Das Konformitätsexperiment von Solomon Asch

2.Normopathie im England des 18. Jahrhunderts

3.Ungeheuerliche Zustände

4.Grausame und gewinnbringende Sklaverei

5.Mutiger Widerstand

6.William Wilberforce und der lange Weg aus der Normopathie

7.Wilberforce und die Wirkprinzipien der Normopathie

8.Die Normopathie der Geringschätzung von Frauen

9.Wie wäre es, wenn wir aus der Geschichte lernen?

III. Normopathie und Kultur

1.Kultur in der Corona-Krise

2.Literatur: Odysseus und die praktische Vernunft

3.Zukunftsvisionen

4.Kunst als Gegenmittel zur Normopathie – Die Bedeutung der Perspektive

5.Kunst im Dienst der Gemeinschaft

6.Musik: Resonanz und Stimmung

7.Spiritualität: Die Sekten der 80er-Jahre

IV. Der Mensch zwischen Natur und Technik

1.Homo oeconomicus

2.Das Anthropozän

3.Pathologie des Alltags reloaded

4.Die Sicht der Ureinwohner

5.Mögliche Einsicht

6.Modelle für ein alternatives Leben

7.Geschenkkultur

8.Zurück zur Einfachheit

9.Transhumanismus

10.Die technologische Singularität

11.Dafür oder dagegen?

12.Mensch und Technik

13.Woran wollen wir uns orientieren?

V. Normopathie in der Medizin

1.Warum eine von Männern dominierte Gesellschaft zu einem krankhaften Umgang mit Gesundheit führt

2.Jäger, Krieger, Sammlerinnen

3.Maskuline Medizin – Bekämpfen statt Heilen psychischer Krankheiten

4.Die fragwürdige Geschichte der Psychopharmaka

5.Wie die Medizin Infektionen deutet

6.Die Keimtheorie und das Ignorieren anderer Krankheitsursachen

7.Tuberkulose: Infektionen ganzheitlich betrachtet

8.Grippeviren und andere Faktoren

9.Die Spanische Grippe von 1918-1920

VI. Normopathie in der Corona-Krise

1.Der medizinische Aspekt

2.Viren und Bakterien – Der große Unterschied

3.Der PCR-Test

4.Festhalten an Überzeugungen

5.Corona versus Luftverschmutzung

6.Ein krankes Gesundheitssystem

7.Die Medien

8.Das Für und Wider in der Presse

9.Verschwörungstheorien

10.Ethische Konsequenzen

VII. Die Suche nach Halt ist menschlich

1.Wonach wir uns sehnen

2.Was ist Bewusstsein? Ein Paradigmenwechsel

3.Philosophie des Bewusstseins

4.Bewusstsein als eigenständige Größe

5.Inneren Halt im Absoluten finden

6.Transzendenz im alltäglichen Leben

VIII. Klar sein und in sich selbst ruhen – Praktische Tipps

1.Ein konstruktiver Umgang mit Normopathie

2.Die eigene Lebendigkeit wiederentdecken und entfalten

3.Die „Dynamische Meditation“

4.Sich wertschätzen

5.Entrainment – Stimmungen durch Musik ändern

6.In der Natur sein und lauschen

7.Klarheit durch Waldbaden

8.Gehen, um zu gehen

9.Meditationen mit Musik – Hören und mitströmen

10.Die „Reflexive Meditation“

11.Achtsamkeit

12.Selbsterforschung

Anhang

Literatur

CDs/DVDs

Filmtipps

Internet-Adressen/Online-Seminare

Einleitung

Die Multidimensionalität der Stille

Normopathie? Noch nie gehört? Der Begriff war mir auch nicht geläufig, bis ich im Herbst 2020 einen Artikel von Christian Dittrich-Opitz las. Überschrift: „Normopathie ist schwerste Krankheit unserer Zeit“ Du meine Güte! Geht’s auch eine Spur kleiner? Gleich darunter liefert der Untertitel den Kontext: „Das menschliche Bedürfnis nach Anpassung und Unterordnung verkommt in Corona-Zeiten zur realen Gefahr.“1

Aha. Corona. Es gab ja kein anderes Thema mehr, weder in den Mainstream-Medien noch in den alternativen Internet-Kanälen. Ich hatte mich zugegebenermaßen bereits oft über die offensichtlich gleichgeschalteten Berichterstattungen in den öffentlich-rechtlichen Sendern und den großen Zeitungen aufgeregt. Zugleich hatten mich seit den ersten Maßnahmen zur Bekämpfung des Virus und dem drastischen Lockdown im März 2020 E-Mail-Links von Freunden zu allen möglichen kritischen Beiträgen erreicht. Ich fand Interviews mit anerkannten Wissenschaftlern wie Prof. Sucharit Bhakdi (geb. 1946), die engagiert, aber zugleich sachlich ihre Sicht darstellten. Sie entsprachen nicht den offiziellen Verlautbarungen und wurden in Talkshows von ARD und ZDF in einer Art und Weise diffamiert, die mich alarmierte. Was geht hier vor sich?

Normopathie ist ein sozialpsychologischer Begriff. Als einer der Ersten hat Erich Fromm (1900–1980) in den 50er-Jahren mit seinen New Yorker Vorlesungen über die „Pathologie der Normalität“ darauf aufmerksam gemacht, dass nicht alles, was wir als normal ansehen, auch richtig und gesund ist. Die „moderne Gesellschaft“ macht uns tatsächlich seelisch krank. Der Mensch ist von sich selbst, seinen Mitmenschen und der Natur „entfremdet“. Er sieht sich nur noch als Objekt mit einem Marktwert. Allein Konsum und Leistung zählen. Das wurde damals in allen Medien, in den Kinos und in der Werbung propagiert.

Ist das heute, nach 70 Jahren, in unserer Gesellschaft wirklich anders? Hat sich der Einfluss derjenigen, die so viele Konsumenten wie möglich brauchen, nicht noch verstärkt? Die Schere zwischen Arm und Reich hat sich jedenfalls immer weiter geöffnet. Einige wenige große Unternehmen wie „Microsoft“, „Amazon“, „Google“ und „Facebook“ bestimmen durch raffinierte Algorithmen unsere Vorlieben und Abneigungen. Gerade lese ich im „Handelsblatt“, dass ein Jahr Corona-Pandemie viele Menschen arm und unglücklich gemacht hat, die 2365 Milliardäre dieser Erde dagegen vom 18. März 2020 bis zum 18. März 2021 ihr Vermögen um vier Billionen Dollar gesteigert haben – ein Plus von 54 %.

Auch wenn „Normopathie“ ein noch wenig bekannter Begriff ist, er lenkt den Blick auf altbekannte menschliche Schwächen wie Gier, Angst und Unsicherheit, die wir nicht wahrhaben, überdecken und durch Gegenmaßnahmen in den Griff bekommen wollen. Und dies in einem eigenartigen Zusammenspiel von Individuum und Gesellschaft. Nur vorübergehend scheint es in der Normopathie einige Gewinner zu geben.

Besonders Diktaturen stehen unter Normopathie-Verdacht. Leicht lässt sich zeigen, wie die Menschen im Dritten Reich oder unter Stalin gleichgeschaltet wurden und darunter litten. Doch ist es nicht wichtiger, gerade in unserer heutigen Demokratie auf das hinzuweisen, was die meisten für normal und richtig halten und was dennoch in verschiedener Hinsicht „pathologisch“, also leidvoll, ungesund, ungerecht und zu kritisieren ist?

Wir laden Sie zu einem Streifzug durch die Geschichte und Kultur ein, fragen nach, wie wir Menschen zu Natur und Technik stehen, lassen Wissenschaftler, Philosophen, Therapeuten und spirituelle Lehrer zu Wort kommen. Die aktuelle Corona-Krise wird nur in einem Kapitel thematisiert. Normopathie gilt uns als ein viel umfassenderes Thema. Was sich allerdings abzeichnet, ist eine bestimmte Geisteshaltung, die zwar vor 300 Jahren als „Aufklärung“ die Gesellschaft aus einer ideologischen Umklammerung durch die Kirche befreite, heute aber ausgehöhlt und – wie der Philosoph Jean Gebser (1905–1973) es nannte – „defizitär“ ist.

Wir können die weltweiten Probleme der Umweltzerstörung und der damit zusammenhängenden Pandemien, der digitalen Reizüberflutung und Automatisierung aller menschlichen Bereiche, die sich immer weiter öffnende Schere zwischen Arm und Reich und die ideologische Polarisierung innerhalb der modernen Gesellschaft nicht mit den Mitteln und der Einstellung bekämpfen, die eben diese Missstände verursacht haben. Unsere heutige Normopathie heißt Kontroll- und Profitsucht. Sie verengt unsere Perspektive auf das Leben. Wir sehen es am Beispiel der Monokulturen in der Agrarwirtschaft.

Was dagegen hilft? Vertrauen in das Leben. Spüren und wahrnehmen, was jetzt ist.

Zu einfach? Keine neue Wunderformel, zugegeben, aber machbar und immer wieder neu – wenn ich es selbst tue.

Selber denken und kritisch bleiben entwickeln sich ganz von allein aus dem Moment, aus der inneren Stille und der „Leichtigkeit des Seins“.

Christian Salvesen, April 2021

 

Null – Leere und unendliches Potenzial

Als Adam Ries (1492/93–1559) im Jahr 1520 die sogenannten „arabischen Zahlen“, die ursprünglich aus der vedischen Kultur Indiens stammen, in Deutschland einführte, verursachte dies große Aufregung. Im Gegensatz zu den bis dahin verwendeten römischen Zahlen gibt es nämlich bei den vedischen Zahlen eine Null. Die Null ist keine Zahl an sich, aber der offene Raum, in dem mit Zahlen eine viel differenziertere Mathematik möglich ist. Mit den römischen Zahlen waren nur sehr einfache Rechenprozesse möglich. Eine Null aber machte vielen Gelehrten Angst, weil sie diese nicht greifen, nicht in ihre bestehende Vorstellung einordnen konnten. Das Sanskrit-Wort für Null ist „Shunya“ und in einigen spirituellen Traditionen, wie beispielsweise im Buddhismus, ist „Shunyata“ auch ein Begriff für „Erleuchtung“ oder für ein von allen Begrenzungen befreites Bewusstsein.

Im offenen Raum des Nicht-Wissens sind wir nicht darauf festgelegt, was geschehen soll und was richtig und falsch ist. Es kann die Grundlage für eine Lebenseinstellung sein, in der wir mit unserem Denken und Fühlen weise umgehen.

Doch wie die Null der vedischen Zahlen vielen Menschen Angst machte, haben auch viele Menschen Angst davor, offen und ohne vorgegebene Denkmodelle dem Leben zu begegnen. Im Grunde hätten wir heutzutage gute Voraussetzungen, um dem Leben offen im Raum des Nichtwissens zu begegnen. Die Bedürfnisse für das physische Überleben sind zumindest in westlichen Ländern recht gut abgedeckt. So sind wir weniger als in früheren Zeiten an Instinkte gebunden, die uns sagen, was wir tun müssen. Auch die tradierten Religionen oder gesellschaftlichen Vorstellungen sind heute weniger bindend und sagen uns nicht mehr so deutlich wie früher, wie wir denken sollen.

Doch das Potenzial für Freiheit, das diese Entwicklung mit sich bringt, wird von der heutigen Gesellschaft wenig genutzt. Freiheit zum offenen Erforschen des Lebens löst Unsicherheit aus. Man weiß ja nicht, was dabei herauskommen wird. Und so gestalten sich, in Abwesenheit der früheren Gegebenheiten von Überlebenskampf und Tradition, neue Normen. Die vielen Vorstellungen darüber, was sein soll, verdecken den offenen Raum, Shunyata. Die Psychoanalytikerin Karen Horney (1885–1952) schuf dafür den aussagekräftigen Begriff der „Tyrannei des Solls“ (engl. „Tyranny of the Shoulds“).

Aus Unsicherheit sucht der Mensch aber nicht einfach eine Lebensgestaltung nach eigenen Vorstellungen und Solls, er will Sicherheit durch Übereinstimmung. Und so einigen sich Kollektive auf Normen, darauf, was richtig und falsch ist, wie man zu denken hat, um auf der richtigen Seite des Lebens zu stehen. Wie fragil dabei diese kollektiven Normen sind, zeigt uns ein kurzer Blick in die Geschichte. Dabei müssen wir noch nicht einmal weit zurückgehen. Im Jahr 1997 erklärte der damalige US-Präsident Bill Clinton (geb. 1946): Jedes Land, das sich nicht für das westliche neoliberale Modell einer fast uneingeschränkten Entfaltung der Marktwirtschaft entscheidet, würde auf der falschen Seite der Geschichte enden. Heute zeigt schon die existenzielle Bedrohung der biologischen Lebensgrundlagen der Erde, dass eine völlig freie und auf ewigem Wachstum beruhende Marktwirtschaft wohl kaum die richtige Seite der Geschichte darstellen wird.

Sicherheit in Denkmodellen finden zu wollen, die für den Moment plausibel klingen mögen, ist also eine eher unsichere Angelegenheit. Wir wissen bei dem, was wir aktuell für richtig halten, oftmals nicht, was wir alles ausblenden und nicht wahrhaben wollen, eben damit unsere Sichtweise plausibel erscheint.

Reale Fortschritte und Verbesserungen der Lebensbedingungen entstanden oft aus einer Erschütterung der vorherrschenden Ideen über das Leben. Was als Normalität galt, wurde zumindest von manchen mutigen Menschen als Normopathie, als pathologische Übereinstimmung mit einer zutiefst lebensfeindlichen und untauglichen Sichtweise erkannt. Die Abschaffung der Sklaverei, die Wege zur Gleichberechtigung der Frau, die Erkenntnis, dass körperliche Gewalt gegen Kinder kein legitimes Erziehungsmittel ist, und viele andere umwälzende Veränderungen waren nur möglich, weil die Normopathie zu diesen Themen aufgebrochen wurde.

In unserer aktuellen Weltlage ist Normopathie in vielen Lebensbereichen wirksam. Nur weil wir uns mit einem endlosen Strom an Unterhaltung, Information und Konsum ablenken können, bedeutet das nicht, dass unsere Gesellschaft auf einem gesunden und nachhaltig lebensfördernden Fundament aufbaut.

Die Digitalisierung und die damit einhergehende sofortige Verfügbarkeit von allem erziehen den Menschen zu einer wohligen Bequemlichkeit, in der ein klares Erkennen von Normopathie erschwert wird. Dieses Buch soll eine Anregung sein, die Bequemlichkeit vorgefasster und vom Gesellschaftskollektiv als normal abgesegneter Denkmodelle infrage zu stellen. Ein ergebnisoffenes Hinterfragen von Denkmodellen ist aber nicht zu verwechseln mit einer pauschalen Ablehnung. Vielleicht entdecken wir dabei sogar in manchen Denkmodellen einen größeren Wert als erwartet. Die Wahrheit wird sicher jede gründliche Prüfung überstehen. Nur was nicht sicher ist, was nicht auf Wahrheit gebaut ist, wird von einem Teil unserer Psyche, der sich mit Unsicherheit nicht anfreunden mag, nicht zur Überprüfung freigegeben.

Das Ziel dieses Buches besteht mithin weniger darin, Antworten zu geben, als vielmehr zu offenen und mutigen Fragen anzuregen. Im offenen Raum des Nicht-Wissens können uns Erkenntnisse dienen, ohne dass wir von ihnen Sicherheit und Halt brauchen. So können wir die Meisterinnen und Meister unserer Denkmodelle werden, anstatt ihre Untertanen zu sein. Vielleicht kann dergestalt auch ein Beitrag zu einer Gesellschaft entstehen, die weniger von dem Druck zur Übereinstimmung und mehr von einem offenen Erforschen des Lebens geprägt ist.

Christian Dittrich-Opitz, April 2021

1Dittrich-Opitz, Christian, Normopathie ist die schwerste Krankheit unserer Zeit, in: Rubikon, 24. Juni 2020, www.rubikon.news/artikel/normopathie-ist-die-schwerstekrankheit-unserer-zeit (31.5.2021).

I.

Was ist Normopathie? Zur Begriffsgeschichte

Wann, von wem und in welchem Zusammenhang wurde der Begriff der „Normopathie“ geprägt? Dazu gibt es unterschiedliche Aussagen. Laut Dr. med. Mechthilde Kütemeyer (1938–2016), Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, „entdeckten“ Viktor von Weizsäcker (1886–1957) und ihr eigener Vater Wilhelm Kütemeyer (1904–1972) „Begriff und Phänomen der Normopathie“ Anfang der 50er-Jahre im Rahmen der Heidelberger Schule für Anthropologische Medizin. Bei der Untersuchung schwerer körperlicher Krankheiten bei psychisch scheinbar normalen Patienten habe sich eine „normopathische Pathologie“ gezeigt, wenn die sogenannte „biografische Methode“ angewendet wurde.2

Wikipedia schreibt in seinem Beitrag „Normopathie“3 den Begriff dem Psychiater und Professor für Sozialpsychiatrie Erich Adalbert Wulff (1926–2010) zu. Er verwendete ihn in seinem 1972 erschienenen Werk „Psychiatrie und Klassengesellschaft“4 in Verbindung mit „bestimmten Persönlichkeitsstrukturen“. Wulff arbeitete etliche Jahre in Vietnam und regte u. a. zu einer „transkulturellen Psychiatrie“ an. Eine solche „vergleichende Psychiatrie“ könne zeigen, dass bestimmte psychische Erkrankungen nur unter besonderen gesellschaftlichen Bedingungen auftreten. Ökonomische Zwänge und kulturelle Leitbilder führen zu Sozialisationsformen, die Krankheitsdispositionen hervorbringen. Diese bevorzugen zu ihrer Manifestation wiederum bestimmte gesellschaftliche Konstellationen. Es geht also um Wechselbeziehungen zwischen seelischen Erkrankungen und gesellschaftlichen Zuständen.5

Der Neurologe und erfahrene Psychotherapeut Hans-Joachim Maaz (geb. 1943) wiederum vermutet den Ursprung des Begriffs in Hannah Arendts (1906–1975) Analyse der „Banalität des Bösen“. Viktor von Weizsäcker und Hannah Ahrendt hatten sich mit dem Eichmann-Prozess auseinandergesetzt und mit ihrer Einschätzung von der „Banalität des Bösen“ starke Kritik erfahren. Doch auch Maaz vertritt die Auffassung, „dass ‚die Bösen‘ keine geborenen Monster sind, sondern Durchschnittsbürger, die aus psychosozialer Selbstentfremdung fähig werden, Verbrechen zu begehen, deren psychosoziale Störung aber nicht mehr erkannt wird, wenn eine Mehrheit davon betroffen ist“6.

Zunächst wollen wir uns aber einer Pionierarbeit zuwenden, der wohl frühesten und richtungsweisenden Thematisierung der Normopathie.

1.Erich Fromms Pathologie der Normalität

Erich Fromm (1900–1980), einer der bedeutendsten Psychoanalytiker des 20. Jahrhunderts, hat mit seinen 1953 in New York gehaltenen Vorlesungen über die Pathologie der Normalität die Grundlagen dafür geschaffen, dass seelische Gesundheit und Krankheit in Verbindung mit gesellschaftlichen Strukturen gesehen werden können. Erstmals wurde die Frage gestellt, ob eine ganze Gesellschaft krank sein kann. Fromm bezog sich dabei nicht etwa auf Adolf Hitlers (1889–1945) Nationalsozialismus oder den noch herrschenden Stalinismus in der Sowjetunion, sondern auf die USA der 50er-Jahre. Seine tiefgründigen Analysen sind aktueller denn je, auch und gerade für uns und unsere Gesellschaft heute.

2.Seelische Gesundheit in der modernen Welt

Die erste Vorlesung ist der Frage gewidmet, was seelische Gesundheit im Verhältnis zur Gesellschaft ausmacht.

Geht man statistisch-quantitativ an die Frage heran – was Fromm hier für wenig aussagekräftig hält –, so lässt sich immerhin sagen, dass in den USA Anfang der 50er-Jahre über die Hälfte aller Krankenhausbetten von Menschen mit seelischer Erkrankung belegt ist.7 Das ist ein erschreckend hoher Prozentsatz. Auch in europäischen Ländern wie der Schweiz oder Deutschland gibt es erstaunlich viele Fälle von Depression, Alkoholismus und Suizid. Dabei sind die meisten Menschen mit allem Lebensnotwendigen versorgt. Sie können sich relativ sicher und frei fühlen. Dennoch führt der materielle Wohlstand nicht zu mehr Glück.

Bei der inhaltlichen, qualitativen Herangehensweise bevorzugen die meisten Soziologen einen relativistischen Ansatz. Dabei gilt als seelisch gesund, wer den Normen der jeweiligen Gesellschaft entspricht. Fromm hält das für zu kurz gedacht. Das würde ja bedeuten, dass jemand allein deshalb seelisch gesund sei, weil er sich an das angepasst hat, was in der Gesellschaft als normal gilt. Was aber, wenn es sich dabei um eine totalitäre und destruktive Gesellschaftsform handelt, in der die Menschen wider ihr besseres Wissen und Gewissen handeln müssen, in der Aggression und Paranoia „normal“ sind? Im Rahmen der Anpassungstheorie wird das soziale Umfeld, die Familie, die eigene Nation und Rasse als normal, gesund und richtig empfunden, wohingegen die Lebensweise der anderen als fremd, unnormal und sogar verrückt angesehen wird.8

Als Pionier der Sozialpsychologie verfolgt Fromm einen nichtrelativistischen Ansatz. Er orientiert sich an allgemeingültigen Werten, nach denen sich für jede beliebige Gesellschaft bestimmen lässt, ob sie seelische Gesundheit fördert oder verhindert. Ein solcher Wert ist „Lebendigkeit“. So kann ein Arzt erkennen, welche Art von Nahrung und Lebensweise gesund ist und welche nicht. Dies gilt laut Fromm auch für die Seele.

Anpassung spielt unübersehbar eine zentrale Rolle. Müsste jemand aus einer kriegerischen Gesellschaft in einer friedlichen Ackerbaukultur leben, würde er sich ebenso unwohl fühlen wie seine Mitmenschen in seiner Nähe.9 Doch so entstehen Anstöße für eine Entwicklung in der Gesellschaft. Wären alle stets konform, dann säßen wir heute noch in Höhlen. Doch beide Haltungen sind für die Entwicklung, ja für das Überleben jeder menschlichen Gesellschaft notwendig, die Verweigerung der Anpassung ebenso wie die Bereitschaft dazu.10

3.Merkmale der modernen Gesellschaft

Fromm zählt fünf Merkmale unserer heutigen modernen Gesellschaft auf:

Persönliche Freiheit. Der Mensch ist nicht mehr durch seinen Stand oder seine Zunft definiert. Er ist aus der Gruppe herausgetreten, hat aber zugleich Angst vor dieser Freiheit und sucht nun Halt in der Anpassung.

Individuelles Unternehmertum. Eine moderne Errungenschaft gegenüber der mittelalterlichen Gesellschaft. Allerdings ist die Eigeninitiative im Vergleich zum 19. Jahrhundert stark zurückgegangen.

Die Beherrschung der Natur. Der Haken dabei ist: Unsere Maschinen beherrschen uns.11

Der wissenschaftliche Ansatz. Ursprünglich das Bemühen um Objektivität und Wahrheitsfindung. Doch nun werden wissenschaftliche Feststellungen geglaubt wie früher religiöse Dogmen.

Die politische Demokratie. Ein Fortschritt gegenüber der absolutistischen Herrschaftsform. Doch sie berücksichtigt nicht die Interessen der Einzelnen bei Angelegenheiten, die die Gesellschaft betreffen.

Alle fünf Merkmale sind laut Fromm in erster Linie Negationen der vormodernen Strukturen. Aber: „Wir müssen die Ebene der Negation überschreiten und zu neuen, positiveren Formulierungen dessen kommen, was wir wollen.“12

4.Bedingungen des Menschen und psychische Bedürfnisse

Was sind die eigentlichen Bedürfnisse des modernen Menschen? Fromm kommt zwar vom marxistischen Sozialismus her, doch er kritisiert daran u. a., dass man sich zu sehr auf die ökonomischen Aspekte konzentriert und die psychischen Bedürfnisse außer Acht lässt. Die Frage, welchen Sinn das eigene Dasein hat, ist von existenzieller Dringlichkeit und nicht nur abstrakt-philosophischer Natur:

„Es ist uns unmöglich, nur zu leben, zu essen und zu trinken, ohne dem Leben einen Sinn zu geben.“13

„Der Mensch lebt nicht von Brot allein“, heißt es bereits in der Bibel. Allerdings plädiert Fromm nicht dafür, zu früheren Formen religiöser Glaubenspraxis zurückzukehren. Es braucht zwar etwas, für das es sich zu arbeiten und ein nützliches Mitglied der Gemeinschaft zu sein lohnt14, doch diese Art von Religion erfordert keine bestimmten Glaubensinhalte und dient eher als „System der Orientierung und als Objekt der Hingabe“15.

5.Psychische Gesundheit und das Bedürfnis nach Religion

Die meisten Menschen orientieren sich bei der Sinnfrage an dem, was als „normal“ gilt, also an dem, was die Mehrheit der Gesellschaft glaubt. Die wenigen, die tiefschürfender suchen und ihre Privatreligion kreieren, gelten als schräge Vögel oder sogar als verrückt. Sich als Idealist darzustellen ist kein besonderes Merkmal. Wir alle sind Idealisten und leben nach bestimmten Vorstellungen und Idealen. Entscheidend ist, ob die Ideale zur Destruktion führen oder lebensbejahend und aufbauend sind.

Fromm bringt in diesen Vorträgen bereits deutlich seine humanistische Einstellung zum Ausdruck, die durch spätere Werke wie „Haben oder Sein“ sein Markenzeichen wurden. Sinn und Ziel des Lebens entsprechen der Natur des Menschen: „Fähig zu sein zu lieben, fähig zu sein, seine eigene Vernunft zu gebrauchen, und fähig zu sein, jene Objektivität und Bescheidenheit zu haben, mit der der Mensch die Wirklichkeit außerhalb von sich und in sich selbst in einer nicht-entfremdeten Weise erlebt.“16

6.Aspekte der Sinnfrage in der gegenwärtigen Kultur

In der zweiten Vorlesung beleuchtet Fromm, woran es den Menschen in der modernen Gesellschaft eigentlich mangelt. Generell braucht unser Leben einerseits eine Routine, andererseits aber auch etwas Tieferes, das uns aufrüttelt, berührt und inspiriert. In der griechischen Antike spielte das Drama diese Rolle, und zwar aufgrund seiner kathartischen, d. h. reinigenden Wirkung. Ähnlich wirkten im Mittelalter die Rituale und Inhalte der christlichen Religion. An ihre Stelle ist heute eine Art Vakuum getreten, das notdürftig und nur scheinbar mit Werten gefüllt wird:

Arbeit. Vom Handwerk im Mittelalter über die Arbeit als Tugend und Pflicht in der protestantischen Ethik und die Zwangsarbeit im Industriezeitalter bis zum Profitstreben im Kapitalismus hat sich der Sinn der Arbeit erheblich gewandelt. Heute wird das Wachstum der Produktionsmaschinen bewundert. Als erstrebenswert gelten die Bequemlichkeit und das Machtgefühl, alles per Knopfdruck zu beherrschen – vom Fernseher bis zur Atombombe. Maximale Wirkung bei minimalem Aufwand.

Produktion und Konsum. Produzieren, immer mehr, grenzenlos, weil wir zu Konsumenten von allem geworden sind. Wissenschaft, Kunst, Seminare, Liebe. Wir zahlen und haben einen Anspruch darauf, das Gewünschte zu bekommen.17

Glück. Echtes Glück ist mit intensiver Lebendigkeit verbunden. Die fehlt aber den meisten Menschen in der modernen Gesellschaft. Jeder versucht, so effektiv wie möglich der inneren Leere durch Ablenkungen aller Art zu entkommen. „Abwehrformen, die wir Vergnügen und Arbeit nennen.“18

Sicherheit. Dies ist besonders wichtig im Hinblick auf Normopathie. Sie lässt sich nur durch Anpassung und Verdrängung von Gefühlen erreichen. Sicherheit wird so zum Gegensatz von Freude, die das Ergebnis intensiven Lebens ist.19

7.Die Entfremdung als Krankheit des Menschen von heute

In seiner dritten Vorlesung führt Fromm die Entfremdung als Schlüsselbegriff für seinen Ansatz ein. In der Philosophie und Theologie wurde und wird damit meist die Abspaltung von einer ursprünglichen Einheit des Menschen mit der Natur oder mit Gott bezeichnet. Soziologen und Psychologen sprechen eher von einer Entfremdung des Menschen von sich selbst, von seiner Arbeit oder von der Gemeinschaft. Fromm bezieht sich vor allem auf den Verlust des Konkreten oder Wirklichen durch die Abstraktion von allen individuellen Qualitäten. Dinge werden nicht mehr in ihrem Gebrauchs-, sondern in ihrem Tausch- bzw. Geldwert, also als Ware wahrgenommen. Im Umgang mit Menschen hat die Abstraktion noch schlimmere Folgen. Der Mensch reduziert sich selbst auf seinen Wert auf dem Berufsmarkt. Fromm bringt als Beispiel Überschriften aus den Lokalnachrichten. Da wird der Tod eines Schuhfabrikanten vermeldet. Nur der Beruf zählt noch, die konkrete Person, der Mensch selbst wird zum bloßen Objekt, zur Ware.20

Wir vermeiden das unmittelbare Fühlen von Liebe, Hass, Angst, Wut, Zweifel und Trauer. Vor allem der Tod wird auf Distanz gehalten, äußerlich und innerlich. Tränen werden allenfalls vergossen, wenn im Kino die Geliebte des Helden in seinen Armen stirbt. Sentimentalität statt echter, auf die Wirklichkeit, auf das Konkrete bezogener Gefühle.

Hier geht es nicht um die philosophische Erkenntnis von Wirklichkeit, sondern darum, authentisch zu sein. Wie können wir diesen Schleier aus Floskeln und Werbesprüchen, Small Talk über Business und das neue Auto, über Erfolg und Leistung in Beruf und Freizeit durchdringen? Und wer will das? Wozu? Tatsache ist: Wer sich in Fromms Sinne bemüht, wieder mit der echten Menschlichkeit in Kontakt zu kommen, blüht auf. Das gibt echte Kraft und Energie. Wir sehen es bei alten Menschen, die Lebendigkeit, Weisheit und Mitgefühl ausstrahlen. Sie haben nicht nur als Konsumenten gelebt – man muss schon sagen, sie wurden nicht gelebt, sondern sie haben sich voll und ganz eingebracht, auf ihre ganz individuelle Art.

Ein Merkmal der heutigen, nur auf Abstraktionen bezogenen Gesellschaft ist die Langeweile. Ihr Spektrum reicht von Melancholie bis zu tiefster Depression. „Wer sich den Tag so gestaltet, dass keine Zeit mehr übrig bleibt, den überkommt keine Langeweile. Gäbe es diese Möglichkeit, der Langeweile zu entkommen, nicht, dann müssten wir innerhalb kürzester Zeit für Millionen von Menschen psychiatrische Kliniken bauen.“22

Die Entfremdung betrifft laut Fromm zwei weitere Bereiche, die sehr verschieden scheinen und zugleich wesentlich sind: die Wissenschaft und die Liebe. Beide fordern unbedingt den konkreten Bezug auf die Wirklichkeit. In der Wissenschaft dringt nur die Vernunft, nicht aber die zweckgebundene Intelligenz in die Tiefe vor und entdeckt wirklich Neues.23

In der Liebe bedarf es der Zärtlichkeit. Sie hat ihren Spielraum zwischen den gängigen Polen von Sex und Freundschaft. Doch gerade diese Eigenschaft wird immer seltener. In manchen französischen Filmen sieht sie Fromm noch dargestellt, nicht aber in den amerikanischen Filmen der 50er-Jahre.

Sein allgemeines Fazit lautet: Das Problem ist „unser Dahinleben, ohne zu wissen, wofür dies alles gut sein soll, unsere Gleichgültigkeit uns selbst und der Zukunft gegenüber“.24

8.Sozialistische Visionen zur Überwindung der kranken Gesellschaft

In der vierten und letzten Vorlesung der Reihe „Pathologie der Normalität“ skizziert Fromm seine Vision einer nicht-entfremdeten, psychisch gesunden Gesellschaft. Darin ist der „messianische“ Gedanke der Bibel von der Rückkehr des Menschen ins Paradies verbunden mit der sozialistischen Vorstellung einer klassenlosen Gesellschaft freier, glücklicher und friedliebender Mitglieder.

Fromm hatte sich offen zum Sozialismus bekannt und war Mitglied der Sozialistischen Partei Amerikas (Socialist Party of America, SPA). In der sogenannten McCarthy-Ära der 50er-Jahre galt der Kommunismus als Feind Nummer eins der US-Demokratie bzw. der „freien Welt“. Das FBI ließ Fromm überwachen, es existierte ein 600 Seiten umfassendes Buch mit Protokollen über ihn. In seiner vierten Vorlesung macht er noch einmal deutlich, dass er den Stalinismus der Sowjetunion ebenso verabscheut, wie es fast alle US-Bürger tun. Diese „Diktatur des Proletariats“ sei das Gegenteil von dem, was die Sozialisten des 19. Jahrhunderts ursprünglich wollten. Sie hatten die „gemeinsame Vision von einer Gesellschaft, in der der Mensch Selbstzweck und in der der einzelne Bürger tätig und verantwortlich ist und mit seinen Mitmenschen im Geist der Kooperation, der Solidarität und brüderlichen Liebe zusammenlebt“.25

Den marxistischen Sozialisten, zu denen auch Fromm in Europa Anfang der 30er-Jahre gehörte, wirft er nun Naivität vor. Ihre Prognose, dass die Arbeiter im Kapitalismus unter den ökonomischen Verhältnissen unerträglich leiden und sich dagegen wehren würden, hat sich zumindest in den USA nicht bewahrheitet. Wenn es eine Not gibt, dann liegt sie – zumindest was die weiße Bevölkerung angeht – nicht in mangelndem Wohlstand und sklavenartiger Unterdrückung. Vielmehr leiden die Menschen, oft ohne sich dessen bewusst zu sein, unter der Sinnlosigkeit des Daseins und einer inneren Leere, die selbst durch noch so viel Konsum nicht gefüllt werden kann.

Fromm stimmt dem Biologen und Philosophen Sir Julian Huxley (1887–1975)26 zu, der 1952 in einem Vortrag auf dem Humanistischen Kongress in Amsterdam dazu aufgerufen hatte, eine neue humanistische Religion ohne Gottesvorstellung zu etablieren. Damit wird auch die biblische Vision aufgegriffen, wonach sich der Mensch nach seiner Vertreibung aus dem Paradies mithilfe der Vernunft so weit entwickelt, dass er auf einer neuen, höheren Ebene wieder eins mit der Natur und der (Welt-)Gemeinschaft wird.

Hier sind bereits Ansätze zur heutigen Ideologie des Transhumanismus zu erkennen. Denn der Mensch hat die verbotenen Früchte gegessen und – wie es scheint – etwas geschaffen, das eine Rückkehr ins alte Paradies überflüssig macht. „Er erkennt, dass er dabei ist, etwas hervorzubringen, das höher und besser ist als das, was er verlassen hat.“27

9.Zukünftige Aufgaben

Fromms Kritik an der amerikanischen Gesellschaft ist konstruktiv gemeint. Er ist optimistisch, dass die von ihm angesprochenen Defizite – die Entfremdung und die Orientierungslosigkeit – behoben werden können. Die Demokratie, der verbesserte ökonomische Wohlstand und der vom Aberglauben befreite wissenschaftliche Geist sind wichtige Errungenschaften. Sie ermöglichen weitere notwendige Schritte: „Die Sozialisierung der Arbeitsbedingungen und der Funktionen der Arbeiter, so dass der einzelne Mensch bei seiner Arbeit zu einer tätigen, kooperativen Person werden kann und die Arbeit selbst wieder ihre Würde zurückerhält, wieder sinnvoll wird, zu einem Ausdruck der Lebenskraft eines Menschen wird.“28

Nicht nur die Freisetzung physischer Energie wie in der Kernspaltung ist für die weitere Entwicklung der Gesellschaft wichtig, sondern es gilt, Institutionen einzurichten, die die Freisetzung menschlicher, psychischer Energien ermöglichen und sie in die Gesellschaft integrieren. Was die Veränderung angeht, so sollte grundsätzlich jeder bei sich selbst beginnen, indem er sich fragt, was er sich wünscht und selbst einbringen könnte, denn die eigene Wahrnehmung ist eine unabdingbare Basis für verantwortliches Handeln.29

Fromm blieb bis zum Ende seines Lebens seinem humanistischen Ansatz treu. 1950 siedelte er von den Vereinigten Staaten nach Mexiko über, wo der amerikanische Lebensstil noch nicht so ausgeprägt war. Er schrieb dort die Besteller „Die Kunst des Liebens“ und „Wege aus einer kranken Gesellschaft“. In den 60er- und 70er-Jahren engagierte er sich in der Friedensbewegung in den USA. Die letzten sieben Jahre seines Lebens verbrachte er in Locarno in der Schweiz, wo er sein letztes berühmtes Buch über die seelischen Grundlagen einer gesunden Gesellschaft veröffentlichte: „Haben oder Sein“.

Die von Fromm beschriebenen notwendigen Schritte hin zu einer gesunden Gesellschaft sind immer noch zu tun. Wir kommen darauf zurück.

10.Rainer Mausfeld:Die Normopathie des Neoliberalismus

„Zweihundert Jahre nach der Aufklärung, auf die wir uns in der politischen Rhetorik so viel zugutehalten, leben wir in einer Zeit der radikalen Gegenaufklärung.“30

(Rainer Mausfeld)