Nullsummenspiel - S.L. Huang - E-Book
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Nullsummenspiel E-Book

S.L. Huang

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Beschreibung

Privatermittlerin Cas Russell ist nicht einfach nur gut in Mathe – sie ist ein Mathe-Genie. Aufgrund ihrer einzigartigen Fähigkeit, Vektoren vor ihrem inneren Auge zu sehen, ist selbst der härteste Gegner mit der größten Knarre chancenlos gegen sie. Doch ihr neuester Fall führt Cas in die Tiefen der Unterwelt, wo sie es mit dem Puppenspieler zu tun bekommt, dessen übersinnliche Fähigkeiten die von Cas bei Weitem übersteigen. Und plötzlich weiß sie nicht mehr, welche Gedanken ihre eigenen sind und welche ihr der Puppenspieler eingepflanzt hat …

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Das Buch

Privatdetektivin Cas Russell ist nicht einfach nur gut in Mathe – sie ist ein Genie: Aufgrund ihrer einzigartigen Fähigkeit ihre Umgebung als Vektoren, Kräfte, Gleichungen wahrzunehmen, ist selbst der härteste Gegner mit der größten Knarre chancenlos gegen sie. Und das ist äußerst praktisch, wenn es darum geht, verschollene Gegenstände und verschwundene Personen ihren Besitzern beziehungsweise ihren lieben Verwandten zurückzubringen. Doch als sie die Drogenschmugglerin Courtney Polk im Auftrag ihrer Schwester Dawna aus den Fängen eines mysteriösen Kartells befreien soll, gerät sie in eine Sache hinein, die sehr viel größer ist, als es zunächst den Anschein hat. Denn nun bekommt es Cas mit einem Gegner zu tun, dessen übersinnliche Kräfte die ihre eigenen bei Weitem übersteigen. Und plötzlich findet sich Cas in einem tödlichen Katz-und-Maus-Spiel wieder, in dem sie niemandem vertrauen kann – nicht einmal sich selbst …

Der Autor

S. L. Huang ist Hollywood-Stuntfrau und Schusswaffen-Expertin, die unter anderem in Battlestar Galactica and Raising Hope mitgewirkt hat. Ihren MIT-Abschluss rechtfertigt sie damit, durch ihn exzentrisch-mathematische Superhelden-Romane schreiben zu können. Nullsummenspiel ist ihr Debüt. Die Autorin lebt derzeit in Tokio.

S. L. HUANG

NULLSUMMENSPIEL

Roman

Aus dem Amerikanischen übersetzt von

Stefanie Adam und Kristof Kurz

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Titel der OriginalausgabeZERO SUM GAME

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Deutsche Erstausgabe 08/2019

Redaktion: Elisabeth Bösl

Copyright © 2018 by S. L. Huang

Copyright © 2019 der deutschsprachigen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: DAS ILLUSTRAT GbR, München, unter Verwendung von Motiven von Shutterstock

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-23976-3V002

www.diezukunft.de

Für Mel.

Ohne dich ist das Leben wie Wasser ohne Cäsium – gut für einen Tee, aber wenig explosiv.

1

Auf der ganzen Welt gab es nur einen Menschen, dem ich vertraute.

Und der schlug mir gerade ins Gesicht.

Zahlen stoben um Rios Faust, als sie mir entgegenflog. Ich konnte dabei zusehen, wie sich die Werte in einem rasenden Tempo veränderten und Gleichungen sich lösten. Der Mistkerl hielt sich nicht zurück, sondern schlug mit aller Gewalt zu. Ich sah exakt voraus, wo er mich treffen und dass er mir mit seiner Schlagkraft den Kiefer brechen würde.

Wenn ich es zuließ.

Winkel und Kräfte. Vektorsummen. Ein Kinderspiel. Ich drückte meinen Körper gegen den Stuhl, an den ich gefesselt war, stemmte meine Handgelenke gegen den Strick und senkte den Kopf nur etwas weniger, als es gebraucht hätte, um den Hieb in einen zärtlichen Knuff zu verwandeln. So schlug mir Rio zwar die Lippe blutig, zertrümmerte mir aber nicht den Kiefer.

Die Wucht des Schlags schleuderte meinen Kopf nach hinten. Mein Mund füllte sich mit Blut. Ich würgte, hustete und spuckte auf den Betonboden aus. Verdammt.

»Sechzehn Männer«, sagte eine verächtliche Stimme mit deutlichem Akzent ein paar Schritte vor mir, »gegen ein hässliches kleines Mädchen. Wie ist das möglich? Wer bist du?«

»Neunzehn«, korrigierte ich und brachte das Wort vor lauter Blut kaum heraus. Nun bereute ich, dass ich mir die Lippe hatte blutig schlagen lassen. »Prüfen Sie es nach. Ich habe neunzehn von Ihren Männern getötet.« Und es wären noch viel mehr gewesen, hätte mich nicht ein plötzlich aus dem Nichts auftauchender Rio außer Gefecht gesetzt. Verdammter Hurensohn. Er hatte mir diesen Auftrag doch verschafft. Warum hatte er mir nicht gesagt, dass er sich undercover in das Drogenkartell eingeschleust hatte?

Der Kolumbianer, der mich verhörte, atmete scharf ein und nickte einem seiner Lakaien knapp zu, der daraufhin eilig den Raum verließ. Die restlichen drei Drogenschmuggler blieben, wo sie waren, spielten mit ihren Micro-Uzis und setzen dazu eine Miene auf, die sie wohl für einschüchternd hielten.

Vollidioten. Ich rieb meine Handgelenke gegen den rauen Strick, mit dem Rio mir die Hände auf den Rücken gebunden hatte. Er hatte mir dabei gerade so viel Spielraum gelassen, dass ich mich innerhalb eines Sekundenbruchteils befreien konnte. Zahlen und Vektoren schossen in alle Richtungen – von mir zu dem Kolumbianer, zu seinen drei hirnlosen Lakaien, zu Rio. Mein sechster Sinn für mathematische Zusammenhänge, der irgendwo zwischen Sehen und Fühlen angesiedelt war, füllte die Welt um mich herum unablässig mit Berechnungen, sodass ich beständig in dieser Flut aus Daten zu ertrinken drohte.

Und er zeigte mir, wie man am besten tötete.

Kräfte. Bewegungen. Reaktionszeiten. Dieser idiotische Drogenschmuggler stand seinen Jungs direkt in der Schusslinie. Ich hätte ihn sofort ausschalten können, allerdings hätte Rio dann mich ausschalten müssen. Mir war völlig klar, dass er seine Tarnung nicht meinetwegen preisgeben würde.

»Sag mir, was ich wissen will, sonst wirst du es bereuen. Das hier ist mein kleines Schoßhündchen.« Der Kolumbianer wies mit einem kurzen Nicken auf Rio. »Wenn ich den auf dich loslasse, wirst du uns am Ende um den Tod anflehen. Er bringt gern Leute zum Schreien. Das gefällt ihm. Das macht ihm … wie sagt man doch gleich? Einen Mordsspaß.« Der Kolumbianer grinste höhnisch, stützte die Hände auf die Armlehnen des Stuhls und beugte sich so weit zu mir vor, dass sein heißer Atem mein Gesicht streifte.

Jetzt hatte er es geschafft, ich war stinksauer. Ich warf Rio einen kurzen Blick zu. Er trug wie immer seinen beigen Westernmantel und stand teilnahmslos da, wie ein knallharter asiatischer Cowboy. Gleichgültig. Er nahm nicht einmal wahr, dass er beleidigt wurde.

Aber das war mir egal. Wer Rio schlechtmachte, bekam es mit mir zu tun. Auch wenn das alles in Rios Augen bedeutungslos war. Auch wenn es die Wahrheit war.

Ich ließ meinen Kopf zurückfallen und dann ruckartig wieder nach vorne schnellen. Meine Stirn krachte mit einem großartigen Knacken gegen die Nase des Kolumbianers.

Er quietschte und schnaubte wie ein Esel, der Bekanntschaft mit einem Elektrozaun gemacht hat, ruderte mit den Armen und grapschte nach etwas an seinem Rücken, das sich als eine kleine, kompakte Maschinenpistole entpuppte. Ich konnte gerade noch Oh,Scheiße denken, da hatte er sie schon auf mich gerichtet. Doch er konnte nicht abdrücken, weil Rio hinter mir stand. Wild mit der Waffe fuchtelnd bedeutete ihm der Kolumbianer, aus dem Weg zu treten. In diesem Moment formierten sich die Zahlen neu und die Mathematik eröffnete mir ein Aktionsfenster vom Bruchteil einer Sekunde.

Noch bevor Rio einen dritten Schritt tun und der Kolumbianer abdrücken konnte, hatte ich meine Hände aus den Stricken gewunden und mich zur Seite fallen lassen. Aus der Waffe ratterten die Schüsse. Ich ging in die Hocke, wirbelte herum und trat mit einer genau berechneten Bewegung, die die Energie meiner Drehung nutzte, gegen den Metallstuhl – Drehmoment, Impuls, zack. Sorry, Rio. Der Kolumbianer kämpfte mit seiner zuckenden Waffe. Durch den Rückstoß hatte er Schwierigkeiten, mich wieder ins Visier zu nehmen. Ich schnellte hoch, krachte gegen ihn und bekam seine Arme zu fassen. Dann fielen wir gemeinsam in einem genau kalkulierten Bogen zu Boden, der dafür sorgte, dass die Salve aus seiner Maschinenpistole die gegenüberliegende Wand traf.

Der Kopf des Mannes schlug hart auf dem Boden auf, die Waffe glitt aus seinen kraftlosen Fingern und fiel scheppernd auf den Beton. Ohne hinzusehen wusste ich, dass die anderen drei Männer ebenfalls zu Boden gegangen waren. Die Kugeln aus der Waffe ihres Chefs hatten sie durchsiebt, bevor sie auch nur einen Schuss abgegeben hatten. Rio lag mit blutüberströmter Stirn bewusstlos an der Tür. Geschah ihm nur recht, schließlich hatte er mir mehrmals ins Gesicht geschlagen.

Die Tür flog auf. Mehrere Männer schrien etwas auf Spanisch und brachten ihre Uzis und AKs in Anschlag.

Impuls, Geschwindigkeit, Objekte in Bewegung. Ich sah die tödliche Flugbahn ihrer Kugeln, noch bevor sie den Abzug betätigten – wirbelnde Linien aus Kräften und Bewegungen, die meine Sinne erfüllten und den Raum in ein Kaleidoskop von Vektordiagrammen verwandelten.

Als die ersten Schüsse fielen, rannte ich auf die Wand zu und sprang.

Ich traf in genau dem Winkel auf das Fenster, in dem mich die Glassplitter nicht aufschlitzen würden. Das Scheppern der zerspringenden Scheibe direkt neben meinem Kopf war beinahe noch ohrenbetäubender als die Schüsse. Dann landete ich unsanft mit der Schulter auf dem harten Boden, rollte mich ab und lief ohne zu zögern los.

Der Unterschlupf der Drogenschmuggler wurde von einer kleinen Armee bewacht. Am schlauesten wäre es gewesen, sofort zu verschwinden. Aber ich war hier eingebrochen, weil ich einen verdammten Auftrag zu erledigen hatte. Und ich würde nicht bezahlt werden, wenn ich ihn nicht zu Ende brachte.

Die Gebäude warfen lange Schatten in der untergehenden Sonne. Ich blieb abrupt vor einem metallenen Geräteschuppen stehen und riss die Schiebetür auf. Die Zielperson dieses Auftrags, der mir so viele Kopfschmerzen bereitete, eine gewisse Courtney Polk, fuhr hoch und wich so weit vor mir zurück, wie es ihr mit den an ein Rohr gefesselten Händen nur möglich war. Dann erkannte sie mich, und ihr Blick verfinsterte sich. Als die Kolumbianer kurz davor gewesen waren, uns zu schnappen, hatte ich sie hier übergangsweise eingesperrt.

Ich hob den Schlüssel zu den Handschellen auf, den ich neben der Tür in den Staub hatte fallen lassen, und befreite sie. »Zeit abzuhauen.«

»Lass mich los«, fauchte sie und wich wieder zurück. Ich bekam ihren Arm zu fassen und verdrehte ihn. Polk winselte.

»Ich bin für so was gerade echt nicht in Stimmung«, sagte ich. »Wenn du nicht still bist, schlage ich dich bewusstlos und trage dich hier raus. Verstanden?«

Sie starrte mich wütend an.

Ich verdrehte ihren Arm noch ein Stückchen weiter. Nur drei Grad mehr hätten ihr die Schulter ausgekugelt.

»Okay, okay!« Sie versuchte, unbeeindruckt zu klingen, aber dafür war ihr Stimmchen vor Schmerz zu dünn und schrill.

Ich ließ sie los. »Auf geht’s.«

Sie war in weit besserer körperlicher Verfassung, als sie mit ihren schlaksigen Ärmchen und Beinchen auf den ersten Blick wirkte, und so erreichten wir in weniger als drei Minuten den äußeren Absperrzaun des Geländes. Ich schubste sie hinter einer Gebäudeecke zu Boden, um in Ruhe nach dem besten Weg nach draußen Ausschau halten zu können. Die Bewegungsmuster der Wachen wurden zu Vektoren, Zahlenreihen dehnten sich, bis sie am Zaun explodierten. In meinem Kopf drehten sich Kalkulationen in unendlich vielen Kombinationen. Wir würden es schaffen.

Dann tauchte ein Schatten zwischen zwei Gebäuden auf: ein großer, gut aussehender schwarzer Mann. Seine Dienstmarke war unter der Lederjacke nicht sichtbar, aber das war auch nicht nötig. Die Art, wie er sich bewegte, verriet mir alles, was ich wissen musste. Ein Cop mitten in einem Drogenschmugglerversteck.

Ich griff nach Polk, aber es war zu spät. Der Cop fuhr herum und sah mir aus fünfzehn Meter Entfernung direkt in die Augen. Und er wusste sofort, dass er aufgeflogen war.

Er war schnell. Kaum hatten sich unsere Blicke getroffen, ließ er die Hand auch schon in seine Jacke gleiten.

Meine Stiefelspitze sauste nach vorne und traf einen Stein.

Der Cop musste es für einen irrwitzigen Glückstreffer halten. Noch während er in seine Jacke griff, traf ihn der Stein wie aus dem Nichts an der Stirn. Sein Kopf wurde nach hinten geschleudert, dann bekam er Schlagseite und ging zu Boden.

Gott segne die Newton’schen Gesetze.

Polk zuckte zurück. »Was zum Teufel war das?«

»Das war ein Cop«, fuhr ich sie an. Nach nur fünf Minuten mit der Kleinen war meine Geduld bereits am Ende.

»Was? Aber warum hast du …? Er hätte uns helfen können!«

Ich musste mich beherrschen, ihr keine Ohrfeige zu verpassen. »Du bist eine Drogenschmugglerin.«

»Nicht absichtlich!«

»Als ob das einen Unterschied macht. Den Cops ist ganz egal, dass die Kolumbianer nicht mehr gut auf dich zu sprechen sind. Und du weißt zu wenig, um einen Deal auszuhandeln, also werden wir dich auf eine einsame Insel verfrachten, wenn das alles vorbei ist. Und jetzt halt die Klappe.« Der Zaun war nur noch einen kurzen Sprint entfernt, und Steine würden bei den Wachen genauso gut funktionieren. Ich hob ein paar davon auf, wobei meine Hände sofort deren exakte Masse erfassten. Wurfbewegung: meine Größe, ihre Größe, Erdbeschleunigung, Luftwiderstand nicht vergessen, und dann die notwendige Anfangsgeschwindigkeit wählen, damit beim Aufprall auf den menschlichen Schädel genau die nötige Kraft freigesetzt wurde, um einen erwachsenen Mann außer Gefecht zu setzen.

Eins, zwei, drei. Die Wachen gingen nacheinander zu Boden.

Polk unterdrückte einen Schrei und stolperte von mir weg. Ich verdrehte die Augen, packte sie am schmalen Handgelenk und schleifte sie hinter mir her.

Weniger als eine Minute später saßen wir in einem gestohlenen Jeep und entfernten uns von den Lichtern und dem zunehmend alarmierten Gebrüll der Wachen. Um uns senkte sich purpurn die Nacht über die kalifornische Wüste. Ich fuhr einige Male kreuz und quer durch das Gestrüpp, um etwaige Verfolger abzuschütteln, war mir aber ziemlich sicher, dass die Kolumbianer unsere Spur verloren hatten. Bald waren wir allein mit der Wüste und der Nacht. Ich ließ die Scheinwerfer zur Sicherheit ausgeschaltet und navigierte das holpernde Vehikel nur mithilfe des Mondlichts und der mathematischen Extrapolation durch Felsen und Gebüsch. Nichts einfacher als das. Autos sind auch nur Kräfte in Bewegung.

Der Fahrtwind in dem offenen Jeep ließ die Schnitte in meinem Gesicht brennen, und als das Adrenalin nachließ, machte sich Ärger bei mir breit. Ich war davon ausgegangen, dass dieser Job ein Spaziergang sein würde. Polks Schwester hatte mich engagiert, nachdem Rio sie kontaktiert und ihr klargemacht hatte, dass sie ihre Schwester nur dann lebend wiedersehen würde, wenn sie mich mit ihrer Rettung beauftragte. Ich selbst hatte Rio seit Monaten nicht gesehen – bis er mich heute als Punchingball missbraucht hatte –, aber ich konnte mir alles zusammenreimen: Rio operierte undercover innerhalb des Kartells, war auf Polk aufmerksam geworden und hatte entschieden, dass sie es verdiente, gerettet zu werden, und dann mich ins Spiel gebracht. Natürlich war ich dankbar für den Auftrag, aber ich hätte lieber vorher gewusst, dass Rio dort war. Es war verfluchtes Pech gewesen, ihm direkt in die Arme zu laufen. Ohne ihn hätten mich die Kolumbianer nie gekriegt.

Auf dem Beifahrersitz versuchte Polk, sich so gut es ging festzuhalten. Da wir weiterhin querfeldein fuhren, wurde sie unsanft hin und her geschleudert. »Ich werde nicht auf eine einsame Insel ziehen«, sagte sie plötzlich mit unglücklicher Miene.

Ich seufzte. »Von einsam war auch nie die Rede. Und es muss ja keine Insel sein. Vielleicht können wir dich ja auch irgendwo in Argentinien in der Pampa parken oder so.«

Sie verschränkte ihre spindeldürren Arme gegen die kalte Nachtluft vor dem Körper. »Egal. Ich gehe nicht weg. Ich will nicht, dass das Kartell gewinnt.«

Ich musste mich beherrschen, den Jeep nicht absichtlich irgendwo dagegen zu fahren. Nicht, dass es viele Hindernisse gegeben hätte, in die ich ihn hätte lenken können, aber es wäre schon machbar gewesen. Mit dem richtigen Winkel gegen einen kleinen Strauch …

»Dir ist schon klar, dass sie nicht die Einzigen sind, die sich für dich interessieren? Für den Fall, dass deine lieben Freunde vom Kartell vergessen haben, es dir zu sagen, bevor sie dich in den Keller da geworfen haben: Du wirst in ganz Kalifornien wegen Drogenhandels und Mordes gesucht. Ist das jetzt Pflicht, wenn man zu den coolen Kids gehören will?«

Sie verzog das Gesicht und machte sich noch kleiner. »Ich schwöre, ich wusste nicht, dass sie Drogen im Lieferwagen versteckt hatten. Ich hab doch nur meinen Chef angerufen, als sie mich angehalten haben, weil sie uns das gesagt haben. Es ist nicht meine Schuld.«

Ja, klar. Ihre Schwester hatte mir weinend den Polizeibericht gezeigt: Die Beamten hatten eine Fahrerin angehalten, weil sie eine rote Ampel nicht beachtet hatte, und Drogen im Fahrzeug gefunden. Weitere Gangmitglieder tauchten auf, eröffneten das Feuer auf die Beamten und nahmen den Lieferwagen und die Fahrerin mit. Der Bericht belastete Courtney schwer.

Dawna Polk, die mich beauftragt hatte, war sich sehr sicher gewesen, dass ihre Schwester unschuldig war. Mir persönlich war das ziemlich egal. Schuldig oder nicht, Auftrag ist Auftrag.

»Pass auf, ich mach das hier nur, weil ich dafür bezahlt werde«, sagte ich. »Wenn deine Schwester der Meinung ist, du sollst dein Leben wegschmeißen und in den Knast gehen, ist mir das total egal.«

»Ich habe den Lieferwagen nur gefahren. Ich habe doch nicht nachgesehen, was drin ist«, beharrte Courtney. »Dafür können sie mich nicht verantwortlich machen.«

»Wenn du glaubst, dass das so läuft, bist du ziemlich bescheuert.«

»Die Polizei ist mir jedenfalls lieber als du!«, gab sie zurück. »Bei den Cops habe ich wenigstens Rechte! Und da gibt es auch keine gruseligen Feng-Shui-Killer!«

Dann drückte sie sich wieder in die Ecke und biss sich auf die Lippe. Vermutlich überlegte sie, ob sie zu weit gegangen war und ich sie nun ebenfalls mit meinen Feng-Shui-Kräften killen würde.

Blödsinn.

Ich holte tief Luft. »Mein Name ist Cas Russell. Ich bin im Wiederbeschaffungsgeschäft. Das bedeutet, ich beschaffe für meine Auftraggeber alles Mögliche wieder. Das ist mein Job.« Ich schluckte. »Deine Schwester hat mich damit beauftragt, dich wiederzubeschaffen, okay? Ich werde dir nichts tun.«

»Du hast mich eingesperrt.«

»Ich wollte nicht, dass du abhaust. Damit ich dich später holen konnte«, versuchte ich zu erklären.

Courtney hielt die Arme immer noch über der Brust verschränkt und biss sich auf die Lippen. »Und was ist mit all dem anderen Zeug, das du gemacht hast?«, fragte sie schließlich. »Mit den Kartell-Wachen, den Steinen, mit dem Cop …«

Ich warf einen Blick auf die Sternenkonstellationen über uns und lenkte den Jeep nach Osten in Richtung Highway. Die Sterne brannten in meinen Augen, Elevation, Azimut und scheinbare Helligkeit waren neben jedem einzelnen kleinen Lichtpunkt in den Himmel gestempelt. Ein Satellit kam in Sicht. Ich sah sofort, wie weit er von der Erde entfernt und wie hoch seine Umlaufgeschwindigkeit gerade war.

»Ich bin wirklich gut in Mathe«, sagte ich. Zu gut. »Das ist alles.«

Polk schnaubte verächtlich, als würde ich sie auf den Arm nehmen. Dann verzog sie wieder das Gesicht, und ich spürte, wie sie mich aus der Dunkelheit heraus anstarrte. Oh Mann, mir war es wirklich lieber, wenn ich Gegenstände wiederbeschaffen konnte. Menschen waren einfach nervtötend.

Gegen Morgen hatten wir aufgrund meiner ausgeklügelten Sicherheitsmaßnahmen erst die halbe Strecke nach L. A. geschafft. Wir hatten zweimal das Auto gewechselt und waren dreimal in eine völlig andere Richtung gefahren. Das alles war vielleicht etwas paranoid, beruhigte aber meine Nerven.

Die Wüstennacht war kalt. Zum Glück saßen wir mittlerweile nicht mehr im offenen Jeep, sondern in einem schrottreifen alten Kombi, auch wenn die Heizung kaum mehr als einen lauwarmen Hauch produzierte. Polk hatte ihre knochigen Knie hochgezogen und ihren Kopf dazwischen vergraben. Sie hatte seit Stunden nicht mehr gesprochen.

Ich war froh darum. Dieser Auftrag war schon schwierig genug, auch ohne dass ich mich andauernd vor einer undankbaren Göre rechtfertigen musste.

Als die Sonne das erste Morgenlicht verbreitete, setzte sich Polk auf. »Du hast gesagt, du bist im Wiederbeschaffungsgeschäft.«

»Ja«, sagte ich.

»Du holst für deinen Auftraggeber etwas zurück.«

»Das bedeutet ›Wiederbeschaffung‹.«

»Ich hab einen Auftrag für dich.« Ihr jugendliches Gesicht nahm nun einen eigensinnigen Zug an.

Großartig. Sie hatte Glück, dass ich nicht besonders wählerisch in Bezug auf meine Klienten war. Und dass ich nach diesem Job einen neuen Auftrag brauchte. »Um was geht es?«

»Ich will mein Leben zurück.«

»Hm, dafür bezahlt mich deine Schwester schon«, erinnerte ich sie. »Aber hey, wenn du noch etwas drauflegen möchtest, habe ich nichts dagegen.«

»Nein. Ich meine, dass ich nicht nach Argentinien will. Ich will mein Leben zurück.«

»Wie? Du willst, dass ich dir eine weiße Weste beschaffe?« Sie litt eindeutig an akutem Realitätsverlust. »Kleine, das ist nicht …«

»Ich habe Geld«, unterbrach sie mich und senkte dann die Augen. »Ich bin echt gut bezahlt worden für einen Lieferwagenfahrer.«

Ich schnaubte verächtlich. »Wie viel bekommt man denn heutzutage so fürs Drogenschmuggeln?«

»Mir egal, was du von mir hältst«, sagte Polk, lief aber rot an. Sie senkte den Kopf, und der krause Pferdeschwanz fiel ihr übers Gesicht. »Menschen machen Fehler.«

Na klar. Mir kamen gleich die Tränen. Ich ignorierte die Stimme in meinem Kopf, die mich dazu drängte, den blöden Auftrag trotzdem anzunehmen. »Retterin in der Not zu spielen ist nicht so mein Ding. Sorry, Kleine.«

»Denkst du wenigstens mal drüber nach? Und hör auf, mich ›Kleine‹ zu nennen, ich bin dreiundzwanzig.«

Sie wirkte wie höchstens achtzehn, naiv und noch nicht ganz trocken hinter den Ohren. Aber wer war ich, mir ein Urteil zu bilden, mich hielten die Leute auch oft noch für einen Teenager – und tatsächlich war ich kaum älter als Courtney. Aber das Alter bemisst sich nicht nur nach der Summe der Lebensjahre. Manchmal musste ich jemandem erst meine .45er unter die Nase halten, bevor er das kapierte.

Dann fiel mir wieder ein, dass ich meinen Colt 1911 bei der Befreiungsaktion eingebüßt hatte. Verdammt. Das tat weh. Die Waffe würde ich Dawna in Rechnung stellen.

»Also? Denkst du drüber nach?«

»Ich denke gerade an meine Lieblingswaffe.«

»Musst du ständig so fies sein?«, murmelte Courtney, den Kopf gesenkt. »Mir ist klar, dass ich Hilfe brauche, deswegen frage ich dich ja.«

Oh, fuck. Courtney Polk war eine Riesennervensäge, und den guten Namen von dummen Kindern reinzuwaschen, die sich mit Drogenkartellen einließen, gehörte nun wirklich nicht zu meinen Aufgaben. Ich hatte mich schon sehr darauf gefreut, sie schnellstmöglich bei ihrer Schwester abzuliefern und zu verschwinden.

Aber die kleine Stimme in meinem Kopf wollte nicht verstummen: Wohin denn verschwinden?

Nach diesem Auftrag war ich erst mal arbeitslos. Und ohne Arbeit kam ich nicht so besonders gut zurecht.

Genau. Ohne Auftrag bist du jedes Mal ein völliges Wrack.

Ich blendete die Stimme aus und konzentrierte mich aufs Finanzielle. Eines meiner Lieblingsthemen. »Wie viel Kohle hast du? In bar.«

»Heißt das ja?« Ihr Gesicht hellte sich auf, und sie setzte sich wieder gerade hin. »Danke! Wirklich, im Ernst, danke!«

Ich grummelte irgendetwas vor mich hin, das nicht einmal halb so enthusiastisch klang. Dann ließ ich den Motor des Kombis aufheulen, und wir schossen den noch leeren Freeway entlang. Auszutüfteln, wie man ihren guten Ruf wiederherstellen konnte, hörte sich nicht gerade nach Spaß an, besonders nicht so früh am Morgen.

Die Stimme in meinem Kopf lachte spöttisch. Als ob du es dir leisten könntest, wählerisch zu sein.

2

Ich hielt vor einem heruntergekommenen Motel in der Nähe von Palmdale. Auf einem kaputten Plastikschild stand in schiefen Buchstaben »ZIMER FREI« – falsch geschrieben. Ich hatte noch einmal einen Umweg genommen, der uns nördlich von L. A. durch ein paar staubige Dreckskäffer auf Meth-Gang-Territorium geführt hatte. Courtneys Freunde schmuggelten Kokain, was sie wohl zu etwas stilvolleren Drogendealern machte.

Ich war noch nicht müde, ging aber davon aus, dass Courtney eine Pause brauchte. Und ich musste nachdenken, denn ich hatte keine Ahnung, wie ich ihren Auftrag anpacken sollte. Der einfachste Weg schien mir, genug Beweise zu sammeln, um der DEA einen spektakulären Schlag gegen das Drogenkartell zu ermöglichen. Wenn wir dann herausstellten, dass das Courtneys Verdienst gewesen war, konnten wir sicher einen Deal aushandeln, der sie von allen Anschuldigungen befreite. Das würde aber bedeuten, mit der Polizei verhandeln zu müssen – was für mich in etwa so attraktiv klang wie die Aussicht, fünf Zentimeter lange Bambussplitter unter die Fingernägel geschoben zu bekommen.

Ich scheuchte Courtney vor mir her in die schäbige Rezeption des Motels. Sie gähnte hörbar, als sie hineinstolperte. Der Typ hinter dem Tresen hing am Telefon, während ich mich mit verschränkten Armen gegen die Wand lehnte und wartete.

Das Telefongespräch dauerte weitere zehn Minuten. Der Angestellte warf uns immer nervöser werdende Blicke zu, als hätte er Angst vor einem Anschiss, weil er sich nicht gleich um uns gekümmert hatte. Angesichts meiner mitgenommenen Tarnklamotten und meines ramponierten Gesichts, das mittlerweile in allen Farben des Regenbogens schillerte, wunderte mich das nicht. Vielleicht ging er auch einfach nur davon aus, dass jemand mit dunkler Hautfarbe zwangsläufig ein Terrorist war. Man hatte mir schon öfter gesagt, dass ich aussah, als käme ich aus dem Nahen Osten. Verdammte rassistische Vorurteile.

Ich versuchte zu lächeln, brachte aber nur ein finsteres Starren zustande.

Der Mann am Empfang beendete endlich sein Telefonat und gab uns ein Zimmer im Erdgeschoss, wobei er weiterhin vor sich hin stammelte. Er ließ den Schlüssel zweimal fallen, als er ihn mir geben wollte. Auch das Bargeld, das ich ihm auf den Tresen legte, glitt ihm aus den Fingern. Hätte er gewusst, dass das Geld aus verschiedenen Autos stammte, die ich alle heute Nacht gestohlen hatte, er wäre wohl noch nervöser geworden.

Ich schleifte Courtney wieder ins Tageslicht, suchte unser Quartier und öffnete die Tür zu einem ganz gewöhnlichen, vor Dreck starrenden Motelzimmer mit billigen Pappmöbeln. Courtney war anscheinend so erleichtert angesichts meines Versprechens, ihr zu helfen, dass sie sofort einschlief, sobald sie den kraushaarigen Kopf auf das schmutzige Kopfkissen legte. Ich deckte sie mit der von Brandlöchern übersäten Tagesdecke zu und öffnete die Tür zu dem kleinen Badezimmer.

Und sah plötzlich in den Lauf einer Waffe. »Howdy«, sagte der schwarze Cop, den ich im Versteck des Kartells mit dem Stein außer Gefecht gesetzt hatte. Er saß auf dem Spülkasten der Toilette, die Füße auf dem Sitz. »Ich denke, wir sollten uns mal unterhalten.«

So eine Scheiße.

Egal, wie gut ich in Mathe bin und wie gut mein Körper darauf trainiert ist, sofort auf meine Berechnungen zu reagieren, ich kann mich nicht schneller als eine Kugel bewegen. Wäre der Cop in Reichweite gewesen, hätte ich ihn entwaffnet, bevor er abdrücken konnte, aber das Bad war gerade groß genug und er hatte die Waffe bereits gezogen und zielte damit auf meinen Massenmittelpunkt. Er hatte die Mathematik auf seiner Seite.

»Beachten Sie mich einfach gar nicht«, sagte ich betont locker und schob mich ein kleines Stück in seine Richtung. »Ich müsste nur mal …«

Er bewegte leicht seine Hand, und ich erstarrte.

»Sehr gut«, sagte er. »Ganz ruhig, Süße. Eine Bewegung, und du hast eine Kugel in der Niere.«

Ich wusste nun zwei Dinge über ihn: Zum einen, dass er schlau war. Er war nicht nur in der Lage gewesen, uns zu folgen, sondern er hatte es auch geschafft, vor uns in unser Zimmer und ins Bad zu gelangen. Er machte also nicht den Fehler, mich zu unterschätzen. Und zweitens interessierte er sich einen Scheiß für dienstliche Vorschriften. Was bedeutete, dass er entweder ein sehr gefährlicher Cop war oder ein korrupter – oder beides.

Ich hob die Hände, damit er wusste, dass ich keine Dummheiten vorhatte.

»Ich bin ganz ruhig.«

»Pithica«, sagte er. »Raus mit der Sprache.«

»Sie müssen mich mit jemandem verwechseln«, sagte ich. Um mich herum explodierten Gleichungen und fielen wieder in sich zusammen. Jede mögliche Lösung dauerte länger, als der smarte Cop brauchen würde, um den Abzug zu betätigen.

»Raus mit der Sprache«, sagte er noch einmal. »Oder ich drücke ab und prügle stattdessen alles aus deinem kleinen Schoßhündchen da draußen raus.«

Courtney. Mist. Ich musste Zeit schinden. »Okay«, sagte ich. »Was wollen Sie wissen?«

Ich beobachtete im Badezimmerspiegel, dass bereits die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne über das Fensterbrett und durch die fast vollständig zugezogenen Vorhänge lugten.

Reflexion. Einfallswinkel. Perfekt. Solange der Cop nicht einfach blind um sich schoss, konnte ich ihn außer Gefecht setzen. Ich hielt die Hände weiterhin erhoben, drehte das linke Handgelenk aber leicht.

In Lichtgeschwindigkeit fielen die Sonnenstrahlen durchs Fenster, trafen auf den Badezimmerspiegel, wurden von der blanken Oberfläche meiner Armbanduhr reflektiert und trafen den Cop mitten ins Auge.

Er blinzelte und zog schnell den Kopf ein, aber ich war schneller. Ich sprang zur Seite und nach vorne, ins Badezimmer hinein. Gleichzeitig ließ ich meine rechte Hand vorschnellen und schlug die Waffe weg. Meine Finger schlossen sich um sein Handgelenk, während die Zahlen herumwirbelten und schließlich zum Stillstand kamen, als der perfekte Drehpunkt gefunden war. Ich riss an seiner Hand, nutzte die Hebelwirkung zum Sprung, drehte mich um meine eigene Achse und rammte ihm das Knie seitlich gegen den Kopf.

Der Cop brach bewusstlos zusammen und landete äußerst unelegant mit dem Gesicht voraus auf dem schmutzigen Badzimmerboden.

Ich untersuchte seine Waffe. Sie war geladen, das hatte ich auch nicht anders erwartet. Eine ziemlich robuste .45er mit erweitertem Magazin, was mir gefiel, allerdings war es eine Glock, was mir wiederum weniger gefiel. Eine typische Polizeiwaffe. Ich hasse Glocks.

Ich durchsuchte ihn hastig und fand drei weitere vollständig geladene Magazine und eine kleine, kurzläufige Smith & Wesson, die in seinem Stiefel steckte. Aber kein Portemonnaie, kein Handy – und bemerkenswerterweise auch keine Polizeimarke oder überhaupt irgendeinen Ausweis. Ich hatte recht gehabt: Er war korrupt.

Ich zog ihn hinüber in das Zimmer, nahm das Laken von einem der Betten und riss es in lange Streifen. Auf dem anderen Bett regte sich Courtney und blinzelte mich schlaftrunken an. Als ihr klar wurde, dass ich gerade dabei war, einen großen, bewusstlosen Mann an den Heizkörper zu fesseln, war sie mit einem Schlag hellwach und sprang auf. »Was ist hier los?«

»Er ist uns bis hierher gefolgt«, erklärte ich ihr. Anscheinend war er schnell genug wieder zu Bewusstsein gekommen, um uns vom Unterschlupf des Kartells zu verfolgen. Wahrscheinlich hatte er auch mit dem Motelangestellten telefoniert und veranlasst, vor uns ins Zimmer gelassen zu werden. Dieses Mal würde ich dafür sorgen, dass er uns nicht folgte. Wenn er aufwachte und sich befreite, waren wir schon längst über alle Berge.

»Wer ist das? Gehört er zu den Kolumbianern?«

Ich runzelte die Stirn und sah sie an, während ich die Knoten der Fesseln noch einmal festzog. »Das ist der Cop von vorhin. Schon vergessen? Ob er zum Kartell gehört, weiß ich nicht. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass er korrupt ist.«

»Woher weißt du überhaupt, dass er ein Cop ist?«

»Leute mit Polizeiausbildung bewegen sich auf eine ganz bestimmte Weise.« Erkannt hatte ich das natürlich in Zahlenform: bestimmte, kaum wahrnehmbare Winkel und Parallelen in seiner Haltung und seinen Bewegungen. Aber ich hatte keine Lust, ihr das zu erklären.

»Oh.« Courtneys Hände auf der abgenutzten Tagesdecke hatten sich so verkrampft, dass ihre Knöchel schon weiß wurden.

Ich ging in Richtung Tür. »Auf geht’s, Kleine. Wir müssen los.«

Courtney sprang unbeholfen auf und blieb dicht hinter mir, als ich nach draußen ging und mich umsah. Die Autos glänzten in der Sonne, auf dem staubigen Parkplatz herrschte absolute Ruhe. Wenn der Polizist nicht in offiziellem Auftrag hier war, war es zum Glück auch unwahrscheinlich, dass sich hier irgendwo sein Einsatzpartner postiert hatte. Ich sah mich nach seinem Wagen um, da ich davon ausging, dass wir darin ein paar nette Spielzeuge finden würden. Und vielleicht auch seine Dienstmarke und seinen Ausweis, was unter Umständen ein gutes Druckmittel sein konnte. Aber keines der Autos sah so aus, als würde es ihm gehören. Also führte ich Polk zu einem schwarzen Pick-up, der so mit Staub überzogen war, dass er eher grau wirkte. In meiner Branche gehörte die Fähigkeit, ein Auto zu knacken und es kurzzuschließen, einfach dazu – ich hätte es sogar mit verbundenen Augen gekonnt. Vierzehn Sekunden später erwachte der Motor hustend zum Leben und das Motel verschwand hinter uns in einer Staubwolke.

Ich trat aufs Gas, und wir rasten durch die Wüste. Das Morgenlicht wurde von Staub, Sand und Felsen reflektiert. Ich machte mir schnell eine gedankliche Karte von diesem Teil des Countys und kalkulierte die beste Reiseroute. Auch wenn der Cop schnell wieder aufwachte und den effizientesten Suchalgorithmus nutzte, der ihm zur Verfügung stand – oder unwahrscheinliches Glück hatte –, bewegte sich die Wahrscheinlichkeit, dass er uns noch einmal wiederfinden konnte, gegen null.

Courtney unterbrach meine Berechnungen. »War der Mann hinter mir her?«, fragte sie leise.

»Ja«, sagte ich und grübelte einen Moment lang nach. »Was weißt du über Pithica?«

Sie schüttelte ihren Krauskopf. »Noch nie gehört.«

»Bist du dir sicher? Hat dein ehemaliger Arbeitgeber diesen Namen vielleicht mal erwähnt? Denk gründlich nach.«

Courtney zuckte angesichts meines barschen Tonfalls zusammen. »Nein, wirklich nicht. Warum?«

Ich antwortete nicht.

Was zum Teufel war hier los? Warum war ein Cop hinter Courtney Polk her? Sie war doch nur ein kleiner Drogenkurier, den das Kartell in einen Keller gesperrt hatte. Nicht gerade eine große Nummer. Und was zur Hölle war Pithica?

Ich fuhr nicht direkt nach L. A., sondern bewegte mich stattdessen im Zickzack durch die braune Wüstenlandschaft am nördlichen Stadtrand. In zwei Stunden wechselten wir dreimal den fahrbaren Untersatz. Ich wusste nicht, ob unser korrupter Cop eine Fahndung nach uns herausgeben würde – es lag sogar im Bereich des Möglichen, dass er seine Kumpels Straßensperren errichten ließ. Ich ließ also Vorsicht walten und sorgte dafür, dass man unserer Spur auf keinen Fall folgen konnte.

Etwas später am Morgen kaufte ich in einem Elektroladen ein billiges Prepaidhandy. Unter der Markise des Ladens wählte ich Rios Nummer und beobachtete dabei Courtney, die im Wagen auf mich wartete.

»Pithica«, sagte ich statt einer Begrüßung, als er abhob.

Es folgte ein langes Schweigen. »Lass die Finger davon«, sagte Rio dann.

»Zu spät, ich stecke schon mittendrin«, erwiderte ich. Plötzlich hatte ich ein flaues Gefühl in der Magengegend.

Wieder Schweigen. »Ich kann jetzt nicht reden.« Natürlich. Er war immer noch undercover unterwegs. Ich hatte angenommen, dass er nur so aus Spaß hinter dem Kartell her war. Aber möglicherweise lag ich da falsch …

»Wann und wo?«, sagte ich ungeduldig.

»Möge Gott dir gnädig sein«, sagte Rio und legte auf.

Ich hätte es besser wissen müssen, dachte ich. Undercover war nicht Rios Ding. Normalerweise stürmte er irgendwo rein, gab denjenigen Saures, die es verdient hatten, und verschwand wieder. Wenn es ihm lediglich um die Vernichtung der Drogenschmuggler gegangen wäre, dann hätte es schon vor Wochen eine hübsche kleine Explosion in der kalifornischen Wüste gegeben, die nur einen Krater und die ausgeweideten Leichen einiger Drogenhändler zurückgelassen hätte. Das war Rios Stil. Und warum hatte er überhaupt Dawna an mich vermittelt, damit ich Courtney herausholte? Warum hatte er es nicht selbst getan? Er war mehr als fähig dazu, er hätte es sogar bestimmt geschafft, ohne dabei enttarnt zu werden.

Es sei denn, die Dinge verhielten sich wesentlich komplizierter, als mir im Moment bewusst war, und es ging nicht nur um einen einfachen Drogenschmugglerring.

»Wen hast du angerufen?«, fragte Courtney. Sie stieg aus dem Auto und kniff in der gleißenden kalifornischen Sonne die Augen zusammen.

»Einen Freund«, sagte ich. Naja, oder so was in der Art. »Jemanden, dem ich vertraue.« Das jedenfalls entsprach der Wahrheit.

»Kann er uns helfen?«

»Vielleicht.« Rio verfolgte seine eigenen Ziele, und er wollte keine Hilfe dabei – nicht einmal von mir. Was mich ein wenig verletzte, wenn ich ehrlich war. Ich bin gut in dem, was ich tue. Das hatte Rio nicht gewollt, natürlich nicht. Meine Gefühle interessierten ihn nicht, ob im Positiven oder im Negativen. Er interessierte sich für niemandes Gefühle. Was sagte es über mich aus, dass er der einzige Mensch in meinem Leben war, mit dem ich so etwas wie Freundschaft pflegte?

Damit musst du wohl leben, Cas.

Aber Rio war nicht meine einzige Informationsquelle. Ich dachte einen Moment lang nach und wählte dann eine weitere Nummer.

»Mack’s Garage«, sagte eine heisere Stimme am anderen Ende der Leitung.

»Anton? Ich bin’s, Cas Russell. Ich brauche ein paar Informationen.«

Er grunzte. »Zum üblichen Tarif.«

»Klar. Ich brauche alles, was du über ›Pithica‹ herausfinden kannst.«

»Schreibt sich wie?«

»Bin mir nicht sicher. Könnte in Verbindung mit kolumbianischen Drogendealern stehen. Und es kann sein, dass die Behörden bereits ermitteln.«

Er grunzte noch einmal. »Zwei Stunden.«

»Alles klar.« Ich legte auf. Anton war einer der besten Informationsbeschaffer der Stadt, und ich hatte in den letzten Jahren öfter seine Dienste in Anspruch genommen – immer dann, wenn ich mehr Informationen brauchte, als eine einfache Internetrecherche hergab. Wenn »Pithica« eine Datenspur hinterlassen hatte, dann würde er sie finden.

»Auf geht’s«, sagte ich zu Courtney und scheuchte sie zurück ins Auto. »Jetzt kommen wir wohl in die Rushhour.«

3

»Hast du Bargeld, oder ist alles auf der Bank?«, fragte ich Courtney, während wir uns auf dem Freeway 405 nur millimeterweise vorwärtsbewegten. Die Sonne brannte auf der Windschutzscheibe und verwandelte das Innere des Autos in einen Backofen. Als wir die Stadt erreichten, war die Temperatur mit der aufgehenden Sonne um genau 18,88 Grad Celsius gestiegen: So kannte ich Los Angeles. Die Schrottmühle, in der wir momentan saßen, hatte nicht einmal eine Klimaanlage. Mitten im Stau und ohne das kleinste bisschen Wind brachte es auch nichts, die Fenster zu öffnen.

Courtney spielte nervös mit ihrem Pferdeschwanz. »Sie haben mich in bar bezahlt. Ich wollte keine … Steuern, du weißt schon, ich dachte, es wäre besser, wenn ich …«

»Alles klar«, sagte ich und versuchte, nicht in schallendes Gelächter auszubrechen. »Wie hättest du denn auch ahnen sollen, dass es da nicht mit rechten Dingen zugeht? Selbstverständlich dachtest du, dass das ein völlig legaler Lieferdienst ist.« Ich selbst machte alle Geschäfte natürlich immer nur mit Bargeld, aber ich war ja auch nicht gerade ein Vorbild in Sachen Legalität. »Und wo hast du es versteckt? Unter der Matratze?«

Sie verzog das Gesicht und lief wieder rot an. »Unter einer Bodendiele.«

»In Ordnung, dann schauen wir bei dir vorbei. Hoffentlich haben die Cops es nicht gefunden.« Ich selbst hatte eine ziemlich große Summe an Bargeld an verschiedenen Orten in der Stadt gebunkert, aber mir war es lieber, ihr Geld zu holen. Immerhin war sie ja die zahlende Kundin.

»Ob sie meine Wohnung durchsucht haben?«, fragte Courtney und setzte sich angespannt auf.

»Du bist eine Tatverdächtige in einem Mordfall«, sagte ich. »Was glaubst du denn?«

Sie wurde immer röter. »I-Ich weiß nicht … Ich hab da ein paar Sachen …«

»Entspann dich, Kleine. Niemand interessiert sich für deine Pornosammlung.«

Sie verschluckte sich und bekam dann einen Hustenanfall.

»Es sei denn, es ist was mit Kindern dabei«, fügte ich hinzu. »Dann bekommst du gewaltigen Ärger. Also, noch gewaltigeren. Du hast doch keine Kinderpornos, oder?«

»Was …? Ich hab keine … Nein, natürlich nicht!«, stammelte sie. Ihr Gesicht war nun vom Hals bis zum Ansatz ihrer schweißverklebten Haare feuerrot. »Wie kannst du nur denken … Ich hab doch nicht mal …«

Ich konnte nicht mehr an mich halten und brach in Gelächter aus. Es war viel zu leicht, sie aus der Fassung zu bringen. Der Verkehr bewegte sich wieder ein Stück vorwärts.

Courtney wohnte nur ein paar Kilometer von Anton entfernt, also entschied ich, dass wir zuerst bei ihm vorbeischauten. Antons Autowerkstatt war eine feste Größe in meinem Universum. Seit meinem ersten Besuch hatte sich der schäbige Laden überhaupt nicht verändert. Die Worte »Mack’s Garage« auf dem verbogenen Metallschild waren unter dem Motoröl, Schmutz und Ruß von vielen Jahrzehnten kaum noch lesbar. Und die Autowracks davor waren dieselben wie beim letzten Mal. Kunden waren auch keine in Sicht. Anton kannte sich zwar mit Autos aus, aber er war kein Automechaniker.

Ich klopfte an seine Bürotür, und er öffnete mir persönlich. Seine beeindruckende Körperfülle steckte in einem verschlissenen grauen Overall. Anton war in jeder Hinsicht gewaltig: Über eins neunzig groß und bullig, mit einem dicken Nacken, einem breiten Gesicht und stahlgrauem, stets raspelkurz geschorenem Haar, was ihn aus irgendeinem Grund noch riesiger erscheinen ließ. Ich war eine eher schmächtige Person und fühlte mich neben ihm immer wie eine Spielzeugfigur. Aber obwohl er auch grob werden konnte, wenn es sein musste, war er im Grunde seines Wesens so sanft wie ein Teddybär. Ein wortkarger, mürrischer Teddybär zwar, der nie lächelte, aber trotzdem ein Teddybär.

Als er uns sah, grunzte er. »Russell. Komm rein.«

Courtney und ich folgten Anton durch das Büro in seine Werkstatt. Computer und Computerteile füllten jeden Winkel des Raumes, manche waren noch intakt, die meisten aber kaputt. Brummende Teile von Schaltkreisen und Hardware, die ich nicht hätte benennen können, waren in verschiedenen Stadien der Reparatur im ganzen Raum verstreut. Dazu war jede freie oder halbwegs flache Oberfläche mit wackligen Papierstapeln und Akten vollgestellt. Ein riesiger, auf Antons Größe zugeschnittener Bürostuhl ragte wie ein Thron aus dem Chaos. Darauf saß ein zwölfjähriges Mädchen.

»Cas!«, rief Antons Tochter, dann sprang sie auf, rannte zu mir und schlang ihre Arme um mich. Sie war klein für ihr Alter und hatte dunkle Haut, weswegen ich mir ihre Mutter immer als eine kaum ein Meter fünfzig große Asiatin oder Latina vorstellte, die Anton mit seinem kleinen Finger hätte hochheben können.

»Hey Penny, wie geht’s?«, fragte ich und fuhr ihr durch das dunkle Haar.

»Gut!«, zwitscherte sie. »Wir haben Infos für dich!«

»Danke. Hey, ich hab’ dir ein Geschenk mitgebracht.« Ich zog die kleine Smith & Wesson des Cops aus meiner Tasche. »Schau, die hat genau die richtige Größe für dich.«

»Oh! Cas! Danke!« Ihre Augen leuchteten, als sie die Waffe an sich nahm und dabei darauf achtete, dass der Lauf nach unten zeigte. »Daddy, schau, was Cas mir geschenkt hat. Was für ein Kaliber ist das?«

».38 Special, für ein ganz spezielles kleines Mädchen«, antwortete ich. »Pass gut darauf auf, dann hast du lange Freude damit.« Was soll ich sagen? Ich habe eben eine Schwäche für Kinder.

»Du schenkst ihr eine Waffe?«, quäkte Courtney hinter mir. »Eine Waffe, die du einem Cop gestohlen hast?«

»Sie weiß, wie man damit umgeht«, grunzte Anton.

»Das wollte ich damit nicht …«, sagte Courtney verzagt.

»Du findest also, dass ich mich nicht richtig um meine Tochter kümmere?«, erwiderte Anton mit leiser, leicht bedrohlicher Stimme. »Wolltest du das damit sagen?«

Courtney sah zu ihm auf und starrte ihn dann eine Weile an. »Nein, Sir«, sagte sie schließlich kleinlaut.

»Das habe ich mir gedacht«, polterte der große Mann. »Russell, ich habe deine Infos. Aber viel ist es nicht.«

»Ich bin für jede Info dankbar«, antwortete ich.

Er zog eine Aktenmappe zwischen den Computerteilen hervor. »Sehr verdächtiges Zeug. Da könnte noch mehr dahinterstecken. Wenn es dir nichts ausmacht, dann schauen Penny und ich uns das noch ein bisschen genauer an.«

»Klar, macht ruhig«, sagte ich überrascht. So etwas hatte ich von ihm noch nie gehört. »Wenn du meinst, dass es da noch mehr zu finden gibt, dann nur zu. Zum üblichen Tarif.« Ich öffnete die Mappe und überflog den rätselhaften und komplexen Inhalt. Ich würde mir das später in Ruhe ansehen müssen.

»Ich wette, dass wir da noch mehr herausfinden«, sagte Penny optimistisch, sprang wieder auf den Bürostuhl ihres Dads und rollte mit ihm zu einem Computer hinüber. »Hey, Cas, ich habe mich gestern in eine Datenbank der Steuerbehörde gehackt. Ganz allein!«

»Sie ist wirklich talentiert«, murmelte Anton mit leiser, heiserer Stimme. Es war nicht zu überhören, wie stolz er auf sie war.

»Toll gemacht«, sagte ich zu Penny. »Schade, dass du keine Steuern zahlst.«

»Daddy schon. Er hat mir aber verboten, irgendwas zu verändern. Das nächste Mal versuche ich es mit dem Weißen Haus.«

Ich wandte mich überrascht Anton zu. »Du zahlst Steuern?«

»Ich profitiere ja auch von den staatlichen Einrichtungen«, sagte er. »Ich zahle die Steuern, von denen mir die Leute, die wir gewählt haben, sagen, dass wir sie zahlen sollen. Das ist nur fair so.«

Wow. »Wenn du das so siehst.«

Er quittierte das mit einem seiner typischen Grunzer. »Ich versuche eben, ein gutes Vorbild für meine Tochter zu sein.«

Courtney stöhnte. Es war besser, wir verschwanden, bevor Anton sich nicht mehr beherrschen konnte und sie wie ein Insekt zerquetschte. Außerdem ließ Antons Andeutung, dass das hier nur die Spitze des Eisbergs war, die Alarmglocken in meinem Kopf – die klingelten, seit der Cop uns in dem Motel aufgelauert hatte – nur noch lauter schrillen.

Dieses Gefühl verhundertfachte sich noch, als wir Courtneys Haus erreichten.

»Das ist, das ist mein …« Sie brach ab und zeigte mit zitternder Hand darauf. Zwei weiße Männer in dunklen Anzügen standen vor ihrem Hauseingang und unterhielten sich. Die Haustür hinter ihnen war nur angelehnt. Während wir sie beobachteten, öffnete einer von ihnen die Tür ganz und ging hinein. Der andere rauchte noch fertig, trat eine Minute später seine Zigarette aus und folgte ihm.

»Was tun die in meinem Haus?«, flüsterte Courtney mit kraftloser Stimme.

Wir waren noch etwa einen Block entfernt. Ich fuhr rechts ran und stellte den Motor ab. Courtney wohnte in einem kleinen, eingeschossigen Häuschen. Die meisten Rollläden waren geschlossen, aber an einer Hausseite war ein Lamellenfenster, durch das wir ins Innere spähen konnten. Wir sahen weitere Männer in Anzügen, die gerade dabei waren, Courtneys Wohnzimmer zu durchsuchen. Und zwar gründlich.

»Wer sind die?«, fragte Courtney. »Polizei?«

»Nein.« Mehrere Männer bewegten sich, als hätten sie eine militärische Ausbildung genossen, ich war mir aber nicht sicher. Ich konnte sie nicht richtig sehen und hatte auch nicht im Kopf, wie sich die einzelnen militärischen Ausbildungsprofile in Zahlen darstellten. Aber Cops waren das sicher nicht.

»Meinst du, dass sie zu den Kolumbianern gehören?«

»Möglich.« Die Männer waren zwar keine Latinos, aber vielleicht hiesige Handlanger des Kartells. Doch warum hätte das Kartell Courtneys Heim durchsuchen sollen? Wenn sie hinter ihr her waren, hätten sie ihre Wohnung nicht auf den Kopf gestellt, sondern einfach nur dort auf sie gewartet. »Hast du ihnen was gestohlen? Geld, Drogen, Informationen? Irgendetwas?«

»Nein!« Courtney klang entsetzt. »Das Geld, das ich hier gebunkert habe, haben sie mir für meine Arbeit ausbezahlt. Ich bin keine Diebin!«

»Nein, sondern nur eine Drogenschmugglerin.« Als jemand, der – solange er gut dafür bezahlt wurde – durchaus Dinge tat, die man als »Stehlen« bezeichnen konnte, nahm ich ihr diese Empörung schon ein wenig übel. »Moralisch gesehen ist das natürlich etwas völlig anderes.«

»Ich wusste es doch nicht«, wiederholte Courtney verzweifelt.

Ich umklammerte den Türgriff. Dass es sich hier lediglich um Einbrecher handelte, die hinter ihrem gebunkerten Geld her waren, kam mir eher unwahrscheinlich vor. »Ich gehe mal näher ran. Bleib hier und mach dich unsichtbar.«

»Was, wenn sie hier vorbeikommen?« Courtney erbleichte, ihre Sommersprossen zeichneten sich scharf auf den Wangen ab.

»Dann versteck dich irgendwo«, sagte ich und stieg aus.

Ich hatte immer noch keine Gelegenheit gehabt, mir das Gesicht zu waschen, und auch wenn das hier nicht das allerbeste Viertel war – ungepflegte Vorgärten voller Unkraut und Müll im Rinnstein, von den meisten Häusern blätterten bereits der Putz und der von der Sonne ausgebleichte Anstrich –, warfen mir einige Leute abfällige Blicke zu, als ich zu Courtneys Häuschen hinüberschlenderte. Ich fuhr mir mit der Hand durch das kurze Haar, aber meine Locken bildeten eine einzige verfilzte Masse, und meine Bemühungen ließen es vermutlich nur noch schlimmer aussehen. Undercover war noch nie meine Stärke gewesen.

Ich ging langsam den Bürgersteig entlang und beobachtete Courtneys Häuschen aus den Augenwinkeln. Die Männer in den dunklen Anzügen wurden zu sich bewegenden Punkten, und mein Hirn extrapolierte von dem Wenigen, was ich sehen und hören konnte, wies Wahrscheinlichkeiten zu und rechtete das Ganze in Erwartungswerte um. Als ich näher kam, hörte ich, dass sich die Männer im Haus unterhielten, einzelne Worte waren aber nicht auszumachen. Ich stellte ein paar schnelle Berechnungen an und kam zu dem Ergebnis, dass ich, wenn ich wirklich etwas verstehen wollte, so nahe herangehen müsste, dass ich sofort aufgefallen wäre. Der Vorgarten mit seinem verdorrten Rasen bot keine Versteckmöglichkeiten, um sich näher heranzuschleichen.

Ich ließ den Blick über die unmittelbare Umgebung schweifen und erstellte dabei ein dreidimensionales Modell in meinem Kopf. Direkt hinter Polks Haus verlief eine Steinmauer in einem nach außen gewölbten Bogen und endete schließlich in einem Steinhaufen an einem unbewohnten Grundstück. Ihr Verlauf bildete einen beinahe perfekten Kegelschnitt.

Mit dem Schall ist es so eine Sache. Schallwellen jagen sich entlang konkaver Oberflächen gegenseitig hinterher, bis sie sich im Zentrum einer architektonischen Ellipse oder Parabel bündeln und verstärken. Manche Bauten sind berühmt dafür, dass man in ihrem Inneren ein geflüstertes Wort noch am entgegengesetzten Ende des Raumes deutlich hören kann.

Alles, was ich brauchte, waren ein paar weitere Schalldeckel.

Ich spazierte den Weg zurück und trat dabei so gegen eine Mülltonne, dass sie sich leicht drehte. Außerdem fuhr ich mit der Hand am Zaun des Nachbargrundstücks entlang und ließ dabei das Gartentor mit einem Klicken ins Schloss fallen. Ich trat gegen eine Metallschüssel mit Futter für streunende Katzen, sodass sie aufrecht an einem Wasserhydranten zum Stehen kam. Wie nebenbei warf ich einen Stein gegen ein Vogelhäuschen, damit es sich ein Stück drehte, schlenderte die Straße noch zwei Mal auf und ab und arrangierte dabei den umherliegenden Müll. Dann ließ ich meinen Blick wieder zum Haus schweifen und passte meine Berechnungen den Dezibel einer normalen menschlichen Unterhaltung an.

Ich war nah dran. Nun brauchte ich nur noch einen Regenschirm, auch wenn es gerade nicht regnete. In der Straße parkten genügend Autos. Ich schaute durch ein paar Heckscheiben und fand schon bald, was ich suchte. Ich brach den entsprechenden Wagen auf, holte den Schirm vom Rücksitz und ließ die Autotür obendrein noch in einem für meine Zwecke günstigen Winkel offen stehen. Dann ging ich zu einem Baum an der Ecke des nächsten Grundstücks, der sich genau im Fokus meines akustischen Arrangements befand. Dort spannte ich den Schirm auf und lauschte.

Die Unterhaltungen in Courtneys Haus waren nun so deutlich hörbar, als würde ich direkt danebenstehen.

»… völliger Unsinn ist das«, sagte ein Mann mit britischem Akzent. »Die FIFA hat kein Recht, Sir Alex dafür die Schuld zu geben. Der Skandal ist ihre eigene Schuld.«

»Ihr zwei und euer schwuchteliger Fußball«, mischte sich nun ein Amerikaner ein. »Ihr seid in den verdammten Staaten, also schaut euch gefälligst richtigen Football an.«

»Oh, du meinst das langweilige Zeug, wo sie in diesem lächerlichen Aufzug auf dem Rasen rumtänzeln und alle fünf Minuten eine Pause brauchen?«

»Ach, fick dich. Zumindest gibt’s bei uns mehr als einmal im ganzen Spiel was zu jubeln.«

»Gentlemen, Konzentration bitte.« Die tiefe, weiche Stimme des Mannes sprühte vor Charisma – und sie sorgte dafür, dass der Amerikaner auf der Stelle die Klappe hielt.

»Boss, ich glaube nicht, dass er hier ist«, sagte ein vierter Typ. Er hatte eine nasale Stimme und einen Akzent, den ich nicht einordnen konnte. »Ich glaube, sie hat ihn woanders versteckt. Oder sie …«

»Versteckt?«, mischte sich der redselige Brite ein. »Wo denn? Sie hat kein Bankschließfach. Und Freunde hat sie ja sicher auch keine mehr …«

»Dann hat sie ihn eben im Vorgarten vergraben. Oder ihn in der Wand versteckt und das Loch zugespachtelt«, sagte der Amerikaner. »Wer weiß schon, was in ihrem Kopf vorgeht.«

»Für solche Verstecke bräuchten wir einen Vorschlaghammer und eine Schaufel, aber so was haben wir nicht dabei«, meinte der Mann mit der nasalen Stimme.

Dann schwiegen sie und warteten auf eine Entscheidung ihres Anführers. Ich hielt den Atem an.

»Yo, Mama, bei dir regnet’s wohl, was?«

Ich wurde aus meiner Konzentration gerissen. Vor mir stand ein mit viel zu vielen Goldkettchen behängter, arroganter kleiner Teenager. »Wartest du auf Regen? Haha, was ist denn mit deinem Gesicht passiert? Oder bist du so auf die Welt gekommen?«

Mein erster Impuls war, ihm eins überzuziehen, damit er mich nicht weiter störte. Aber er war ja nur ein kleiner Junge, ein aufgeblasener Latino, vermutlich auch Mitglied einer der Gangs aus der Gegend – er hatte ein farbiges Bandana um seinen Bizeps geknotet. Anscheinend wollte er sich unbedingt etwas beweisen, und wenn es nicht mehr war, als sich über eine zierliche Frau lustig zu machen, die im Moment wohl eher wie eine gestörte Obdachlose wirkte.

»Willst du dich mit mir anlegen?«, fragte ich ihn ruhig, lehnte mich gegen den Baum und ließ dabei den Griff der Glock an meinem Gürtel hervorlugen. Der Junge machte große Augen und trat schnell einen Schritt nach hinten.

Ich sah kurz zu Courtneys Haus hinüber. Die Männer in den dunklen Anzügen kamen aus der Haustür, entweder um einen Vorschlaghammer zu holen oder ganz zu verschwinden. In jedem Fall hatte ich den Rest der Unterhaltung verpasst. Ich seufzte und wandte mich wieder dem Gangster zu. »Hey, Kleiner. Aufgepasst!« Ich bückte mich, hob einen alten Tennisball vom dreckigen Boden auf und warf ihn mit Schwung zur Seite.

Auf der anderen Straßenseite hinter uns ertönte eine Serie leiser Abprallgeräusche. Der Junge schaute sich verwirrt um. Dann kam der Tennisball aus der entgegengesetzten Richtung auf ihn zugeschossen und traf ihn leicht am Kopf.

»Wow!« Er starrte mich an. »Fuck, Mama! Wie hast du das gemacht?«

»Streng dich in Mathe ein bisschen an, dann findest du es vielleicht raus«, antwortete ich und ließ dabei die Anzugtypen nicht aus den Augen. Diese Unterhaltung war eine gute Tarnung, falls sie in unsere Richtung sahen. Jedenfalls sah es nicht so aus, als würde ich einfach nur verdächtig in der Gegend herumlungern. »Immer schön zur Schule gehen, okay?«

»Klar, okay.« Er sah mich mit großen Augen an und nickte. Dann drehte er sich um und machte sich aus dem Staub, wobei er mir immer wieder Blicke über die Schulter zuwarf.

Wie gesagt, ich habe ein Herz für Kinder.

Die Typen in den dunklen Anzügen fuhren im gleichen Moment in ihrem passenderweise ebenso dunklen Van davon. Ich sah mich kurz um und schlenderte dann ganz entspannt zu Courtneys Häuschen hinüber. Das Holz des Türpfostens war auf Höhe des Schlosses gesplittert. Ich versetzte der Tür einen leichten Schubs, und sie öffnete sich.

Das Wohnzimmer sah aus, als ob eine Horde wilder Schimpansen darin gewütet hätte. Kissen waren aufgerissen worden, ihre Polyesterfüllung hatte sich wie flauschige Schneebälle auf dem Boden verteilt. Jeder Stuhl und jeder Tisch war umgekippt, die Türen der ausgeräumten Schränke standen offen. Überall türmten sich Berge von Kleidung, DVD-Hüllen und zerbrochenem Geschirr. Einzig die Wände und Böden waren unversehrt geblieben, da die Typen in den dunklen Anzügen keinen Vorschlaghammer dabeigehabt hatten.

Ich blieb an der Türschwelle stehen und fragte mich, wie groß die Wahrscheinlichkeit war, dass die Anzugtypen oder jemand anderes irgendwelche Überwachungsinstrumente installiert hatten. Wenn dem so war, hatten diese meine Anwesenheit allerdings längst aufgezeichnet. Ich bahnte mir einen Weg durch Courtneys verwüstetes Heim bis zu der von ihr beschriebenen Stelle. Irgendetwas trieb mich zur Eile. In was zum Teufel war Courtney Polk da nur hineingeraten?

Ich hatte kein Werkzeug bei mir, aber Dielen lassen sich leicht aufbrechen, wenn man die richtige Kraft im richtigen Winkel aufbringt. Ein einziges wohlkalkuliertes Aufstampfen meines Fußes ließ die Diele splittern. Ich räumte die Bruchstücke beiseite und zog eine Papiertüte darunter hervor, die mit hübschen kleinen Geldscheinstapeln gefüllt war.

Ich sah mich um und fragte mich, wo Courtney sonst noch etwas versteckt haben konnte … etwas, das so klein war, dass man es mit ein wenig Spachtelmasse in der Wand verschwinden lassen konnte. Aber dazu hätte ich jede einzelne Bodendiele aufbrechen und alle Rigipswände einreißen müssen, was viel zu lange gedauert hätte. Wenn Courtney weiterhin behauptete, von nichts zu wissen, war es vielleicht das Beste, sie irgendwo zu parken und dann mit etwas Werkzeug zurückzukehren – und zwar bevor mir die Anzugtypen zuvorkamen.

Und vielleicht würde ich ja vorher noch auf andere Weise ein paar Antworten auf meine Fragen bekommen. Ich klemmte die Papiertüte unter den Arm, ging hinaus und zog mein Handy hervor. Dann wählte ich Antons Nummer.

»Mack’s Garage«, piepste eine Mädchenstimme.

»Penny, ich bin’s, Cas. Kann ich deinen Dad sprechen?«

»Klar!« Ich hörte, wie sie vergnügt nach ihrem Vater rief, und einen Moment später hatte ich seine grunzende Stimme am Ohr.

»Anton, ich bin’s noch mal, Cas Russell. Könntest du etwas für mich herausfinden?«

Ein weiteres Grunzen.

»Die Klientin, die ich heute dabeihatte, Courtney Polk. Könntest du sie für mich überprüfen?«

»Sonst noch was?«

»Nein, nur …«

Eine ohrenbetäubende Explosion war am anderen Ende der Leitung zu hören, gefolgt vom Schrei eines Mädchens. Anton rief etwas, aber einen Augenblick später wurden beide Stimmen von weiteren, beinahe gleichzeitigen Explosionen verschluckt. Dann riss die Verbindung ab.

4

Scheiße Scheiße Scheiße Scheiße!

Ich rannte so schnell ich konnte zurück. Meine Schritte hallten auf dem Asphalt wider, Zahlen und Gleichungen verschwammen vor meinen Augen, und ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen, während ich auf meinen Wagen zuraste. Ich riss die Tür auf und ignorierte Courtneys panische Fragen, legte den Gang ein und steuerte mit quietschenden Reifen mitten in den Verkehr. Ich nahm das ohrenbetäubende Hupkonzert der anderen Autos, die uns auswichen oder eine Vollbremsung einlegen mussten, kaum wahr, sondern hörte die ganze Zeit immer und immer wieder Pennys schrillen, panischen Schrei. Wir mussten uns beeilen – schneller schneller schneller schneller schneller.

Der Verkehr in L. A. ist die Hölle, aber wenn man schon wie eine Irre fährt, dann hilft es ungemein, die Bewegungen von Objekten berechnen zu können. Ich wechselte beständig die Spur, quetschte mich um Haaresbreite vor andere Autos, so nah, wie es meine Berechnungen nur zuließen. An roten Ampeln fuhr ich wild hupend über den Gehweg, während entsetzte Fußgänger zur Seite sprangen und mir Kraftausdrücke nachriefen. Courtney gab leise Schreckenslaute von sich und versuchte, sich so gut es ging am Armaturenbrett festzuhalten.

In diesem Stadtteil war nicht besonders viel Polizei unterwegs, aber selbst wenn Blaulicht hinter mir aufgetaucht wäre, ich hätte nicht angehalten. Ein paar Minuten später bog ich in die Straße ein, in der sich Mack’s Garage befand.

Eine überwältigende Welle aus Hitze, Licht und Rauch schlug gegen das Auto, obwohl wir immer noch einen Block von unserem Ziel entfernt waren. Ich legte eine Vollbremsung ein. Courtney wurde gegen das Armaturenbrett geschleudert.

Antons Autowerkstatt hatte sich in ein brüllendes Inferno verwandelt. Flammen schlugen in die Höhe, schwarzer Rauch ergoss sich dick und beißend auf die Straße. Ich riss die Autotür auf und stolperte nach draußen. Selbst aus dieser Entfernung war die Hitze unerträglich, man prallte dagegen wie gegen eine undurchdringliche Mauer. Meine Haut brannte, als sie binnen Sekunden austrocknete, und jeder Atemzug fühlte sich an, als ob ich kochendes Wasser schluckte.

Das Gebäude schmolz vor meinen Augen und brach dann in sich zusammen. Hausmauern und Dach falteten sich langsam und beinahe elegant in einem Funkenregen ineinander. Mein Hirn verarbeitete Faktoren wie Baumaterial, Hitze und Ausbreitungsgeschwindigkeit … kein Zweifel, dieses Horrorszenario war unter Zuhilfenahme von chemischen Substanzen als Brandbeschleuniger entstanden. Ich machte mir schnell eine grobe Vorstellung vom zeitlichen Ablauf, während ich den Atem anhielt und meine brennenden Augen schloss, um sie vor dem Rauch zu schützen, der schwer in der Luft hing.

Ich rechnete alles auf drei verschiedene Arten durch, aber das Ergebnis war immer gleich niederschmetternd. Selbst wenn ich meinen Berechnungen äußerst optimistische Schätzungen zugrunde legte, hatte sich niemand retten können.

Scheiß Mathematik.

Ich stolperte zurück zum Wagen. Das Metall der Tür hatte sich bereits erwärmt. Ich glitt auf den Fahrersitz, riss das Lenkrad herum, trat aufs Gas und raste zurück in die Richtung, aus der wir gekommen waren. Ein oder zwei Blocks weiter würde ich das Auto stehen lassen, für den Fall, dass eine Verkehrsüberwachungskamera meine auffälligen Fahrmanöver aufgezeichnet hatte. Dann mussten wir zusehen, dass wir uns vom Acker machten, bevor die Einsatzkräfte den Ort des Geschehens erreichten.

»Konnten sie … sind sie …?«, fragte Courtney ängstlich.

»Tot.« Meine Augen und meine Kehle brannten vom Rauch.

Sie unterdrückte ein Schluchzen. »Bist du sicher?«

»Ja.« Ich fragte mich, ob das vielleicht alles ihre Schuld war.

Oder meine.

Mein Hirn lief auf Hochtouren. Vor etwas mehr als fünf Stunden hatte ich Anton kontaktiert. Falls jemand auf Antons Recherchen aufmerksam geworden war, hatte er genug Zeit gehabt, ein Feuer zu legen.

Ich versuchte, mir einzureden, dass Anton auch für andere Leute gearbeitet und dass er sich mit jedem Auftrag neue Feinde gemacht hatte. Wer auch immer ihn hier ins Visier genommen hatte, er hatte mit brachialen Methoden dafür gesorgt, dass keine Daten oder Informationen Anton überlebt hatten. Ein ehemaliger Klient vielleicht, der noch immer einen Groll gegen ihn hegte. Mein Auftrag musste nicht unbedingt der Grund für all das hier gewesen sein, der Auslöser konnte auch Monate oder gar Jahre zurückliegen.

Glaubte ich das wirklich?

Ich wusste genau, dass ich mir etwas vormachte.

Großer Gott. Dabei hatte sich alles so einfach angehört: Rette die Kleine und bring sie außer Landes, dann bist du zum Abendessen wieder zu Hause.

Niemand hatte dabei sterben sollen, und schon gar nicht zwei Leute, die nur am Computer saßen und ein paar Recherchen für mich anstellten.

Ich umfasste das Lenkrad immer fester, bis mir schließlich die Finger wehtaten.

Dann beobachtete ich Courtney aus den Augenwinkeln heraus. Sie hatte ihre Knie umklammert, ihre Schultern zuckten. Der Pferdeschwanz verdeckte ihr Gesicht.

Sie hing da irgendwie mit drin.

»Was verschweigst du mir?« Mein Tonfall war wesentlich schärfer als beabsichtigt, aber das war mir egal. »Diese Männer vorhin haben in deinem Haus etwas gesucht. Was?«

Sie hob ihr verquollenes, verheultes Gesicht und sah mich an. »Ich … Ich weiß es nicht. Ich schwöre, dass ich es nicht weiß.«

Klar.

Meine Klientin war nicht nur vor den Behörden und einem Drogenkartell, sondern auch vor Männern in dunklen Anzügen, einem korrupten Cop und irgendwelchen Unbekannten auf der Flucht, die vor Brandstiftung und Mord nicht zurückschreckten, um ihre Spuren zu verwischen. Und jetzt log sie mich auch noch an?