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Zwei Welten prallen auf einander. Die erfolgreiche Geschäftsfrau Cara hat nur ihre Karriere im Sinn. Brett ist ein engagierter Naturforscher, der weiß, was im Leben wirklich zählt. Und dennoch fühlen sie sich unwiderstehlich zueinander hingezogen. In dem Naturparadies "Isle of Palms" erleben beide einen Sommer der Entscheidungen. Für die Liebe, für das Leben.
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Seitenzahl: 688
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Mary Alice Monroe
Nur dieser eine Sommer
Roman
Aus dem Amerikanischen von Martin Hillebrand
MIRA® TASCHENBUCH
MIRA® TASCHENBÜCHER
erscheinen in der Cora Verlag GmbH & Co. KG,
Axel-Springer-Platz 1, 20350 Hamburg
Deutsche Erstveröffentlichung
Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:
The Beach House
Copyright © 2002 by Mary Alice Kruesi
erschienen bei: Mira Books, Toronto
Published by arrangement with
Harlequin Enterprises II B.V., Amsterdam
Konzeption/Reihengestaltung: fredeboldpartner.network, Köln
Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln
Titelabbildung: by corbis, Düsseldorf
Autorenfoto: © by Harlequin Enterprise S.A., Schweiz
Satz: Berger Grafikpartner, Köln
ISBN 978-3-95576-241-4
www.mira-taschenbuch.de
eBook-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmundwww.readbox.net
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Nur dieser eine Sommer
Als ihr Freund überraschend die Beziehung beendet, fühlt Cara sich plötzlich in Chicago nicht mehr wohl. Und so folgt sie dem dringenden Wunsch ihrer Mutter Lovie und fährt zu ihr auf die Isle of Palms, die Insel, wo Lovie sich seit Jahren engagiert für den Naturschutz und die bedrohten Meeresschildkröten einsetzt. Mutter und Tochter standen sich nie sehr nah, aber als Cara jetzt erfährt, dass Lovie unheilbar an Krebs erkrankt ist, will sie den letzten Sommer mit ihr verbringen. Zusammen mit dem Naturforscher Brett Beauchamps übernimmt sie Lovies Arbeit – und erkennt, dass sie im Herbst nicht einfach nach Chicago zurückkehren kann, als sei nichts gewesen …
Die Handlung und Figuren dieses Romans sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind nicht beabsichtigt und wären rein zufällig.
„BETRACHTEN SIE DIE SCHILDKRÖTE“
„Betrachten Sie nur die Schildkröte. Sicher haben Sie sich schon einmal sorgenvoll den Kopf zerbrochen, die Welt nicht mehr verstanden, über das Ende des Lebens philosophiert, und alles schien mit Macht der Zerstörung zuzustreben; doch die Natur, sie schritt und schreitet voran, stetig und würdevoll, gleich dem Tempo der Schildkröte. Ihre Kindertage verbringt die junge Schildkröte im Innern ihres Panzers. Sie sammelt Erfahrung und erfährt den Lauf der Welt durch diese Panzerung hindurch. Während sie wach und gespannt am Rande ihrer Brutgrube ruht, verrennt sich der Mensch in ungestümen Wagnissen und scheitert. Französische Reiche entstehen und zerfallen, die Schildkröte jedoch folgt ihrem eigenen Weg. Was ist ein Sommer? Die Spanne, in der eine Schildkröte in ihrem Ei heranreift und von der Sonne ausgebrütet wird. Die Schildkröte ist von der Natur so angelegt, dass sie vieles erträgt und erduldet, denn sie überdauert zwanzig französische Königshäuser. Eine Schildkröte überlebt mehrere Napoleons. Schildkröten kennen keinen Kummer, keine Sorgen, und doch: Gibt es die weite Welt nicht für sie ebenso wie für Sie?“
Henry David Thoreau (amerik. Schriftsteller, 1817-1862)
Journal
28. August 1856
Zitiert und übersetzt nach Mary Alice Monroe, Nur dieser eine Sommer;
Don Mills, Kanada, 2002.
Der Tag ging zur Neige; gemächlich versank die gleißend rote Sonne im Dunst draußen vor der Küste von South Carolina. Lovie Rutledge stand allein auf einer niedrigen, sanft geschwungenen Düne und beobachtete zwei kleine Kinder, deren Haar die gleiche Farbe aufwies wie der Sand. Unter Gekreisch und Getobe spielten sie Fangen mit dem Meer – das uralte Spiel. Lovies Mundwinkel hoben sich unter dem Anflug eines unsicheren Lächelns. Der Junge war höchstens vier, und doch ging er mit seinem Stock, den er wie einen Degen zur Attacke zückte, unerschrocken auf die Brandung los. Dann machte er auf dem Absatz kehrt und rannte, die Welle dicht auf den Fersen, wieder den Strand hinauf. Meist allerdings wurde der arme kleine Kerl doch noch vom Wasser erwischt. Aber das Mädchen! Wie alt mochte die Kleine sein? Sieben? Acht? Die verstand sich aufs Fangenspielen! Auf Zehenspitzen tänzelte sie gefährlich nah an die Schaumkronen heran, erkannte instinktiv, wann sie zurückweichen musste, und neckte die Wogen mit hellem Gelächter.
Das Mädchen erinnerte Lovie an ihre Tochter. Wie sehr sie doch meiner Cara ähnelt, ging ihr durch den Kopf. Ein unterdrücktes Lachen entfuhr ihr, als der Bub von einer tückischen Welle erfasst, umgeworfen und kopfüber herumgewirbelt wurde, sodass er zornig nach Luft schnappte. Haargenau wie Palmer, wie mein eigener Junge! Ganz in der Nähe begann die junge Mutter der beiden die Sachen zusammenzupacken, bückte sich nach achtlos beiseite geworfenen Eimerchen und Buddelschippen, räumte die Spielsachen in einen Segeltuchbeutel und schüttelte den Sand aus den Strandtüchern.
Lass das, guck stattdessen deinen Kindern zu, hätte Lovie der jungen Mutter am liebsten zugerufen. Rasch! Hör mit dem Aufräumen auf, und schau dich um! Erkennst du, wie unbeschwert die Kleinen lachen? So lachen nur unsere Allerjüngsten! Sie ermöglichen uns auf diese Weise Rückschlüsse auf ihr Wesen! Koste sie aus, diese Augenblicke! Genieße sie! Denn sie vergehen so schnell wie der Sonnenuntergang, und eh du dich versiehst, bist du wie ich – eine alte, einsame Frau, die alles, buchstäblich alles dafür gäbe, noch einmal an einem milden Abend wie diesem mit ihren Kleinen beisammen zu sein.
Sie schlang die Arme um den Leib und seufzte. „Lovie, jetzt reicht es aber“, ermahnte sie sich kopfschüttelnd. Natürlich hätte sie der jungen Mutter auf keinen Fall ihre Gedanken mitgeteilt. Es wäre ungebührlich und zwecklos obendrein gewesen. Die Mutter hatte den Kopf voll mit anderen Dingen, musste an vieles denken, noch vieles tun. Sie verstünde Lovies Ratschlag wahrscheinlich erst, wenn die Kinder erwachsen und ausgeflogen wären. Eines Tages würde sie sich an diese Dämmerstunde erinnern, an den Anblick ihrer über den Strand tobenden Rangen, und dann … ja, dann würde sie sich wünschen, sie hätte beim Aufräumen innegehalten, die Kleinen bei den rundlichen Händchen genommen und gemeinsam mit den beiden Fangen gespielt.
Lovie verfolgte, wie die Szene sich in vorhersehbarer Weise weiter entwickelte: Die Strandtücher wurden zusammengefaltet und im Beutel verstaut, der Nachwuchs vom Meeresrand zurückkommandiert, und während sich allmählich die Dunkelheit herabsenkte, führte die Mutter ihre ermatteten Krieger in formlosem Gänsemarsch über die Düne. Schließlich waren sie außerhalb von Lovies Sichtweite.
Nun herrschte Stille an diesem vertrauten Strandabschnitt. Wieder war ein Tag vergangen. Ein Strandläufer stakste in seiner typischen steifbeinigen Art an der Schaumlinie der Wellen entlang und äugte nach Beute. Hinter Lovie wiegte sich der Strandhafer in der Abendbrise. Lovie schloss die Augen, überließ sich bewusst dieser wundersamen Melodie. Friedliche Abende wie dieser würden sich nun nicht mehr allzu oft einstellen. Es war Mitte Mai, die Ferienzeit lag nicht mehr fern; nicht mehr lange, und an der Küste von South Carolina würde die Urlaubssaison in vollem Gange sein.
Und bald schon, dachte Lovie, kommen auch meine geliebten Schildkröten.
Geraume Zeit schaute sie unbewegt aufs Meer hinaus, während sich um sie herum der Himmel dunkler färbte. Sie spürte geradezu, wie dort draußen, in der unter den Winden rollenden, wogenden Dünung, eine Meeresschildkröte auf ihre Zeit wartete, geduldig ausharrte, bis ihr ein mächtiger Instinkt eingab, dass nun der Augenblick da war, um sich an Land zu wagen. Sommer für Sommer, so lange schon, dass sie die Jahre gar nicht mehr zu zählen vermochte, hatte Lovie ihr Möglichstes getan, um den Meeresschildkröten durch die Phase der Eiablage zu helfen. Nicht ausgeschlossen, dass sich unter der diesjährigen Schar von Muttertieren sogar ehemalige Junge befanden, die Lovie vor zwanzig Jahren beschützt hatte, als sie ins Meer krabbelten. Der Gedanke entlockte ihr ein Lächeln.
Lovie lief hinunter zur Wasserlinie, direkt zu der Stelle, wo ihr die Wellen bis an die Zehen schwappten. Als sie klein war – ach, vor so vielen Jahren –, da hatte auch sie mit dem Ozean Haschen gespielt und war kichernd vor den heranrollenden Wogen weggerannt, genauso wie ihre Kinder und Enkelkinder. Doch nun waren sie alte Freunde, Lovie und das Meer. An diesem Abend hatte sie sich eingefunden, um sich von ihm trösten zu lassen. Lovie verharrte regungslos; jedes Kräuseln der Wellen um ihre Knöchel spürte sie wie eine zärtliche Berührung, und das sanfte Rauschen der Brandung kam ihr vor wie Liebesgeflüster. Ist ja gut, alles gut …
Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Der Anblick der jungen Mutter mit den beiden Kleinen hatte Bilder heraufbeschworen, die zwar voller Freude waren, ihr aber gleichzeitig das Herz schwer werden ließen. Zu rasch war die Zeit verflogen, waren ihr die Jahre wie Sand zwischen den Fingern zerronnen. Sie reckte das Kinn und wischte sich eine Träne von der Wange. Vor ihr erstreckte sich die tiefblaue Weite gleichsam bis in die Unendlichkeit. Dies ist nicht die Zeit für Tränen, schimpfte Lovie mit sich selbst. Du in deinem Alter müsstest wissen, dass das Leben nicht immer fair mit einem umspringt, genauso wenig wie die See. Und dennoch habe ich immer eins geglaubt: Wenn ich mich nur an die Regeln halte und lange genug durchstehe, dann bleibt mir eines Tages genug Zeit, um …
Um was zu tun? fragte sie sich verwirrt. Noch immer war ihr nicht ganz klar, was genau eigentlich in der Beziehung zu ihren Kindern fehlte. Besonders im Verhältnis zu ihrer Tochter. Als kleine Kinder hatten Cara und Palmer unter den wachsamen Blicken der Mutter genau an diesem Stück Strand zusammen gespielt. Damals waren sie einander nahe gewesen, hatten so viel Spaß miteinander gehabt. Nun allerdings, da Lovies Kinder erwachsen waren, ließ sich fast Zoll für Zoll messen, wie sehr sie sich auseinander gelebt hatten, wie sehr sich die Distanz zwischen ihnen mit den Jahren vergrößert hatte.
Sie wandte sich ab, wanderte den Strand entlang auf die drei Grundstücke zu, die in diesem Abschnitt wertvollen Baulands noch unerschlossen waren, und erklomm die kleine Düne. Jenseits der Grundstücke, in einiger Entfernung, konnte sie ihr Strandhaus erkennen, das auf einem Sandhügel thronte und fast hinter einer Reihe von hohen, schlanken Oleanderbüschen verschwand. Sein einst leuchtend gelber Anstrich war unter der Sonne abgeblättert und konnte mit dem prachtvollen Gelb der Schlüsselblumen, die wild in den Dünen wuchsen, nicht mehr mithalten. Sämtliche Winkel und Ecken, sämtliche malerischen Glasscheiben des Häuschens waren Lovie trotzdem lieb und teuer. Ihr „Primrose Cottage“, ihr Haus inmitten der Primeln, war mehr als nur ein Haus am Meer. Sie betrachtete es als eine Art Sinnbild: ein Ort des Sonnenscheins und des Glücks für sie selbst und ihre Kinder.
Einsam stand Lovie da und schaute gen Westen. Das letzte Licht des Tages erlosch, dunkel und still senkte die Nacht sich herab. Man hörte nur das Rascheln des wogenden Strandhafers und das sanfte Plätschern der Brandung. Während die Geister der Vergangenheit erwachten und sich Phantomen gleich in den betörenden Farben der Dämmerung wanden, seufzte Lovie und faltete die Hände wie zum Gebet. Die alte Frau ging auf die siebzig zu. Für Bedauern oder für Zweifel, für Träume von dem, was vielleicht hätte sein können, hatte sie keine Zeit mehr. Sie musste planen. Das Strandhaus mit all den Geheimnissen, die es barg, sollte in sichere Hände übergehen. Zu lange Jahre war zu viel geopfert worden, als dass man die Geheimnisse nunmehr hätte preisgeben können. Für zu viele Menschen stand der Ruf auf dem Spiel.
Nur eine einzige Hoffnung blieb ihr.
„Lieber Gott“, betete sie, wobei ihr die Stimme keuchend aus der wie zugeschnürten Kehle drang. „Ich bin nicht gekommen, um mich zu beklagen. Dazu kennst du mich nach all den Jahren viel zu gut. Doch in der Bibel steht, dass du nie eine Tür verschließt, ohne gleichzeitig ein Fenster zu öffnen. Deshalb flehe ich dich an, dieses Fenster jetzt aufzumachen. Du weißt, wie die Dinge zwischen mir und Cara stehen. Wahrscheinlich bedarf es eines Wunders, damit wir Frieden schließen. Doch du genießt einen gewissen Ruf als Wundertäter, und das lässt mich hoffen. Bitte, lieber Gott, mehr verlange ich nicht. Auch keinen Aufschub. Ich würde willig hinscheiden, wenn ich sicher sein könnte, der Streit wäre beigelegt, bevor ich diese Welt verlasse.“ Sie lächelte wehmütig. „Willig oder nicht, gehen muss ich so oder so – auch das ist mir bewusst.“ Ihr Lächeln erstarb, als sie schmerzhaft das Gesicht verzog. „Bitte, lieber Gott, erfülle mir diese kleine Bitte. Nicht bloß meinetwegen, sondern um Caras willen. Gib, dass ich noch ein einziges Mal mit meinem Kind spielen darf, ehe ich sterbe. Schicke mir meine Cara heim.“
Nach zwanzig oder mehr Jahren Aufenthalt im Meer kehrt die weibliche Karettschildkröte zu dem Strand zurück, an dem sie einst aus dem Ei schlüpfte. Dort setzt sie dann ihr Gelege ab. Hunderte von Meilen legt sie dazu im Atlantik zurück, den Bauch unter dem dreihundert Pfund schweren rötlich-braunen Panzer voller befruchteter Eier.
Cara hatte diese Heimreise im Laufe der Jahre mehrmals im Geiste angetreten. Doch stets war irgendein Projekt, irgendein Termin, irgendein selbst aufgebautes Hindernis dazwischengekommen.
Aber nun steuerte sie, todmüde und erschöpft von der langen Fahrt, durch die flache, einst als Baumwollanbaugebiet genutzte und nun als Küstentiefland bekannte Ebene gen Süden. Zwanzig Jahre war es mittlerweile her, seit sie zuletzt diesen langen Highwayabschnitt durch South Carolina in Richtung Küste befahren hatte. In ihrer Jugendzeit hatte sie diese Gegend stets nur als eine Durchgangsstation auf dem Weg zu einem anderen Ziel angesehen. Egal, wohin.
Sie passierte absterbende Waldgebiete, zum Verkauf angebotenes Ackerland, riesige Flachdach-Lagerhäuser und sonnengebleichte Schilder, die auf die nächste Ausfahrt in Gebiete hinwiesen, wo die Aussicht auf geröstete Erdnüsse, reife frisch gepflückte Pfirsiche sowie Stockcar-Rennen mit Feuerwerk winkte. Es war Ende Mai. Allmählich wich der Frühling bereits dem hitzeflirrenden Südstaatensommer. Holunderbeersträucher wucherten an den Straßenrändern; und Cara wusste, dass drüben in den Kiefernwäldern flammend rot die Korallensträucher blühten und Sumpfeibisch üppig die Ufer zierte, als wüchse er in einem naturbelassenen Gewächshaus.
Plötzlich fiel ihr ein, dass die Jahreszeit angebrochen war, in der die Meeresschildkröten zur Eiablage heimkehrten. Angesichts der Ironie lachte Cara laut auf.
Hätte ihr jemand vor Jahresfrist gesagt, sie werde im Mai des folgenden Jahres ihrer Mutter einen längeren Besuch abstatten und dazu nach Charleston reisen – Cara hätte nur den Kopf in den Nacken gelegt und wäre in ihr typisches kehliges Lachen ausgebrochen. „Ausgeschlossen“, wäre ihre Antwort gewesen, und ihre Augen hätten zornig geblitzt. Zum einen hätte ihr Terminkalender die Reise von vornherein nicht zugelassen. Bei Cara war jede Minute des Tages doppelt verplant. Notfalls wäre sie allerhöchstens zu einem Kurzaufenthalt mit Übernachtung hingeflogen, wie seinerzeit zur Beerdigung ihres Vaters. Zum anderen gab es auf Erden keinen Ort, den sie weniger gern besucht hätte als Charleston. Und keinem Menschen wäre sie weniger gern begegnet als ihrer Mutter. Der augenblickliche Status quo, eine Art höflicher Waffenstillstand, war beiden, Mutter und Tochter, während Caras selbst gewähltem Exil recht gut bekommen.
Doch Mama hatte, wie üblich, ein tadelloses Timing. Wohin sonst hätte man schon gehen sollen, wenn die Welt um einen herum in Trümmern lag, als nach Hause?
Cara umfasste das Lenkrad fester. Warum war ihr sonst in so geordneten Bahnen verlaufendes Leben dermaßen aus dem Ruder geraten? Wie konnte es passieren, dass sie sich nach zweiundzwanzig Jahren der Unabhängigkeit, nach einer viel versprechenden Karriere, nach vollständiger, umfassender Selbstständigkeit auf diesem verdammten Straßenabschnitt wiederfand und Richtung Heimat gondelte?
Es war der Brief ihrer Mutter gewesen, der sie zu dieser Fahrt verlockt hatte. Noch am Vortag hatte Lovie ihrer Tochter mit der üblichen Blumensendung zum Geburtstag gratuliert. Als Cara den Strauß vorsichtig aus dem lilafarbenen Floristenpapier wickelte, erfüllte der berauschende Geruch von Gardenien die Wohnung. Mit einem Schlage fühlte Cara sich nach Charleston zurückversetzt, hinein in den von Mauern umfriedeten Garten ihrer Mutter, in dem eine uralte Magnolie ihre Zweige spreizte und die weißen Blüten der Gardenie mit dem rankenden Jasmin um die Wette dufteten. Dann hatte sie den von ihrer Mutter verfassten Brief geöffnet und gleich die vertraute, lockere Handschrift erkannt.
Happy Birthday, liebe Caretta,
beim Duft der Gardenie muss ich immer gleich an Dich denken. Seit dem Tode Deines Vaters befindet sich alles im Wandel. Nun ist es für mich an der Zeit, wie ich es nenne, mein Haus in Ordnung zu bringen. Komm heim, Cara! Und sei’s auch nur für eine Weile. Nicht in das Haus in der Tradd Street. Komm zum Strandhaus! Dort war es doch für uns immer am schönsten, nicht wahr?
Sage bitte nicht, Du hättest zu viel zu tun oder keinen Termin frei. Weißt Du noch, wie wir es früher immer hielten? „Lass Dir den Geburtstag nicht aus der Hand nehmen!“ Kannst Du Dir nicht einmal selbst diese Zeit zum Geschenk machen und ein paar Tage mit Deiner alten Mutter verbringen? Bitte, komm nach Hause, mein Schatz! Bald! Dein Vater ist nicht mehr, und wir zwei haben all die Jahre zu besprechen, die sich inzwischen angesammelt haben.
In Liebe,
Mama.
Möglicherweise war es der Geruch der Gardenien, welcher das plötzliche Gefühl der Einsamkeit auslöste. Vielleicht lag es auch nur daran, dass jemand an ihren Geburtstag gedacht hatte. Oder Ursache war schlicht Caras Niedergeschlagenheit, die daher rührte, dass sie gerade ihren Job verloren hatte. Doch zum ersten Mal, seit sie mit achtzehn die schützenden Arme ihrer Mutter verlassen hatte, verspürte Cara eine jähe, verzweifelte Sehnsucht nach ihr.
Cara wollte heim. Heim ins Lowcountry, ins Marschland, wo sie einst glücklich gewesen war.
Cara überquerte den Ashley River sowie den Wando River, bog ein letztes Mal vom Highway ab und steuerte sodann zügig auf eine neue, elegant geschwungene Bogenbrücke zu, die das Festland mit der kleinen, der Küste vorgelagerten Insel namens Isle of Palms verband. Das gesamte Panorama breitete sich vor Cara aus. Von hier aus hatte man einen atemberaubenden Blick auf den endlos blauen Himmel und das von Wasserläufen durchzogene Grün der Marschen und Sümpfe, die sich erstreckten, so weit das Auge reichte. Cara merkte, wie sie beim Betrachten dieser grenzenlosen Weite bereits innerlich zur Ruhe kam. Welten trennten sie plötzlich vom Gedränge und Gehupe der engen Straßen. Geradeaus vor ihr schnitt das glänzende Band des Intracoastal Waterway eine breite, blaue Schneise durch die wogenden Wiesenflächen, und parallel zu dieser Wasserstraße verlief der schmale Hamlin Creek. Bootsanleger säumten, einer neben dem anderen, das Flussufer; meist schaukelte auch ein Boot vertäut an einem Steg.
Cara erreichte den Scheitelpunkt des Brückenbogens. Urplötzlich lag er in seiner ganzen majestätischen Weite vor ihr: der unermessliche, grenzenlose, blau schimmernde Atlantische Ozean – ein lebendes Wesen, dessen Kraft unter der stillen Oberfläche pulsierte. Cara stockte der Atem, ein Schauer überlief sie, und in diesem zutiefst bewegenden Augenblick begriff sie, dass nach wie vor Salzwasser ihre Adern durchströmte.
Es war ihre Heimkehr zur Isle of Palms. Selbst der Name zerging auf der Zunge, zauberte Bilder von schwankenden Palmen hervor, von trägen, sonnigen Nachmittagen am Rande der Brandung. Schon seit hundert Jahren diente die Insel den Bürgern von Charleston und Columbia als Zuflucht, wenn die Sommerhitze unerträglich wurde. Früher hatten sie mit der Fähre übergesetzt, in den Kiefern- und Eichenhainen gelagert oder im Pavillon zu den Klängen namhafter Bands getanzt. In späteren Jahren waren Brücken und Straßen gebaut worden, und jeden Sommer nahm die Inselbevölkerung proportional zur Hitze zu. In Kinder- und Jungmädchentagen hatte Cara hier Sommer für Sommer mit ihrer Mutter und Palmer, ihrem älteren Bruder, verbracht. Zu ihren glücklichsten Erinnerungen gehörte eine Zeit, in der sie alle drei, völlig ohne Rücksicht auf die Zeiger der Uhr, in den Tag hinein gelebt und sich lediglich dem Diktat der sengenden Sonne von South Carolina unterworfen hatten.
Sie hatte zwar gehört, dass die Insel damals, 1989, vom Wirbelsturm Hugo heimgesucht und dem Erdboden gleichgemacht worden war, doch in welchem Ausmaß der Lauf der Zeit das Bild einer Landschaft verändern konnte, das hatte sie sich nicht vorstellen können. Früher einmal war dies ein schläfriges kleines Eiland gewesen, mit einem Kaufladen, einem Schnaps- und einem Eisenwarengeschäft, die sich rechts und links an einige Inselrestaurants schmiegten – ein Ansichtskartenmotiv. Ocean Boulevard hatte seinerzeit nur aus einer Reihe bescheidener Strandhäuser bestanden. Vor denen erstreckte sich ein breiter Streifen von Sanddünen, die sich in behäbigem Auf und Ab am Meeresufer entlangwellten.
Umso größer war Caras Entsetzen, als sie feststellte, dass die Dünen, auf denen sie einst gespielt hatte, verschwunden waren, zugepflastert für eine Kette von Villen, die einen pastellfarbenen Holzwall bildeten, den Blick aufs Meer versperrten und die einstmals direkt am Strand gelegenen Sommerhäuser auf der anderen Straßenseite zu bloßen Hütten degradierten. Diese wunderschönen neuen, nach den Verwüstungen durch Hurrikan Hugo errichteten Anwesen standen nunmehr sogar noch näher an der Wasserlinie, als wollten sie mit ihrer Arroganz dem Wettergott trotzen, auf dass dieser es ja nicht wagen möge, noch einmal zuzuschlagen. Während ihrer Vorbeifahrt brauchte Cara nur den Kopf von links nach rechts zu wenden, um beide Architekturstile abwechselnd in Augenschein zu nehmen: Schaute sie zur einen Seite, sah sie Häuser, die aus der Zeit vor dem Wirbelsturm stammten, guckte sie zur anderen, erblickte sie die protzigen Villen, die danach errichtet worden waren.
Dennoch: Manches verändert sich nie, dachte sie, während sie Pelikane beobachtete, die wie eine Bomberstaffel im Formationsflug über sie hinwegzogen. Cara kurbelte die Seitenscheibe herunter und atmete tief die wohltuende Inselluft ein. Es begann bereits zu dämmern, und mit jedem feuchten Windhauch schien es Cara, als werde eine Seite im Buch ihrer Geschichte geräuschvoll zurückgeblättert. Sie erinnerte sich an die Tage, als sie als junges Mädchen über diese Straße geradelt war, als der Wind ihr die Haare zerzaust hatte, sodass die Strähnen wie Bänder geflattert hatten. Noch zwei weitere Häuserzeilen setzte sie ihre Fahrt in südlicher Richtung fort, wobei sie angestrengt Ausschau hielt. Als sie das Haus dann erblickte, verschlug es ihr schier den Atem.
Primrose Cottage. Mattgelb wie die schwach durch die Dämmerung schimmernden Primeln, von denen es eingerahmt wurde, thronte das anno 1930 in einigem Abstand zur Straße erbaute Sommerhaus auf einer niedrigen Düne. Im Gegensatz zu all den anderen penibel angelegten Grundstücken und Neubauten war das Haus ihrer Mutter nur noch ein schwaches Abbild einstigen Glanzes, im Dämmerlicht, inmitten wogender, hoher Gräser, hellrosa Phloxstauden und gelber Schlüsselblumen, die ihm den Namen gegeben hatten. Wenngleich ein wenig mitgenommen, schien die alte Holzkonstruktion mit dem niedrigen ausladenden Dach und den breiten gemütlichen Veranden dennoch so selbstverständlich hierher zu gehören wie die Fächerpalmen. Zwanzig Jahre war es nun her, seit Cara das Haus zuletzt gesehen hatte, so viele Jahre seit Beginn ihres Weges vom Mädchen zur Frau in den besten Jahren. Sie hielt am Straßenrand an und betrachtete es, und erst jetzt kam es ihr zu Bewusstsein: Während sie sich, gänzlich unempfänglich für die Insel und das dortige Treiben, ihr Leben in Chicago eingerichtet hatte, war dies zauberhafte Häuschen immer da gewesen und hatte ihrer geduldig geharrt.
Sie legte den ersten Gang ein, tuckerte bedächtig um die Häuserzeile herum bis zur Rückseite des Cottages und lenkte den Wagen in die gewundene, kiesbestreute Zufahrt, wobei sie Acht gab, dass die Räder sich nicht durch die dünne Kiesschicht gruben und im Sand darunter stecken blieben. Beim Anblick des alten, in glänzendem Gold lackierten VW-Cabrios, das vor der Veranda abgestellt war, lachte sie kurz auf. Fuhr Mama etwa immer noch ihren Goldkäfer? Das altmodische Faltverdeck des Cabriolets wirkte wie eine Flagge. Jedermann wusste: Parkte der Goldkäfer in der Einfahrt, dann residierte Olivia Rutledge im Haus, und Besuch war willkommen.
Cara ließ den Wagen ausrollen und spürte die hinter ihr liegenden Kilometer noch immer in den Knochen. Durch die Frontscheibe schaute sie auf das, was ihr stets Heimat gewesen war. Kam sie etwa selbst nun auch quasi nur noch als Besucherin her? Oder gaben ihr allein die Bande des Bluts schon das Recht, Primrose Cottage als ihr Zuhause zu bezeichnen? Dass sie stundenlang in den Blumenbeeten Unkraut gejätet, die Fenster zum Schutz vor Orkanen mit Brettern verbarrikadiert, jahrelang im Schaukelstuhl vorn auf der Veranda gesessen hatte – zählte das überhaupt? Seufzend zog sie die Handbremse an. Wahrscheinlich nicht. Und im Übrigen: Sie konnte sich noch erinnern, wie sie in einem Ausbruch jugendlicher Leidenschaft ihre Mutter angeschrien und ihr klar gemacht hatte, sie wolle mit ihnen allen nicht das Geringste mehr zu schaffen haben – weder mit ihr noch mit ihrem verdammten Vater noch mit sonstigen Dingen, die irgendwie mit ihnen in Verbindung standen.
Doch genau diese Verbindung meldete sich nun und zwang sie heraus aus der verbrauchten Luft des Wagens, hinein in die kühle, vom Meer her wehende Brise, in die sich der betörende Duft des Geißblatts mischte. Cara verharrte, den einen Fuß schon im Sand, den anderen noch auf der Straße. Sie spürte, wie der Sog an ihr zerrte, sie wegriss vom Ufer jener Welt, die sie gerade hinter sich gelassen hatte.
Von der Masse der heranflutenden Erinnerungen überwältigt, schätzte sie die noch verbleibenden Meter bis zur Haustür ihrer Mutter ab. Eintreten wollte sie schon, doch jahrelanger Zorn hielt sie wie angewurzelt am Fleck. Daher lehnte sie sich gegen das Fahrzeug und sann nach Worten, nach Floskeln, die das Eis brechen konnten und ihr gleichzeitig ein Minimum an Selbstachtung bewahren würden. Eine Woche bleibe ich, so redete sie sich ein und nahm all ihren Mut zusammen. Vielleicht zehn Tage, höchstens. Einen Tag länger, und ihre Mutter würde sie wahnsinnig machen; im Nu würde der Rückfall in alte Verhaltensmuster erfolgen – Sticheleien und Grobheiten, gefolgt von Schmollen und anhaltendem Schweigen. Gütiger Himmel! Sie massierte sich die Stirn. Ob es ein Fehler gewesen war, überhaupt herzukommen?
Überall um sie herum färbte sich der Himmel in dunkel-dämmrigen Schattierungen von Blau und Violett. Auf! Heimwärts! So schienen die letzten Warnrufe der Vögel Cara aufzufordern. Irgendwo in der Ferne schlug ein Hund an. Und dann, von der anderen Seite des Hauses her, vernahm Cara den hohen, melodischen Gesang einer Frauenstimme.
Sie schlich näher, spähte um die Hausecke und erblickte eine kleine Frauengestalt, die gemächlich den vom Cottage zum Wasser führenden Sandpfad heraufschlenderte. Sie trug einen großen Strohhut, einen langen, ausgebleichten Jeansrock und hellrote Segeltuchschuhe. Bruchstücke ihres Lieds – nichts sonderlich Bekanntes – wehten mit dem Wind zu Cara herüber. Mit einer Hand schleppte die Frau einen roten Plastikeimer, ein unverkennbarer Hinweis darauf, dass es sich um eine der „Turtle Ladies“ der Insel handelte, eine der einheimischen Schildkrötenschützerinnen. Caras Herz begann vernehmlich zu klopfen, doch sie schaute weiterhin nur wortlos zu. Aus dieser Entfernung hätte man die Person glatt für ein junges Mädchen halten können. Die Frau wirkte ganz und gar unbekümmert und hatte offenbar nur Augen für die Wildblumenbüschel, an denen sie vorbeilief. Hin und wieder blieb sie stehen, bückte sich und pflückte eine Blume, um gleich darauf ihren Weg zum Cottage fortzusetzen und weiter ihre Melodie vor sich hin zu summen.
Cara hatte tausend Sachen sagen, sich tausendfach in Positur werfen wollen, doch all ihre Pläne lösten sich in Luft auf – so schnell wie der Schaum der Wellen, sobald sie auf den Strand auftreffen.
„Mama!“ rief sie aus.
Ihre Mutter erstarrte und wandte den Kopf in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Hellblaue Augen blitzten unter der breiten Krempe des Strohhuts, der Mund öffnete sich weit vor echter, überraschter Freude. Dann ließ die Frau den Eimer fallen und breitete in einem beglückten Willkommensgruß die Arme aus.
„Caretta!“
Beim Hören des ungeliebten Namens krampfte sich alles in Cara zusammen, doch rasch überwand sie die wenigen Meter und folgte dem uralten Weg des Kindes in die Umarmung der Mutter. Da Cara einen Kopf größer war, musste sie leicht in die Knie gehen, und dabei kam sie sich vor wie immer, wenn sie neben Olivia Rutledge stand: wie ein wild gewordener Bulle neben einem zerbrechlichen Porzellanpüppchen. Doch als sie von ihrer Mutter liebevoll in die Arme genommen wurde, da schwappte eine Woge kindlicher Wonne über Cara hinweg.
„Du hast mir gefehlt“, flüsterte Olivia, das Gesicht an Caras Wange geschmiegt. „Du bist wieder daheim. Endlich!“
Cara erwiderte die Umarmung zwar, brachte jedoch kein Wort heraus. Zu viele Jahre des Schweigens erstickten jeden Laut. Dann löste sie sich, trat einen Schritt zurück, und es traf sie wie ein Faustschlag, als sie erkannte, wie sehr sich ihre Mutter verändert hatte. Olivia Rutledge war eine alte Frau geworden. Unter dem kecken Strohhut lugte ihr Gesicht fahl hervor, die Haut schien schlaff an den hohen Wangenknochen zu hängen, und die blauen Augen hatten ihren Glanz verloren. Obwohl von Gestalt immer schon zierlich und gertenschlank, wirkte Lovie nun jedoch mager.
Wie konnte das so schnell gehen, fragte sich Cara. Noch vor anderthalb Jahren bei der Beisetzung von Caras Vater war Olivia mit jener Schönheit, jener Anmut aufgetreten, der die Zeit offenbar nichts anhaben konnte. Gewiss ging man mit neunundsechzig nicht mehr als junge Frau durch, doch Cara wollte es nicht in den Kopf, dass ihre Mutter alt geworden sein sollte. Olivia gehörte zu den wenigen Glücklichen, die von der Natur mit einer mädchenhaften, schlanken Figur gesegnet worden waren und zudem über ein natürlich schönes Gesicht sowie eine Haut verfügten, die so rein und frisch war wie die so heiß geliebten Wildblumen. Caras Vater pflegte stets zu sagen, er habe Olivia geheiratet, weil sie so süß war, wie sie aussah. Und das stimmte auch. Alle Welt mochte Olivia Rutledge, oder „Lovie“, wie sie von denen genannt wurde, die sie gut kannten. Ihre Tochter jedoch wusste, welchen Preis die Mutter über die Jahre für diese Beliebtheit gezahlt hatte.
„Wie geht es dir?“ fragte Cara und suchte den Blick der Mutter. „Was macht die Gesundheit?“
„Ach, alles bestens.“ Olivia quittierte Caras besorgten Unterton mit einer wegwerfenden Handbewegung. „Gegen den Untergang des Römischen Reiches ist kein Kraut gewachsen. Ich versuche es schon gar nicht mehr.“ Ihre Augen hellten sich auf, als sie zu ihrer Tochter aufschaute. „Aber du! Wenn man dich so anguckt, kann man nur sagen: Du siehst einfach fabelhaft aus!“
Cara blickte an sich herab, musterte das zerknitterte weiße T-Shirt und die dunklen, in der Taille zwickenden Jeans. An diesem Morgen war sie vor Tagesanbruch aufgewacht, hatte nach einer Katzenwäsche aus Zeitgründen auf Make-up verzichtet und es zudem in Kauf genommen, dass das dunkle Haar ihr ungeordnet auf die Schultern fiel.
„Von wegen! Meine Sachen sehen verboten aus. Ich rieche nach Schnellimbiss!“
„Ich finde, dass du toll ausschaust. Ich kann’s noch gar nicht fassen, dass du hier bist! Als du anriefst, um dein Kommen anzukündigen, da bin ich beinahe in Ohnmacht gefallen. Dem Himmel sei Dank, dass du da bist!“
„Mama, der Himmel hat nichts damit zu tun. Du hast mich in deinem Brief gebeten, dich zu besuchen, und das tue ich hiermit.“
„Du magst vielleicht so denken. Aber ich in meinem Alter weiß es besser. Doch lass uns nicht streiten.“ Sie hakte Cara unter und drückte sie sacht an sich. „Ich habe gebetet, dass du heimkommst, und nun sind meine Gebete erhört worden.“ Langsam setzten sie sich Richtung Haus in Bewegung. Lovie wandte den Kopf und betrachtete Cara forschend. „Was guckst du mich so an?“
„Wie gucke ich denn?“
„Als hättest du einen Schreck bekommen.“
„Ich weiß nicht. Du kommst mir verändert vor. Irgendwie … glücklich.“
„Na! Natürlich bin ich glücklich! Wieso auch nicht?“
Cara zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung … Wahrscheinlich hab ich nach der Lektüre deines Briefes erwartet, dass du ziemlich einsam bist. Ein bisschen niedergeschlagen vielleicht. Daddys Tod ist schließlich noch nicht lange her!“
Lovie verzog das Gesicht, und wie üblich vermochte Cara die
Miene ihrer Mutter nicht zu deuten.
„Mein Brief sollte eigentlich nicht traurig klingen. Eher ein bisschen wehmütig.“
„Fehlt Daddy dir sehr?“
Olivia berührte zart Caras Wange. „Wenn mir jemand fehlt, dann du! Hier ganz besonders! Hier auf der Insel hatten wir immer eine Menge Spaß, oder?“
Cara nickte. Die Gefühle, die im Tonfall ihrer Mutter mitschwangen, ließen sie nicht unbeeindruckt. „Stimmt. Wir beide, du und ich. Und Palmer.“ Ihren Vater erwähnte sie lieber nicht. Er hatte sich nur selten im Haus am Meer blicken lassen, weil er es vorzog, in der Stadt zu bleiben oder auf Reisen zu gehen. Und obschon das Thema im Familienkreis nie angeschnitten wurde, herrschte doch die stillschweigende Übereinkunft, dass die Sommerferien wegen eben dieser väterlichen Abwesenheit sogar noch gelungener ausgefallen waren.
„O ja!“ Lovie lachte verhalten in sich hinein. „Und Palmer. Der auch!“
„Wie geht’s meinem wild verwegenen Bruder?“
„Mit wild und verwegen ist nichts mehr. Schade drum!“
Cara zog die Augenbrauen hoch. „Na, die Bemerkung sieht dir aber ganz und gar nicht ähnlich! Ich meine mich zu erinnern, dass ihr zwei, Daddy und du, den lieben Palmer immer fest an die Kandare genommen habt, wenn er im jugendlichen Überschwang über die Stränge schlug. Das muss ich erst mal verdauen – sobald ich den Schock überwunden habe, dass du dir eine kritische Bemerkung über den Thronfolger erlaubt hast!“
Ihre Mutter lachte bloß. „Wie lange kannst du bleiben?“
„Eine Woche.“
„Länger nicht? Cara, mein Schatz, immer hast du so viel zu tun! Bleib doch bitte ein bisschen länger!“
Cara verlangsamte ihren Schritt und dachte nach. Termine warteten im Augenblick ja wirklich nicht auf sie, und ihrer Mutter schien so viel daran zu liegen, dass sie ihren Aufenthalt ausdehnte. Ein wenig Erholung – vielleicht tat das ganz gut. „Unter Umständen hänge ich ein paar Tage dran. Das ist der Vorteil, wenn man mit dem Wagen unterwegs ist: Kein Ticket mit Verfallsdatum!“ Sie blieb stehen. „Ist es dir recht, wenn ich offen lasse, wann ich abfahre?“
„Das ist mir nicht nur recht, das passt hervorragend!“ Lovie tätschelte ihrer Tochter den Arm und ging dann über den sandigen Pfad voraus ins Strandhaus. „Tritt ein. Du bist doch sicher erschöpft von der langen Reise. Hast du Hunger? Das Essen steht zwar nicht fix und fertig auf dem Tisch, aber ich kriege schon etwas hin.“
„Mach dir bloß keine Umstände! Seit vierzehn Stunden knabbere ich im Auto an irgendwelchen Süßigkeiten!“
„Wann bist du in Chicago losgefahren?“
„Morgens, kurz vor fünf.“ Cara unterdrückte ein Gähnen.
„Wieso setzt du dich so einem Stress aus, Liebes? Du hättest dir zwei, vielleicht drei Tage Zeit nehmen und Zwischenstationen einlegen sollen! Die Berge sind doch zu dieser Jahreszeit so herrlich!“
„Ach, du kennst mich doch! Wenn ich einmal unterwegs bin, dann möchte ich schnellstmöglich ankommen!“
„Typisch“, erwiderte Lovie, und ihre Augen funkelten schelmisch. „Wie immer!“
Während Cara die Stufen zur Haustür hinaufstieg, inspizierte sie das Cottage. Spuren des Verfalls waren sichtbar, schlimmer, als sie zunächst vermutet hatte. Die rückwärtige Veranda war weggesackt; die an den Hauswänden entlang gepflanzten Sträucher warteten mit einem dschungelähnlichen Wildwuchs auf. An einem Fenster fehlte eine Fensterlade, und an einigen Stellen war der Anstrich so verwittert, dass das nackte Holz hervorschaute. „Mir scheint, der alte Kasten muss dringend überholt werden.“
„Das arme, alte Haus … das Wetter spielt ihm oft übel mit! Ständig gibt es etwas zu reparieren.“
„Für dich allein ist das eine Menge Arbeit. Springt Palmer denn nicht hin und wieder ein?“
„Palmer? Er gibt sich alle Mühe, doch mit dem großen Haus drüben hat er wahrlich alle Hände voll zu tun. Und sein Geschäft ist schließlich auch noch da! Und seine Familie.“ Lovie zog die Brauen zusammen und presste die Lippen aufeinander – ein sicheres Anzeichen dafür, dass sie nicht mit der vollen Wahrheit herausrückte. „Palmer hat seine eigenen Probleme. Ich komme schon allein zurecht. Oh, schau dir nur meine Schlüsselblumen an!“ rief sie aus und zeigte auf ein in der Nähe stehendes Büschel. „Sind sie nicht herrlich dieses Jahr?“ Sie schloss die Augen und sog die Luft durch die Nase ein. „Riechst du das? Fast wie Zitronen!“
Cara wusste nicht recht, ob ihre Mutter geschickt das Thema gewechselt hatte oder sich einfach nur leicht ablenken ließ. Doch mittlerweile spürte Cara die gefahrene Strecke schwer in allen Gliedern. In der einsetzenden Dunkelheit zu stehen und an den Blumen zu schnuppern, darauf hatte sie im Moment wirklich keine Lust.
„Ich bin ziemlich erledigt, würde liebend gern meine Sachen ausladen und dann etwas Kaltes trinken. Etwas Alkoholisches, falls du damit dienen kannst.“
„Einen Gin Tonic vielleicht? Wie hört sich das an?“
Beinahe hätte Cara vor Behagen geschnurrt.
Mittlerweile waren sie auf der Veranda angelangt. Allerlei Gerümpel hatte sich dort angesammelt: alte Rattanmöbel, ein stockig gewordener Seesack mit einem Sammelsurium von Strandutensilien, verrostete Gartengeräte jeglicher Art. Lovie blieb stehen, stützte sich mit der Hand an der Wand ab und schlüpfte aus ihren sandverkrusteten Joggingschuhen. Cara fuhr zusammen, als sie den schmalen blassen Streifen am Ringfinger ihrer Mutter bemerkte, genau an der Stelle, an der sich zweiundvierzig Jahre lang ein Goldreif mit einem großen, bei Tiffany geschliffenen Brillanten befunden hatte.
„Mama, wo ist denn dein Ehering?“
Verlegen betrachtete ihre Mutter die Hand und begann, sich den Sand vom Rock zu klopfen. „Ach, das klobige olle Ding? Das habe ich nach dem Tod deines Vaters abgestreift. Hab’s sowieso nur ihm zuliebe getragen. Mir hat nie viel an dem Ring gelegen. Er hat mich nur gestört und war mir hier am Strand ewig im Wege. Ich denke, ich werde ihn Cooper vererben. Eines Tages kann er ihn seiner Braut schenken.“
Cooper war Palmers kleiner Sohn, und wie nicht anders zu erwarten, verhätschelte Caras Mutter den bislang einzigen männlichen Nachkommen und Stammhalter, der den stolzen Namen Rutledge weiter tragen sollte.
„Putz dir bitte die Schuhe ordentlich ab. Ich kann mich einfach nicht an die Mengen von Sand gewöhnen, die dauernd unter den Sohlen ins Haus geschleppt werden.“
Cara tat, worum ihre Mutter sie gebeten hatte. „Was suchst du denn um diese Zeit noch am Strand?“
„Na, hör mal! Wir haben schon zwei Schildkrötengelege!“
„Ich dachte, ihr sucht die Spuren morgens!“
„Tun wir auch! Ich wollte nur nach dem Rechten sehen. Du kennst mich doch. Zu Beginn der Brutzeit packt es mich immer.“ Bekümmert verzog Lovie das Gesicht. „Das Nest vorhin habe ich zwar an Ort und Stelle gelassen, aber ich bin nicht sicher, ob das richtig war. Normalerweise hätte ich es an eine sicherere Stelle verlegt. Es liegt mir ein bisschen zu tief am Wasser, zu nahe an der Flutmarke.“ Sie schüttelte den Kopf und schnalzte mit der Zunge. „Das Umweltministerium ist momentan ziemlich pingelig. Umbetten dürfen wir die Gelege höchstens, wenn’s nicht anders geht. Ach, ich weiß nicht recht …“, fuhr sie nervös fort. „Läuft die Flut hoch auf, könnte sie das Nest zerstören. Vielleicht hätte ich’s doch an eine andere Stelle versetzen sollen.“
„Du hast dich entschieden, Mama. Die Sache ist erledigt. Lass es dabei bewenden.“ An ihrem Arbeitsplatz fällte Cara viele Entscheidungen pro Tag. Dass manche Menschen stets zauderten und zögerten, fand sie schlichtweg unbegreiflich. Über eine Sache war sie sich jedoch im Klaren: Im Augenblick ärgerte sie sich gar nicht so sehr über die Wankelmütigkeit ihrer Mutter. Was nervte, waren vielmehr die Schildkröten. Immer waren es die Schildkröten. Jahr für Jahr, solange Cara zurückdenken konnte, hatte sich Lovies Leben zwischen Mai und Oktober um die Meeresschildkröten gedreht. Und automatisch waren Cara und ihr Bruder dann in den Hintergrund gerückt.
„Ich weiß, du hast Recht. Nun kann ich sie ohnehin nicht mehr umbetten. Überflüssiges Getue von mir.“ Lovies Miene verfinsterte sich, bevor sie sich zur Tür wandte. „Komm herein! Jetzt mache ich dir erst mal deinen Drink.“
Ein Schritt ins Haus genügte, und Cara fühlte sich wieder in die Vergangenheit zurückversetzt. Das Strandhaus ihrer Mutter gehörte zu den wenigen noch erhaltenen Originalbauten auf der Insel. Es mochte zwar eng sein und mitgenommen aussehen, doch es war sehr gemütlich. Auf Nut und Feder verlegte Profilhölzer an Wänden und Decken sowie Rauspunddielen aus Kiefernholz sorgten für eine wohnliche Atmosphäre in den von Olivia blitzblank geputzten Zimmern. Überall merkte man, dass Lovie einen Sinn für Inneneinrichtung besaß: Abgetretene Orientläufer dämpften die Schritte, die elfenbeinfarbenen Wände waren mit Familienfotos oder Gemälden mit Insellandschaften geschmückt. Die Bilder hatten einheimische Künstler geschaffen, viele von ihnen waren alte Freunde von Lovie. Wuchtige, wenn auch nicht zueinander passende Sessel und eine Anzahl Stühle standen in zwar beengter, doch behaglicher Anordnung vor einem großen Panoramafenster, das eine atemberaubende Aussicht auf Strand und Ozean bot.
Die echt antiken Erbstücke der Familie befanden sich im eigentlichen Familiensitz in Charleston, vor Orkanen, Kindern und Besuchern in Badekleidung geschützt. Ins Sommerhaus wanderten lediglich die „nicht so guten“ Gegenstände. Caras Spielkameraden waren stets gern zum Spielen hergekommen, denn bei Lovie hieß es nie „Füße runter“, „Hände weg“ oder „Vorsicht“. Stets gab es gesüßten Eistee im Kühlschrank und Kekse in der Speisekammer. Das Leben hier am Strand war in mancherlei Hinsicht anders als in der Stadt.
Cara folgte ihrer Mutter durch einen schmalen Korridor und gelangte zu den zwei Schlafräumen ganz hinten – zu ihrem und Palmers ehemaligen Zimmern. Auf Schritt und Tritt spürte sie die Last der Erinnerungen, die in den leicht muffig riechenden Wänden und dunkel gewordenen Winkeln lauerten.
„Deine Kammer ist bereits hergerichtet“, verkündete Lovie und öffnete die Zimmertür. Ein Stoß frischer Seeluft wehte in den Flur. „Soll ich lieber das Fenster schließen?“
„Nein, lass nur. Ich hab das Fenster gern offen.“ Typisch Mutter, dass sie nicht die Klimaanlage benutzt, dachte Cara, während sie tief die feuchte, süß duftende Luft einatmete, die sich in alle Glieder auszubreiten schien. Mutter und Tochter sahen einander an.
„Im Bad sind saubere Handtücher.“ Lovie machte eine rasche Handbewegung in Richtung des Badezimmers.
„Prima.“
„Bedien dich ruhig bei den Toilettenartikeln. Seife, Shampoo, es ist alles da. Eine Extra-Zahnbürste auch.“
„Ich habe meine zwar mitgebracht, aber trotzdem vielen Dank.“
„Es dauert ein wenig, bis das Wasser warm ist, wenn es aus der Leitung fließt.“
„Ich entsinne mich.“
„Also dann …“ Lovie zögerte und verschränkte nervös die Hände. Einen Augenblick lang standen Mutter und Tochter verlegen herum, als wären sie sich völlig fremd. „Dann lass ich dich jetzt allein, damit du dich etwas frisch machen kannst.“
„Das wäre prima.“
Lovies Hand verharrte über der Türklinke, und im Gesicht ihrer Mutter spiegelte sich eine solche Sehnsucht, dass Cara sich von dem schmerzhaften Anblick abwenden musste.
„Lass dir Zeit“, meinte Lovie und zog die Tür hinter sich zu.
Klickend fiel die Tür ins Schloss, worauf Cara, endlich allein, einen Seufzer der Erleichterung ausstieß und ihren Koffer auf den Boden sacken ließ, wo er dumpf aufschlug. Bedenkt man die Fallstricke, denen wir ausgewichen sind, ist die erste Runde nicht schlecht gelaufen, dachte sie. Die lange Fahrt hatte sie ausgelaugt, und ihre innere Anspannung äußerte sich nun in einem pochenden Kopfschmerz. Während sie sich den verspannten Nacken massierte, ließ sie den Blick bedächtig durch ihr einstiges Zimmer wandern. Zu ihrem Erstaunen befand es sich noch in dem Zustand, in dem sie es vor zwanzig Jahren verlassen hatte. Das alte schwarze Doppelbett mit dem eisernen Gestell und der schrillen, pinkfarbenen Tagesdecke nahm fast die gesamte Zimmerfläche ein. Baumwollvorhänge in Rosa und Weiß flatterten vor dem einzigen Fenster über der rustikalen Kiefernkommode mit der Deckplatte aus rosarotem Marmor. Ein schmale Tür neben dem Fenster führte auf die mit engmaschigen Drahtgittern gegen die Mückenplage gesicherte vordere Veranda.
Es war ein Jungmädchenzimmer, spartanisch und doch gemütlich. Bilder von Palmen hatten zwar die Rockstar-Poster ersetzt, aber die Bücher aus Jugendtagen, in denen Cara Jahr für Jahr während der Sommertage geschmökert hatte, waren noch alle da. Mit dem Finger fuhr sie über vertraute Titel: Carolyn Keenes Mystery-Storys um die Heldin Nancy Drew, „Durch Zeit und Raum“ von Madeleine L’Engle, Tolkiens „Der kleine Hobbit“, Emily Brontës „Sturmhöhe“ und Robert M. Pirsigs Roman „Zen und die Kunst, ein Motorrad zu warten“. Literatur, die dazu beigetragen hatte, Bildung und Wertvorstellungen eines jungen Mädchens zu formen. Welche Werke, fragte Cara sich, muss ich nun noch meinem Bücherregal hinzufügen, auf dass der Inhalt mir durch diesen neuen Lebensabschnitt hilft?
Ganz kurz schaute sie sich im Spiegel an und hielt, von ihrem eigenen Spiegelbild überrascht, abrupt inne. Es war ein unwirklicher Augenblick, in dem die Vergangenheit eingefroren zu sein schien. Jetzt, da sie wieder hier in ihrem alten Zimmer stand, hätte sie fast erwartet, das magere Mädchen mit dem dünnen Haar zu sehen, das einst mit tränenerfüllten Augen in diesen Spiegel gestarrt hatte. Jenes arme, bedauernswerte Mädchen.
Cara konnte nicht als typische Südstaatenschönheit durchgehen. Sie galt nicht als „Southern Belle“ wie ihre Mutter. An Cara war alles etwas zu groß geraten. Sie maß knapp einen Meter achtzig, wirkte zu dünn und hatte einen zu flachen Busen. Ihre Füße waren riesig, ihre Lippen zu voll für das schmale Gesicht. Und ihren Teint hielt sie für völlig danebengeraten. Stets haderte sie mit dem Herrgott, dem ihrer Ansicht nach ein Irrtum unterlaufen sein musste: Sie hatte die Gene ihres Vaters geerbt und war groß, dunkelhaarig und dunkeläugig geworden. Palmer hingegen wies den zartgliedrigen Körperbau, die blonden Haare und die blauen Augen der Mutter auf.
Lovie indes liebte die dunkle Hautfarbe ihrer Tochter und nannte sie stets „meine kleine Seeschwalbe“, der glänzenden dunklen Augen und des schimmernden schwarzen Haarschopfes wegen. Manchmal auch neckte sie Cara und bezeichnete sie als Lachmöwe – noch ein schwarzköpfiger Vogel mit lautem, gackerndem Ruf.
Cara beugte sich näher zum Spiegel und fuhr sich mit der Hand über die Wangen. Kosename hin oder her: Die Südstaaten der sechziger und siebziger Jahre hatten einem mageren, unattraktiven Mädchen das Erwachsenwerden nicht leicht gemacht. Doch das hässliche Entlein war zu einem dunklen Schwan geworden. Ihr einst schlaksiges Äußeres, für das Cara viel Spott hatte einstecken müssen, war zu etwas gereift, das Kolleginnen und Kollegen als „auffallend attraktiv“ bezeichneten. Ihre vormals häufig gerügte aggressive Intelligenz wurde als „markantes Selbstbewusstsein einer erfolgreichen Karrierefrau“ beschrieben.
An diesem Abend kamen Cara diese Definitionen jedoch auf schmerzliche Weise unpassend vor. Sie war kein Kind und auch keine junge Frau mehr. Im Spiegelbild erkannte sie die neue Brüchigkeit ihrer Haut, die zarten Falten um Augen und Mundwinkel, die ersten grauen Haare an den Schläfen. Voller Bitterkeit dachte sie daran, dass sie mittlerweile nicht mehr auffallend attraktiv und längst nicht mehr erfolgreich war. Sie wirkte vielmehr so müde und mitgenommen wie das alte Strandhaus.
Ich lege mich nur einen Augenblick hin, redete sie sich ein, wandte sich vom Spiegel ab, entledigte sich ihrer Oberbekleidung und ließ sie achtlos auf dem Boden liegen. Lediglich mit Unterwäsche und einem T-Shirt bekleidet, zog sie die Laken zurück und streckte sich gähnend auf der weichen Matratze aus. Nur die Augen etwas ausruhen lassen.
Das alte Leinen fühlte sich frisch an; eine feuchtmilde Meeresbrise strich Cara wie Balsam über die bloße Haut. Ganz langsam glitten die Gedanken davon, die Lider wurden ihr schwer, und Cara spürte, wie sie sich treiben ließ, Stück für Stück. Das Leben, das sie noch vor Stunden geführt hatte, schien so fern wie die City von Chicago zu sein. Cara kam zur Ruhe, tiefe Stille erfüllte ihre Seele. Draußen vor dem Fenster rauschte der Ozean, der sie einlullte und sanft wie Mutterarme in den Schlaf wiegte.
Ziellos wie ein Stück Strandgut irrte Caras Geist durch das Tohuwabohu der Ereignisse, die sich in den vergangenen Tagen zugetragen und sie zu dieser Reise veranlasst hatten. Begonnen hatte alles am Dienstagmorgen, als das Telefon in ihrem Büro läutete und sie ohne jede Vorwarnung zu Mr. David Alexander gebeten wurde. Als Personalchef war Dave für Entlassungen zuständig und als gnadenloser Henker berüchtigt. Alle Welt wusste: Wenn man zu Dave bestellt wurde, kam das einer Einladung zu einer langen Autofahrt mit der Mafia gleich.
Warum erschießen sie mich nicht gleich, hatte Cara sich aufgebracht gefragt, während sie im Aufzug zum 29. Stock hinauffuhr. Schließlich war sie ein arbeitsabhängiger Workaholic; sie brauchte ihre Arbeitsstunden wie eine Droge, und nun wollte man ihr offensichtlich den Nachschub verwehren. Freilich, sie hatte einen wichtigen Stammkunden verloren, doch in der Werbebranche passierte so etwas nun mal. Ansonsten verfügte sie doch über eine makellose Erfolgsbilanz! Stand sie nicht kurz davor, als Ersatz einen neuen Großauftrag an Land zu ziehen? Während sie den Korridor entlangschritt, fiel ihr die außergewöhnlich gespannte Stille auf, die in dem Gewirr von Großraumarbeitsplätzen und engen Büros herrschte. Nur ein gelegentliches Läuten des Telefons und ein kurz darauf unterdrücktes Schluchzen unterbrachen diese Ruhe. Leere Karteikästen säumten die Flure, und was Cara am meisten irritierte, waren bewaffnete Sicherheitsleute, welche die Aufzugtüren bewachten. Sie schluckte heftig, marschierte steifbeinig durch das Labyrinth aus Fluren und Zimmern. Also war an den Gerüchten doch etwas Wahres dran! Offenbar rollten Köpfe, und zwar nicht zu knapp.
Als sie endlich vor Mr. Alexanders Dienstzimmer anlangte, war ihre Haut von einem feuchten Schweißfilm überzogen. Mit hölzernen Bewegungen nahm sie Platz, lehnte den angebotenen Kaffee und das Glas Mineralwasser ab. Letztendlich verlief alles so, wie sie befürchtet hatte. Mit seiner dünnen, nasalen Stimme teilte der „Henker“ ihr zu seinem großen Bedauern mit, dass sie als verantwortliche Abteilungsleiterin für den Verlust eines Schlüsselkunden den Kopf hinhalten müsse. Während er ihr lang und breit die großzügige Abfindungsregelung der Firma erläuterte, schlug Cara die Beine übereinander, faltete artig die Hände im Schoß und schaute, vom Schock wie betäubt, aus dem Fenster. Am Ende der demütigenden Unterredung erhob sie sich, dankte Mr. Alexander höflich dafür, dass er sich für sie Zeit genommen hatte, erklärte ihm, sie werde ihre persönlichen Gegenstände später abholen, und verließ das Firmengebäude – in Begleitung eines bewaffneten Wachmanns.
Danach war sie geradewegs zu ihrer engen Eigentumswohnung am Lake Michigan gefahren. In dem etwas vernachlässigten Ein-Zimmer-Apartment steckten ihre gesamten Ersparnisse der vergangenen zwanzig Jahre, jeder einzelne Cent. Sie hatte die Wohnung wegen der Nähe zum Seeufer erworben – ein letzter Anflug von Heimatverbundenheit nach langem Exil. Allerdings erwies sich ihre Bleibe nicht als der Zufluchtsort, zu dem man waidwund und verletzt zurückkehrte. Es war kein Zuhause, wo wichtige Ziele im Leben erreicht und Familienfeste gefeiert wurden. Diese vier Wände bargen keine Erinnerungen an lustige Begebenheiten oder lieb gewordene Augenblicke. Der minimalistische Stil, das kühle Eisblau und Grau der Wände und Polster, die wenigen persönlichen Dinge, all das bot keinerlei Hinweis auf Caras Charakter oder auf ihre Interessen. Ihre Eigentumswohnung diente lediglich als Schlafstelle für die Nacht, als Aufbewahrungsort für ihre bedeutungslosen Habseligkeiten, fast so nüchtern wie der Tresorraum einer Bank.
Und doch stellte diese nüchterne und fast sterile Wohnung Caras gesamten irdischen Besitz dar.
Es war grausam, im Alter von vierzig Jahren plötzlich aufzuwachen und feststellen zu müssen, dass man keine Freunde hatte, keine Interessen und keinerlei Verbindung zu Dingen außerhalb des Berufs. Das alles hatte sie verpasst, zu lange aufgeschoben, aufgehoben für den Tag, an dem sie mehr Zeit haben würde. Sie hatte sich stets über ihre Arbeit definiert. Jetzt, mit einem Male, war das alles weg, und sie fand sich im Haus ihrer Mutter wieder, in dem Bett, in dem sie als Kind geschlafen hatte. Und mit nunmehr vierzig fühlte sie sich genauso unsicher wie damals mit achtzehn.
Cara spürte jene bittere Kälte, die einem direkt ins Mark dringt, und schlang fröstelnd die Arme um den Körper. Es war die Kälte, die der Furcht bedenklich nahe kommt.
Einige Zeit später hätte sie nicht genau sagen können, ob sie träumte oder ob das wirklich die Hand ihrer Mutter war, die ihre Schläfe berührte und ihr sanft das Haar aus dem Gesicht strich. Hatte ihr da jemand zärtlich die Stirn geküsst?
Zur Eiablage kehren die weiblichen Meeresschildkröten an den Ort zurück, an dem sie einst selbst aus dem Ei geschlüpft sind. Wird dieses Verhalten vom Instinkt gesteuert? Vom Gedächtnis? Von Gerüchen oder Geräuschen? Von magnetischen Feldern etwa? Niemand weiß es genau.
Der Silberglanz des Mondes über South Carolina kann einschläfernd wirken. Die Küstensonne hingegen ist so stechend und scharf wie der durchdringende Ton einer Fanfare. Mühsam schlug Cara ein Auge auf und blinzelte in das gleißende Sonnenlicht, das durch das offene Fenster ins Zimmer fiel. Es dauerte eine Weile, bis sie wusste, wo sie war, bis sie merkte, dass es sich bei den von draußen hereindringenden Lauten nicht um quäkendes Autogehupe handelte, sondern um unablässiges, munteres Vogelgezwitscher. Die lange Fahrt, die Entlassung – alles kam ihr blitzartig wieder in den Sinn. Ächzend stülpte sie sich ein Kissen über den Kopf. Genau in diesem Moment begann das Telefon im Flur zu läuten.
Offenbar machte niemand Anstalten, den Anruf entgegenzunehmen. Also warf sie das Kissen beiseite, zog das T-Shirt züchtig über ihr Höschen, trippelte wie eine Strandkrabbe durch den engen Korridor zu dem kleinen hölzernen Hocker, auf dem das einzige Telefon im Cottage stand, und nahm den Hörer ab.
„Hallo?“ Es klang, als hätte sie einen Frosch im Hals.
Schweigen. Nach kurzer Pause meldete sich eine Frau. „Olivia?“ Sie schien so verunsichert, dass ihre Stimme fast schrill wirkte.
„Nein, hier ist nicht Lovie!“ Cara hätte um ein Haar gegähnt. „Ich bin die Tochter.“
„Ach so!“ Erneutes Schweigen folgte. „Ich wusste gar nicht, dass Lovie eine Tochter hat.“
Cara rieb sich die Augen und wartete.
„Kann ich bitte Ihre Mutter sprechen?“
Die Frage war Cara in über zwanzig Jahren nicht mehr gestellt worden. Cara blinzelte verschlafen und ließ den Blick durch das Wohnzimmer schweifen. Im Haus war es mucksmäuschenstill.
„Sie ist nicht hier.“
„Aber … aber ich habe Schildkrötenspuren gefunden!“
Der aufgeregten Stimme nach zu urteilen, handelte es sich bei der Anruferin offensichtlich um eine Dame, die gerade erst zu Lovies ehrenamtlichen Aktivistinnen beim so genannten „Turtle Team“, den Schildkrötenschützern der Isle of Palms, gestoßen sein musste. „Wie schön!“ gab Cara zurück. „Danke. Ich werd’s ihr ausrichten, sobald sie zurück ist.“
„Halt! Wollen Sie denn nicht wissen, wo die Spuren sind? Ich stehe hier am Strandzugang an der 6th. Avenue. Was soll ich denn jetzt machen? Etwa hier warten?“
Cara seufzte. Ihre Zerschlagenheit ließ ein wenig nach. „Also wirklich, ich kann Ihnen beim besten Willen nicht sagen, wie Sie sich verhalten sollen. Und ohne eine Tasse Kaffee bin ich sowieso nicht imstande, einen klaren Gedanken zu fassen.“
Von draußen vernahm sie Schritte. Offenbar stapfte jemand die Stufen zur Veranda herauf. Gott sei Dank! Rettung in letzter Minute.
„Augenblick“, rief sie in den Hörer. „Ich glaube, da kommt sie gerade!“ Cara zog das Kabel des antiquierten schwarzen Apparats straff und lugte um die Ecke. Die Haustür flog auf. Doch statt ihrer Mutter betrat eine junge Frau so selbstsicher das Haus, als wohne sie hier. In vornüber gebeugter Haltung mühte sie sich mit einer Anzahl Einkaufstüten voller Lebensmittel ab, wobei ihr das wuschelige blonde Haar über Stirn und Augen fiel. Sie keuchte leicht und versetzte der Tür mit dem Absatz einen Stoß, sodass sie ins Schloss fiel.
Einen bedrohlichen Eindruck machte die junge Dame freilich nicht. Eine Schwangere wirkt eben selten gefährlich. Die Frau trug ein sehr kurzes Umstandskleid mit pastellfarbenem Blumenmuster, ein billiges Etwas aus dünner Kunstseide, dessen Saum vorn, wo der Stoff sich über dem Bauch spannte, hoch vom Körper abstand. Als sie sich aufrichtete und das Haar aus dem Gesicht strich, bemerkte sie, dass sie von Cara beobachtet wurde. Beider Blicke trafen sich.
Cara zuckte zurück und zog ihr T-Shirt über den Slip. Die Unbekannte hingegen schien nicht im Mindesten überrascht, hier auf Cara zu treffen, die nun, gegen die Korridorwand gelehnt, hören konnte, wie die geheimnisvolle Fremde sich ohne ein Wort der Begrüßung in die Küche begab und die Schranktüren auf- und zuklappte, als führe sie im Hause das Regiment.
„Entschuldigung!“ rief Cara energisch zu ihr hinüber. „Wer sind Sie denn?“
„Hat Ihre Mama mich etwa nicht angekündigt?“ erwiderte die Frau. Ihr gedehnter Südstaaten-Akzent verriet das Mädchen vom Lande.
Blitzartig wurde Cara bewusst, dass sie am Vorabend eingeschlafen war, ohne gegessen und ihrer Mutter eine gute Nacht gewünscht zu haben. Über Pläne zu sprechen, über Besucher oder über ein Mädchen, das möglicherweise am Morgen auftauchen würde – dazu waren sie überhaupt nicht gekommen. Nach Caras Einschätzung stammte die junge Frau aus der Nachbarschaft oder war eine Art Hilfskraft, die für Lovie einkaufen ging.
Aus dem Telefonhörer drang die aufgeregte Stimme der Schildkrötennovizin. „Hallo? Sind Sie noch da?“
„Hier ruft jemand völlig aufgelöst wegen einer Schildkröte an!“ verkündete Cara der Frau. „Wissen Sie, wo meine Mutter steckt?“
„Bin schon unterwegs!“ tönte es aus der Küche.
Die Stimme kam näher, und im nächsten Augenblick stand die Fremde auch schon direkt vor Cara. Nun konnte Cara ihr Gesicht erkennen: Es war nicht das Gesicht einer erwachsenen Frau, sondern das eines Teenagers, das Gesicht einer Puppe mit runden Wangen und vollem Kussmund, und durchaus sexy. Die Fremde war überraschend jung. Verblüfft ließ Cara den Blick zu dem gewölbten Leib hinunterwandern. Automatisch legte das Mädchen die Hand auf die Bauchrundung. Als Cara wieder aufschaute, erkannte sie in den hellgrauen, mit dunklem Kajal akzentuierten Augen der Schwangeren eine eisige, herausfordernde Kälte, die das junge Mädchen fast aggressiv wirken ließ und Cara schlagartig auf die Nerven ging. Mit leicht hoch gezogenen Brauen, sodass es einem spöttischen Feixen schon sehr nahe kam, starrte die Fremde zurück und musterte Cara sowie deren spärliche Bekleidung. Einen Moment lang standen die beiden einander gegenüber und taxierten sich schweigend.
Wieder quäkte zwischen ihnen die Stimme der Anruferin aus dem Hörer. „Hallo? Hören Sie mich?“
Das Mädchen streckte die Hand aus, drehte die Handflächen nach oben und krümmte fordernd die Finger.
Cara blickte zwar indigniert, übergab jedoch den Apparat an die Schwangere. Die drehte Cara demonstrativ den Rücken zu und begann ein Gespräch mit der Anruferin, ließ sich den Standort bestätigen und erteilte Anweisungen mit einer Selbstsicherheit, die vermuten ließ, dass sie dies nicht zum ersten Mal tat.
Nun guck sich einer den kleinen Frechdachs an! Cara war ehrlich entrüstet. Dann aber gewann die Müdigkeit endgültig die Oberhand. „Ach, was soll’s“, brummte sie, machte kehrt und begab sich zu ihrem Zimmer zurück. Zumindest wusste die Kleine, wer immer sie auch sein mochte, wie man diese aufdringliche Anruferin abfertigen musste. Auf dem Weg bemerkte Cara, dass die Tür zum einstigen Zimmer ihres Bruders offen stand. Als sie kurz hineinschaute, fielen ihr das zerwühlte, ungemachte Bett sowie ein rosarotes, gerüschtes Nachthemd auf, das auf den Laken lag.
Der Groschen fiel sofort; bei Cara setzte Enttäuschung ein. Offenbar war das Mädchen ein Feriengast. Von wegen gute Absichten und trautes Wiedersehen von Mutter und Tochter! Das Sommerhaus bot ja kaum Raum für sie beide! Zu dritt musste man schlichtweg Platzangst bekommen. Ausgeschlossen, dieser eigensinnigen werdenden Mutter, die ihrerseits von ihr, Cara, alles andere als begeistert zu sein schien, aus dem Wege zu gehen. Hätte ich gewusst, dass das Cottage an Sommerfrischler vermietet ist, dann …
Cara schnappte sich ihr Kissen vom Boden, schleuderte es auf das Bett zurück und ließ sich lustlos auf das Laken fallen. Was erwarte ich eigentlich, grübelte sie. Mutter hat schon immer anderen den Vorzug gegeben. Vor mir kamen stets mein Bruder, mein Vater und sogar die vielen Besucher, die sich allem Anschein nach im Familiensitz in Charleston die Klinke in die Hand gaben.
Das Haus am Meer allerdings, das war immer etwas anderes gewesen. Cara hatte gehofft, hier werde …
Sie presste die Lippen aufeinander. Was war sie für eine Närrin gewesen! Dabei hatte sie doch schon vor ihren Teenagerjahren gelernt, ihrer Wege zu gehen und nicht zu viel zu erwarten. Auf einmal kam ihr das Zimmer im durchdringend hellen Licht der Morgensonne nicht mehr so zauberhaft wie gestern vor. Die altmodische Tagesdecke war von der Sonne ausgeblichen, die Wandfarbe vergilbt. Zwar bauschte eine sanfte Brise die fadenscheinigen Gardinen, doch ohne Klimaanlage würde es bis spätestens Mittag drückend schwül werden. Allmählich bereute Cara den überstürzten Entschluss, nach Hause zurückzukehren.
Die ersten Vorboten von Kopfschmerzen, verursacht durch zu viele stressige Tage und zu wenig Schlaf, machten sich nun deutlich bemerkbar. Cara streckte sich auf dem Bett aus, hieb ein paar Mal mit der Faust ins Kopfkissen und überließ sich mitsamt ihren quälenden Gedanken einem tiefen, traumlosen Schlaf.
Unruhig mit dem rechten Fuß wippend, stand Toy Sooner an der Küchenspüle, wusch die Glaskanne aus und füllte den Wasserbehälter der Kaffeemaschine. Dann häufte sie sechs Maßlöffel Kaffeepulver in den Filter und schaltete das Gerät ein. Sie wusste, dass Lovie nach der Rückkehr von ihrer Schildkrötenpatrouille stets gern ihre Tasse frisch aufgebrühten Kaffee genoss. Zudem hatte Toy eine Schachtel Doughnuts gekauft. Für mehr reichte ihr Geld nicht; es gab nicht viel, womit sie beweisen konnte, wie dankbar sie Miss Lovie war. Außerdem bekräftigte Lovie stets aufs Neue, dass sie keine Dankbarkeit erwarte. Doch genau deswegen hätte Toy sich gern umso mehr erkenntlich gezeigt.
Dass Mitmenschen ihr etwas schenkten, ohne ihrerseits auf eine Gegenleistung zu hoffen, das war völlig neu für Toy, und dass sie hier bei Miss Lovie eine Bleibe gefunden hatte, kam ihr wie die Erfüllung eines Wunschtraums vor. So gut hatte sie es noch nie im Leben gehabt. Sogar ein eigenes Zimmer stand ihr zur Verfügung, eins für sie allein! Und die Krönung des Ganzen: Niemand zankte mit ihr herum oder keifte sie pausenlos an. Vor ihrer Bekanntschaft mit Miss Lovie hatte sie auch nicht annähernd geahnt, wie angenehm gemeinsam eingenommene Mahlzeiten sein konnten, mit sauberem Tischtuch, Servietten und richtigem Besteck. Bei jedem Essen, wohlgemerkt!