Odins Raben - Tim Hodkinson - E-Book
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Odins Raben E-Book

Tim Hodkinson

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Beschreibung

Die Jagd nach dem sagenumwobenen Rabenbanner wird zum Überlebenskampf auf der eiskalten See. AD 935: Einar ist dazu bestimmt, ein großer Krieger zu werden. Seine Gabe für den Kampf macht ihn zu einer tödlichen Waffe. Dennoch will er alles aufgegeben, um seiner Passion, der Musik, nachzugehen. Die nordisch-irische Prinzessin Affreca ist fest entschlossen, ihn auf den rechten Weg des Kriegers zurückzubringen: Er soll sie bei der Suche nach dem berüchtigten Rabenbanner unterstützten. Der Legende nach wird jede Armee siegreich, die das sagenumwobene Banner besitzt. Auch andere Könige und Wikinger des Nordens sind daher auf der Jagd. Für Einar beginnt ein brutaler Überlebenskampf.  Band 2 des Wikinger Epos »Die Chronkes des Nordens« um nordische Mythen, berühmte Krieger und tödliche Schlachten Tim Hodkinson, geboren 1971, wuchs in Irland auf, wo die raue Küste und der stürmische Atlantik seine Faszination für Wikinger weckten. Er studierte mittelalterliche englische und altnordische Literatur mit Fokus auf mittelalterlicher europäischer Geschichte. Er schrieb sein ganzes Leben lang und hat ein starkes Interesse am historischen, mystischen und mysteriösen. Nachdem er mehrere glückliche Jahre in New Hampshire, USA, verbracht hat, ist er nun mit seiner Frau Trudy und drei reizenden Töchtern in ein Dorf namens Moira zurückgekehrt. Für Fans von Bernard Cornwell und der Serie »Vikings«

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Aus dem Englischen von Andreas Decker

© Tim Hodkinson 2020

Titel der englischen Originalausgabe:

»The Raven Banner«, Aria/Head of Zeus, London 2020

© Piper Verlag GmbH, München 2024

Redaktion: Sabine Thiele

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: Guter Punkt, München

Covermotiv: Anke Koopmann, Guter Punkt unter Verwedung von Motiven von shutterstock

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Zitat

Kapitel 1

Jorvik

Anno Domini 935 – Spätwinter

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Jarlshof, Festung des Jarls von Orkney

Orkney

Kapitel 5

Jorvik

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Avaldsnes, Residenz von Erik Haraldsson, dem König von Norwegen

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

England, Königreich Northumbrien

Kapitel 14

Königreich Northumbrien

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Westness, Orkney

Kapitel 25

An den Schären der nordirischen Küste

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Der Firth of Forth

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Norwegen

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Glossar

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Literaturverzeichnis

»Sigurður jarl kvaddi þá til Þorstein Síðu-Hallsson að

bera merkið. Þorstein ætlaði upp að taka merkið.

Þá mælti Ámundi hvíti: »Ber þú eigi merkið Þorsteinn

því að þeir eru allir drepnir er það bera.«

»Hrafn hinn rauði«, sagði jarl, »ber þú merkið.«

Hrafn svaraði: »Ber þú sjálfur fjanda þinn.«

Jarl Sigurd befahl Thorstein Side-Hallsson, das Banner zu tragen. Thorstein wollte es aufnehmen, aber Amund der Weiße rief: »Nimm das Rabenbanner nicht, Thorstein. Alle, die es in die Schlacht tragen, kommen zu Tode.«

»Hrafn der Rote«, sagte der Jarl. »Du trägst das Banner.«

Hrafn sagte: »Trag deinen Teufel selbst.«

Kapitel 157, Brennu-Njáls Saga

Kapitel 1

Jorvik

Anno Domini 935 – Spätwinter

Einar Thorfinnsson sollte nie erfahren, was ihn da niedergestreckt hatte.

Er hatte gerade die Tür der Schenke hinter sich geschlossen und die dunkle Straße betreten, als ihn etwas an der Schläfe traf. Bunte Sterne blitzten vor seinen Augen auf, er verlor das Bewusstsein. Seine Knie gaben nach, er stürzte zu Boden, und sein letzter klarer Gedanke bestand darin, die eigene Dummheit zu verfluchen.

Er hätte wissen müssen, dass der Unbekannte mit der Kapuze Ärger bedeutete. In einer Stadt wie Jorvik waren Fremde nichts Ungewöhnliches. Leute kamen und gingen, aber der Fremde mit der dunkelgrünen Kapuze war irgendwie anders gewesen.

An Hilfe war nicht zu denken. Alle Zecher in der Schenke waren nach Hause gegangen. Die Thralle, die dort arbeiteten, ließen sicher gerade ihre müden Körper auf ihre Pritschen fallen, genau wie Gorm, der Wirt. Einar war nur noch wach, weil er geblieben war, nachdem der letzte Gast die Stube verlassen hatte. Er hatte auf den Lohn für seinen Auftritt gewartet, während Gorm die Abendeinnahmen zusammenrechnete. In der Zwischenzeit hatte er den Fremden, den er zuvor hinten im Raum entdeckt hatte, vergessen.

Der Fremde hatte seine Kapuze nicht abgesetzt, obwohl er sich nicht im Freien befunden hatte. An sich war das nicht ungewöhnlich. Leute mit Skorbut, Ausschlag oder Ungeziefer hielten die Köpfe oft verhüllt. Als Einar seinen üblichen Platz am Feuer eingenommen und die drápa von Hrolf Kraki vorgetragen hatte, um die Anwesenden zu unterhalten, war er überzeugt gewesen, von dem Fremden beobachtet zu werden. Eine der Mägde hatte das bestätigt und ihm amüsiert verraten, dass sich der Mann nach seinem Namen erkundigt hatte.

Er hätte die Gefahr erkennen müssen. Jetzt war es zu spät.

Seine Sicht klärte sich. Die undurchdringliche Dunkelheit der Nacht wurde von ein paar flackernden Fackeln auf langen Stangen zurückgedrängt, die hier und da auf der Straße standen. Als Erstes wurde ihm der durchdringende Gestank von Scheiße und Pisse bewusst. Er lag auf der linken Seite, eine Wange auf der kalten, glitschigen Holzplanke des Bohlenweges, der als Straße diente. Diese Bohlenwege führten in geraden Linien zwischen den Häusern und Läden durch die Stadt. Sie sollten die Füße der Bewohner von den offenen Kloaken fernhalten, die darunter verliefen. Nur die Holzplanke trennte Einars Nase von dem Unrat, und der Gestank war widerlich.

Er keuchte. Schmerz pochte in seiner Schläfe. Jemand trat ihm gegen die rechte Schulter und wälzte ihn auf den Rücken. Über sich sah er die Strohdächer der langen, niedrigen Gebäude, die die Straßen säumten, und die Sterne funkelten an einem Himmel, der so schwarz wie der Sand auf den Lavafeldern in Island war, seiner Heimat. Ein Ort, der im Augenblick so fern erschien wie diese Sterne.

Drei Männer standen über ihm. Im fahlen Licht konnte er ihre Züge nicht ausmachen, aber das Aufblitzen ihrer Klingen war unverkennbar.

»Du bist schwer zu finden«, sagte einer der Männer.

»Wo sind die Schwerter?«, fragte einer seiner Gefährten. »Ricbehrt will sie wiederhaben.«

Sachsen – Einar erkannte die Sprache. Oder Engländer, wie sie sich nun selbst bezeichneten.

»Erzähl uns nicht, dass du es nicht weißt«, sagte der dritte Mann, der Einars verwirrte Miene bemerkte, in der Sprache der Sachsen. Er hatte jedoch einen seltsamen Akzent. Vielleicht war er ein Franke?

»Hoffentlich hast du ihn nicht zu hart getroffen, Osric«, zischte einer der Angreifer seinem Gefährten zu, »und ihm den Verstand rausgeprügelt, bevor wir herausfinden, wo er die Schwerter versteckt hat. Das könnten wir überhaupt nicht gebrauchen.«

Noch immer tanzten viele kleine Lichter vor Einars Augen. Ihm war schlecht. Mit einem Stöhnen griff er sich an den Kopf, tastete vorsichtig nach seiner dröhnenden rechten Schläfe. Er spürte etwas Warmes und Klebriges, und ihm war klar, dass es sein Blut war.

»Meine Harfe«, stöhnte er, denn ihm wurde bewusst, dass sich der Lederbeutel mit dem Instrument nicht länger in seiner Hand befand.

»Helft ihm auf die Beine«, sagte Osric. »Schaffen wir ihn rein, damit wir ihn richtig befragen können.«

Sie zerrten ihn auf die Füße. Wieder verschwamm die Welt vor seinen Augen, seine Knie gaben erneut nach. Der Franke fing ihn auf und murmelte etwas in seiner eigenen Sprache, das verdächtig nach einem Fluch klang.

»Du hast ihn zu hart geschlagen, Osric«, beschwerte sich der andere Sachse. »Jetzt müssen wir ihn tragen.«

»Hör auf zu jammern«, sagte Osric. »Packt ihn an den Armen.«

»Warum müssen wir die ganze Arbeit machen?«, protestierte der Franke. »Du hast ihn geschlagen.«

»Weil ich hier das Sagen habe«, erwiderte Osric. »Richtig?«

Einen Augenblick lang starrten sich Osric und der Franke an, ihr Atem bildete weiße Wölkchen in der kalten Nachtluft, dann schaute der Franke zur Seite. Anscheinend hatte Osric recht.

»Ich bin direkt hinter ihm«, sagte Osric. »Wenn er Ärger macht, schlitze ich ihn auf.«

Der Franke und der andere Sachse legten sich Einars Arme über die Schultern, und er sackte zwischen ihnen zusammen.

»Beweg dich endlich, verflucht«, schimpfte der Franke, der links von Einar war.

Einar ließ den Kopf noch immer hängen, warf aber einen schnellen Blick nach links und rechts. Er musste wissen, wo sie ihre Messer trugen. Die beiden Männer hielten ihre Klingen in den freien Händen, auf der anderen Seite von Einar. Er hatte jedoch nicht die geringste Ahnung, was Osric tat.

Einar wusste nicht, wer diese Männer waren, aber so benommen er auch war, hatte er nicht die geringsten Zweifel, dass er in ernsthaften Schwierigkeiten steckte, wenn sie ihn von der Straße schafften und er ihrer Gnade ausgeliefert war. Das war vermutlich seine letzte Chance zur Flucht.

Er biss die Zähne zusammen, um die Benommenheit zu vertreiben. Dann stemmte er die Füße fest auf die Bohlen. Er spannte die Oberschenkel an und richtete sich auf. Diesmal war er so solide wie eine Eiche. Er legte die Arme um die Hälse der Männer und zog sie ruckartig gegeneinander. Ihre Köpfe schlugen mit einem Geräusch zusammen, als wären sie zwei volle Ale-Fässer.

Sie schrien auf und hielten sich die Köpfe. Einar ließ sie los und rannte so schnell, wie er konnte.

Jeden Augenblick erwartete er, den heißen Schmerz von Osrics Messer im Rücken zu spüren. Stattdessen vernahm er nur einen Fluch. Er war frei, hatte sich aber noch lange nicht von dem Schlag auf den Kopf erholt. Bei jedem Schritt verschwamm seine Sicht. Die Straße schien zur Seite zu kippen, und er stolperte. Hinter ihm donnerten Schritte auf den Bohlen, während sein linker Fuß auf dem feuchten Holz wegrutschte.

Dann traf ihn etwas Schweres von hinten, und er fiel.

Einer der Männer hatte sich auf ihn geworfen und ihm beide Arme um die Beine geschlungen. Einar stürzte kopfüber. Die Luft wurde ihm aus den Lungen getrieben, und seine Zähne schlugen aufeinander, als sein Gesicht auf den Holzbohlen auftraf.

Der Angreifer hielt seine Beine fest. Einar war noch immer benommen, aber er wusste, dass er hier wegmusste. Er wand sich und trat zu. Der Angreifer hielt verbissen fest, aber es gelang Einar, den rechten Fuß loszureißen. Dabei verlor er den Schuh, der über den Bohlenweg rollte und im Unrat landete.

Einar trat hart zu, zweimal. Der Mann, der noch immer sein anderes Bein hielt, fluchte und ließ los. Einar warf einen Blick hinter sich. Die anderen hatten ihn fast erreicht.

Er rappelte sich auf und stolperte mit rudernden Armen vorwärts, versuchte verzweifelt, das Gleichgewicht wiederzuerlangen. Dann rannte er wieder, wobei sein nackter Fuß ständig auf dem feuchten Untergrund wegrutschte.

Hinter ihm donnerten seine beiden Verfolger über die Holzbohlen. Sie waren direkt hinter ihm. Er bereitete sich auf den nächsten Sturz oder den heißen Stich einer Waffe vor, die die letzte Dunkelheit bringen würde.

Ein Blick über die Schulter zeigte ihm, dass die Männer nur noch wenige Schritte entfernt waren. Ein Stück dahinter war der Mann, der ihn zu Boden gerissen hatte, auch wieder auf den Füßen und holte auf. Einar sah wieder nach vorn. Auf keinen Fall durfte er jetzt gegen eine Mauer laufen oder vom Bohlenweg stürzen.

Rutschend kam er zum Halt.

Ein kleines Stück voraus war eine Kreuzung. Sie wurde von vier flackernden Fackeln auf langen Stangen erleuchtet. Direkt in der Mitte, wo sich die Wege trafen, stand der Fremde mit der Kapuze aus der Schenke.

Er hielt einen gespannten Bogen, und die Eisenspitze des Pfeils zielte direkt auf Einar.

Kapitel 2

»Runter!«, rief der Fremde.

Tief in Einars Verstand blitzte etwas auf. Bevor ihm klar wurde, dass es Erkennen war, warf er sich wieder zu Boden. Der Pfeil surrte wie eine wütende Wespe über Einar hinweg.

Der Mann, der direkt hinter ihm war, hatte keine Chance.

Mit einem dumpfen Geräusch traf ihn der Pfeil mitten in die Brust, und er grunzte, während er noch ein paar Schritte weitertaumelte. Dann fiel er krachend auf die Holzbohlen, direkt neben Einar, der plötzlich in die bereits brechenden Augen des Franken blickte.

»Beim Blut Christi!« Osric kam rutschend zum Stehen, ebenso wie sein Gefährte.

Die grüne Kapuze wurde zurückgeschlagen. Langes, zu einem Zopf geflochtenes rotblondes Haar löste sich und wand sich wie eine Schlange auf ihrer rechten Schulter. Die Haut der Frau war so blass, dass sie in der Dunkelheit zu glühen schien. Die Brauen waren dunkel und gewölbt und hätten auch zu einer Katze gepasst. Ihre Schönheit ließ jeden Mann verharren. Ihr Bogen hatte noch größere Durchschlagskraft. Mit einer schnellen Bewegung hakte sie einen weiteren Pfeil ein, spannte die Sehne und zielte wieder auf die Straße.

»Affreca!«, sagte Einar.

Trotz der Situation versetzte ihm ihr Anblick einen seltsamen Stich.

»Bleibt, wo ihr seid, oder ihr seid tot«, rief Affreca den Männern zu.

Sie sprach Nordisch mit irischem Akzent. Selbst im Dämmerlicht konnte Einar die Verblüffung auf den Gesichtern der Sachsen sehen. Er rappelte sich wieder auf.

»An eurer Stelle würde ich mich nicht rühren.« Einar benutzte die Version der englischen Sprache, die er während seines Aufenthalts in Jorvik aufgeschnappt hatte. Es war eine Bastardsprache – hauptsächlich Sächsisch mit vielen nordischen Elementen –, aber sie war verbreitet genug, dass sich Angeln, Sachsen und Nordmänner in diesem geteilten Reich verständigen konnten. »Sie trifft einen flüchtenden Hasen auf hundert Schritte.«

Seine Verfolger wechselten einen Blick. Dann sprangen sie vom Bohlenweg, einer lief nach rechts, der andere nach links, und tauchten in die Dunkelheit zwischen den langen schmalen Häusern.

Affreca schoss. Osric stieß einen Schrei aus, verschwand aber trotzdem in der Finsternis. Affreca ließ einen weiteren Pfeil von der Sehne fliegen, der genau in dem Augenblick in die Ecke eines Hauses schlug, hinter der der andere Mann verschwand.

»Einen könntest du erwischt haben«, sagte Einar zu Affreca, als diese zu ihm lief. Sie spähten in die dunklen Gassen zwischen den Häusern auf beiden Seiten. Nichts bewegte sich dort.

»Ich weiß nicht, was in Hels Namen du in Jorvik zu suchen hast.« Einar breitete die Arme aus, nur um sie wieder sinken zu lassen und Affreca unbeholfen auf die linke Schulter zu schlagen. »Aber ich bin wirklich froh, dich zu sehen.«

Affreca hob die Brauen, dann schlang sie die Arme um ihn und drückte ihn fest. In Einars Lenden pochte das Blut. Er erwiderte die Umarmung und ließ schnell wieder los.

Aus der Gasse, in der Osric verschwunden war, drang ein Geräusch. Es klang, als wäre jemand über etwas gestolpert. Zwar gedämpft, aber es reichte, dass sie sich wieder auf die Situation konzentrierten. Die Dunkelheit jenseits der spärlichen Fackeln auf dem Bohlenweg bot jedem sich anschleichenden Angreifer perfekte Deckung. In diesem Augenblick konnten dort weitere Verfolger mit gespannten Bogen oder erhobenen Speeren lauern.

»Hier draußen ist es zu gefährlich«, sagte Affreca.

»Lass uns zurück zur Schenke gehen«, schlug Einar vor. »Meine Unterkunft ist zu weit weg.«

Sie stießen den toten Franken in die Gosse mit dem dreckigen Wasser. Einars Schuh befand sich irgendwo auf dem Grund des schwarzen Matsches, aber er hatte jetzt keine Zeit, ihn dort herauszufischen. Davon abgesehen, konnte er sich nicht dazu überwinden, in etwas herumzuwühlen, das nichts anderes als eine mit Abfällen verstopfte Kloake war.

Sie eilten zurück zur Schenke. Einars Harfe lag noch immer in ihrer Tasche, wo er sie auf dem Weg fallen gelassen hatte. Auf ihr beharrliches Klopfen reagierte Gorm zunächst mit der Forderung, sie sollten verschwinden. Als sie auf Einlass beharrten, wurden schließlich die Riegel lautstark zurückgezogen und die Tür geöffnet. Der breitschultrige Wirt mit dem großen Bierbauch stand vor ihnen, in der fleischigen Faust einen großen Holzknüppel, und wollte gerade die Forderung wiederholen, dass sie verschwinden sollten.

Beim Anblick Einars, dessen rechte Wange anschwoll und dem Blut aus der Kopfwunde übers Gesicht lief, blieben ihm die Worte im Hals stecken. Im nächsten Augenblick waren sie in der Schenke und die Tür hinter ihnen fest verriegelt.

Gorm führte sie zu einem Tisch in der Nähe des ersterbenden Feuers. Im Raum stank es immer noch nach den vielen Körpern, die sich dort zuvor gedrängt hatten. Der Geruch von Ale, Eintopf, Schweiß und feuchter Kleidung hing in der Luft, aber verglichen mit der Kälte und der Dunkelheit und den auf den Straßen lauernden Gefahren erschien Einar die Schenke wie Fólkvangr, Freyas himmlisches Reich, in dem ewiger Sommer herrschte.

Affreca sah ihn fassungslos an, als Einar ihr kurze Zeit später verriet, warum er in Jorvik war.

»Unterricht in der Dichtkunst?« Affreca verzog den Mund, als hätte er gerade einen üblen Furz gelassen. »Du hast Ulrichs úlfhéðnar verlassen, um Sänger zu werden?«

Einar zuckte mit den Schultern.

»In Jorvik lebt ein großer Skalde«, erklärte er. »Wenn ich berühmt werden will, muss ich noch viel lernen.«

Affreca kniff die Augen zusammen.

»Der Junge ist gut«, sagte Gorm und nickte in Einars Richtung. »Einer der besten Skalden, die wir je gehabt haben. Die Gäste lieben ihn.«

»Und Gorm bezahlt mich gut dafür, dass ich sie unterhalte«, sagte Einar. »So kann ich mir den Unterricht leisten, damit ich noch besser werde.«

Gorm, dessen kahler, mit Narben übersäter Kopf selbst von einem Leben voller Gewalt kündete, sagte: »Du siehst aus, als wärst du im Krieg gewesen, Junge. Die Straßen dieser Stadt sind nach Einbruch der Dunkelheit gefährlich. Es ist eine Schande, dass ehrliche Männer sie nicht benutzen können, ohne von Schurken und Dieben angegriffen zu werden.«

Einar schüttelte den Kopf.

»Die Männer haben mich gesucht. Ich bin sicher, dass zwei von ihnen Sachsen waren und einer ein Franke. Sie müssen für den Waffenhändler Ricbehrt arbeiten.« Er warf Affreca einen Blick zu. »Er will seine Schwerter zurück.«

»Die wir ihm in Irland gestohlen haben?«, fragte Affreca.

»Weißt du noch von anderen?«, gab Einar zurück.

»Ihr habt es ihnen bestimmt ordentlich gezeigt«, meinte Gorm.

»Meine Freundin hat vermutlich einen von ihnen getötet«, sagte Einar. »Wir haben ihn im Straßengraben zurückgelassen.«

Gorm verzog das Gesicht. »Dann habt ihr etwas zu trinken verdient. In meinen Augen ist Sachsen zu töten kein Mord. So, wie sie sich heutzutage über uns erheben, überrascht es mich, dass nicht mehr von ihnen in einem Graben enden. Aber deswegen wird es Ärger geben. Wenn man die Leiche findet, werden die Männer des Jarls in der Stadt umherstreifen wie Hunde auf der Fuchsjagd. Ich hole uns einen Krug Ale.«

Affreca schüttelte den Kopf.

»Also singt der Sohn des Schädelspalters jetzt für Münzen in einer Schenke?«, sagte sie verächtlich. »Wir waren der Meinung, du wärst hier, um mehr über das Kriegerhandwerk zu lernen. Oder um Verbündete für die Rache an Jarl Thorfinn zu finden. König Æthelstan von Wessex stellt ein Heer auf, das nach Norden marschieren soll. Wir haben gedacht, dass du dies vielleicht als Möglichkeit siehst, dir zu holen, was rechtmäßig dir gehört: das Jarltum von Orkney.«

Einar runzelte die Stirn. »Ich weiß nichts von Æthelstan. Davon abgesehen, wie sollte ich Orkney erobern? Ich würde mein eigenes Heer brauchen. Jarl Thorfinn ist zu stark. Ich kann nicht mein Leben mit der Hoffnung verschwenden, dass ich ihm eines Tages gegenübertreten kann.«

Er sah ihren Gesichtsausdruck und wurde knallrot.

»Es gibt außer dem Kampf noch andere Möglichkeiten, um Ruhm zu erringen.« Zur Abwechslung strömten die Worte aus seinem Mund, ohne dass ihm sein Kopf im Weg war. »Odin hat mir die Gabe der Dichtkunst verliehen. Damit kann ich mir einen Namen machen. Und dieser Ruhm wird so lange andauern wie der eines jeden Kriegers.«

Affreca schnaubte. »Und was ist mit der Ehre, Einar? Was ist mit der Rache?«

»Rache wofür?« Die Scham, die ihn hatte erröten lassen, verwandelte sich in Wut. »Thorfinn hat meine Mutter nicht ermorden können, nicht wahr?«

»Er hat es versucht. Er hat versucht, uns alle zu töten.«

»Und wir haben die Männer getötet, die er dazu losgeschickt hat. Einschließlich seines Sohnes – mein eigener Halbbruder Hrolf. Falls du das vergessen haben solltest.«

»Glaubst du, Thorfinn wird einfach so aufgeben? Er ist dort draußen und sucht nach dir. Willst du einfach darauf warten, dass er kommt und dich erwischt?«

Einar seufzte. Die Aufregung nach den Geschehnissen dieser Nacht ebbte ab und hinterließ eine tiefe Müdigkeit. Es war Zeit, zur Sache zu kommen. Er fixierte sie mit seinem Blick. »Warum bist du wirklich hier, Affreca?«

Kapitel 3

Affreca blickte sich um und vergewisserte sich, dass sie keine Zuhörer hatten. Dann sagte sie: »Du hast doch Zutritt zum Königshof von Jorvik, richtig?«

Einar kniff die Augen zusammen. »Wie lange hast du mich beobachtet?«

»Ein paar Tage.«

»Ohne dich zu erkennen zu geben? Was, im Namen von Hels Königin, hast du vor?«

Affreca beugte sich über den Tisch. Zorn funkelte in ihren Augen. Einar konnte den Blick nicht von ihnen abwenden.

»König Erik hat uns für eine wichtige Aufgabe hergeschickt, für die wir in den Königshof müssen«, zischte sie durch die zusammengebissenen Zähne. »Gestern habe ich das Tor beobachtet, und wen sehe ich da reinspazieren? Dich!«

Sie pochte mit dem Zeigefinger auf seine Hand.

»Eyvind Finnsson, mein Lehrer, ist der Skalde von Hakon Haraldsson.« Zu seiner Überraschung ließ selbst ihre feindselige Berührung sein Herz erbeben. »Hakon herrscht vom Königshof aus über Jorvik. Ich bekomme dort meinen Unterricht.«

»Hakon ist nur der Schoßhund der Sachsen.«

Bei Gorms Stimme drehten beide den Kopf. Der Wirt war mit einem Krug Ale und drei Bechern zurückgekehrt.

»Æthelstan kommandiert ihn herum wie einen Hausdiener. Dass ein Sohn von Harald Schönhaar von Norwegen die eigenen Leute als Thralle hält! Es ist eine Schande. Ich mache die Religion dafür verantwortlich.«

»Eyvind Finnsson ist dein großer Lehrer?«, fragte Affreca.

Einar nickte und genoss den Stolz, den er verspürte, dass er mit einer solchen Berühmtheit in Verbindung gebracht wurde. »Du hast von ihm gehört?«

»Ja.« Affreca lächelte amüsiert. »Nennt man ihn nicht auch Eyvind Skáldaspillir? Eyvind den ›Skaldenverderber‹?«

Einar verschränkte die Arme. »Das mag schon sein. Aber nur die, die noch keinen seiner Auftritte erlebt haben.«

»Einst war er ein großer Dichter, davon habe ich gehört«, sagte Affreca. »Bevor ihm das Ale das Hirn vernebelt hat. Ist er heute nicht hauptsächlich dafür bekannt, dass er die Werke anderer vorträgt und dabei ruiniert?«

Einar seufzte. »Vielleicht hat er seine besten Tage hinter sich, ja. Aber er ist der Beste, den ich mir leisten kann.«

Er richtete den Blick auf den Tisch und war plötzlich begierig, das Thema zu wechseln.

»Also seid ihr zu König Erik Blutaxt gereist?«, sagte er. »Wie ist er denn so?«

Einar hatte Affreca, Ulrich, Skar und den Rest der überlebenden Wolfsmäntel aus Ulrichs Mannschaft das letzte Mal vor Monaten auf den Färöern gesehen, dieser kleinen Inselgruppe besiedelter Felsen, die auf halbem Weg zwischen Island und Norwegen in der Nordsee lag. Nach dem Kampf mit Thorfinns Männern auf dem Hof von Einars Mutter hatten sie Island zusammen verlassen. Obwohl es gefährlich war, im Winter zu reisen, hatte Ulrich unbedingt zu König Erik nach Norwegen zurückkehren wollen, um mit seinem Herrn Frieden zu schließen, bevor ihm jemand zuvorkommen konnte – vor allem Jarl Thorfinn von Orkney. Einar hatte dagegen nichts einwenden können. In Island war er für die nächsten beiden Jahre ein Gesetzloser, also musste er das Land so schnell wie möglich verlassen.

Goði Hrapp, sein neuer Stiefvater, hatte Mitgefühl mit ihm. Aber das Gesetz war nun einmal das Gesetz, und Hrapp war auch der Häuptling des Bezirks. Er konnte keinen Gesetzesbrecher unter seinem Dach aufnehmen. Also hatte sich Einar den úlfhéðnar auf ihrem Langschiff angeschlossen.

Schlechtes Wetter hatte sie die Reise auf den Färöern unterbrechen lassen. Dort hatten sie als Gäste eines Edelmanns im Haus festgesessen und den ganzen Tag nichts anderes tun können, als zu trinken und zu singen. Dabei hatte Einar sich mit einem alten Skalden angefreundet.

Du bist der beste Sänger, den ich seit Jahren gehört habe, Junge, hatte der alte Mann gesagt. Besser als ich in deinem Alter. Du könntest es weit bringen und dir wirklich einen Namen machen.

Er hatte Einar erzählt, dass der berühmte Skalde Eyvind Finnsson in der Stadt Jorvik in Britannien lebte und der junge Mann bei ihm Unterricht nehmen sollte. Und als der Sturm aufgehört hatte, hatte Einar von den úlfhéðnar Abschied genommen. Er war an Bord eines Handelsschiffes gegangen, das nach Britannien unterwegs war, während Ulrich sein Langschiff nach Norwegen steuerte.

Affreca zog die Mundwinkel nach unten. »König Erik? Er ist viele Winter alt, aber noch immer stark. Er ist von großem Wuchs und sieht gut aus, so wie man es sich von seinem Vater Harald erzählt. Aber er ist mürrisch. Er sagt nicht viel. Nicht, dass das überraschend wäre. Er ist von Feinden umgeben. Er hat zwei Halbbrüder, die der Ansicht sind, sie hätten einen größeren Anspruch auf den Thron als er. Einige seiner Jarle widersetzen sich offen seiner Herrschaft. Im Land braut sich eine Rebellion zusammen.«

»Ich habe gehört, dass das Eriks eigene Schuld ist. Hier in Jorvik heißt es, dass er ein harter Herrscher ist. Sogar ungerecht. Dienst du gern so einem König?«

Affreca verzog das Gesicht, als wollte sie sagen: Was hat das mit mir zu tun?

»Seine Frau ist auch ein echtes Miststück«, fuhr sie fort. »Ein Albtraum von Frau.«

Einar hob die Brauen.

»Doch, das ist sie. Sie ist viel jünger als er. Und sie ist eine seiðkona. Eine Zauberin. Sie wurde in irgendeinem weit entfernten, seltsamen Königreich im Norden von Schamanen der Sami großgezogen. Das hat ihren Verstand verdreht, das schwöre ich. Odin allein weiß, was sie ihr angetan haben.«

»Wir, hast du gerade gesagt?«, griff Einar ihre früheren Worte auf. »Hast du dich also Ulrichs Mörderbande angeschlossen?«

Die Andeutung eines Lächelns huschte über Affrecas Lippen. Einar sehnte sich danach, sich über den Tisch zu beugen und sie zu küssen. Plötzlich wurde ihm bewusst, wie einsam er gewesen war, obwohl Jorvik eine so lebendige Stadt voller Menschen war. Er hatte sie vermisst. Und den Rest von Ulrichs Mannschaft auch.

»Ulrich hat gesagt, ich hätte vielleicht Potenzial«, antwortete sie.

»Wo sind denn die anderen?«, wollte Einar wissen.

»Sie haben mich als Kundschafterin ausgesandt«, sagte Affreca. Er konnte sehen, wie stolz sie war, eine solche Verantwortung bekommen zu haben. »Sie waren der Ansicht, dass ich allein nicht so auffällig bin.«

Einar nickte. Das ergab Sinn. Auch wenn sie nur noch zu siebt waren, hätte die Ankunft einer Gruppe Wolfsmäntel in der Stadt Aufsehen erregt. Elitekrieger des Königs von Norwegen würden von den derzeitigen sächsischen Herrschern von Jorvik nicht willkommen geheißen werden.

Gorm schenkte drei Becher Ale ein.

»Gorm«, sagte Einar und legte dem Wirt die Hand auf die Schulter. »Ich möchte dir jemanden vorstellen. Das ist …«

Ein heftiger Tritt traf sein Schienbein, und er zuckte zusammen.

»Schon in Ordnung«, sagte er zu Affreca. »Gorm können wir vertrauen. Das kann ich dir versprechen. Wir haben bereits einiges zusammen durchgestanden.«

Der Wirt grinste und zeigte ein paar Zahnlücken. »Einar unterhält hier nicht nur die Gäste. Wenn es Ärger gibt, hilft er mir, die Störenfriede rauszuwerfen. Ich weiß, dass er der Bastard von Thorfinn Schädelspalter ist. Bei Thors Eiern, ich habe erlebt, wie er an ein paar wilden Abenden ein paar Schädel aneinandergeschlagen hat.«

Beide Männer kicherten.

»Und das ist Prinzessin Affreca Ui Imair«, fuhr Einar fort.

»Eine Irin?« Gorm hob die Brauen. »Deinem Aussehen nach hast du wie wir viel nordisches Blut in dir. Du musst aus Dublin kommen. Oder vielleicht Limerick?«

Affreca nickte.

»Es tut mir leid, aber ich kenne mich nicht gut mit der Namensvergabe der Iren aus«, sagte der Wirt. »Wir benennen die Leute nach ihrem Vater.«

»Das ist in ihrem Land auch so«, erklärte Einar. »Allerdings verrät dir in diesem Fall das ›Ui‹, wer ihr Großvater war.«

»Imair?« Gorm sah verwirrt aus, dann riss er die Augen weit auf. »Ivar? Bist du mit den Ivarssons verwandt?«

Affreca nickte zögernd. »Ich bin Affreca Guthfrithsdottir. Mein Vater war Guthfrith Mac Sitric Ui Imair, der König von Dublin.«

Mit noch immer weit aufgerissenen Augen sah der Wirt Einar an, um sich das bestätigen zu lassen. Der junge Mann nickte.

»Das ist in der Tat eine Ehre.« Gorms Stimme war zu einem atemlosen Flüstern geworden. »Es tut mir so leid! Ich habe mein übliches Ale gebracht. Bitte, lass mich dir mein bestes bringen.«

Trotz ihres verwirrten Ausdrucks riss er ihr den Becher aus der Hand und goss den Inhalt zurück in den Krug.

»Oder möchtest du lieber Wein?«

»Ale ist in Ordnung«, sagte sie.

»Dein Vater hat für kurze Zeit auch über Jorvik geherrscht«, sagte Gorm. »Er war unser letzter nordischer König. Seit Æthelstan ihn vertrieben hat, stehen wir unter der Knute der Sachsen. Oder vielmehr der Engländer, wie uns Æthelstan befohlen hat, sie zu nennen. Für eine Ivarsson ist es hier gefährlich. Aber keine Sorge!« Er tippte sich an die Nase. »Meine Lippen sind versiegelt. In meiner Schenke bist du sicher.«

»Danke«, sagte Affreca. »Mein Vater hat nur wenige Monate über Jorvik geherrscht. In Irland wurde gescherzt, er wollte hier nur nach dem Tag fragen, um dann wieder nach Hause zu fahren. Natürlich hat keiner gewagt, ihm das ins Gesicht zu sagen.«

Gorm schaute betrübt drein. »Und wie ich gehört habe, ist Guthfrith nun tot. Mein Beileid zum Verlust deines Vaters.«

Affreca nickte, dann sah sie nachdrücklich in ihren leeren Becher.

»Ich hole dir etwas zu trinken.« Gorm verstand den Wink.

»Ich hätte nichts gegen etwas Wein einzuwenden«, meinte Einar.

»Im Gegensatz zu ihr bist du kein Nachfahre von Ragnar Lodbrok«, sagte der Wirt und begab sich in seinen Lagerraum. »Du bekommst das Ale, das alle trinken.«

Einar legte die Hand auf Affrecas, die auf der Tischplatte lag.

»Es tut mir leid, das mit deinem Vater zu hören«, sagte er. »Ich habe nicht gewusst, dass er gestorben ist.«

Affreca rümpfte die Nase und entzog ihm ihre Hand. »Der Mistkerl wollte uns beide umbringen, schon vergessen? Es tut mir nur leid, dass ich ihn nicht selbst töten konnte.«

»Vielleicht bekommst du ja deine Chance darauf in Walhalla.«

»Das bezweifle ich. Wie ich gehört habe, ist er in seinem Bett am Schweißfieber gestorben. Die Walküren werden ihn nicht aus einem Haufen in der Schlacht gefallener Krieger erwählt haben.«

»Heißt das, du könntest jetzt die Königin von Dublin sein?«

Affreca schüttelte den Kopf. »Von Rechts wegen wird das Königreich an meinen Bruder Olaf gehen.«

»Ich wusste gar nicht, dass du einen Bruder hast.«

»Ich habe sogar vier. Eigentlich sind es Halbbrüder. Und ich sollte sagen, dass ich vier hatte. Zwei von ihnen sind tot. Und Olaf hat den größten Teil seines Lebens im Norden verbracht. Er wurde von den Ui Neills großgezogen. Das ist eine alte irische Tradition. Aber genug von meiner Familie.« Sie beugte sich wieder über den Tisch. »Sag mir, als du im Königshof warst, hast du da je ein Banner gesehen? Ein Feldzeichen mit einem Raben darauf?«

Einar runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. »Nicht, dass ich wüsste. Aber der Königshof war einst die Residenz der Könige von Jorvik. Die Wände sind mit Wandteppichen und Bannern nur so gepflastert. Es sind so viele, dass ich mir nicht sicher sein kann.«

Gorm kehrte mit einem neuen Becher Ale für Affreca zurück. Einar blieb nicht verborgen, dass es viel klarer als die dicke, abgestandene Flüssigkeit in seinem Becher war.

»Was ist an diesem Banner so Besonderes?«, wollte er wissen. »Warum ist ein Rabe darauf?«

»Ihr sprecht vom Rabenbanner?« Gorms Tonfall war andächtig.

»Du hast davon gehört?« Affreca richtete die Aufmerksamkeit auf den Schankwirt.

»Natürlich«, sagte Gorm stolz. »Einst bin ich dahinter marschiert. Ich war Krieger in Diensten von König Sitric, damals, als wir noch von nordischen Königen beherrscht wurden und nicht den Sachsen. Glaubst du, ich habe diese Narben auf meinem Kopf nur von Besoffenen, die ich aus meiner Schenke werfe?«

»Was ist so besonders an diesem Banner?«, fragte Einar erneut.

»In alten Zeiten hat Odin es höchstpersönlich an König Wölsung übergeben«, sagte Affreca so geduldig, als müsste sie es einem Kind erklären. »Man nennt es auch den Landverheerer, denn wenn es entfaltet wird, wird völlige Zerstörung auf das Land losgelassen. Es war ein Schatz meines Clans.«

»Es bringt jedem Heer, das dahinter kämpft, den Sieg«, sagte Gorm. »Es wurde an Ragnar Lodbrok weitergereicht, und er gab es seinem Sohn Ivar. Guthfriths Heer führte es mit sich, als er um Jorvik kämpfte. Es trägt eine mächtige Magie in sich.«

»Es ist verschwunden«, sagte Affreca. »Mein Vater hat es hier in Jorvik verloren, als die Stadt an Æthelstans Heer fiel.«

Gorm blickte finster drein. »Das ist doch Unsinn. Æthelstan hat nicht um diese Stadt gekämpft. Es gab keine Schlacht. Seine Männer haben sich reingeschlichen, statt die Stadt zu stürmen. Sie haben sie geplündert, und wenn du mich fragst, gehörte dieses Banner zu der Beute. Æthelstan herrscht nun wie der schlimmste Tyrann über uns. Er hat uns Hakon Haraldsson als Jarl vor die Nase gesetzt, weil er glaubt, wir würden uns dann weismachen lassen, von einem Nordmann regiert zu werden. Aber alle wissen, dass Æthelstan seine Leine hält. Im Augenblick ist es schlecht, hier ein Nordmann zu sein. Die Sachsen herrschen über uns. Wir müssen die Köpfe unten halten. Wir können nicht einmal unseren Glauben in der Öffentlichkeit ausüben. Ich kann mich noch an die Tage erinnern, in denen jeder Laden oder jedes Haus in dieser Straße einen Götterpfahl vor der Tür stehen hatte, an dem ein geopfertes Tier hing. Eine stolze Zurschaustellung des starken Glaubens des Besitzers. Jetzt müssen wir uns aus der Stadt schleichen, nur um unseren Bräuchen nachzugehen. Wisst ihr, dass er das jól-Fest verbieten will?«

Affreca hob die Brauen.

»Ja!« Gorm begann sich für sein Thema zu erwärmen. Er pochte bei jedem Wort mit dem Finger auf die Tischplatte, um es zu unterstreichen. »Diesen Winter könnte das letzte jól-Fest hier gewesen sein. Stattdessen will er, dass sein Gott gefeiert wird. Wir sollen es die Christmesse nennen. Ich sage euch eines: Mir ist egal, wer auf dem Thron sitzt. Sie werden mich nicht davon abhalten, jól zu feiern. Beim nächsten Mittwinter werden wir in meinem Haus Geschenke austauschen und trinken und essen, bis wir platzen, so wie es unsere Vorväter zu jól getan haben, seit Odin ein Junge war.«

»Ich bin hier, um das Rabenbanner zu holen«, sagte Affreca. »König Erik setzen seine Feinde zu. Einige sind stark. Seine Frau hat ihn davon überzeugt, dass er die Magie dieses Banners braucht, wenn er überleben will. Er ist davon besessen. Falls Æthelstan es erbeutet hat, muss es irgendwo im Königshof sein. Einar, du bekommst dort deinen Unterricht. Wirst du mir helfen, es zu holen?«

»Also heißt es jetzt ich und nicht mehr wir?« Einar schob die Unterlippe vor. »Sollten wir nicht auf Ulrich und die anderen warten?«

»Wenn wir es bei ihrer Ankunft bereits besitzen, wird Ulrich bestimmt beeindruckt sein, glaubst du nicht?«

»Du willst wohl um jeden Preis zu seiner Mannschaft gehören, was?«

Affreca schnaubte und schaute weg.

»Was bleibt mir denn sonst übrig? Nach Hause reisen und heiraten? Wenn du mir hilfst, könnte das möglicherweise auch dein Ansehen bei Ulrich steigern. Möglicherweise vergibt er dir sogar, dass du uns verlassen hast.«

Einar verschränkte die Arme und schüttelte den Kopf. »Wie schon gesagt, ich bin hier, um zu lernen, wie man ein besserer Skalde wird. Du bittest mich, dir dabei zu helfen, dem Herrn meines Lehrers etwas zu stehlen. Jemand, der mich in seinem Haus willkommen geheißen hat. Es wäre ein Bruch der Gastfreundschaft.«

Affreca sah ihn lange an, dann stand sie auf.

»Werde erwachsen. Dein Traum von der Dichtkunst ist Unsinn«, sagte sie. »Gegen Thorfinn zu kämpfen ist dein Schicksal. Früher oder später wird es geschehen, ob du es willst oder nicht. Und wenn der Augenblick gekommen ist, würde ich an deiner Stelle lieber an der Seite einiger der besten Krieger in Midgard stehen – Ulrichs úlfhéðnar –, als allein und nur mit einer Harfe bewaffnet. Gute Nacht.«

Sie ging zur Tür, schob die Riegel zurück und verließ die Schenke.

»Sei vorsichtig«, rief Einar ihr nach. »Ricbehrts Männer könnten sich noch immer dort herumtreiben.«

Als sich die Tür hinter Affreca schloss, stieß Gorm einen leisen Pfiff aus.

»Mögen die Götter denjenigen beistehen, denen sie dort draußen begegnet«, sagte er. »Sie ist wütend.«

Kapitel 4

Jarlshof, Festung des Jarls von Orkney

Orkney

Gizur Kalfsson kaute auf der Unterlippe herum. Seine Hände waren zu Fäusten geballt, die Knöchel traten weiß hervor. Seine Handflächen waren verschwitzt. Sein Herz schlug schnell, aber er kämpfte mit aller Macht darum, so ruhig wie möglich auszusehen. Wie bei einem wütenden Hund durfte man sich auch vor Jarl Thorfinn seine Furcht unter gar keinen Umständen anmerken lassen.

Doch Gizur hatte schreckliche Angst.

Er hatte Jarl Thorfinn in der Hitze der Schlacht erlebt, wenn den Mann der Zorn überkam. Es flößte einem zugleich Ehrfurcht und Entsetzen ein, wenn man Zeuge wurde, wie der große Mann seine Axt schwang, Helme und die darunter liegenden Köpfe spaltete, Gliedmaßen abtrennte und Waffen zerschmetterte, während in seinen Augen Mordlust und Wahnsinn flackerten und Speichel in seinem Bart klebte. Allerdings war das nicht so besorgniserregend wie die derzeitige Stimmung des Jarls.

Wenn Gizurs Herr wirklich wütend war, brüllte er nicht. Er wurde ganz leise.

Gizur diente dem Jarl jetzt seit etwas länger als einem Monat als sein Hauptmann, aber er gehörte schon seit Jahren zum Haushalt. Er wusste nur zu gut, dass die derzeitige Stille des Jarls wie die seltsame Ruhe war, die die Wogen der See befällt, bevor der Sturm hereinbricht.

Thorfinn Rögnvaldsson, Jarl von Orkney und Herr der Wikinger, besser bekannt als Hausakljúfr, saß am Kopf seiner langen Festhalle auf seinem Hochsitz. Abends dröhnte die Halle vor Wärme, Aktivitäten und Lärm. Auf den Bänken saßen dicht gedrängt die Krieger und anderen Bewohner des Jarlshofes, Thorfinns Festung, die hinter ihren Wällen erleuchtet war, oben auf der Halbinsel, die von der Hauptinsel der Orkneys weit hinaus in die Nordsee ragte. Feuer loderten in langen Gruben, und die Tische bogen sich unter den Platten mit Brot, Fleisch und Fisch. Die lautstarken Unterhaltungen wetteiferten mit der Musik und den Darbietungen der Skalden, die versuchten, sich auf dem Podest, auf dem auch der Hochsitz des Jarls stand, Gehör zu verschaffen.

Jetzt am Morgen war die Halle so still wie der finster brütende Jarl. Die Bänke waren leer, und in den Feuergruben lag nur noch Asche. Die Fackeln waren verloschen, im Saal herrschte Zwielicht, und in der Luft lag der süßliche Geruch von altem Rauch, kaltem Fett und abgestandenem Bier.

Der Jarl saß auf seinem Podest, als wäre er Odin, der von seinem Thron Hliðskjalf über die Welt wachte. Gizur stand davor und schaute zu ihm hinauf. Thorfinn saß vorgebeugt da, die Arme auf den Knien verschränkt, die Stirn gerunzelt, während er die Binsen am Boden betrachtete. Er war ein großer Mann, der trotz seiner beinahe fünfzig Winter noch immer kräftig und ausdauernd war. Sein wolfgraues Haar war glatt gekämmt und fiel ihm bis auf die Schultern. Bart und Augenbrauen hatten ihre ursprüngliche dunkelbraune Farbe bewahrt, und sie rahmten die scharf geschnittenen Züge seines schmalen Gesichts ein. Er war in Felle und Robbenhaut gehüllt, als wollte er auf eine winterliche Seereise gehen.

Neben Gizur stand der Händler Kari Reffsson. Kari hatte gerade den Bericht über seinen kürzlichen Besuch in Island beendet. Seine Worte hatten Thorfinn in diese Stimmung versetzt.

Das einzige Geräusch war das Gänsehaut verursachende Kratzen von Stein auf Metall. Neben dem Hochsitz des Jarls stand die hagere Gestalt von Thorfinns galdr maðr Vakir. Vakir war so groß wie der Jarl, aber wo Thorfinn breite Schultern hatte und muskulös war, seine Oberschenkel an die Menhire auf der nes erinnerten, war der galdr maðr dünn und schmal wie eine Birke im Winter und bestand nur aus Haut und Knochen. Oben auf dem Kopf war er kahl, aber ein Kranz aus schlaffen weißen Haaren hing bis auf seine Schultern. Seine Aufgabe bestand darin, die heiligen Bräuche auszuführen – Rituale und Opfer –, aber so mancher auf dem Jarlshof hielt ihn für einen seiðmaðr, der dunkle Zauber wirkte.

Vakir leckte sich die Lippen, während er einen Wetzstein über die lange Schneide einer Axt schob. Thorfinn wollte einen Stier opfern, um die Gunst der Götter zu erlangen. In Kürze würden sie im Herz des Winters über die nördliche Walstraße segeln. Dabei würden sie alle Hilfe brauchen, die sie bekommen konnten.

Allerdings hatte der Händler die Reise gerade hinter sich gebracht und war genau in dem Augenblick eingetroffen, in dem der Stier aus seinem Gehege geführt wurde. Als Thorfinn gehört hatte, dass er in Island gewesen war, hatte er ihn in die verlassene Halle bringen lassen, wo er ihn weitab von neugierigen Ohren befragen konnte.

Endlich sah der Jarl auf. Beim Anblick der zwei glühenden Augen, die sich auf den Händler richteten, bekam Gizur eine Gänsehaut.

»Du willst also nichts gesehen haben?«, sagte Thorfinn. Seine für gewöhnlich dröhnende Stimme ähnelte jetzt dem leisen Knurren der riesigen zotteligen Wachhunde, die auf dem Gelände des Jarlshofes umherstreiften. »Ich habe zwei Schiffe mit meinen besten Männern losgeschickt. Mein Sohn Hrolf war bei ihnen. Und du sagst, dass es keine Spur von ihnen gibt? Niemand hat sie gesehen?«

Gizur wurde sich bewusst, dass der Händler keine Ahnung von dem Zorn hatte, der im Jarl brodelte, was seine Nervosität noch steigerte.

»So ist es«, sagte Kari. »Alle Einheimischen haben gesagt, dass seit dem vergangenen Sommer niemand mehr von Orkney da war.«

Der Händler war ein Norweger, der sein Handwerk von Dublin im Westen bis nach Haithabu im Osten ausübte. Genau wie der Jarl und Gizur war er für eine Winterreise gekleidet, aber sein geöffneter Mantel enthüllte das auffällige rote Hemd darunter, was typisch für die Kleidung weit gereister Männer war. Er war gerade auf Orkney eingetroffen, nachdem er den Isländern Holz und Wein ver- und ihnen Robbenhäute, Walrosselfenbein und Walblubber abgekauft hatte, mit denen er auf Orkney und den Hebriden handeln wollte. Dort beabsichtigte er, Wolle zu kaufen, die er dann auf der Rückreise nach Norwegen unter die Leute bringen wollte. Und in jedem Hafen würde er mehr Silber verdienen. Gizur war etwas neidisch. Das war ein ehrloser, aber beständiger Weg zum Reichtum, vor allem wenn man ihn mit dem verglich, den er selbst gewählt hatte. Er war ein Krieger – ein hirðmaðr, einer der auserwählten Männer des Jarls. Sein Schicksal würde Ruhm oder Tod sein. Vielleicht auch beides.

Als er von der Ankunft des Händlers im Hafen gehört hatte, wusste er, dass der Jarl ihn sofort würde sehen wollen. Seit Thorfinn seine Männer mit ihrem Mordauftrag nach Island geschickt hatte, war mehr als genug Zeit für die Hinreise, die Durchführung des Auftrags und die Rückreise vergangen. Mittlerweile hätten sie längst wieder da sein müssen.

Der Jarl strich mit der rechten Hand über den großen Holzpfosten an der rechten Seite seines Stuhls. Gizur hatte ihn schon oft dabei beobachtet. Das Holz war von der ständigen Berührung ganz glatt. Der Pfosten war mit vierzehn Nägeln gespickt, die in unterschiedlicher Höhe hineingehämmert worden waren. Es handelte sich um große, rechteckige Nägel, wie man sie für den Schiffsbau benutzte. Als sich die Hand darüber bewegte, trafen die goldenen Ringe des Jarls klirrend auf die Eisennägel. Der drittunterste Nagel ragte zur Hälfte aus dem Holz. Thorfinn hielt inne, als er ihn mit der Hand berührte, und strich wieder nach oben.

»In Island gibt es eine irische Frau, Unn Kjartansdottir«, sagte Thorfinn. »Bist du überhaupt auf ihrem Hof gewesen? Bist du ihr begegnet?«

Gizur wusste genau, dass der Jarl seine Stimme nur mit größter Mühe so desinteressiert klingen ließ. Als der Händler kurz hämisch grinste, runzelte er die Stirn.

»Ich habe gesehen, wo sie gewohnt hat«, antwortete Kari. »Ihr Hof ist nur noch eine ausgebrannte Ruine. Dort lebt keiner mehr.«

Thorfinn und Gizur wechselten einen Blick.

»Dort hat es gebrannt, wie mir die Einheimischen erzählten. Ein schrecklicher Unfall. Die Frau ist in den Flammen gestorben.«

»Das hat man erzählt?«, sagte der Jarl. »Und die Schiffe haben sie nicht erwähnt, die ich geschickt habe? Meinen Sohn Hrolf?«

Kari schüttelte den Kopf. Wieder zeigte sich auf dem Gesicht des Händlers dieses seltsame Lächeln. Dieses Mal war Gizur nicht der Einzige, der es bemerkte. Thorfinn erhob sich von seinem Sitz. Gizurs Magen verkrampfte sich.

»Dich scheint etwas zu amüsieren?«, fragte der Jarl.

Kari lächelte breit. »Die Einheimischen haben mir von deinem anderen Sohn erzählt. Dem Bastard. Sie fanden es witzig, dass er die ganze Zeit dort gelebt hat, ohne dass jemand wusste, dass er der Sohn des mächtigen Thorfinn Hausakljúfr ist.«

Die Brauen des Jarls schossen in die Höhe. Der Galdr-Mann hielt darin inne, die Axt zu schärfen.

»Ach, das haben sie? Ordentlich darüber gelacht?«, sagte Thorfinn.

»Nein, überhaupt nicht. Versteh mich nicht falsch.« Der norwegische Händler hob beschwichtigend die Hände. »Es ist nichts, weswegen man sich schämen müsste. Meiner Meinung nach macht es einen Mann nur noch mehr zu einem Mann, wenn er noch ein paar andere Kinder hat. Ich habe selbst ein paar Bastarde in verschiedenen Häfen.«

»Ach, wirklich?«, fragte der Jarl. »Und was hält deine Frau davon?«

»Meine Frau?« Der Händler breitete die Arme aus und kicherte. »Welche? Davon abgesehen, würde eine von ihnen versuchen, mir zu sagen, was ich zu tun habe, würde ich sie wieder in die Sklaverei schicken, aus der ich sie gekauft habe.«

»Ja.« Thorfinns Lächeln erstarrte. »Im Gegensatz zu meiner Frau, der Nichte des Königs der Schotten. In deinem Haus wird ein Streit keinen Krieg auslösen. Vakir?«

Der Jarl streckte die Hand aus. Als würde er seine Gedanken lesen, reichte ihm der dünne seiðmaðr die geschärfte Axt.

»Weißt du, wofür diese Nägel stehen, Kari?« Wieder ließ Thorfinn die Goldringe über die Nagelköpfe rattern, während er die Axt in der anderen Hand hielt.

»Natürlich.« Der Händler nickte. Diese Gewohnheit teilten alle großen Männer. »Es sind Götternägel. Jeder steht für einen Schwur, den du vor den Göttern abgelegt hast.«

»Vor den Göttern …«, sagte Thorfinn. »Leiste ich einen Schwur, wird ein Nagel zur Hälfte ins Holz gehämmert, und Vakir hier weiht ihn im Namen einer der Götter. Wurde der Schwur erfüllt, wird der Nagel ganz hineingeschlagen. Jeder dieser Nägel steht für einen besiegten Feind, ein erobertes Land oder einen getöteten Mann, ein erfülltes Versprechen an die Götter. Siehst du den da?«

Der Zeigefinger des Jarls verharrte auf dem Nagel ziemlich weit unten am Pfahl, der zur Hälfte aus dem Holz ragte.

»Das ist der Einzige, den ich nie ganz einschlagen konnte. Weißt du, wofür er steht?«

Kari schüttelte den Kopf. Verwirrt sah er Gizur an.

»Da habe ich geschworen, Unn Kjartansdottir zu töten«, sagte der Jarl. »Vor vielen Jahren. Sie war meine Bettsklavin. Ich habe sie gut behandelt. Sie lief fort. War mit meinem Bastardsohn schwanger. Und jetzt sagst du mir, dass sie tot ist.«

»Also kannst du den letzten Nagel einschlagen?« Kari erschien verwirrt.

Gizur verzog das Gesicht.

»Ich habe geschworen, ich würde sie töten!«, brüllte Thorfinn. Die plötzliche Veränderung seines Verhaltens ließ sowohl Kari wie auch Gizur zusammenzucken. »Du sagst, sie sei bei einem Unglück gestorben! Ein sehr praktisches Unglück! Wie kann ich das als meinen Verdienst beanspruchen? Was werden meine Feinde darüber sagen? Diese Schafficker in Island lachen mich bereits deswegen aus. Und was in aller Welt wird König Erik Blutaxt sagen, wenn er davon hört?«

Vom Zorn des Jarls eingeschüchtert, duckte sich der Händler zusammen und hob schützend die Arme, als wären die Worte ein körperlicher Angriff gewesen. Er stieß ein leises Wimmern aus.

»Mach nicht mich dafür verantwortlich. Ich bin nur der Bote.«

Thorfinns rechte Braue schoss bis beinahe zum Haaransatz empor.

»Ja, das bist du, nicht wahr?«, sagte der Jarl.

Mit zwei schnellen Schritten stand er am Rand des Podests und sprang auf den Boden. Er landete direkt vor dem Händler und schwang die Ritualaxt mit beiden Händen über den Kopf.

Der Jarl brüllte, der Händler schrie, und die Axt fuhr durch die Luft und machte dabei ein Geräusch wie ein flatternder Schwan. Die Schneide traf Kari über dem Nasenrücken in die Stirn. Sie zerschlug Fleisch, Knochen und Gehirn und spaltete den Kopf des Händlers in der Mitte in zwei saubere Hälften. Die Schneide verharrte erst, als sie das Rückgrat traf. Das entsetzte Kreischen des Mannes verwandelte sich in ein ersticktes Gurgeln, als er starb. Er sank auf die Knie, noch immer gehalten von der Axt in seinem Kopf.

Thorfinn betrachtete sein Werk, dann grunzte er. Er lächelte schmal, stemmte den Fuß gegen die Schulter des toten Händlers und zerrte die Axt aus seinem Schädel. Die Leiche kippte zur Seite. Einer von Karis Augäpfeln fiel aus der schrecklichen Wunde, während die von dem zerschmetterten Mund befreite Zunge wie ein großer purpurner Wurm herausbaumelte. Gizur verzog das Gesicht und trat zur Seite, um dem Blutstrom zu entgehen, der aus dem gespaltenen Kopf floss.

Hausakljúfr, der Spitzname des Jarls – der Schädelspalter – war in der Tat gerechtfertigt.

Thorfinn warf den Kopf in den Nacken und blickte ins Dachgebälk.

»Ach, Hrolf«, sagte er mit einem tiefen Seufzer. »Du dummer, dummer Hund. Du hast dich von Einar besiegen lassen.«

Er richtete die Aufmerksamkeit auf Gizur. Bei seinem glühenden Blick verkrampften sich dessen Eingeweide.

»Gizur, seit ich dich zu Björns Stellvertreter ernannt habe, als ich ihn mit Hrolf nach Island schickte, hast du mir gut gedient«, sagte der Jarl. »Vermutlich kann ich jetzt mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen, dass Björn tot ist. Also ist es Zeit, dir die Stellung zu geben.«

Gizur nickte nur. Sein Hals war wie zugeschnürt. Trotz seiner Furcht verspürte er Triumph im Herzen. Der Jarl machte ihn zu seiner rechten Hand. Björn war ein Narr gewesen. Ein alter harter Mann, der vom Ruhm vergangener Taten gezehrt hatte. Er würde diesen Fehler nicht begehen.

Der Jarl stieg wieder auf das Podest.

»Ich muss dich warnen. Das ist eine gefährliche Zeit für dich, an Bord zu kommen«, sagte er.

»Ich werde dich nicht enttäuschen«, stieß Gizur hervor, der seine Sprache endlich wiedergefunden hatte.

»Meine besten Krieger sind nach Island gefahren, um Unn zu töten«, fuhr der Jarl fort. »Das weißt du. Mein Hauptmann und mein Sohn. Nun sind sie alle tot, und meine Macht ist geschwächt. Ich bin sicher, dass diese verfluchten Isländer etwas damit zu tun haben. Ich bin mir auch völlig sicher, dass Ulrich und seine úlfhéðnar ihre Hand im Spiel hatten. Und mein anderer Sohn, dieser Bastard Einar.«

Gizur schluckte. »Wie kannst du dir da sicher sein? Sie hätten mittlerweile wieder zurück sein sollen, ja. Aber in dieser Jahreszeit ist das Meer stürmisch …«

Er verstummte, als ihn der Jarl mit einem weiteren finsteren Blick fixierte.

»Björn war so stark wie ein Bär und so gnadenlos wie ein Wolf«, sagte Thorfinn. »Aber er war auch so dumm wie ein Ochse. Ich brauche nicht noch einen dummen Hauptmann, Gizur.«

»Das werde ich nicht sein.«

»Sie sind nach Island gesegelt. Dort hat sie jemand umgebracht. Die Isländer lügen. Es ist offensichtlich, was passiert ist.«

Thorfinn strich mit der Hand über den Pfosten, als würde er die nackte Haut einer Sklavin liebkosen. Als seine Finger den hervorstehenden Nagel berührten, hielt er inne und ließ sie dort einen Augenblick lang ruhen. Der Jarl schloss die Augen.

»Ich füge meinem früheren Schwur, Unn zu töten, das Folgende hinzu. Ich schwöre bei Odin, dem Herrn der Toten«, sagte Thorfinn mit lauter Stimme, mit der er sonst Ankündigungen vor einer Menge in der Halle oder bei einer Versammlung machte. Die Halle war leer, aber er wollte, dass die Götter in Asgard seine Worte vernahmen. »Bei Vidar, dem Gott der Rache. Bei Freyr und Tyr, dem Gott der Schlachten. Ich, Thorfinn Rögnvaldsson, werde für die Ermordung meines Sohnes Hrolf Rache nehmen. Mein Bastardsohn Einar und seine Wolfsmäntel-Freunde werden für alles bezahlen, was sie getan haben. Ihr Götter, seid meine Zeugen und helft mir bei dieser Aufgabe.«