Old Country – Das Böse vergisst nicht - Matt Query - E-Book
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Old Country – Das Böse vergisst nicht E-Book

Matt Query

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Beschreibung

Harry, ein Afghanistan-Veteran, der mit einer PTBS zu kämpfen hat, und seine Frau Sasha können ihr Glück kaum fassen: Ihr Angebot für eine kleine Farm in Idaho wurde angenommen! Die Nachbarn: Auf der einen Seite ein Nationalpark, auf der anderen Seite Dan und Lucy, ein älteres Ehepaar, mit dem sie sich auf Anhieb gut verstehen. Die beiden leben seit Jahrzehnten in dieser Gegend, und bei ihrem ersten Besuch erklären sie den Neulingen allerhand: Wie sie die Apfelbäume im Garten richtig zuschneiden, wie man einen Zaun aufstellt, der so stabil ist, dass ihn die Hirsche aus dem Nationalpark nicht niedertrampeln – und wie man mit dem bösen Geist fertig wird, der seit Menschengedenken in diesem Tal wohnt ...

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DAS BUCH

Harry, ein Afghanistan-Veteran, der mit einer posttraumatischen Belastungsstörung zu kämpfen hat, und seine Frau Sasha können ihr Glück kaum fassen: Ihr Angebot für eine kleine Farm in Idaho wurde angenommen! Die Nachbarn: auf der einen Seite ein Nationalpark, auf der anderen Seite Dan und Lucy, ein älteres Ehepaar, mit dem sie sich auf Anhieb gut verstehen. Die beiden leben seit Jahrzehnten in dieser Gegend, und bei ihrem ersten Besuch erklären sie den Neulingen allerhand: Wie sie die Apfelbäume im Garten richtig zuschneiden, wie man einen Zaun aufstellt, der so stabil ist, dass ihn die Hirsche aus dem Nationalpark nicht niedertrampeln – und wie man mit dem bösen Geist fertig wird, der seit Menschengedenken in diesem Tal wohnt und der mit dem Fortschreiten der Jahreszeiten zunehmend aggressiver wird …

DIE AUTOREN

Die Brüder Matt und Harrison Query sind in Colorado geboren und aufgewachsen.

Als Anwalt befasst sich Matt Query mit Umweltthemen wie Wasserrechten, Ressourcen, öffentlicher Landnutzung und Jagd- und Fischereifragen. Zusammen mit seiner Frau Sonya, seinem Hund, über hundert Schafen, Hühnern und Bienen lebt er auf einer kleinen Farm im Süden Oregons.

Harrison Query lebt heute noch in Colorado. Schon als Kind dachte er sich gerne Geschichten aus, inzwischen schreibt er Treatments und Drehbücher für Lionsgate, Netflix, Amazon und Sony und hat bereits mit Größen wie Ridley Scott, Chris Columbus und Robert Zemeckis gearbeitet.

MATT QUERY

HARRISON QUERY

OLD COUNTRY

DAS BÖSE VERGISST NICHT

ROMAN

Aus dem Amerikanischen von Michael Pfingstl

WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN

Titel der Originalausgabe:

OLD COUNTRY

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Deutsche Erstausgabe 02/2023

Redaktion: Sven-Eric Wehmeyer

Copyright © 2022 by Fort Mazie, Inc.

and Columbine Mountain, Inc.

Copyright © 2023 dieser Ausgabe und der Übersetzung

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: DAS ILLUSTRAT, München,

nach einem Originalentwurf von Ervin Serrano

Covermotive: iStockphoto (chainatp),

Shutterstock.com (Kevin B. Photography, Laura Crazy, m-agention)

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-29362-8V001

Für Sonya, Clark, gute Nachbarn und für Thibodaux – zusammen mit allen anderen Hunden, die rund um die Welt Wache halten.

TEIL EINS

NACH WESTEN

1

HARRY

»Tja, als ich das erste Mal einen Menschen getötet habe, waren es eigentlich zwei. Mehr oder weniger gleichzeitig, oder direkt hintereinander, mit ein paar Sekunden Abstand dazwischen.«

Im Geiste der radikalen Ehrlichkeit schlief mein linkes Bein ein, während ich diese Worte sprach. Ich wollte mein Gewicht nicht verlagern oder sonst irgendwas tun, das als Unbehagen oder Angst gedeutet werden könnte. Ich dachte mir, dass ich hier bin, um genau auf solche Dinge untersucht zu werden: in einem Moment der Offenheit nervös zu werden, eine körperliche Reaktion, die meine wahren Gefühle verrät.

»Das war 2010 in Afghanistan, ganz am Anfang der Operation Muschtarak, während der Schlacht um Marjah. Ich bin mit meinem Trupp auf einer Böschung oberhalb einer Straße in Stellung gegangen. Es war nur eine kleine Anhöhe, vielleicht zwei Meter über Straßenniveau, überall lagen alte Autoreifen und sonstiger Müll herum. Wir haben nur die Straße gesichert und auf weitere Befehle gewartet. Mein Kumpel Mike war bei mir, wir waren zwanzig Meter vor den anderen aus unserem Trupp. Der Rest von unserem Zug war weiter hinten, auf der anderen Seite der Böschung. Der Großteil unserer Kompanie war auch in der Nähe, aber wir waren noch damit beschäftigt, den nächsten Teil des Vorstoßes vorzubereiten.«

Und verflucht, hat es in der Stadt gestunken. Brennende Abfälle, Ziegenscheiße, Schweiß und all das.

»Und plötzlich sehen wir diese zwei Typen, sie kommen von links und rennen die Straße hinauf, direkt auf die T-Kreuzung vor uns zu.« Ich mache mit den Händen ein T-Zeichen.

»Der vordere der beiden hatte eine Kalaschnikow, der andere war gerade am Funkgerät und hatte eine große … Tasche dabei, einen Rucksack, er hing über seiner Schulter und war randvoll mit abgefeuerten Panzerfäusten. Beide sahen aus wie Ende zwanzig, oder Anfang dreißig vielleicht, jedenfalls älter als ich.

Im ersten Moment konnte ich nicht glauben, was ich da sah. Östlich von uns tobte ein fettes Feuergefecht, genau in der Richtung also, aus der die Typen gerannt kamen. Ich weiß nicht warum, aber irgendwie habe ich geglaubt, wenn wir Taliban begegnen, dann welchen, die auf dem Weg zu einem Gefecht sind. Ich habe Mike angestoßen und so was geflüstert wie: ›He, sind das Talis?‹ Er war genauso überrascht wie ich. Ich meine, wir haben sofort gewusst, dass das welche von den Bösen sind, aber wir konnten es einfach nicht glauben. Wir waren schon über ein Jahr hier, bevor die Sache mit Marjah losging, und hatten noch nie bewaffnete Kämpfer gesehen, die keine zweihundert Meter von uns entfernt einfach die Straße entlanglaufen. So was bekommt man da drüben nur sehr selten zu Gesicht. Bis zu diesem Zeitpunkt waren die Wichser immer weit, weit weg, wenn wir ihnen begegnet sind, haben unsere Patrouille unter Feuer genommen oder so was. Aber das war … ein echter, direkter Kontakt, verstehen Sie? Ich hab geglaubt, ich halluziniere.«

Ich nickte und setzte ein überraschtes Lächeln auf, als ich den Satz zu Ende sprach.

»Als sie die Straße erreichten, die wir von der Böschung aus überwachten – sie bog nach links ab, also weg von uns –, haben sie sich hinter ein Autowrack geduckt, hundert oder höchstens hundertzehn Meter weit weg. Aus der Richtung, aus der sie gekommen sind, also dem Feuergefecht, von dem sie wahrscheinlich gerade abhauen wollten, waren sie nicht zu sehen, aber für uns saßen sie wie auf dem Präsentierteller. Ich meine, ich konnte sie beide komplett sehen, ich musste mich kaum bewegen, um sie im Fadenkreuz zu behalten. Mike und ich, wir waren so geschockt, dass wir dahockten wie die Vollidioten und sie durch unsere Zielfernrohre begafft haben, vollkommen sprachlos, wahrscheinlich ganze zehn Sekunden lang. Und dann, ich weiß nicht genau, was mich zum Handeln bewegt hat, aber ich glaube, der nähere der beiden hat zu mir raufgeschaut oder zumindest in meine Richtung, also habe ich sie einfach … beide erschossen. Zuerst den mit der Kalaschnikow, dann den neben ihm mit dem Rucksack voller Panzerfäuste. Und beide Schüsse waren Volltreffer. Ich meine, die beiden waren schließlich … direkt vor mir. Hundert Meter sind keine Entfernung, die Kerle haben das Zielfernrohr praktisch komplett ausgefüllt, es war wirklich nicht schwer.«

Ich legte mit voller Absicht eine Pause ein und sah ihm in die Augen. Vergiss nicht, ernst zu nicken, rief ich mir ins Gedächtnis. »Sie waren beide auf der Stelle tot.«

Ich erinnerte mich, dass ich den ersten Kerl direkt unterhalb des Genicks getroffen habe und wie er einfach vornüber aufs Gesicht gefallen ist. Er hat nicht einen Muskel bewegt, um sich abzufangen oder dergleichen, hat seine Kalaschnikow nicht losgelassen, sondern sich einfach mit der Visage voraus auf die Straße gelegt. Wahrscheinlich wäre er k.o. gegangen, wenn er nicht schon tot gewesen wäre. Ich glaube, ich habe ihm durch die Wirbelsäule geschossen. Der andere sah seinen Kumpel vollkommen perplex an, nach dem Motto Was zum Teufel machst du da?, und dann habe ich ihm in die Brust geschossen. Als die Kugel einschlug, hat er das Funkgerät fallen gelassen und sich in einem Reflex mit beiden Händen hinter dem Rücken abgestützt, damit er nicht umfällt. Er sah aus, als würde er auf einem Handtuch am Strand sitzen, und schaute vollkommen verwirrt drein, als ich das zweite Mal auf ihn schoss. Meine Gedanken wanderten zu einem weiteren Kerl, den ich ein paar Wochen später tötete, er war älter, ein grauhaariger Krieger. Ich habe sein Gesicht danach noch oft vor mir gesehen, öfter als die der anderen. Ein Gesicht, das genauso beiläufig wie unausweichlich von Gewalt kündete.

Ich sah Dr. Peters an, der unmerklich nickte. »Was fühlen Sie, wenn Sie diese Erinnerung mit mir teilen, Harry?«

»Nun ja …« Ich blickte einen Moment zu Boden, versuchte, mein bestes aufrichtig-nachdenkliches Gesicht aufzusetzen, dann sah ich wieder ihn an. »Nichts wirklich Besonderes, wenn ich die Geschichte einfach nur erzähle. Ich glaube, das Erste, was mir dazu einfällt, ist mein Kumpel Mike, der damals dabei war. Ich hab ihn seit ein paar Jahren nicht mehr gesprochen … Ich hoffe, es geht ihm gut.«

Peters nickte. »Haben Sie je bemerkt, dass diese Erinnerung, diese Erfahrung, sich ungebeten in Ihre Gedanken drängt oder in Ihre Träume? Kommt sie manchmal über Sie, auf eine Art oder zu einem Zeitpunkt, den Sie als überraschend oder unpassend empfinden?«

Ich achtete darauf, auch über diese Frage scheinbar ein paar Sekunden nachzudenken. »Nein, eigentlich nicht.«

Peters nickte, wartete darauf, dass ich noch mehr sagte. Viele Seelenklempner drängen in so einem Fall mit einem Können Sie mir mehr darüber erzählen?, aber Peters ließ die Frage einfach offen und gab mir dadurch das Gefühl, dass meine Antwort unvollständig war. Und anscheinend hat es funktioniert, denn ich habe tatsächlich weitergeredet.

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass diese Erinnerung auf eine Weise auftaucht, die mich überrascht oder stört. Sie ist wie jede andere Erinnerung. Ich fühle mich nicht schuldig deshalb, falls Sie das meinen. Diese Kerle hätten mich erschossen, wäre der Spieß umgedreht gewesen. Es macht mir wirklich nichts aus, davon zu erzählen oder über die anderen Menschen zu sprechen, die ich getötet habe. Wenn jemand mich nach diesen Dingen fragt, erzähle ich sie gerne, aber ich … Sie wissen schon, fange nicht von mir aus damit an, solange ich nicht gefragt werde.«

Peters nickte. Sein Gesichtsausdruck sagte mir, dass ich die richtige Antwort gegeben hatte. Oder dass er zumindest nicht tiefer nachbohren würde.

»Nun, Harry, wir sind bereits weit über die Zeit.«

Ach was, Doc? Mir ist vollauf bewusst, dass wir weit über die Zeit sind, und das schon seit exakt zweiundzwanzigeinhalb Minuten. Ich sah trotzdem auf meine Uhr und spielte den Überraschten. »Oh, ja, ich schätze, ich sollte dann wohl besser gehen.«

Peters stand auf und ging zu seinem Schreibtisch. Er nahm einen braunen Umschlag zur Hand und reichte ihn mir.

»Ich habe Ihnen hier ein paar Informationen über die Veteranenfürsorge in Idaho zusammengestellt. Wir haben Kliniken und Einrichtungen in Pocatello, Twin Falls und natürlich in Boise. Ich weiß, all das Gerenne kann einem ganz schön auf die Nerven gehen, aber ich hoffe aufrichtig, dass Sie mit der Therapie weitermachen und sich jemanden suchen, mit dem Sie ein gutes Vertrauensverhältnis aufbauen können. Es ist wirklich wichtig. Auch wenn Sie erst seit einem Monat bei mir waren, sollen Sie wissen, dass Sie immer mit mir reden können, sei es am Telefon oder per Videochat. Ich werde immer einen Weg finden, mir Zeit für Sie zu nehmen. Zögern Sie nicht, sich zu melden.«

Ich stand auf, nahm den Umschlag entgegen und nickte. »Das werde ich, Dr. Peters. Ich weiß Ihre Zeit wirklich zu schätzen. Mit Ihnen kann man gut reden.« Der Doc schenkte mir ein gepresstes Lächeln und wir schüttelten Hände.

»Ich finde es großartig, was Sie und ihre Frau vorhaben, Harry. Ich bin so froh, dass Sie und Sasha eine Möglichkeit gefunden haben, das Leben zu verwirklichen, von dem sie immer geträumt haben. Ganz im Ernst: Ich beneide Sie. Nicht viele Menschen bekommen die Gelegenheit, einer solchen Leidenschaft nachzugehen. Ich weiß, dass es Ihrer beider Traum ist, und ich wünsche Ihnen viel Glück und Erfolg bei der Verwirklichung. Ich habe keinen Zweifel, dass Sie beide dort aufblühen werden.«

Ich bedachte ihn mit einem Lächeln. »In Denver wird es einfach zu voll, und wenn das Leben in den Bergen nichts für uns ist, tja, dann können wir immer noch zurückkommen.«

»Passen Sie gut auf sich auf, Harry.«

Peters behielt sein Lächeln bei, während er mir die Tür öffnete, aber in seinem Gesicht war auch eine gewisse Sorge zu erkennen, möglicherweise Zweifel. Ich fragte mich, ob das Absicht war.

2

SASHA

Egal, wie oft ich auf der Interstate 80 durch den Süden Wyomings fahre, die Strecke wird mir nie langweilig. Gabelantilopen, Wüstenbeifuß, eine Raffinerie in der Ferne, eine verwitterte Felsformation, eine Reklametafel mit einem Zitat aus der Offenbarung des Johannes, noch mehr Wüstenbeifuß, noch mehr Gabelantilopen … Es ist eine eintönige, raue und wunderschöne Landschaft. Harry und ich waren in den letzten zehn Jahren mindestens ein Dutzend Mal auf Rucksacktouren in Oregon, Idaho und der Wind River Range, und während der letzten paar Skisaisons haben wir Freunde in Jackson besucht, sodass ich diese Strecke schon gefühlte hundertmal gefahren bin. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich sogar ein klares Bild der Tankstellen in Laramie, Sinclair, Rock Springs und Evanston vor meinem inneren Auge habe.

Der Hörbucherzähler wurde von einem Klingeln unterbrochen, Harrys Gesicht erschien auf dem Display meines Handys.

»Hey, Babe, ist es okay, wenn wir in Green River tanken? Wäre ein Umweg von ungefähr einer Stunde oder so.«

»Kein Problem, Schatz, Hauptsache, du schläfst mir beim Fahren nicht ein.«

Ich fuhr in unserem Toyota 4Runner hinter Harry her, der am Steuer des unangenehm großen Mietlasters saß, in den wir während der vergangenen Tage unser gesamtes Leben gepackt hatten.

»Wie geht’s Dash?«

Ich warf einen Blick auf den Rücksitz, wo sich Dash, unser Golden Retriever, zusammengerollt hatte. »Gut. Er könnte wahrscheinlich einen kleinen Spaziergang vertragen, ansonsten ist alles klar hier hinten.«

»Schön, Schatz, fahr vorsichtig.«

Seit wir auf der 287 über die Staatsgrenze von Colorado nach Wyoming gefahren waren, wurde mir so richtig klar, dass es – heilige Scheiße – tatsächlich, endlich wahr wurde. Harry redete schon davon, seit wir uns vor über zehn Jahren auf dem College kennengelernt haben. Auf einem unserer ersten Trips hatte ich Harry nach seinen »Hoffnungen und Träumen« gefragt oder vielleicht noch was Kitschigeres wie »Wo siehst du dich in zwanzig Jahren?«. Ich erinnere mich nicht mehr an den exakten Wortlaut, aber einen ganz bestimmten Teil davon werde ich nie vergessen, denn er hat mich sofort verzaubert. Vielleicht war das sogar der Grund, warum ich mich in ihn verliebt habe.

Er hatte gesagt: »Ich möchte mir ein Stück Land in den Bergen suchen, irgendwo, wo ich auf meiner Veranda sitzen und den Blick schweifen lassen kann, und die einzigen von Menschen gemachten Dinge sind mein eigenes Haus, die zugehörige Scheune und die Werkstatt.«

Er sagte das vollkommen aufrichtig und mit einer hoffnungsvollen Sehnsucht in seinen Augen. Damals war ich mir allerdings nicht sicher, ob er nicht gerade verschiedene Persönlichkeiten ausprobierte und je nach Laune eine x-beliebige Behauptung aufstellte, um mich ins Bett zu bekommen. Vielleicht stimmte das zum Teil sogar. Aber so oder so, es hat funktioniert. Außerdem hat er seit diesem Tag mit genau der gleichen Leidenschaft an genau diesem Traum festgehalten und mich dazu gebracht, mich ebenfalls in diese Aussicht zu verlieben.

Er hatte allerdings nicht viel nachhelfen müssen. Tatsächlich war mir das Leben in der ländlichen Abgeschiedenheit westlich der Rocky Mountains vertrauter als Harry. Ich bin in einer Kleinstadt im südwestlichen Colorado in einem Haus mit Holzofenheizung aufgewachsen, und meine Eltern waren ihr Leben lang fanatische Skifahrer, was in der Kombination wahrscheinlich auch der Grund war, warum mich Harrys Traum von Anfang an fasziniert hat und ich ihn seit unserem ersten Date mit einem tiefen, warmen Gefühl von zu Hause verbinde.

Seit wir vor etwa einem Jahr begannen, uns ernsthaft mit dem Projekt zu beschäftigen – mit dem Kauf eines Grundstücks irgendwo in den Bergen –, habe ich Harry regelmäßig mit seiner Antwort von damals aufgezogen. Begonnen haben wir, indem wir Makler in Bozeman, Missoula, Helena, Bend und Coeur d’Alene kontaktierten, und allein die Tatsache, dass wir fortwährend in E-Mail-Kontakt mit ihnen standen, sorgte dafür, dass alles sich viel realer und sehr aufregend anfühlte. Als ich dann meinem COO und CEO die Gestaltung einer neuen Position vorschlug, die ich aus dem Homeoffice ausüben könnte, und wir danach tatsächlich begannen, diese Position gemeinsam zu schaffen, wurde es sehr real.

Es gab Momente, in denen ich Angst bekam und mir Sorgen machte. Ich werde meine Freunde verdammt vermissen, die gelegentlichen Happy Hours, Livemusik und die beruhigende Tatsache, nur einen Tagesausflug von meinen Eltern und meiner Geburtsstadt entfernt zu sein. Aber ich habe auf mein Bauchgefühl gehört und auf die immer größer werdende Unruhe in mir, dass wir es jetzt mit diesem neuen Leben probieren müssen, oder wir würden es nie tun.

Harry ist fünfunddreißig, ich bin dreißig. Die meisten unserer College-Freunde haben inzwischen Kinder und sich noch tiefer in ihre Jobs gestürzt, während wir vor der Option standen, entweder ein lächerlich überteuertes Haus in Boulder oder Denver zu kaufen und noch mehr zu arbeiten oder es mit diesem Leben zu probieren. Vor dieser Entscheidung zu stehen, brachte mich zu der Erkenntnis, wie sehr ich mir wünschte, das Einsiedlerleben wenigstens auszuprobieren, und wie sehr mir die Vorstellung ans Herz gewachsen war, mir mit Harry an einem ruhigen, schönen und ungezähmten Fleckchen Erde ein Zuhause aufzubauen.

Es gab sogar einen ganz bestimmten Moment, ab dem wir unseren Traum wirklich ernst nahmen: Vor etwas mehr als einem Jahr fuhren wir auf dem Interstate-70-Highway und wollten zum Skifahren, aber der Verkehr war so dicht, dass wir verdammte sechs Stunden brauchten, um über den Vail Pass zu kommen. Harry und ich hatten schon unzählige Staus auf der I-70 erlebt, aber ich werde den Ausdruck auf seinem Gesicht nach etwa vier Stunden auf dieser Fahrt nie vergessen. Ich erinnere mich noch genau, wie ich ihn vom Beifahrersitz aus beobachtet habe, wie er mit einer Miene der Resignation und Verzweiflung auf den Stop-and-go-Verkehr starrte, schließlich zu mir rübersah und sagte: »Schatz, wir müssen umziehen, raus aus diesem Staat.«

Bozeman und Bend stellten sich schnell als Sackgassen heraus. Die Grundstücke dort waren zu teuer, außerdem wollten wir in den »echten Westen«, und für Harry – und zu einem gewissen Grad auch für mich – zählte Colorado nicht mehr zum echten Westen. Wir lebten schon seit sieben Jahren in Denver und allmählich fühlte sich die Stadt für uns an wie LA oder Phoenix. Sie wuchs, breitete sich aus und verschlang Tag für Tag mehr von den umliegenden Ebenen.

Unsere Maklerin in Coeur d’Alene stellte einen Kontakt zu einer ihrer Kolleginnen in Jackson her, die auch die Angebote in den Tetons verwaltete. Jackson lag weit über unserer Gehaltsstufe, aber Nataly, die Maklerin, schickte uns ganz erstaunliche Angebote für die Idaho-Seite der Gebirgskette. Die Grundstücke dort kamen – zumindest mir – um einiges größer und schöner vor, und das zu einem Bruchteil des Kaufpreises. Harry war ein paar Jahre zuvor mit unserem Hund und einem College-Freund nach Driggs, Idaho zum Fischen und Moorhuhnjagen gefahren und sofort hin und weg von diesem Teil des Landes gewesen.

Ich erinnere mich, wie wir auf der Couch saßen und er mir eine Satellitenkarte und Fotos zeigte, die er während des Trips gemacht hatte. »Das Land dort ist toll. Ich kann nicht glauben, dass ich die Gegend nicht von Anfang an in Betracht gezogen habe. Die Flüsse sind voller Forellen, es gibt Espenwälder und überall frei zugängliches Land. Es ist anderthalb Autostunden von Jackson entfernt, ungefähr vier Stunden von Boise und dreieinhalb vom Großen Salzsee. Schatz, glaub mir, es ist einfach der Hammer.«

Letzten September fuhren wir zur Hochzeit eines Freundes nach Jackson und haben danach ein paar Tage in Idaho verbracht, um uns mit Nataly zu treffen und Grundstücke im Fremont County und entlang der Tetons anzusehen. Harry hatte recht – es war toll, und der Trip hat auch mich für die Idaho-Seite der Tetons begeistert. Wir sahen zwar nichts in unserer Preisklasse, was uns wirklich umgehauen hätte, aber ich war absolut überwältigt von der Schönheit der Gegend und wusste sofort, dass Harry mit seiner Einschätzung richtig lag: Hier mussten wir hinziehen.

Ein paar Monate später kontaktierte uns unsere Maklerin wegen einer kleinen Ranch in einem ruhigen Tal zwischen Ashton und Judkins. Nataly war ganz aus dem Häuschen wegen des Grundstücks und sagte, der Deal wäre unschlagbar.

Es war ein kleines Haus mit knapp hundert Quadratmetern Grundfläche auf einem fünfundfünfzig Hektar großen Grundstück mit einem Viehzaun drumherum. Es hatte ein neues Dach, einen neuen Warmwasserbereiter, eine separate Garage/Werkstatt, ein paar kleine Schuppen sowie eine Veranda, die sich über die gesamte Vorderseite des Hauses erstreckte und an der Seite in eine große Terrasse vor der Küche überging. Dazu noch ein schön angelegter und mit Maschendraht eingezäunter Garten rund um das gesamte Haus. Unsere nächsten Nachbarn im Norden und Osten waren staatliche Wälder, die um ein Mehrfaches größer waren als Rhode Island.

Nataly erklärte uns, dass das Anwesen vor beinahe einem Jahrzehnt von einer großen Immobilienfirma für Landwirtschaftsgrundstücke gekauft worden war, um es in eine Art Tauschgeschäft mit dem Forest Service für Grunddienstbarkeiten einzubinden. Das Geschäft mit der Bundesbehörde war entweder geplatzt oder ging ohne das betreffende Grundstück über die Bühne, weshalb die Immobilienfirma das Häuschen und das umliegende Land ein wenig herrichtete, damit es für eine Finanzierung zugelassen werden konnte. Und nun versuchte sie, es zu Geld zu machen. Nataly meinte, die Firma würde »definitiv binnen vierundzwanzig Stunden verkaufen«.

Harry verbrachte fast die ganze Nacht über GIS-Karten, er durchforstete die Grundstücksdokumente, die er auf der Website des Countys finden konnte, informierte sich über die Jagdparzelle, in der das Grundstück lag, sowie die saisonalen Klimaverhältnisse, er recherchierte nach Wasserrechten und sah sich sogar die verdammten Bodenklassifizierungskarten an. Was auch immer es zu finden gab, er las es. Am nächsten Morgen hielt er mir dann eine ausführliche Rede, warum wir jetzt ein Angebot machen sollten. Und die Rede war gut, das muss ich ihm lassen.

Dank Harrys Hypothekenplan von der Veteranenfürsorge sowie unser beider felsenfester Überzeugung, dass uns die Gegend gefallen würde und es eine vernünftige Investition darstellte, war nun alles bereit – auch wenn wir Haus und Grundstück noch nie mit eigenen Augen gesehen hatten. Aber es war immer noch billiger als alles, was unsere Freunde für ihre Häuser in Boulder, Denver, Portland und San Fran ausgegeben hatten, also dachten wir uns: Scheiß drauf, tun wir’s einfach, riefen Nataly an und sagten ihr, sie solle ein Angebot abgeben. Am nächsten Morgen bekamen wir eine E-Mail, in der Nataly uns mitteilte, dass die Bank unser eher niedriges Angebot ohne Gegenvorschlag akzeptiert hatte. Damit war die Sache offiziell. Ein paar Wochen später erhielten wir die Prüf- und Eigentumsunterlagen. Es gab keinerlei Beanstandungen, sodass wir am nächsten Freitag frisch gebackene Hausbesitzer waren.

Was das Bezahlen anging, nun ja … man könnte sagen, dass wir auf dem Papier gut dastanden, aber das war auch schon alles. Unsere Kreditwürdigkeit war in Ordnung und Harry hatte eine erstklassige Finanzierungsmöglichkeit durch die Veteranenfürsorge, doch auf unserem Sparkonto sah es eher bescheiden aus.

Da Harry außerdem im Programm für »Kampfbedingte Sonderentschädigungen« war, gab es kaum Arbeitseinschränkungen für ihn, und wir bekamen jeden Monat einen steuerfreien Scheck von der Regierung, der einen erheblichen Teil der Hypothek abdeckte. Oder wie Harry gerne – und viel zu oft – sagt: »Diese Hypothek und die G.I. Bill sind das einzig Angenehme, was mir von sechs Jahren bei der Infanterie geblieben ist.« Ich weiß, dass er den monatlichen Scheck in dieser Auflistung bewusst weglässt. Er hat ein schlechtes Gewissen wegen des Geldes, kommt sich schwach vor.

Ich habe alles getan, um ihn davon zu überzeugen, dass das Unsinn ist, weil es nämlich nicht stimmt. Jedes Mal, wenn wir uns darüber gestritten haben und er gesagt hat »Sasha, der Staat hat mein Studium bezahlt, meine Verletzungen sind verheilt, ich kann Vollzeit arbeiten, wir brauchen diese verdammten Almosen nicht«, habe ich erwidert: »Und ob wir sie brauchen.«

Würde ich behaupten, dass es nicht wunderschön wäre, jeden Monat eine SMS zu erhalten, die mich darüber informiert, dass Onkel Sam gerade eine weitere Einzahlung auf unser Konto getätigt hat, wäre das gelogen. Warum sollte es auch anders sein? Harry hat jeden einzelnen Penny davon verdient.

Meine Dates mit Harry begannen, kurz nachdem er gelernt hatte, seinen Körper wieder zu benutzen, nachdem er buchstäblich in die Luft gesprengt worden war. Und als er lernte, auch in der Gesellschaft wieder zu funktionieren, verliebte ich mich in ihn. Ich beobachtete seinen Blick, wenn er in einer überfüllten Bar oder auf einem Konzert darum rang, gelassen und fröhlich zu wirken. Jeden Abend, wenn wir schlafen gehen, sehe ich seine Narben. Und jeden Morgen, wenn er aufsteht, sehe ich, wie er zuerst zusammenzuckt und dann aus dem Bett humpelt. Ich reibe ihm den Rücken, um ihn aufzuwecken, wenn er Albträume hat. Ich sehe den Schmerz in seinen Augen, wenn er spät in der Nacht ins Feuer starrt. Ich höre die Distanz und den Kummer in seiner Stimme, wenn er einen schlechten Tag hat.

Es gibt immer noch Dinge, die Harry nicht mit mir teilen will. Dinge, die in Afghanistan passiert sind. Dinge, die er getan, die er gesehen hat. Wahrscheinlich glaubt er, dass er mich dadurch beschützt, aber es ist viel schwieriger, dieses Schweigen zwischen uns zu ertragen. Es gibt dieses verborgene Kapitel in seinem Leben, das voller erschütternder Ereignisse ist, an denen er teilgenommen hat und die nun ein Teil von ihm sind. Ich könnte den ganzen Tag damit verbringen, all die Dinge aufzuzählen, in denen die Veteranenfürsorge hoffnungslos versagt, aber ich war immer froh, dass sie ihm wenigstens jemanden zum Reden vermittelt haben. Wenn schon nicht mit mir, dann wenigstens mit jemand anderem. Es bereitet mir ein wenig Sorge, dass es diese regelmäßigen Therapiesitzungen in Zukunft nicht mehr geben wird, zumindest eine Zeit lang nicht. Harry braucht jemanden zum Reden, und obwohl ich ihn deshalb nie zu sehr unter Druck gesetzt habe, wünsche ich mir einfach, er würde mich zu dieser Person machen. Gleichzeitig ist mir klar, dass ich wahrscheinlich nicht gerade die Richtige für dieses therapeutische Hin und Her wäre. Ich habe weder das nötige professionelle Wissen noch ein Interesse daran, es mir anzueignen.

Es tut mir leid, aber ich scheiße auf die Infanterie des United States Marine Corps. Ich mag mit einem Marine in blauer Uniform vor den Traualtar getreten sein, aber ich trage absolut keine Liebe für diese zerstörerische, wahnsinnige, misshandelnde Institution in meinem Herzen. Dreitausendzweihundert Dollar im Monat entschädigen meinen Mann nicht einmal ansatzweise für die Dinge, die das Marine Corps von ihm verlangt hat, für die Opfer, die er gebracht hat. Und für was eigentlich? Für unsere Freiheit? Ich habe noch nie ein stichhaltiges Argument dafür gehört, dass ich meine Freiheit der Tatsache verdanke, dass mein Mann auf der anderen Seite des Planeten nach zehn Jahren eines hoffnungslosen Krieges gegen eine verfluchte Ideologie in die Luft gesprengt wurde. Nachdem ich letzten Sommer mitangesehen habe, wie die Taliban nach dem Rückzug der USA praktisch über Nacht wieder die Herrschaft über Afghanistan übernommen haben, scheinen mir solche Argumente nicht mehr haltbar, wenn sie es überhaupt je waren.

Und deshalb: Ja, wir nehmen die verdammten Schecks.

Als wir die zweite Ausfahrt nach Green River, Wyoming erreichten, sah ich den Blinker des Mietlasters aufleuchten. Ich folgte Harry zur Tankstelle und hielt hinter ihm an der Zapfsäule an.

Dash erwachte auf dem Rücksitz, setzte sich auf, war sofort hellwach und beobachtete durchs Fenster, wie Harry ausstieg und zu unserem Toyota kam.

Ich stieg ebenfalls aus, streckte mich und spürte sofort den kalten Biss der trockenen Märzluft in der Prärie von Wyoming. »Wie fühlst du dich, Babe?«, fragte Harry mit einem Lächeln.

»Bestens! Wie lange brauchen wir noch, fünf Stunden oder so?«

Harry nickte und steckte den Zapfhahn in den Tankstutzen des 4Runner. »Ja, das dürfte ungefähr hinkommen. Ich gehe mal mit Dash um die Ecke, damit er sein Geschäft verrichten kann.« Ich beobachtete, wie Harry die Hintertür des Toyota öffnete und Dash an die Leine nahm. »Komm, gehen wir pinkeln, Kumpel.«

»Halt die Augen nach Disteln und Glasscherben offen, Harry. Die Parkplätze an den Tankstellen in Wyoming sind der natürliche Feind von Hundepfoten.«

Er erwiderte mein Lächeln. Dash trottete neben ihm her, und seine dunkelrote Schwanzspitze wedelte, während er zu Harry aufsah wie zu einem Gott.

3

HARRY

Als Ashton, Idaho hinter uns lag und wir noch etwa fünf Minuten von unserem neuen Haus entfernt waren, überkam mich eine schwindelerregende Vorfreude, wie ich sie schon lange nicht mehr verspürt hatte. Aber ich war auch angespannt. Wir hatten eine verdammte Ranch gekauft, auf der wir noch nie gewesen waren. Und obwohl Sasha sich genauso engagiert wie ich an der Suche beteiligt hatte, verspürte ich immer noch das Gefühl, dass ich derjenige war, der die Sache vorangetrieben hatte. Damit lag die Verantwortung also bei mir.

Als wir auf die Landstraße abbogen, die zu unserem Haus führt, kurbelte ich das Fenster herunter, lehnte mich hinaus und schenkte Sasha ein breites, dummes Grinsen. Ich konnte sehen, wie sie lachte und vor Aufregung auf das Lenkrad trommelte, während Dash den Kopf aus dem Rückfenster streckte.

Unser Grundstück kommt nach etwa einer Meile, es ist das letzte Privatgrundstück, bevor die Straße in den Staatsforst führt und an einem Parkplatz für Wanderer endet. Der größte Teil des Landes entlang der Straße gehört zu einer vierzehnhundert Morgen großen Ranch, die Namen der Besitzer hatte ich auf den GIS-Karten gesehen: Dan und Lucy Steiner. Ich konnte online nicht viel über sie herausfinden. Das Land selbst schien gut gepflegt und bot mit den westlichen Ausläufern der Tetons im Hintergrund einen grandiosen Anblick.

Ich hatte etwa eine Stunde zuvor mit Nataly telefoniert, und sie hatte gesagt, dass wir uns dort treffen würden. Ich sah, dass sie ein paar Luftballons an die Pfosten vor unserer Einfahrt gebunden hatte. In diesem Moment wusste ich, dass ich für den Rest meines Lebens nicht mehr vergessen würde, wie ich unsere Einfahrt erreichte und zum ersten Mal unser Land sah.

Es war absolut atemberaubend. Ich war voller Ehrfurcht, als wir in der Kurve, wo die Straße zum Staatsforst Richtung Süden abbiegt, nach links in unsere Auffahrt fuhren. Von vereinzelten Pappeln gesäumt, führt sie zu einem Haus und einer Garage, die von Wiesen und Espenbäumen umgeben auf einer kleinen Anhöhe liegen. Im Garten stehen mehrere riesige Pappeln, die das Haus weit überragen. Es war März und in den Bergen lag noch ziemlich viel Schnee, aber man konnte erkennen, dass der Frühling schon mit den Hufen scharrte. Die ersten froschgrünen Blätter waren zu sehen, Wildblumen kamen bereits hervor und überall waren Vögel. Das Land schien nur so zu strotzen vor Lebenskraft.

Das Haus ist viel kleiner als das, was wir uns ursprünglich vorgestellt hatten – kleiner als das Haus, in dem wir die letzten Jahre im Highlands-Viertel in Denver gewohnt haben. Allerdings hat es eine riesige Veranda, einen eingezäunten Garten rundherum, eine separate Garage/Lagerhalle in gutem Zustand sowie ein paar Schuppen. Aber weit auffälliger als alles andere war, dass es überall, wohin man blickte – egal in welche Richtung –, unfassbar schön war. Ich wusste mit absoluter Sicherheit, dass diese Landschaft der Grund war, warum wir uns beide sofort in das Haus verlieben würden.

Außerhalb des eingezäunten Gartens erstrecken sich etwa vierzig Morgen Wiesen- und Weideland, unterhalb des Hauses gibt es einen Teich, durch den ein Bach fließt, und oberhalb des Hauses, am Nordende des Grundstücks, erstrecken sich etwa fünfzehn Morgen Kiefernwald.

Wir fuhren auf den großen Kiesplatz zwischen Haus und Garage, wo Nataly in einem perlmuttfarbenen Escalade auf uns wartete.

Die nächste Stunde verging wie im Flug. Nataly führte uns durch das Haus und die Garage. Hier ist der Sicherungsschalter, da das Absperrventil für die Wasserleitung, hier der Schalter für die Brunnenpumpe und so weiter. Als sie ging, standen Sasha und ich vor dem Haus und waren kaum in der Lage zu sprechen, wir konnten nur lachen und mit Dash spielen. Sasha packte den Champagner aus, den wir direkt aus der Flasche tranken. Wir reichten sie hin und her und setzten uns auf die Stufen, die vom Garten auf die Küchenterrasse führten.

Wir liebten es, beide, aber Sasha sprang buchstäblich im Viereck, ein breites Grinsen im Gesicht, hinreißend aufgedreht und außer sich vor Freude.

Ich habe nicht viel Familie, Sasha ist meine ganze Welt. Ich zähle ihre Familie auch zu meiner, aber ihre Eltern sind eher distanziert, und nach allem, was Sasha mir erzählt hat, war der stolzeste Moment ihrer Eltern, als sie ausgezogen ist. Innerhalb einer Woche nach ihrem Auszug verwandelten sie Sashas Kinderzimmer in eine Indoor-Grasplantage. Sie haben keinen Cent angespart, um ihr die Uni zu finanzieren, und sie in den vier Jahren ihres Studiums vielleicht einmal besucht. Sie waren keine schlimmen Eltern, sie waren nicht gemein oder haben sie geschlagen, es war ihnen nur alles scheißegal. Als Sasha vierzehn war, fuhren sie regelmäßig nach Arizona, um dort LSD einzuwerfen und Sasha einen ganzen Monat lang allein zu lassen. Aber zu diesem Zeitpunkt war sie bereits daran gewöhnt, sich Lügen für ihre Lehrer und die Eltern ihrer Freunde auszudenken, wo ihre eigenen Eltern gerade steckten.

Wenn ich an ihre Erziehung denke, ist es mir ein Rätsel, wie aus Sasha eine so tolle, intelligente, unabhängige Frau werden konnte, die zu so starken Bindungen fähig ist. Sie ist ein absolutes Phänomen, und ich habe keinen Zweifel daran, dass ihr Auftauchen mir im wahrsten Sinne des Wortes das Leben gerettet hat.

Als ich die Marines verließ, zog ich ziemlich direkt in das Studentenwohnheim der Universität von Colorado in Boulder. Von der Straße abgekratzt, wieder zusammengeflickt, direkt aus einem Kampfgebiet in ein Krankenhaus geschickt, dann in ein anderes Krankenhaus, dann auf einen Stützpunkt in den Staaten und von dort direkt als unangepasster Vierundzwanzigjähriger in eine große staatliche Uni. Das war verdammt dumm – eine unüberlegte Entscheidung meinerseits.

Es war ein Albtraum aus emotionaler Isolation und erstickender Soziophobie. Ich stürzte mich schnell und voller Elan in eine Spirale der Selbstzerstörung, befeuert von Whiskey und Aufputschmitteln. Ich gab meinen gesamten Sold für Koks aus, ging so gut wie gar nicht mehr in die Uni und verbrachte die meiste Zeit meines ersten Semesters mit Forellenfischen, Elchjagen und Feiern.

Ich wuchs in Albuquerque auf, bis ich etwa zehn Jahre alt war. Dann trank sich mein Vater zu Tode, und meine Mutter und ich zogen nach Pueblo, Colorado, um näher bei ihren Brüdern zu sein. Meine Onkel haben nicht viel geredet oder nachgeforscht, wer ich war oder wie es mir ging. Ich kann mich nicht erinnern, je ein Gespräch mit einem der wortkargen Bastarde geführt zu haben, das länger als eine Minute dauerte. Aber sie taten, was sie konnten, um auf ihre Weise eine Rolle in meinem Leben zu spielen. In den folgenden acht Jahren nahmen sie mich an den Wochenenden zum Forellenfischen mit, und jeden Herbst ging ich mit ihnen für ein paar Wochen auf die Elch- und Hirschjagd. Lange Rede, kurzer Sinn: In einem Fluss nach großen Bachforellen und in den Bergen nach Elchen zu suchen, war für mich schon als Junge eine Flucht, und genau dieselben Fluchtmechanismen erschienen mir auch als junger Mann ganz natürlich.

Die Uni-Verwaltung setzte mich auf Bewährung, genau zu dem Zeitpunkt, als ich anfing, mir jede Nacht Koks in die Nase zu stopfen. Ich erinnere mich, dass ich mein Verhalten rechtfertigte, indem ich mir sagte: Es ist nur Koks, kein Heroin oder Pillen, nur eine kleine Steigerung von Gras, oder? Du bist eben der Typ für Aufputschmittel. Du hast es dir verdient.

Ich war nicht suizidgefährdet in dem Sinne, dass ich aktiv darüber nachdachte, sterben zu wollen, oder einen Weg suchte, um mich umzubringen. Aber es war mir verdammt scheißegal, wie lange ich noch lebte.

Dann geschahen zwei wichtige Dinge: Erstens lernte ich ein paar Jungs kennen, die keine Veteranen waren und auch keine toxischen Machotypen aus einer Studentenverbindung. Sie waren ganz normale Kerle, die gerne Ski fuhren, angelten, sich bekifften und regelmäßig zur Uni gingen. Das Zusammensein mit ihnen zeigte mir einen gesunden Lebensstil, den ich wahrscheinlich ebenfalls hätte führen können. Aber es machte mir auch deutlich, wie weit weg ich bereits war. Ich konnte sehen, wie ich gerne sein wollte, war aber nicht sicher, ob ich noch in der Lage war, dieser Mensch zu werden. Dann lernte ich Sasha kennen. Ich traf sie in einer Bar in The Hill, einem Stadtteil von Boulder, den die Studentenschaft praktisch komplett übernommen hat, um dort ihren Ausschweifungen nachzugehen.

Ich werde jetzt nicht behaupten, dass ich mich auf den ersten Blick in Sasha verliebt habe, aber ich war noch nie zuvor so von dem Charakter einer Frau beeindruckt. Sie war und ist die schönste Frau, der ich je begegnet bin, aber, wie meine Kifferkumpels es ausdrückten: Es waren »ihre Schwingungen, Mann«. Es klingt zwar fast schon kitschig, doch ich meine es vollkommen ernst, wenn ich sage, dass Sasha mir sofort das Gefühl gab, ein besserer Mensch zu sein, ein besserer Mensch werden zu können, und daran hat sich bis heute nichts geändert. Das Verlieben hat meiner Selbstzerstörung faktisch ein Ende gemacht. Nachdem Sasha sich auch zu einem zweiten und dritten Date bereit erklärte, hatte ich einen Grund, mich zusammenzureißen. Und als sie mich zum ersten Mal als ihren Freund vorstellte, hatte ich einen Grund, unter der Woche nichts mehr zu trinken und möglichst nicht von der Uni zu fliegen. Von da an ging es nur noch bergauf, und Sasha war der Hauptmotivationsfaktor für mein selbstverordnetes Rehabilitationsprogramm.

Die Begegnung mit ihr hat mich zurückgeholt, und ich habe keinen Zweifel daran, dass ihr Lächeln – ihr glückliches Strahlen – buchstäblich der einzige Grund ist, warum ich noch am Leben bin.

Sasha auf der Veranda stehen und lächeln zu sehen, während sie zu den Bergen hinaufschaute, zu beobachten, mit welcher Aufregung und Freude sie auf unser Grundstück reagierte, war alles, was ich brauchte. Es ist alles, was ich jemals brauchen werde.

In der ersten Nacht verwendeten wir nicht viel Zeit auf Auspacken und Einziehen. Wir setzten uns mit Campingstühlen auf die Veranda, aßen Nudeln direkt aus dem Topf unseres Campingkochers und schliefen auf einer nackten Matratze, die wir in die Ecke des Wohnzimmers gelegt hatten.

Als wir am Morgen aufwachten, liefen wir als Erstes den gesamten Zaun des Grundstücks ab. Obwohl es draußen noch nicht besonders warm war, aßen wir auf einer Picknickdecke am Teich zu Mittag, folgten dem Bach von der Einmündung in unser Anwesen bis zu seiner Ausmündung und umrundeten jeden auch noch so kleinen Hain und jedes Stückchen Wiese auf dem gesamten Grundstück. Ich glaube, das war der bisher schönste Tag meines gesamten Lebens.

Wir waren wie elektrisiert und schmiedeten einen fantastischen und völlig unrealistischen Plan nach dem anderen. Ich bin ziemlich sicher, dass wir nach den ersten drei Stunden bereits einen Geländepark und mehrere Skisprungschanzen auf dem Grundstück geplant hatten, einen Bogenschießparcours mit zehn Stationen, ein kleines Dorf aus Tiny Houses für Gäste und mehrere Terrassen zum Weintrinken entlang des Baches.

Und Dash kam mir vor wie der glücklichste Hund, den ich je gesehen hatte. Ich hatte den kleinen Kerl für die Vogeljagd abgerichtet, und wir gingen viel Jagen, sodass er sicherlich seinen Teil an Spaß und Abenteuer abbekommen hatte. Trotzdem war er beinahe seine gesamten fünf Lebensjahre lang ein Stadthund gewesen, mit nur einem winzig kleinen Garten, den er sein Eigen nennen konnte. Jetzt hatte er einen ganzen eingezäunten Morgen um das Haus herum und jenseits davon ein ganzes Königreich.

Während der nächsten zwei Wochen zogen wir ein, stellten die Möbel auf, hängten Bilder an die Wände, bauten Hochbeete und bepflanzten den Garten. Sie vergingen wie im Flug. Sashas Gesicht leuchtete in jeder Minute dieser ersten vierzehn Tage regelrecht vor Staunen, Aufregung und tiefem Frieden. Dash war, genau wie Sasha und ich, im absoluten Himmel.

Sasha hatte bereits vorausgeplant, damit die Telekommunikationsfirma schon in der ersten Woche das Internet einrichten konnte. Das Gästezimmer machten wir zu Sashas Arbeitsplatz, sie nahm Anrufe entgegen, hielt Videokonferenzen ab und kam allmählich in Schwung mit ihrem neuen Job im Homeoffice. Abgesehen von den Technikern, die das Internet einrichteten, und dem Lieferanten, den wir bezahlt hatten, damit er Sashas Subaru von Denver hierherfuhr, waren die Leute, die auf dem Weg zum Wandern im Auto vorbeikamen, die einzigen anderen Menschen, die wir sahen.

Der Staatsforst ist unser Nachbar im Norden und Osten und sogar ein wenig im Süden. Die Steiner-Ranch ist das einzige Privatgrundstück, das an das unsere angrenzt, im Westen direkt und im Süden entlang der Straße. Es gibt noch einen weiteren Nachbarn in »unserem« kleinen Tal, ein sechstausendfünfhundert Morgen großes Stück Land namens Berry Creek Ranch. Sie liegt südlich der Steiners, aber deren Hauptzufahrt führt zum State Highway. Weiter hinten im Tal und auf der anderen Straßenseite stehen ein paar Einfamilienhäuser sowie Ranches mit kleineren Parzellen, aber auf unserer Seite des Highways gibt es auf der gesamten Länge der Landstraße nur drei Grundstückseigentümer. Somit sind Sasha und ich und die Steiners in der Tat die einzigen Leute hier oben.

Dass wir nur einen einzigen Nachbarn haben, dessen Haus über eine Meile entfernt ist, bei Gott, das ist wahrscheinlich das, was ich am meisten an diesem Ort liebe.

Es ist ruhig hier. Und wunderschön. Es gab uns ein Gefühl von zu Hause.

4

SASHA

Am Beginn der dritten Woche hatte ich das Gefühl, immer besser mit dem Homeoffice zurechtzukommen. Ich war im Marketing, und viele meiner Kollegen waren es gewöhnt, mit einer Projektmanagerin zusammenzuarbeiten, die ganz woanders lebte, nur für mich war das alles vollkommen neu. Aber es fühlte sich okay an, und mein Team hielt mir den Rücken frei, denn alle wussten, wie sehr ich mir dieses Leben wünschte.

Gleichzeitig waren Harry und ich uns einig, dass wir uns möglichst bald bei unseren Nachbarn vorstellen mussten, wenn wir nicht zu unhöflich rüberkommen wollten.

Am Samstagvormittag machten wir ein paar Pasteten, schwangen uns in den 4Runner und fuhren hinüber zu den Steiners. Die Auffahrt führte vom Tor etwa eine Viertelmeile an Wiesen mit Goldkiefern, Espen und fetten Kühen vorbei und endete direkt vor ihrem Haus. Es war ein schönes Anwesen. Absolut fantastischer Blick auf die Berge. Große, gut gepflegte Gärten. Es sah lebendig aus. Überall gute Schwingungen.

Das Haus lag eingebettet zwischen zwei riesigen Scheunen, einer Traktorgarage und einer großen Werkstatt. Als wir ausstiegen, sah ich, wie sich ein schon etwas älter wirkender Mann zu uns umdrehte und die Hand zur Begrüßung hob, um dann gemütlich zu uns geschlendert zu kommen.

»Dan Steiner, ihr müsst unsere neuen Nachbarn sein!«, sagte er mit einem warmen Lächeln, das mir ebenfalls eines entlockte.

Harry streckte ihm die Hand entgegen. »Genau. Ich bin Harry Blakemore, und das ist Sasha.«

Ich lächelte und schüttelte ihm ebenfalls die Hand. »Hallo, Dan, es ist mir ein Vergnügen, dich kennenzulernen.«

Dan sah aus wie Anfang siebzig und wirkte immer noch rüstig. Er bewegte sich so gezielt und kraftvoll, dass man meinen konnte, er hätte noch so viele gute Jahre vor sich wie jemand in seinen Vierzigern. Seine Hände waren hart wie Büffelleder und seine Gesichtszüge sahen aus wie aus Holz geschnitzt.

In diesem Moment kam eine ebenfalls schon ältere Frau aus einer der Scheunen. Sie wirkte ungefähr gleich alt und ebenso kräftig wie Dan. In ihrem Blick lag eine Weisheit, die nahelegte, dass es nicht vieles auf der Welt gab, was sie aus den Socken hauen konnte. Sie stellte sich als Lucy vor und wir tauschten die üblichen Höflichkeiten aus.

Die beiden erzählten uns, dass ihnen die Ranch seit den 1970ern gehörte. Sie erzählten uns auch, wie eng sie mit der Familie befreundet waren, die von 1996 bis 2011 in unserem Haus gewohnt hatte. Sie waren die Letzten gewesen, die tatsächlich auf dem Grundstück lebten, denn nach ihrem Umzug wurde das Land von der Ranchland-Investmentfirma gekauft. Laut Lucy kamen seit dem Auszug der letzten Besitzer ein- oder zweimal im Jahr Leute von der Immobilienfirma vorbei, aber meistens nur zum Jagen, und Dan und Lucy ließen durchblicken, wie sehr sie sich freuten, endlich wieder Vollzeitnachbarn zu haben. Sie freuten sich auch sehr über die Pasteten.

Harry übermittelte ein aufrichtiges »Bitte ruft an oder kommt vorbei, wenn ihr irgendetwas braucht«, was die Steiners sogleich erwiderten.

Gerade als sich ein freundliches »Bis zum nächsten Mal« anbot, deutete Dan mit einem kleinen Grinsen auf Harry. »Infanterie?«

Harry breitete die Arme aus und blickte an sich hinunter. »Ist das so offensichtlich?«

Dan schlug sich grinsend aufs Knie. »Ha, so was sehe ich auf hundert Meilen! Heer oder Marines?«

»Ich war im Marine Corps, Rifleman, Sir.«

»Ein Frontkämpfer! Aber Moment, hast du gerade ›war‹ gesagt? Ich dachte, die einzige Möglichkeit, bei den Marines auszutreten, wäre, sich tot in eine Kiefernkiste zu legen.«

»Ja, einmal Marine Corps, immer Marine Corps, wie es so schön heißt«, bestätigte Harry lächelnd. »Aber dann habe ich erfahren, dass ihr braven Steuerzahler mir ein Studium finanzieren würdet, also hab ich mich davongemacht und es nie bereut.« Diesen Satz sagt Harry ständig und bringt damit seine Zuhörer zum Lachen. Dan und Lucy bildeten keine Ausnahme.

»Sehr gut. Ich war bei der Marine, Mechaniker. Hab meine vier Jahre während der Operation Coronado abgeleistet.«

Harry nickte. »Nun, wenn ich auf meine eigene Laufbahn zurückblicke, kann ich dir sagen, dass du die weitaus schlauere Wahl getroffen hast.«

Dan schmunzelte. »Warst du in Afghanistan oder im Irak?«

»Ich habe einige Zeit in Afghanistan verbracht«, antwortete Harry mit einem knappen Nicken.

Dan erwiderte ein Grinsen, aber es wirkte gezwungen, beinahe entschuldigend. »Ich hab gehört, dass es dort ziemlich hart für Riflemen war.«

»Es war eine vielschichtige Erfahrung.«

»Das bezweifle ich nicht.« Dans Lächeln verschwand, verdrängt von einem forschenden Blick. »Hey, weißt du, in den letzten, nun ja … mehr als zehn Jahren hat die Firma, der dein Land gehörte, Lucy und mich und einige unserer saisonalen Rancharbeiter dafür bezahlt, dass wir ein bisschen nach dem Rechten sehen. Meistens haben wir nur die Bäume und Sträucher in Ordnung gehalten, das Gras vor der Feuersaison abgeweidet, ab und zu nach dem Brunnen und der Kläranlage gesehen, und Gott weiß, dass ich in den letzten Jahrzehnten viel Zeit dort mit Reiten und Jagen verbracht habe. Wir kennen das Land so gut wie kein anderer. Wir würden euch gerne ein paar Dinge mit auf den Weg geben, ein paar Tipps für den Umgang mit allem, die wir für sehr wichtig halten. Vielleicht können wir bald mal vorbeikommen und euch in ein oder zwei Stunden alles zeigen?«

Das war der Moment, in dem ich mich einschalten musste – wie so oft, wenn sich Harry eine Gelegenheit bot, bei einem nicht absolut notwendigen sozialen Anlass zu passen. »Das wäre ganz wunderbar!«, warf ich ein. »Wir würden euch gerne über alles ausfragen! Wäre morgen Abend für euch in Ordnung?« Ich sah zu Harry auf und drückte seinen Arm in der Hoffnung, dass er meine Botschaft verstehen würde: Sei kein Arschloch, Schatz.

Harrys Antwort deutete darauf hin, dass er meine Geste richtig verstanden hatte. »Sicher, morgen Abend passt mir gut. Euch auch?«

Braver Junge.

Lucy erstrahlte. »Klar! Wir kommen um fünf oder so vorbei. Und danke nochmal für den Besuch. Ich hoffe, ihr macht euch das zur Angewohnheit!«

Nach dieser Verabschiedung schwangen wir uns in den Toyota und fuhren zurück nach Hause.

Ich sah Harry an. »Fang gar nicht erst an zu jammern, dass ich diese Verabredung getroffen habe, Babe. Die beiden scheinen wirklich nett zu sein und ihr Wissen über das Land hier kann uns sehr helfen, okay?«

»Ich weiß, ich weiß, du hast ja recht. Wahrscheinlich wird es mir sogar gefallen. Sie scheinen echt gute Nachbarn zu sein.«

Ich beobachtete Harrys Miene genau. Der Umgang mit anderen Veteranen ist für ihn nicht immer einfach. Manchmal hat er das Gefühl, dass sie die einzigen Menschen auf der Welt sind, mit denen er sich identifizieren kann – die einzigen Menschen, die ihn verstehen. Manchmal sind sie aber auch die einzigen Menschen auf der Welt, die Harry nie wieder sehen oder sprechen möchte. Er hat mir nie wirklich erklärt, warum, aber das muss er auch gar nicht. Ich glaube, ich fühle auch so, warum es so ist.

Es gibt Momente, in denen ich ihn ansehe und sofort merke, wie hart er emotional arbeitet, und dann überkommt mich diese unerklärliche Wut auf seine Eltern. Ich möchte sie anschreien, weil sie nicht lange genug durchgehalten haben, um den Mann kennenzulernen, der er trotz aller Vernachlässigung ihrerseits geworden ist. Seinen Vater habe ich nie kennengelernt, aber seine Mutter kannte ich und konnte zumindest ein paar Wochenenden mit ihr verbringen, bevor sie ein paar Monate nach unserer Hochzeit an einem Herzinfarkt starb.

Meine Eltern haben zwar auch keine Pokale für gute Erziehung gewonnen, aber sie haben mir immerhin eine relativ sichere Kindheit ermöglicht. Oder zumindest ein ruhiges Haus, in dem ich in einer sicheren Stadt aufwachsen konnte. Ich wurde in Pagosa Springs groß, wie meine Eltern. Meine Mutter hat in Restaurants gearbeitet und Gras angebaut, und mein Vater hat schon vor meiner Geburt im Wolf-Creek-Skigebiet gearbeitet. Das tut er auch heute noch und fährt jedes Jahr hundertfünfzig Tage Ski. Sie haben mir keinen Penny fürs College gegeben oder mich auch nur ansatzweise motiviert, es überhaupt dort zu versuchen. Auch sonst scheren sie sich einen Dreck um alles, was ich erreicht habe, seit ich von zu Hause weg bin, aber sie verhalten sich wenigstens wie Eltern … Ab und zu wenigstens.

Manchmal frage ich mich allerdings, wie Harry wohl wäre, wenn er nicht all das durchgemacht hätte, bevor wir uns kennenlernten. Ich frage mich, ob er derselbe wäre. Um ehrlich zu sein, habe ich mich schon dabei ertappt, dass ich froh bin, dass Harry so viel durchmachen musste, denn sonst hätte er sich bestimmt niemals so haltlos in mich verliebt.

Wie auch immer die Formel Veranlagung-versus-Erziehung funktioniert, die diesen Mann hervorgebracht hat, der mich gerade mit der Sonne im Gesicht über unsere kleine Ranch in den Bergen fuhr, ich danke Gott dafür. 

TEIL ZWEI

FRÜHLING

5

HARRY

Während der ersten Wochen auf unserer Ranch fuhren wir einige Male nach Rexburg, um im dortigen Farm-und-Ranch-Store Material für ein paar Hochbeete, neue Werkzeuge und mehrere Dutzend Zaunpfosten zu kaufen.

Rexburg, eine pulsierende Metropole mit etwa fünfundzwanzigtausend Einwohnern, lag gut fünfzig Meilen südwestlich von uns und war die größte Stadt im Umkreis von einer Autostunde. Als Sasha und ich das erste Mal durchfuhren, starrten wir schweigend aus dem Fenster und dachten über die Tatsache nach, dass dies nun der urbane Mittelpunkt unseres Lebens war. In Ashton, nordwestlich von uns, sowie im südlich gelegenen Driggs gab es mehrere kleine Gemüseläden und noch ein paar andere Einkaufsmöglichkeiten, aber die »Großstadt« in dieser Gegend war Rexburg. Auch wenn es hier nicht einmal einen Supermarkt gab.

Am Sonntag, nachdem wir Dan und Lucy besucht hatten, standen wir auf und beschlossen, dass wir unsere Zeit am besten darauf verwendeten, ein paar Weidezäune zu erneuern und den Garten fertig zu machen. Wir waren bereits auf der Suche nach Schafherden, die das Gras noch rechtzeitig vor der Feuersaison abfressen würden, und einige der Zäune auf unserem Grundstück brauchten dringend etwas Zuwendung. Es war ein wunderschöner Frühlingstag, nur wir und unser Hund; wir konnten förmlich riechen, wie nah die langen Tage und warmen Nächte des Sommers bereits waren.

Mit den neuen Zaunpfosten wollten wir alle ersetzen, die kaputt, rostig oder verbogen waren, und davon gab es einige. Es war harte Arbeit. Wir brauchten ganze zwei Stunden für lächerliche zehn Pfosten und machten uns währenddessen ausgiebig über unser »rasendes« Arbeitstempo lustig.

Ich rammte gerade den letzten in den Boden. Das laute Klirren des Hammers, der gegen den Pfosten schlug, hallte über die Wiese und wurde von den Bäumen zurückgeworfen, als ich bemerkte, wie Sasha mich grinsend beobachtete. Also hielt ich inne, ließ den Hammer fallen, schüttelte etwas Blut in meine tauben Hände und sagte mit einem Lächeln: »Ich weiß, dass ich kein Rancher bin, okay, Babe?«

Sasha neigte grinsend den Kopf. Sie ist so unglaublich schön. »Mann, Harry, ich kann immer noch nicht glauben, dass es wirklich wahr ist: Du reparierst die Zäune auf deiner eigenen Ranch!« Sie breitete die Arme aus, deutete auf das umliegende Land und drehte sich dabei im Kreis, während Dash zu ihr aufblickte und um ihre Füße herumtänzelte. Dann kam sie zu mir, fasste mich um die Hüfte und sah mir in die Augen. »Bist du froh, dass wir hier sind, Harry? Ist es das, was du immer gewollt hast?«

Ich küsste sie. »Ich will nur dich. Aber, ja … Ja, das ist exakt das, was ich immer wollte. Bist du auch glücklich?«

Sasha strahlte mich an. »Und wie. Außerdem bist du derjenige, der die Farmarbeit erledigen wird. Ich bin die Brotverdienerin hier und muss nur am Wochenende mitschuften. Der Schwerarbeiter bist du.«

»Tja … ich glaube, da ist was dran.«

Sie lächelte und küsste mich erneut. »Machen wir Schluss für heute. Dan und Lucy kommen bald rüber.« Sasha bückte sich nach der Schaufel und deutete mit einem schelmischen Grinsen auf das Stück Zaun, das wir repariert hatten. »Aber morgen früh machst du das hier als Erstes fertig, ist das klar, starker Mann?«

Wir hatten gerade alles wieder aufgeräumt, als ich Dan und Lucy mit ihrem alten Ford F-250 die Auffahrt heraufkommen sah. Wir gingen ihnen entgegen, um sie zu begrüßen, und während wir vor dem Haus ein bisschen plauderten, begutachteten die beiden das Land ringsum mit wissendem Blick. Mir fiel auf, wie Dan dem Stamm einer großen Pappel einen Klaps versetzte und zu Lucy sagte, dass der alte Baum nun doch überlebt habe. Die beiden kannten dieses Land wirklich gut.

Die nächste Stunde liefen wir gemeinsam das gesamte Grundstück ab. Die Steiners zeigten uns dies und das und gaben uns Tipps, während Dash glücklich hinter uns hertrottete. Die beiden erklärten uns eine Menge über den Brunnen, die Pumpe, das Grundwasser und die Bewässerung der Weiden und gaben Empfehlungen, wie wir die Obstbäume im Garten während der verschiedenen Jahreszeiten am besten pflegten. Sie zeigten uns, wo die Elche die Zäune umtraten, wenn sie im Winter auf der Flucht vor der Schneegrenze von Norden herunterkamen, und welche Bäume wahrscheinlich in den nächsten ein, zwei Jahren absterben würden. Sie zeigten uns, wo die besten Pilze wuchsen und wo der Bach gelegentlich über die Ufer trat. Solche Dinge eben. Dinge, die man nur weiß, wenn man ein Stück Land lange bearbeitet hat und darin lesen kann wie in einem Buch, das Kommende voraussehend.

Das fiel mir bei unserem kleinen Rundgang mehrmals auf: Die beiden hatten sehr viel Zeit damit verbracht, das Land in diesem Tal von Grund auf kennenzulernen. Menschen zu sehen, die eine derart tiefe Verbindung zur Natur geknüpft hatten, war beeindruckend und eine echte Lektion in Sachen Bescheidenheit. Menschen, die schon so lange hier lebten und jeden Tag so bewusst gestalteten. Ihr Wissen war schlicht beeindruckend. Ich wollte das auch. Ich wollte es unbedingt.

Mir fiel außerdem auf, wie Lucy Dan ab und zu einen Blick zuwarf. Jedes Mal nur ganz kurz, aber sie biss sich dabei in die Wange, und Falten zeichneten sich auf ihrer Stirn ab. Dan erwiderte ihren Blick vielleicht eine Sekunde lang, dann sah er wieder weg und fuhr mit seinen Erklärungen fort.

Als wir zum Haus zurückgingen, fragte Lucy Sasha, ob sie ihr eine Stelle auf dem Grundstück zeigen solle, wo wilder Spargel wuchs. Bevor die beiden uns allein ließen, sah ich, wie Lucy ihrem Mann wieder einen dieser leicht besorgten Blicke zuwarf, der ebenso schnell wieder verschwand. Lucy hakte sich bei Sasha unter, dann schlenderten die zwei davon und lachten über irgendwas.

Dan fragte mich, ob wir uns auf der Veranda unterhalten könnten, also fragte ich im Gegenzug, ob er Lust auf ein Bier hatte. Ich holte uns zwei.

Der erste, eiskalte Schluck schmeckte herrlich. Auch Dan nahm einen langen Schluck, dann stellte er die Flasche ab und rückte seinen Stuhl zurecht, sodass er mir genau gegenübersaß. Er lehnte sich zurück, stützte die Ellbogen auf die Knie und verschränkte die Finger, beugte sich wieder vor und blickte mir direkt in die Augen. Ich hielt seinen Blick einen Moment lang fest, bis mir auffiel, wie ich in meinem Stuhl herumzurutschen begann. Ich wollte die allmählich unangenehm werdende Stille unterbrechen, da blickte Dan zu Boden, als suche er nach den richtigen Worten. Als er wieder aufsah, fixierte er mich mit einer grimmigen Intensität.

»Harry, was ich dir gerade erzählt habe, wird sich im Lauf der Jahre als sehr praktisch bei der Bestellung des Landes erweisen. Aber es gibt noch ein paar andere sehr wichtige Dinge, die ich dir mitteilen muss. Dinge, die schwer zu erklären sind, an die du dich aber trotzdem streng halten musst. Ich kann es gar nicht stark genug betonen: Diese Dinge sind wichtig, verstehst du?«

Ich grinste unwillkürlich – eine Übersprungshandlung, die mir immer dann passiert, wenn ein Gespräch unvermittelt ernst wird. Doch ich bewunderte Dan, also stellte ich mein Bier ab und nickte. »Klar, Dan. Ich bin ganz Ohr.«

»Was ich dir jetzt sage, wird dir ein wenig … seltsam vorkommen. Vielleicht sogar beängstigend. Aber du musst mich anhören. Was ich dir mitzuteilen habe, kann – und wird es wahrscheinlich auch – dir das Leben retten. Du musst mir zuhören, als wäre ich ein Unteroffizier, der schon ein Jahr im Land ist, und du bist ein frischer Rekrut, der gerade erst eingeflogen wurde.«

Normalerweise finde ich diese Militäranalogien einfach nur kitschig, aber ich konnte regelrecht spüren, wie ernst es diesem Mann war. Also nickte ich nur und hielt seinen Blick fest. »Ich höre, Sir.«

Dan nickte und zog ein Bündel zusammengefalteter Notizen aus der Jackentasche. Er zeigte sie mir kurz und legte sie dann zwischen uns auf den Tisch. Ich betrachtete sie und sah das Wort »Frühling« in Großbuchstaben als Überschrift auf der ersten Seite.

Dan begann zu sprechen und zog meine Aufmerksamkeit wieder auf sich. »Damals, im Winter 96, als die Seymours diese Ranch gekauft haben, kamen Lucy und ich ebenfalls rüber und führten exakt das gleiche Gespräch mit den beiden. Es war das letzte Mal, dass wir mit irgendjemandem über diese Dinge gesprochen haben. Als wir herzogen, wohnten die Jacobsons noch in diesem Haus hier. Die Henrys lebten ein Stück die Straße rauf auf der alten Landschenkung, die Joe inzwischen gekauft hat und die jetzt Teil der Berry Creek Ranch ist. Und dann gab es natürlich noch Joes Familie. Inzwischen sind Lucy und ich, Joe und Sie beide die einzigen drei Landbesitzer in diesem Tal außer der Regierung. Alles andere hat die Familie des alten Joe mittlerweile aufgekauft.«

Ich nickte. »Ich hab die Berry Creek Ranch gesehen, das ist ein ziemlich großes Stück Land. Bist du mit diesem Joe befreundet, dem sie gehört? Ich würde ihn gerne kennenlernen.«

Dan nickte. »Sicher. Joe ist wie ein Familienmitglied. Er ist Shoshone und Bannock, seine Familie besitzt hier schon länger Land als irgendjemand anderer. Aber gelebt haben die Shoshonen und Bannock hier schon, als es das Römische Reich noch gab. Joe war derjenige, der Lucy und mir damals erklärt hat, was ich dir jetzt gleich erklären werde.«

Ich nickte und schaute weg. Nach einem Moment sah ich Dan wieder an, der mir einen kurzen Seitenblick zuwarf und schließlich weitersprach. »Ich weiß, wir haben uns eben erst kennengelernt, aber du musst mir jetzt wirklich gut zuhören, Junge. Es wird sich für dich vollkommen verrückt anhören, soviel ist sicher, und es ist unwahrscheinlich, dass du mir auf Anhieb glauben wirst. Aber du musst mir einfach zuhören und darauf vertrauen, dass ich dich nicht auf den Arm nehme.«

Dan ließ seine Worte in der Luft schweben, und ich war ziemlich sprachlos. Ich hatte sogar ein bisschen Angst – vor allem vor der Tatsache, dass mein cooler alter Nachbar, der mir vor wenigen Sekunden noch so weise und geerdet vorgekommen war, nun gleich über etwas schwadronieren würde, das er selbst vorsorglich als lächerlich hingestellt hatte. Ich setzte mich auf und beugte mich ein Stück nach vorn, um einen Blick auf Sasha und Lucy zu erhaschen, konnte sie aber nirgendwo sehen.

Dan spürte meine Anspannung und folgte meiner Blickrichtung. Er deutete beinahe ungeduldig mit seiner kräftigen Hand. »Bei den beiden ist alles in bester Ordnung, mein Freund. Sie sitzen am Teich und unterhalten sich ein bisschen.«

Ich beugte mich noch weiter vor, bis ich Sasha mit Lucy auf einem Baumstamm sitzen sah. Sie schauten Richtung Haus, während Dash hinter ihnen im Bach spielte.

Dans Stimme holte mich zurück ins Hier und Jetzt. »Lucy bespricht gerade das Gleiche mit Sasha. Du musst mir jetzt genau zuhören, okay?«