Olga & Co – Die Sache mit dem Glücksräuber - Barbara van den Speulhof - E-Book

Olga & Co – Die Sache mit dem Glücksräuber E-Book

Barbara van den Speulhof

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Dem Glück auf der Spur! Ein Freundebuch wird aus dem Rucksack gestohlen, ein Anorak wird mit Farbe besprüht und ein Zwergkaninchen verschwindet. Olga und ihre allerbeste Freundin Constanze, genannt Co, beschließen, sich auf die Fährte des Glücksräubers zu machen. Aber der Fall entpuppt sich als äußerst schwierig, die Ermittlungen als zäh und zeitraubend. Schließlich schaffen es Olga und Co, den Kreis der Verdächtigen einzugrenzen, bis nur noch einer übrig bleibt. Und der ist selbst ein kleines Häufchen Elend. Aber wie macht man einen Glücksräuber wieder glücklich? Eine spannende realistische Geschichte mit detektivischen Elementen um Freundschaft, Mut und Selbstvertrauen für Mädchen ab 8

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 143

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Barbara van den Speulhof

Olga & Co – Die Sache mit dem Glücksräuber

Mit Vignetten von Nina Dulleck

FISCHER E-Books

Inhalt

1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. KapitelUnd was danach noch kam …

1. Kapitel

Es war Freitagabend. Ich lag in der Wanne und formte aus Badeschaum so viele Berge und Hügel, bis alles aussah wie eine verschneite Winterlandschaft.

»Alpenschaum«, sagte ich leise. »Echter Alpenschaum.«

Ich dachte an die Winterferien vor zwei Jahren, als wir zum Skilaufen in die Berge gefahren waren. Vorsichtig pustete ich gegen die Bergschaumspitzen. Sie bogen sich zur Seite. Dieses Jahr würden wir in den Weihnachtsferien zu Hause bleiben. Und trotzdem freute ich mich. Constanze würde mit ihren Eltern zu Besuch kommen. Nicht zu uns, sondern zu Constanzes Oma, die Siggi Seelbach heißt und unsere Nachbarin auf der gegenüberliegenden Straßenseite ist. Siggi ist auch die Besitzerin des Kiosks in der Laubenkolonie »Kaiserkrone«. Sie verkauft Getränke, Zeitschriften, Süßigkeiten, Dosenravioli. Und saure Zungen. Das sind meine Lieblingssüßigkeiten, weil sie so schön sauer sind, dass man das Gesicht verziehen muss. Am Kiosk komme ich jeden Tag vorbei, wenn ich zur Schule gehe. Durch Siggi Seelbach hatte ich Constanze kennengelernt. Eigentlich wohnt sie in Stockholm, der Hauptstadt von Schweden. Dorthin waren ihre Eltern gezogen, als Constanze noch babyklein war. Als sie im Sommer vier Wochen bei Siggi war, hatte sie mir geholfen, meinen ersten Kriminalfall zu lösen: die Sache mit Patzkes Brief. Als nämlich unser Nachbar Patzke mich beschuldigt hatte, einen Drohbrief an ihn geschrieben zu haben. Ziemlich aufregend war das alles. Mit Polizei und so.

Seitdem waren Constanze und ich beste Freundinnen. Außerdem waren wir Olga & Co. Olga wie Olga. Co wie Compagnie. Oder Co wie Constanze. Das geniale und wahrscheinlich jüngste Detektivteam der Welt.

»Olga! Nicht träumen, auch waschen!«, hörte ich Mama aus der Küche rufen.

»Ich träume ja gar nicht!«, rief ich zurück. »Ich erinnere mich. Damit ich nicht vergesse, was ich schon alles erlebt habe.«

»Deine Ausreden werden immer besser«, lachte sie und klapperte weiter mit dem Abendbrotgeschirr.

Mama ist Filialleiterin in einem Drogeriemarkt. Das ist sehr praktisch, weil wir deshalb immer gutriechende Saubermachsachen im Bad haben. So wie der Winterschaumtraum, mit dem man sogar die Alpen nachbauen kann. Das steht aber nicht auf der Packung. Weil ich es gerade erst erfunden hatte.

Ich setzte mir eine Bergspitze auf das Knie und nannte sie Matterhorn. Dabei hörte ich, wie die Wohnungstür auf- und wieder zuging. Wahrscheinlich war es Papa, der von der Arbeit kam.

Mein kleiner Bruder Juri war in seinem Zimmer. Er hörte bestimmt ein Hörbuch und las gleichzeitig das Buch dazu. Das hat er sich ausgedacht, um schneller lesen zu lernen. Er ist in der ersten Klasse und sehr ehrgeizig. Er sagt, er will so schlau werden wie ich. Ich bin gespannt, wie das mal ausgeht.

Es klopfte an der Tür.

»Olga? Bist du noch da drin?«

»Ja, Papa.«

»Wir essen gleich. Kommst du?«

Seufzend zog ich den Stöpsel.

»Tschüs, du Matterhorn. Tschüs, ihr Alpen«, sagte ich und drückte mit der Hand die schiefen Schaumberge flach.

Als ich eingewickelt in meinen Bademantel in die Küche kam, wartete der Rest der Familie schon auf mich. Papa hatte frisches Weißbrot, Käse und Salat vom Wochenmarkt mitgebracht. Wie jeden Freitag.

Zwischen zwei Weißbrotscheiben packte ich so viel grünen Salat wie nur möglich. Salatbrot war mein Lieblingsfreitagabendessen. Aber nur, wenn in der Salatsoße auch Schnittlauch war.

Heute war Schnittlauch drin.

Juri wollte das Gleiche essen wie ich. Wie immer. Ich war sein Vorbild. Ob ich wollte oder nicht. Ich wollte. Es gefiel mir, Vorbild zu sein. Es fühlte sich irgendwie wichtig an.

»Magst du die Geschichte, die du dir gerade anhörst, Juri?«, fragte Mama und nippte vorsichtig an ihrem dampfenden Tee.

»Ja«, nickte er. »Peter Pan ist ein klasse Typ. Und das Beste ist: Die Kinder haben einen Hund als Kindermädchen! Nana heißt er.«

Mama nickte. Papa kaute. Juri schaute erwartungsvoll erst Papa, dann Mama an.

»Was ist?!«, fragte Mama, als sie merkte, dass Juris Blick an ihr klebte.

»Einen Hund als Kindermädchen. Verstehst du?!«, sagte mein kleiner Bruder mit Nachdruck.

»Ja, ja. Ich habe verstanden.«

Mama wirkte abwesend, und ich merkte, dass sie nicht verstand, was Juri eigentlich damit sagen wollte.

»Ich hab das Buch als Kind auch gelesen«, mischte sich Papa ein. »War da nicht auch eine Mutter, die abends die Gedanken ihrer Kinder sortiert? Lustige Idee …«

Juri machte ungeduldig große Augen und wurde lauter.

»Ich sagte: einen Hund als Kindermädchen!«

Als weder Papa noch Mama reagierte, platzte es aus ihm heraus: »Könnte ich nicht auch einen Hund haben? Als Kindermädchen?«

Mama legte ihr Messer zur Seite und verschränkte ihre Finger.

»Nee, nee, nee!«, sagte sie mit fester Stimme. »Du brauchst kein Kindermädchen, Juri. Du gehst nach der Schule in den Hort und danach mit Olga nach Hause. Und einen Hund brauchst du schon gar nicht. Auf den müsstest nämlich du aufpassen. Und nicht umgekehrt.«

Mamas Ton verriet, dass sie keinen Widerspruch duldete.

Juri ließ enttäuscht den Kopf hängen.

»O Mann. Nie krieg ich das, was ich mir wünsche«, brummte er und schob enttäuscht seinen Teller zur Tischmitte.

Papa legte eine Hand auf seinen Arm. »Das musst du doch verstehen. Wir wohnen hier zur Miete. Und laut Vertrag ist Hundehaltung in diesem Haus nicht erlaubt.«

»Pffh«, sagte Juri, und es klang fast so, als hätte er geniest. »Das sind doofe Leute, diese Vermieter. Ich mag die nicht. Die verstehen nicht, was Kinder wirklich brauchen.«

Mama sog Luft ein und stieß sie geräuschvoll wieder aus.

»Lass uns bitte das Thema beenden. Wir wollen keinen Hund. Und wir brauchen keinen Hund.«

2. Kapitel

Samstagmorgen um zehn war ich zum Telefonieren mit Co verabredet. Seit ihrer Abreise nach den Sommerferien sprachen wir jeden Samstag um diese Uhrzeit miteinander. Einmal rief sie an, einmal ich. Wegen der Verteilung der Kosten.

Fünf Minuten vor zehn saß ich an meinem Schreibtisch. Das Telefon lag vor mir. Ich starrte es so lange an, bis es endlich klingelte.

»Hey, hey!«, trällerte mir Co fröhlich ins Ohr. »Wie geht es dir?! Alles in Ordnung? Gibt es besondere Vorkommnisse zu vermelden? Irgendwelche verdächtigen Ereignisse?«

»Keine besonderen Vorkommnisse«, antwortete ich im professionellen Tonfall einer Detektivin und legte lässig meine Füße auf den Schreibtisch. »Außer vielleicht …«, ich schaute auf meinen rechten Fuß, »… ein Loch in meinem Strumpf.«

Co lachte. »Sollen wir dem nachgehen?«

»Das Vergehen ist zu klein, als dass sich eine Suche nach dem Schuldigen lohnen würde«, sagte ich und zog kurzerhand den Strumpf aus.

»Freust du dich denn, wenn ich komme?«, wechselte Co das Thema.

»Klar freue ich mich! Was denkst du denn?! Ich hab schon überlegt, was wir dann alles machen können: Schlittschuhlaufen, auf den Weihnachtsmarkt gehen, in die …«

»Liegt denn Schnee bei euch?«, unterbrach mich Co.

»Schnee gibt es zurzeit nur bei uns in der Badewanne«, kicherte ich und berichtete von meinem gestrigen Ausflug in die Winterschaumtraumberge.

»Und was machst du heute noch?«, fragte sie dann.

Ich schaute auf das kleine Buch, das auf meinem Schreibtisch lag.

»In Leas Freundebuch schreiben«, sagte ich. »Das ist ein Mädchen aus meiner Klasse. Ich hab gar nicht viel mit ihr zu tun. Dicke Freunde sind wir auf jeden Fall nicht. Vielleicht will sie das Buch einfach voll kriegen. Es sind nur noch ein paar Seiten frei.«

Das sagte ich aus zwei Gründen: weil es stimmte und weil ich nicht wollte, dass Co eifersüchtig wurde. Denn sie war meine beste Freundin. Egal, wie weit weg sie wohnte.

Dann berichtete Co, was bei ihr so los war. Sie ging auf eine deutsch-schwedische Schule, und alles, was sie erzählte, klang so aufregend fremd. Nachdem ich Co kennengelernt hatte, hatte ich mir einen Film über Stockholm angeschaut. Die Stadt gefällt mir. Sie liegt am Wasser und hat drumherum einen Schärengarten. Das ist aber kein Garten mit Blumen und Bäumen und so. Das sind viele kleine Inseln, man könnte deshalb auch Inselgarten sagen. Co fährt mit ihren Eltern oft mit einem Boot zu einer der Inseln, wo sie ein kleines Sommerhaus besitzen. Ein Sommerhaus! Das hätte ich auch gern. Ich heiße nämlich Sommer mit Nachnamen. Genauso wie meine Eltern und mein Bruder.

Nach einer halben Stunde verabschiedeten wir uns. Ich freute mich schon auf nächsten Samstag und das nächste Telefonat. Das wäre zugleich das letzte vor ihrer Ankunft. Nur noch 13 Tage! Jippieh!

Nachdem ich ein paar ungelochte Strümpfe angezogen hatte, klappte ich Leas Freundebuch auf. Ich suchte eine unbeschriebene Seite und schaute mir an, was ich alles ausfüllen sollte. Der Anfang war leicht. Vorname, Name, Geburtsdatum, Adresse, Telefonnummer, Handy, E-Mail. Dann sollte ich meine Körpergröße eintragen. Ich seufzte. Ich finde es doof, dass ich so klein bin. Fast die Kleinste in meiner Klasse.

Ich stand auf und ging ins Wohnzimmer, wo Papa gerade seine Hemden bügelte.

»Papa, kannst du bitte messen, wie groß ich bin?«, fragte ich.

»Das habe ich doch erst letzte Woche gemacht«, antwortete er, ohne vom Bügelbrett aufzuschauen.

»Ich bin bestimmt gewachsen seither«, gab ich zurück.

»Na schön.« Er stellte das Bügeleisen hochkant auf sein Hinterteil. »Dann hol schon mal den Zollstock.«

Juri, der auf dem Esstisch seine Malsachen ausgebreitet hatte, legte den Buntstift weg. »Warum heißt das Ding eigentlich Zollstock? Damit misst man doch Zentimeter.«

Ja, es war wirklich so. Mein kleiner Bruder ließ keine Gelegenheit aus, um schlauer zu werden. Ich war froh, dass er nicht mich, sondern Papa anschaute, als er die Frage stellte. Ich hätte sie nämlich nicht beantworten können.

»Zoll ist eine alte Maßeinheit«, klärte ihn Papa auf. »Wir benutzen sie aber auch heute noch. Zum Beispiel, um die Größe von Reifenfelgen anzugeben.«

Mit Reifen kennt sich Papa gut aus. Er ist der Verkaufschef von einer Firma, die mit Reifen handelt.

»Du hast recht, Juri. Das ist verwirrend. Nennen wir das Ding ab jetzt Metermaß.«

Ich gab Papa den Zollstock, der jetzt Metermaß hieß, und den ich aus dem Werkzeugkasten in der Küche gefischt hatte. Ich stellte mich in den Türrahmen und legte mir ein Frühstücksbrettchen auf den Kopf. Ich hatte ein extra dickes genommen und hoffte, dass Papa das Holz vom Brettchen mitmessen würde. Dann machte ich einen extra langen Hals und versuchte, mich im Ganzen noch mal ordentlich zu strecken.

»Olga schummelt!«, kreischte Juri quer durchs Zimmer. »Sie hat sich auf die Zehenspitzen gestellt!«

»Alte Petze!«, knurrte ich und ließ die Fersen sinken.

»Ein Meter sechsunddreißig«, verkündete Papa das Ergebnis. »Allerdings ohne Frühstücksbrettchen.« Er grinste.

Ich war enttäuscht. Seit einer Woche war ich keinen Millimeter gewachsen.

»Meinst du, ich kann ein Meter neununddreißig schreiben?«, fragte ich. »Bis ich Lea das Buch zurückgebe, bin ich bestimmt größer geworden. Außerdem mogeln die anderen auch.«

»Klar.« Papa nickte gnädig und widmete sich wieder seinen zerknitterten Hemden. Ich ging zurück in mein Zimmer.

»Ein Meter einundvierzig«, schrieb ich in schönster Schrift und streckte mich dabei.

Bei Schuhgröße konnte ich jetzt unmöglich 34/35 angeben. Das würde ja überhaupt nicht zu meiner Körpergröße passen. Also schrieb ich: 36.

Die anderen Fragen waren wieder leichter.

Bei Ich wünsche dir schrieb ich: dass du immer glücklich bist. Jedenfalls so oft es geht.

Zum Schluss gab ich bei Hobbys an: Kriminalfälle lösen.

Und bei Berufswunsch: Detektivin.

Das stimmte. Hundert Prozent. Obwohl ich zusammen mit Co erst einen einzigen Fall gelöst hatte. Die Sache mit Patzkes Brief. Aber da wir auch erst an einem einzigen Fall gearbeitet hatten, lag unsere Erfolgsquote bei hundert Prozent. Mathematik kann so schön sein, dachte ich und klappte Leas Freundebuch zu.

Mit dem Eintrag ins Buch hatte ich auch schon alles erledigt, was ich mir für heute vorgenommen hatte. Alles. Was sollte ich jetzt tun? Zimmer aufräumen? Nö. Mit Juri spielen? Nö. Ein Buch lesen? Nö. Film anschauen? Nö.

Ich merkte, wie die Langeweile mir durch die Beine in den Bauch kroch. Wenn sie erst einmal in den Armen angekommen war, dann war es zu spät, um sie zu vertreiben. Dann fühlte man sich wie ein nasser Sack. Der hängt auch nur doof rum und weiß nicht, was er machen soll.

3. Kapitel

Ich stand auf und ging in die Küche.

Immer wenn mir langweilig ist, gucke ich in den Kühlschrank. Egal, ob ich Hunger habe oder nicht.

Der Kühlschrank war voll. Und aufgeräumt. Aus dem Gemüsefach blitzte mir etwas Gelbes entgegen.

Ja! Genau! Das war’s! Ich würde Zitronenklimperlimonade machen! So wie ich es von Co gelernt hatte.

Ich presste Zitronen aus, goss den Saft in eine Karaffe und füllte sie mit Mineralwasser auf. Dann kam der Zucker und zum Schluss das Klimpern. Zum Klimpern braucht man Eiswürfel mit feingeschnittener Minze aus dem Eisfach. Seit Constanzes Besuch hatten wir die immer vorrätig.

Mit einem langen Holzlöffel rührte ich um. Ich kann nichts dagegen tun. Das Geräusch klimpernder Eiswürfel macht mich einfach glücklich.

Ich goss mir ein großes Glas ein. Auf dem Weg zurück in mein Zimmer kam mir ein Gedanke.

Ich setzte mich an den Schreibtisch, klappte Leas Freundebuch wieder auf und nahm einen Stift und ein Blatt Papier. Dann schrieb ich alle Namen und Adressen ab, die ich darin fand. Die meisten Kinder kannte ich. Aber nicht alle.

Wer weiß, wofür es gut ist. Eine Detektivin braucht immer genügend Datenmaterial, um für den Ernstfall gerüstet zu sein.

Wie schnell dieser Ernstfall kommen würde, ahnte ich an diesem Tag noch nicht.

Ich ahnte lediglich, dass es mein Bruder war, der gerade an meine Tür klopfte. Dazu brauchte ich allerdings keinen detektivischen Spürsinn. Er wollte mit mir spielen, das war klar.

»Spielen wir was?«, piepste er.

Juri piepst immer, wenn er was von mir will. Je größer sein Wunsch ist, umso höher wird seine Stimme.

»Was denn?«, fragte ich ohne mich zu ihm umzudrehen.

»Ein Brettspiel oder so.«

»Ach, ich weiß nicht«, sagte ich betont gelangweilt, um ihn ein bisschen zappeln zu lassen. Das ist ein Trick von mir. Wenn ich erst mal so tue, als hätte ich keine Lust, dann ist er richtig dankbar, wenn ich am Ende doch ja sage. Bisher ist er mir noch nicht auf die Schliche gekommen.

»Büüütte«, piepste er weiter und machte mit den Händen Bettelbewegungen.

Ich war zufrieden.

»Okay.« Ich stand auf. »Aber höchstens eine Stunde. Ich habe nämlich noch viel zu tun.«

Das stimmte natürlich nicht. Ich war ja selbst vor nicht mal einer Stunde knapp an einer Langeweileattacke vorbeigeschliddert. Aber es gehörte zu meinem Dankbarkeitstrick. Jetzt mal ehrlich. Ich will nicht, dass ein falscher Eindruck entsteht, weil ich bei meinem Bruder ein paar Tricks anwende. Ich mag Juri total gern. Richtig sehr super total gern. Das weiß ich schon seitdem er auf der Welt ist. Und das Gern wurde immer größer, je größer Juri wurde. Einmal habe ich mir vorgestellt, dass es ihn gar nicht gäbe. Das tat richtig weh. Und war schlimmer als Bauchweh oder ein aufgeschrapptes Knie.

So. Das musste mal gesagt werden.

Und jetzt zurück zum Brettspiel.

Juri hatte Spitz pass auf! schon auf dem Wohnzimmertisch aufgebaut. Das ist eigentlich ein Spiel für Kleinere. Ich vermute, dass Juri es deshalb so gern mag, weil ein Hund, genauer gesagt ein Spitz, auf der Schachtel drauf ist. Er kann es sehr weit treiben, mit seiner Tierliebe. Er mag nicht nur Hunde, er mag alle Tiere. Auch die hässlichen. Ich sage nur ein Stichwort: Nacktschnecken.

»Kann ich mitspielen?«, fragte Papa.

Juri und ich schauten uns verwirrt an. Meistens versuchte Papa sich zu drücken, wenn wir ihn fragten, ob er mitspielen wollte. Nach einer Schrecksekunde sagte mein Bruder: »Ja, klar!«, und Papa setzte sich freudestrahlend zu uns. Er übernahm die Rolle des Würflers. Ich ließ Juri ein paarmal gewinnen. Damit er keine schlechte Laune kriegte.

Mama kam von der Arbeit nach Hause. Sie schaute auf das Bügelbrett und den Korb mit den Knitterhemden.

»Na, hast du dich erfolgreich vorm Bügeln gedrückt, Jochen?«

Sie gab Papa einen Kuss auf die Stirn.

»Nein!«, wehrte er ab. »Die Kinder haben mich … ähm … gebeten mitzuspielen.«

Bevor Juri sagen konnte, dass dies geschummelt war, gab ich ihm einen Tritt gegen das Schienbein. Er verstand. Er kannte meine Erziehungsmethoden. Ja. Erziehungsmethoden. Schließlich war ich stellvertretende Erziehungsberechtigte. Nicht gehobenes Management wie Mama und Papa, aber wenigstens mittleres Management. Die Vizemama eben.

»Ich hab euch was mitgebracht.« Mama kramte in ihrer Tasche und holte etwas Flauschiges heraus.

»Ein Kuscheltier!«, freute sich Juri, noch bevor er das bunte Knäuel genauer betrachtet hatte.

»Nicht ganz.« Mama hängte ihren Mantel an die Flurgarderobe und setzte sich zu uns.

Juri pflückte das Knäuel auseinander. »Socken?« Seine Enttäuschung hätte man ihm auf zehn Meter Entfernung ansehen können.

»Ja. Besonders weiche, warme Wintersocken. Die haben wir im Markt gerade im Angebot. Es soll ja noch kälter werden.«

Mama verteilte die Geschenke. Ich kriegte ein Paar rote, Papa ein Paar schwarze. Mama nahm sich die schwarzweißgeringelten. Und Juri bekam ein Paar in leuchtendem Gelb.

»Gelb?! O nein! Ich bin ein Junge! Ein Junge trägt doch keine gelben Socken!«

»Tut mir leid«, sagte Mama. »In deiner Größe waren nur noch die gelben da.«

Sie machte das Etikett und den Plastikfesthaltefaden ab, mit dem die beiden Socken verbunden waren.