On Ecstasy - Barrie Kosky - E-Book

On Ecstasy E-Book

Barrie Kosky

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Beschreibung

Barrie Kosky versteht es nicht nur als der gefeierte Regiestar der Komischen Oper in Berlin, sondern auch als unterhaltsamer und fesselnder Erzähler, der überwältigenden Macht des Gefühls einen glänzenden Auftritt zu bereiten. "On Ecstasy" ist seine Biografie des Schreckens und des Glücks im rauschhaften Moment: der Ekstase des Schmeckens beim Genuss der Hühnersuppe der geliebten Großmutter, der Ekstase des Fühlens im Pelzlager des Vaters in Melbourne, des Sogs der unbekannten Zonen des Geschlechts, der Überwältigung in der Begegnung mit den Sinfonien von Mahler und der überirdischen Halluzinationen der Opern von Wagner … "On Ecstasy" ist die humorvolle Betrachtung des sinnlichen Dranges und der éducation sentimentale eines jungen Mannes und seiner Genese als Künstler.

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Seitenzahl: 64

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Barrie Kosky

On Ecstasy

Aus dem Englischen vonUlrich Lenz

Barrie Kosky

On Ecstasy

© der deutschsprachigen Ausgabe 2021 by Theater der Zeit

First published in 2008 by Melbourne University Publishing Copyright © Barrie Kosky 2008

Published in Australia and New Zealand in 2020 by Hachette Australia

Texte und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich im Urheberrechts-Gesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeisung und Verarbeitung in elektronischen Medien.

Verlag Theater der Zeit

Verlagsleiter Harald Müller

Winsstraße 72 | 10405 Berlin | Germany

www.theaterderzeit.de

Übersetzung: Ulrich Lenz

Lektorat: Nicole Gronemeyer

Gestaltung: Gudrun Hommers

ISBN 978-3-95749-342-2 (Taschenbuch)

ISBN 978-3-95749-351-4 (ePDF)

ISBN 978-3-95749-352-1 (EPUB)

Für meine Großmütter, Leah und Magda.They don’t make them like that anymore.

Inhalt

Ekstase

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

More ecstasy

Über den Autor

Ekstase

gesteigerte Freude oder Vergnügen

ein emotionaler Zustand von solcher Intensität, dass der Mensch seiner Vernunft und Selbstkontrolle beraubt ist

mit mystischer oder prophetischer Begeisterung in Verbindung stehendes Gefühl von Trance, Rausch oder Verzückung

vom kirchenlateinischen ecstasis entlehnt, das auf griechisch ἔκστασις(ékstasis) „Außersichgeraten, Verzückung“ zurückgeht, von ἐξ-ίστασθαι (ex-hístasthai) „aus sich heraustreten, außer sich sein“

Es ist nicht notwendig, dass du aus dem Haus gehst. Bleib bei deinem Tisch und horche. Horche nicht einmal, warte nur. Warte nicht einmal, sei völlig still und allein. Anbieten wird sich dir die Welt zur Entlarvung, sie kann nicht anders, verzückt wird sie sich vor dir winden.

Franz Kafka

I

Im Anfang war kein Geruch. Sie schnitt einfach die Möhren, Zwiebeln, Pastinaken und den Sellerie in Stücke und warf sie über das rohe Huhn. Ich mochte dieses rohe Huhn nicht, wie es da tot und bewegungslos in diesem großen Kochtopf saß. Ich mochte es nicht. Ich vertraute ihm nicht. Ich war immer froh, wenn das Gemüse dazugeworfen und das Wasser über den Vogel gegossen wurde, um ihn für alle Ewigkeit zu ertränken. Es gab nichts zu riechen und nichts zu schmecken. Ich hatte zu warten. Volle 24 Stunden des Wartens, Wartens, Wartens.

Jeder ernst zu nehmende Hühnersuppen-Kenner wird Ihnen sagen, dass das Hühnersuppenritual in drei klar voneinander abgegrenzte Abschnitte geteilt ist: Vorbereitung – Erwartung – Verzehr. Jedes siebenjährige jüdische Kind wird Ihnen sagen, dass Vorbereitung und Erwartung ärgerliche, quälende Hindernisse auf dem Weg zum Verzehr sind. – Ist sie schon fertig? – Dieser große Kochtopf mit dem großen Deckel, in dem der seltsame Sud aus dicken Gemüseschnitzen und totem Huhn kochte. – Ist sie schon fertig? – Der Dampf, der unter dem Deckel hervorquoll, als ob mein Onkel Sol darunter säße und von dort seinen Zigarrenrauch hervorbliese. – Ist sie schon fertig? – Finger weg! Mit einem Klaps schlug meine Großmutter meine Pfoten weg vom Herd.

Meine polnische Großmutter machte eine Hühnersuppe, die mit keiner anderen Hühnersuppe vergleichbar war. Bis zum heutigen Tag ist mir keine bessere in den Teller gekommen. Sie machte eine Gehackte Leber, die in deinem Mund dahinschmolz. Sie machte Gefilte Fisch, die dir noch tagelang auf der Zunge hüpften. Sie machte einen Schokoladenkuchen, wie er in der westlichen Küche nie wieder zu schmecken sein wird. Aber ihre Hühnersuppe übertraf sogar noch all die Superlative dieser Kreationen. Ihre Hühnersuppe war der Caravaggio der Suppen. Der Rainer Maria Rilke der Suppen. Der Arturo Benedetti Michelangeli der Suppen.

Aber so weit sind wir noch nicht. Wir sind noch weit, sehr weit vom Verzehr entfernt. Als ob ich es nicht gewusst hätte! Nach vielen Stunden neigte meine Großmutter den Kochtopf über eine große Glasschüssel und goss die Flüssigkeit hinein. Und was für eine Flüssigkeit, oh, was für eine Flüssigkeit! Gold! Wie Howard Carter es erahnte, als er wunderbare Dinge durch das Loch in Tutanchamuns Grabmal sah. Gold! Wie die Räder unter dem Bechstein-Flügel meines Großvaters, wo ich immer hockte und versuchte, das Gold abzureiben, damit es an meinen Händen kleben bliebe. Gold! Wie das Kästchen auf dem Kaminsims meiner ungarischen Großmutter, in dem die Bridge-Karten darauf warteten, dass die Damen ihren Lunch beenden würden. Es war ein Nil, ein Amazonas, ein Euphrat aus flüssigem Himmelsgold. Aber es war noch nicht meines.

Die Kühlschranktür fiel zu und mir wurde wie immer gesagt, dass ich die Suppe nicht stören solle, damit sie schlafen könne. Eine schlafende Suppe! Ab und zu wollte ich einen Blick erhaschen, um zu sehen, ob es irgendeine Veränderung in der Schüssel gab. Ich war immer wieder aufs Neue erschüttert, wenn ich feststellen musste, dass sich die zuvor glänzende goldene Flüssigkeit am nächsten Tag in eine dunkle glibberige Pampe verwandelt hatte. Wie konnte etwas, das so unglaublich roch und so umwerfend aussah, nur 24 Stunden später als übler brauner Glibber enden? Das wollte mir einfach nicht einleuchten.

Was mir jedoch einleuchtete, war der Beginn von Teil drei des Rituals: der Verzehr. Wenn ich ein guter Junge gewesen war, meine Hausaufgaben brav gemacht, Klavier geübt und meine Hände gewaschen hatte, ließ mich meine Großmutter vorsichtig das erstarrte weiße Fett von der Oberfläche der Suppe abkratzen. Ich liebte diesen Teil. Mit dem Geschick, der Geduld und der Fingerfertigkeit eines plastischen Chirurgen trug ich die dicke Lage Fett mit einem Holzlöffel ab, vorsichtig darauf achtgebend, dass ich nicht die Haut der dunklen Pampe darunter verletzte.

Meine Großmutter schöpfte die braune Brühe in einen Kochtopf und schickte mich aus der Küche. – Sitzen. – Warten. – Es war unerträglich. Ich wollte schreien. Manchmal tat ich es. Wie beim berühmten Hühnersuppen-Wutanfall des Jahres 1977. – Ist sie schon fertig? – Und da endlich erschien sie, vor meinen Augen: die Hühnersuppe.

Der erste Löffel, mit dem die heiße Suppe in meinen Mund flutete und meine Kehle hinabrann, war tiefe, metaphysische Verzückung. Der zweite Löffel … pures Glück. Der dritte Löffel … kosmische Glückseligkeit. Der Hühnersuppenraum am Ende von Kubricks 2001. Eine Suppe, die dich an den Anfang und das Ende aller Zeiten katapultierte. Eine glänzende, reine, klare Rhapsodie in Gold.

Ein kleiner Junge mit braunem Cowboyhut hüpft einen steilen, trockenen Abhang hinunter. Er spielt auf einer silbernen Flöte. Der kleine Junge heißt Jimmy. Die silberne Flöte heißt Freddy. Auch die Flöte kann sprechen. Jimmy und Freddy springen in ein großes, schönes, in hellen Farben bemaltes Boot und segeln über das glitzernde Wasser davon.

Es ist vier Uhr nachmittags. Ein kalter, unwirtlicher Nachmittag in einem Vorort von Melbourne. Es ist das Jahr 1974. Ich bin sieben Jahre alt und sitze auf dem braunen Flokati-Teppich in unserem Wohnzimmer vor dem Fernseher. Sitze dort, wie ich es seit Wochen tue, jeden Tag pünktlich um 16 Uhr. Um genau zu sein: um 15.52 Uhr. Nur um ganz sicher zu sein. Um es auf keinen Fall zu verpassen. Ich konnte es gar nicht verpassen. Ich hätte es niemals verpasst. Darauf hatte ich ja den ganzen Tag gewartet. Es war der Höhepunkt des Tages: Jack Wilds nasse Jeans im Vorspann der amerikanischen Kinderserie H. R. Pufnstuf.

Sie waren nass. Sehr nass. Und sie waren eng. Sehr eng. Ich erinnere mich an zwei unterschiedliche Bilder: das erste, wie er bewegungslos am sandigen Flussufer auf dem Bauch liegt, mit diesen engen, nassen Jeans noch halb im Wasser; das zweite, wie er wieder auf die Beine gestellt wird von H. R. Pufnstuf, dem Bürgermeister von Living Island, und seinen beiden zwergenhaften Rettungsrangern Kling und Klang. Jack Wild schüttelt das Wasser aus seinem dichten schwarzen Haar, und seine Kleider kleben ihm am Körper. Nass und eng.