Only a Monster - Vanessa Len - E-Book
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Beschreibung

Düster und fantastisch: Ein Zeitreiseroman, der sowohl entschlossenen Helden als auch mutigen Monstern, alles abverlangt. Tauche ein in Vanessa Lens Universum: versteckte Welten existieren im Schatten, wunderschöne Monster mit unsäglichen Mächten bewegen sich zwischen ahnungslosen Menschen, und Geheimnisse gelten als mächtigste Waffe aller Zeiten. Zu Besuch in London bei der exzentrischen Familie ihrer Mutter, ist Joan fest entschlossen, Spaß zu haben. Als ihr Schwarm Nick sie um ein Date bittet, scheint ihr Glück perfekt. Doch dann kommt die Wahrheit heraus: Joans Familie verfügt über schreckliche, verborgene Kräfte. Und Nick entpuppt sich als legendärer Monsterjäger, der alles tun wird, um sie zur Strecke zu bringen. Joan ist gezwungen, sich mit dem skrupellosen Aaron Oliver zu verbünden, dem Erben einer verfeindeten Familie, und muss gleichzeitig akzeptieren lernen, dass sie in dieser Geschichte nicht die Heldin ist … »Verblüffend, herzzerreißend und nicht aus der Hand zu legen! Schämt euch nicht, wenn dieses Buch euch dazu verleitet, mit dem Monster statt dem Helden zu sympathisieren. Ein meisterhaftes Debüt.« Stephanie Garber, Autorin der »Caraval«-Reihe »Was für eine großartige, fesselnde Lektüre – ich konnte das Buch nicht weglegen! Spannende, originelle und komplexe Fantasy über Monster, Held:innen und all die Menschen irgendwo dazwischen.« Naomi Novik, Autorin der »Scholomance«-Reihe  #TikTok made me buy it

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Übersetzung aus dem australischen Englisch von Bettina Ain

© The Trustee for Vanessa Len Trust 2022

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

»Only a Monster«, HarperCollins, New York 2022

© der deutschsprachigen Ausgabe: Piper Verlag GmbH, München 2023

Redaktion: Svenja Kopfmann

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: Guter Punkt München, Stephanie Gauger, nach einem Entwurf von Jessie Gang

Coverabbildung: Eevien Tan

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Widmung

Prolog

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Fünfzehn

Sechzehn

Siebzehn

Achtzehn

Neunzehn

Zwanzig

Einundzwanzig

Zweiundzwanzig

Dreiundzwanzig

Epilog

Danksagung

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Für meine Familie, von Herzen

Prolog

Mit sechs Jahren wollte Joan Superman werden, wenn sie groß war, weshalb sie sich von ihrem Dad ein Kostüm wünschte, damit sie üben konnte. Er hatte noch nie gern Geld ausgegeben, also malte er ein S auf Joans blaues T-Shirt und gab ihr eine rote Serviette als Umhang. Joan trug das Kostüm jede Nacht.

»Superman?« Joans Gran, die sie in jenem Sommer besuchte, schnaubte spöttisch. »Du bist keine Heldin, Joan.« Vertraulich neigte sie den Kopf mit dem grauen Haar vor. »Du bist ein Monster.« Dabei klang das Wort Monster bei ihr, als wäre es etwas ebenso Besonderes, wie eine Elfe zu sein.

Joans Gran machte gerade das Bett im Gästezimmer, und Joan half ihr dabei und bezog die Kissen. Es roch nach frisch gewaschener Wäsche, und die morgendliche Sonne strahlte bis in alle Winkel.

»Monster sehen aus wie riesige Spinnen«, sagte Joan. »Oder wie Roboter.« Sie hatte genug Zeichentrickserien gesehen, um das zu wissen. Manchmal scherzte Gran, ohne zu lächeln. Vielleicht tat sie das auch jetzt.

Aber dieses Mal funkelte es in ihren Augen nicht scherzhaft. Im Gegenteil, sie blickte Joan ernst an. »Das sind keine echten Monster. Echte Monster sehen aus wie du und ich.«

Joan sah ihrer Gran gar nicht ähnlich. Sie kam nach der Familie ihres Vaters – den Changs –, der mit achtzehn aus Malaysia nach England gezogen war. Er hatte runde Wangen mit Sommersprossen, schmale Augen und glattes schwarzes Haar, genau wie Joan.

Gran sah aus wie Joans Mum auf den Fotos. Sie hatte Locken, die ihren Kopf wie eine Wolke umgaben, und grüne Augen, die aus ihrem Gesicht herausstachen. Manchmal entdeckte Joan denselben argwöhnischen Ausdruck in ihrem eigenen Gesicht, wenn sie in den Spiegel sah. Den Blick der Hunts nannte ihre Gran ihn.

Sie glättete die Decke und setzte sich auf Joans Bett, sodass sie nun mit Joan auf Augenhöhe war.

»Monster sind böse«, sagte Joan skeptisch. In Cartoons lauerten Monster unter dem Bett. Sie lachten unheimlich und viel zu lang. Sie aßen Menschen. In der Schule hatte Mrs Ellery Joan erzählt, dass man in China Katzen aß. Da hatte sich Joan gefühlt, als wäre sie ein schlechter Mensch – aber mit derselben Gegenwehr, die sie auch jetzt empfand. Sie war kein schlechter Mensch! Sie war nicht böse!

Aus irgendeinem Grund lächelte Gran daraufhin. »Manchmal erinnerst du mich an deine Mum.«

Joan hatte keine Ahnung, was das mit Monstern zu tun hatte. Aber sie hielt den Atem an und hoffte, Gran würde noch mehr erzählen. Ihre Mum war gestorben, als Joan noch ein Baby gewesen war, und Gran redete nur selten über sie. Zu Hause standen Fotos von ihrer Mum über dem Fernseher und hingen im Wohnzimmer an den Wänden, aber im Haus ihrer Gran gab es keine Bilder. Sie hatte stattdessen Gemälde von Feldern und alten Ruinen.

»Dad hat gesagt, dass sie klug war«, hakte Joan nach.

»Sehr klug.« Gran schob Joan das Haar aus der Stirn. »Klug und stur. Ihr musste man auch alles beweisen, bevor sie daran glaubte.«

Bevor Joan fragen konnte, was das bedeutete, griff Gran in die Luft über ihnen, als würde sie einen Apfel von einem Baum pflücken. Die Härchen in Joans Nacken richteten sich auf, auch wenn sie den Grund dafür nicht verstand.

Als Gran die Hand öffnete, lag etwas auf der Handfläche, das in der Morgensonne golden schimmerte. Eine Münze, aber keine, die Joan jemals gesehen hatte. Auf der einen Seite sah sie einen geflügelten Löwen, auf der anderen eine Krone.

»Ich weiß, wie du das gemacht hast!« Es nannte sich Taschenspielertrick. Joans Cousine Ruth hatte ihr mit einem Knopf gezeigt, wie das funktionierte. Man konnte etwas erscheinen und verschwinden lassen, indem man es zwischen den Fingern versteckte und sich in die Handfläche schnippte.

Gran drückte ihr die Münze in die Hand. Sie war schwerer, als sie aussah. »Zeigst du es mir? Kannst du sie verschwinden lassen?«

Ruths Trick war schwer gewesen, und Joan war er nur zweimal gelungen. Sie hatte den Knopf bestimmt hundertmal fallen gelassen. Aber Gran schaute sie so erwartungsvoll an, dass Joan die Münze zwischen ihrem Daumen und Zeigefinger balancierte.

»Nein«, korrigierte Gran sie. »So, wie ich es gemacht habe.« Sie schob die Münze auf Joans Handfläche und schloss Joans Finger darum. »Auf die Art der Monster.«

Ich bin keins, dachte Joan. Ich bin nicht böse! Gran war es auch nicht. Solange Joan sich erinnern konnte, hatte sie fast jeden Sommer bei ihrer Großmutter verbracht. Jedes Mal, wenn sie Albträume hatte, blieb Gran bei ihr. Und als Joan im Park einen verletzten Vogel gefunden hatte, hatte Gran ihn in ihren Schal gewickelt und sich um ihn gekümmert, bis er wieder fliegen konnte. So jemand war doch kein Monster!

Joan konzentrierte sich auf das Gewicht der Münze, bis sie es nicht mehr spürte. Sie öffnete die Finger und zeigte ihrer Gran die leere Hand.

Gran lächelte sanft. »Die Art der Monster«, sagte sie anerkennend. Dann fügte sie hinzu: »Zu dem Trick gibt es eine Regel.«

»Eine Regel?« Zu Hause bei ihrem Dad gab es auch Regeln, was sie tun sollte und was sie nicht tun durfte. Sie durfte nicht stehlen. Sie sollte anderen helfen. Sie durfte nicht lügen. Sie sollte der Lehrerin in der Schule zuhören.

Auch die Hunts hatten Regeln, aber es war, als hätten sie sich auf ganz andere geeinigt. Stehlen war keine schlimme Sache, genauso wenig Lügen – solange man das nur bei Fremden machte. Seine Schuld sollte man begleichen, und zur Familie sollte man loyal sein.

»Wir leben im Verborgenen«, sagte Gran. »Weißt du, was das bedeutet?«

Im Haus war es still. Selbst die Vögel vor dem Fenster zwitscherten nicht mehr. Joan schüttelte den Kopf.

Der sanfte Ausdruck auf dem Gesicht ihrer Großmutter war noch immer da, aber sie blickte wieder ernst. »Das bedeutet, dass niemand wissen darf, was die Hunts sind. Was du bist.« Sie senkte die Stimme. »Du darfst niemandem etwas über Monster verraten.«

Eins

Joan strich sich über das Haar und warf einen letzten Blick in den Spiegel im oberen Flur vom Haus ihrer Gran. Sie hatte heute ein Date. Mit Nick! Das Gesicht, das ihr aus dem Spiegel entgegensah, war überglücklich. Seit dem Beginn der Sommerferien arbeitete sie mit ihm in einem Museum, und sie war schon den ganzen Sommer in ihn verschossen. Allerdings waren im Museum alle in ihn verschossen.

Gestern hatte er Joan gefragt, ob sie mit ihm ausgehen würde. Dabei hatte er nervös auf der Lippe gekaut, als hätte er Angst gehabt, sie würde Nein sagen. Als würde ihr Herz nicht höher schlagen, wenn sie nur im selben Raum war wie er. Jetzt wollten sie den ganzen Tag zusammen verbringen, angefangen mit einem Frühstück in einem Café auf der Kensington High Street. Joan sah auf ihr Smartphone. In einer Stunde musste sie los.

Sie musste zugeben, dass sie ebenfalls nervös war – eine Mischung aus Aufregung und Vorfreude wie kurz vor einer Achterbahnfahrt machte sich in ihr breit. Über den Sommer waren sie und Nick sich immer nähergekommen, aber das hier fühlte sich wie der Anfang von etwas Neuem an.

Von unten drang Gelächter zu ihr hoch, und Joan atmete tief durch, um sich zu beruhigen. Die anderen waren bereits wach, und der vertraute Streit zwischen ihrem Cousin und ihrer Cousine drang die Treppe rauf, als sie runterging.

»Die beste Fälschung in der ganzen National Gallery?«, fragte ihr Cousin Bertie.

»Das ist einfach«, erwiderte ihre Cousine Ruth. »Monets Die Japanische Brücke.«

»Das ist doch nicht gefälscht!«

»Womit mein Punkt bewiesen wäre.«

»Du kannst nicht einfach irgendein Gemälde nennen!«

Joan blieb lächelnd auf dem unteren Treppenabsatz stehen. Den größten Teil des Jahres verbrachte sie bei ihrem Vater in Milton Keynes. Ihr gefiel das ruhige Leben bei ihm, aber das hier mochte sie auch – den Lärm im Haus ihrer Gran. Jeden Sommer verbrachte sie bei ihrer Gran, und sie freute sich jedes Mal von Neuem darauf.

In der Küche hockte Ruth auf der kaputten Heizung unter dem Fenster. Sie war mit ihren siebzehn Jahren ein Jahr älter als Joan und Bertie, aber an diesem Morgen sah sie aus wie ein Kind. Sie trug noch immer ihren Pyjama – eine graue Flanellhose und ein T-Shirt mit dem Decepticon-Logo der Transformers: ein großer, schnabelförmiger Roboterkopf. Ihre dunklen Locken rahmten ihr Gesicht ein.

»Haben wir noch Tee im Schrank?«, fragte Ruth Bertie.

Bertie reckte den Hals, um nachzusehen, ohne dabei die Pfanne mit den Pilzen und Tomaten aus den Augen zu lassen. »Nur das rauchige Zeug, das Onkel Gus so gern trinkt.« Er schien sich für einen Bootsausflug auf der Themse in den 1920ern angezogen zu haben, sogar ein Strohhut bedeckte sein schwarzes Haar. Die Hunts hatten ohne Ausnahme alle einen ausgefallenen Sinn für Mode.

»Das Zeug schmeckt wie …« Ruth unterbrach sich, als sie Joan in der Küchentür erblickte. Sie beäugte Joans neues Kleid und das glatte Haar, und dann begann sie, über das ganze Gesicht zu strahlen.

»Ruth«, warnte Joan sie. »Fang gar nicht erst an.«

Aber Ruth krähte schon: »Du siehst klasse aus, Joan!«

»Musst du zu einem Bewerbungsgespräch?«, fragte Bertie sie. »Ich dachte, du arbeitest noch im Museum.«

»Ich treffe mich mit jemandem zum Frühstück.« Joan spürte förmlich, wie sie rot anlief.

»Sie hat sich für ein Date in Schale geworfen.« Ruth legte sich eine Hand aufs Herz. »Es ist die ultimative Nerd-Romanze! Nach dem Frühstück gehen sie ins V&A und sehen sich gemeinsam mittelalterliche Textilien an!«

»Nerd-Romanze?« Trotz ihres Einspruchs konnte Joan nicht aufhören, zu lächeln. »Du weißt, dass das Victoria and Albert Museum noch andere Sachen hat. Es gibt historische Tapeten … Keramik …«

»Eine Liebesgeschichte für die Ewigkeit«, sagte Ruth. Sie lehnte sich gegen das Fenster, die Hand noch immer melodramatisch aufs Herz gedrückt. »Zwei Geschichts-Geeks arbeiten in den Sommerferien im Museum. Eines Tages wischen sie gemeinsam den Boden, über die Wischmopps begegnen sich ihre Blicke …«

Joan schnaubte. Sie lief zum Tisch und schnappte sich eine Toastecke von Ruths Teller. »Ihr könnt ja mal vorbeikommen und aushelfen. Es macht Spaß! Letztens haben wir gelernt, wie man kaputte Keramik repariert.«

»Eines Tages nehme ich dich auf, damit du dich selbst hörst«, erwiderte Ruth. Sie bewegte ihre Arme steif wie ein Roboter. »Ich bin Joan. Ich liebe gemeinnützige Arbeit. Ich bin so brav, dass ich die Straße nur überquere, wenn die Ampel grün ist.«

»Ja. Genauso klinge ich.«

Ruth grinste. Sie war vielleicht ein Jahr älter als Joan, aber ihre Beziehung hatte schon immer kopfgestanden. Ruth fand, dass Regeln sie nichts angingen, während Joan immer die ältere Schwester mimte: Sie nahm Diebesgut aus Ruths Taschen und legte es zurück in die Regale und zerrte Ruth zur Ampel, um die Straße zu überqueren.

Ruth nannte sie dann immer »Moralapostel«, aber sie sagte es stets voller Zuneigung. Sie kannten sich schon viel zu lange, um zu glauben, dass sie einander ändern könnten.

»Na los«, sagte Bertie zu Joan mit derselben Zuneigung, die Ruth für sie zu empfinden schien. Er stellte die Pfanne mit den Pilzen und Tomaten auf den Küchentisch. »Erzähl schon.«

»Lass uns an deiner Nerd-Romanze teilhaben«, forderte auch Ruth sie auf.

Joan stieß mit dem Fuß gegen Ruths Schuh. »Ich mag ihn«, gestand sie den beiden.

»Wirklich?« Ruth hatte die Geduld einer Person, die schon den ganzen Sommer von Nick gehört hatte. Sie nahm sich einen Pilz aus der Pfanne.

»Den Rest kennt ihr. Wir wollen uns heute zum Frühstück treffen, und danach gehen wir ins V&A.«

»Okay«, sagte Ruth. »Und schleicht ihr Geschichts-Geeks euch danach hinter die Ausstellungsstücke und …« Sie leckte übertrieben über den Pilz und machte anzügliche Geräusche.

»Ruth!«, beschwerte Bertie sich. »Ich hab die Pilze gekocht.«

»Mmm, mmm …«

Von der Treppe ertönte die trockene Stimme ihrer Gran: »Will ich wissen, was los ist?«

»Ich muss los!«, verkündete Joan, bevor die ganze Familie damit anfing. »Bis später!«

Onkel Gus und Tante Ada kamen hinter ihrer Gran die Treppe runter. »Wohin willst du denn?«, fragte Onkel Gus.

»Sie hat ein Date!«, rief Ruth.

»Wie bitte? Das will ich genauer wissen!«, erwiderte Tante Ada.

Joan flüchtete aus der Küche. »Wir reden später!«, rief sie ihnen aus dem Flur entgegen.

»Mit wem hat sie ein Date?«, fragte Ada die anderen.

»Mit dem Jungen, in den sie verschossen ist«, erklärte Ruth.

»Vor mittelalterlichen Textilien wird sie ihren Sommerschwarm küssen!«, sang Bertie währenddessen.

Darüber musste Joan lachen. »Tschüss! Bis später!«, rief sie über die Schulter und schloss die Tür hinter sich.

Joan lächelte noch immer, als sie die Lexham Mews hinauflief. Sie bog auf die Earl’s Court Road und dann auf die Kensington High Street ab. Der Sommer war bisher warm gewesen, und die dunstige Luft versprach einen weiteren heißen Tag.

Gerade als sie das Café erreicht hatte, erhielt sie eine Nachricht von Nick:

Ich bin in der U-Bahn.

Joan atmete aufgeregt ein. Er kam auch zu früh und wäre in nicht mal fünfzehn Minuten hier. Sie biss sich auf die Lippe. Sie konnte noch immer nicht fassen, dass sie einen ganzen Tag nur mit ihm verbringen würde.

Am Tresen bestellte sie sich einen Tee, den sie zu einem Tisch am Fenster trug. Hier strahlte ihr die Sonne warm ins Gesicht. Sie wollte gerade auf Nicks Nachricht antworten, da spürte sie einen Luftzug, als sich die Tür hinter ihr öffnete.

Ein lautes Scheppern ertönte, bei dem in der Mensa von Joans Schule alle in Jubelschreie ausgebrochen wären. Joan drehte sich um, genau wie alle anderen im Café.

Vor einem umgestürzten Tisch stand ein Mann, die Augen vor Bestürzung weit aufgerissen. Teller- und Glasscherben lagen auf dem Boden verstreut. Er blinzelte auf das Chaos hinab, als wäre jemand anderes dafür verantwortlich. »Ich möchte Blumen kaufen«, murmelte er.

»Nicht schon wieder.« Neben Joan stöhnte ein Kellner. »Ray, hol den Staubsauger! Der Betrunkene ist wieder da!«, rief er einer anderen Bedienung zu und wandte sich dann resigniert an den Mann. »Sie können hier keine Blumen kaufen. Das habe ich Ihnen schon mehrmals gesagt! Das hier ist schon seit Jahren kein Blumenladen mehr.«

Langsam erhob sich Joan. Sie hatte den Mann erkannt. »Er ist nicht betrunken«, erklärte sie dem Kellner.

Mr Solt wohnte in der gleichen Straße wie Gran. Letzte Woche hatte er ihr Haus genauso verwirrt betreten. Seine Tochter Ellie war den Tränen nahe gewesen, als sie zu ihnen gekommen war. »Er hat Demenz«, hatte sie Joans Gran erklärt. »Seit Mum letztes Jahr gestorben ist, ist es viel schlimmer geworden. Er weiß meistens nicht mal, welches Jahr wir haben.«

»Mr Solt?« Joan trat zu ihm, und unter ihren Schuhen knirschte das zerbrochene Glas. Überall lagen Scherben. Mr Solt trug Hausschuhe, aber keine Socken. Er musste den ganzen Weg von seinem Haus aus hierher in den Hausschuhen zurückgelegt haben.

»Wo ist der Blumenladen?« Mr Solt runzelte verwirrt die Stirn. Er war um die siebzig, groß, kahl und hatte breite Schultern. Jetzt stand er jedoch mit eingezogenem Kopf da wie ein kleiner Junge und sah aus, als würde er gleich weinen.

Joan versuchte, ihn von den Scherben wegzuführen. »Ich hole Ellie. Sie kann Ihnen Blumen holen, und dann können Sie nach Hause gehen.« Sie sah auf ihr Handy. Nick würde in etwa zehn Minuten hier sein. »Ist schon gut«, sagte sie über ihre Schulter zum Kellner. »Ich rufe seine Tochter an.«

Vorsichtig berührte sie Mr Solts Arm, und zu ihrer Erleichterung ließ er sich von ihr von den Scherben weg und durch die Tür hinausführen. Draußen schien die Sonne am wolkenlosen Himmel, was nicht oft vorkam. Es war so früh, dass die meisten Läden auf der Kensington High Street noch geschlossen waren.

»Suchen wir uns doch einen Platz zum Sitzen.« Aber als Joan sich umsah, konnte sie keine Bänke entdecken. Sie gab sich mit der Mauer zwischen dem Café und der Bank nebenan zufrieden. »Wollen Sie sich ein wenig anlehnen, während wir warten?« Mr Solt blinzelte sie an. »Wir warten hier«, erklärte sie ihm. »Ich rufe Ellie an, und wir warten hier auf sie.«

Mr Solt rührte sich nicht und starrte Joan ausdruckslos an. Ihr wurde ganz unbehaglich. Etwas Schreckliches wird gleich geschehen, dachte sie, ein Gedanke, über den sie sich sofort wunderte.

»Mr Solt?«

Er geriet ins Taumeln und riss die Hände hoch, um sich an Joans Schultern festzuhalten. Instinktiv wich sie zurück, aber er packte nur umso fester zu. Es war fast, als würden sie sich balgen, dabei versuchte Mr Solt nur, sein Gleichgewicht zurückzuerlangen.

Joan sah über die Schulter, um einen Blick durch die Fenster das Cafés zu werfen, aber sie stand im falschen Winkel und war der Bank näher. Aus dem Café ertönte das blecherne Geräusch eines Motors. Der Staubsauger. Joan sah in die andere Richtung – aus der Nick kommen würde. Aber auf der Kensington High Street war so wenig los wie noch nie.

Mr Solt drückte schwer auf Joans Schultern, und ihre Beine zitterten unter der Anstrengung, sich aufrechtzuhalten. Sie musste auf einmal daran denken, wie sie versucht hatte, ihre Matratze vom Bett zu ziehen, und unter ihrem Gewicht zusammengebrochen war. Sie hatte nach ihrem Dad gerufen, damit er ihr half, und er hatte anschließend so herzhaft gelacht, dass er sich am Türrahmen hatte festhalten müssen.

Sie versuchte, auch jetzt zu lachen. Es klang schrill und nervös. Sie hatte keine Angst, redete sie sich ein. Nicht wirklich. Mr Solt war verwirrt und wollte sich nur festhalten. Gleich würden sie beide ihr Gleichgewicht wiedererlangen.

Sie stellte sich vor, wie sie Nick davon erzählen würde, wenn er ankam. »Bevor du hier warst, ist etwas total Schräges passiert. Mr Solt hat das Gleichgewicht verloren, genau wie ich, und wir sind über die Kensington High Street geeiert.«

Joans Knie gaben nach. »Mr Solt!«, schrie sie. Der alte Mann runzelte die Stirn. Ganz kurz schien er wieder bei Verstand zu sein und schob Joan irritiert von sich. Sie stolperte rückwärts und riss die Hand hoch, um sich an seiner Schulter, seinem Hemd – einfach irgendwo – festzuhalten.

Sie stieß mit dem Rücken schmerzhaft gegen die Mauer und sah nur noch den wolkenlosen blauen Himmel.

Dann schien etwas einzurasten, und mit einem Mal war es dunkel, als hätte jemand das Licht ausgeknipst. Joan hörte nur noch ihren eigenen Atem. Ihr Orientierungssinn hatte sich vollkommen verabschiedet. Vorsichtig streckte sie die Hand in der Dunkelheit aus und versuchte, zu ertasten, wo sie war.

Lichtpunkte rasten an ihr vorbei, und sie zuckte zusammen. Taumelnd wich sie zurück. Die Lichter waren von einem Auto gekommen. Langsam gewöhnten sich ihre Augen an die Dunkelheit, aber die Orientierungslosigkeit wurde nicht besser. Sie verstand nicht, was sie da sah.

Auf der anderen Seite der Straße stand ein Burgerladen. Sie kannte ihn gut. Unzählige Male war sie daran vorbeigelaufen. Dann drehte sie sich um. Hinter ihr war das Café, dunkel und leer. Im Fenster hing ein Schild, auf dem »Geschlossen« stand. Dabei hatte sie sich doch gar nicht von der Stelle gerührt! Sie war noch immer hier, stand noch immer auf demselben Gehweg, auf dem Mr Solt sie geschubst hatte.

Allerdings war Mr Solt nicht mehr da.

Joan starrte vor sich hin. Gerade eben hatte sie noch auf Nick gewartet. Die Sonne hatte ihr ins Gesicht geschienen. Es war Morgen gewesen.

Aber der blaue Himmel war jetzt schwarz. Sterne leuchteten. Genauso wie der Mond.

Es war Nacht.

Zwei

Joan sah fassungslos zum dunklen Himmel hoch. Es war Nacht geworden – ohne Sonnenuntergang, schlagartig, als hätte jemand eine Decke über die Welt gelegt.

Und sie hatte keinen blassen Schimmer, warum. Gerade hatte sie noch auf Nick gewartet, und jetzt …

Sie wollte auf die Uhr sehen und stellte mit wachsender Verwirrung fest, dass sie ihr Smartphone nicht in der Hand hatte. Vage erinnerte sie sich daran, wie es ihr in dem Chaos aus der Hand gerutscht war.

Ein Auto rauschte an ihr vorbei und erhellte die Straße. Die Stelle, an der ihr Handy gelegen hatte, war leer. Desorientiert taumelte sie einen Schritt vor. Im selben Moment breitete sich Panik in ihrem Magen aus. Sie sollte sich hier mit Nick zum Frühstück treffen, aber das Café war leer, die Stühle waren aufeinandergestapelt. Ihr Blick fiel wieder auf das Geschlossen-Schild.

Was war passiert?

Mr Solt hatte sie geschubst, und dann … Sie versuchte, sich zu erinnern. Erst nichts. Dann Nacht.

Stimmen ließen sie hochschrecken. Eine Gruppe junger Frauen wankte schwatzend und lachend an ihr vorbei über die Kensington High Street. Sie hatten sich alle herausgeputzt und klammerten sich aneinander, um nicht hinzufallen, als wären sie mitten auf einer Sauftour. »Oooh, sorry«, sagte eine, die ein wenig zu nahe an Joan vorbeigelaufen war.

Mit wild schlagendem Herzen sah Joan ihnen nach. Sie genossen offensichtlich nur ihren Abend, ihnen war nichts Seltsames widerfahren.

Joan schloss die Augen und hoffte, dass sich die Welt wieder einrenken würde. Dass gleich wieder Morgen sein und Nick die Straße rauf auf sie zukommen würde. Aber als sie die Augen wieder öffnete, hing über ihr noch immer der Nachthimmel. Die Läden auf der Kensington High Street waren noch immer geschlossen, und hinter ihren Fenstern war es finster. Sie konnte die Nacht förmlich spüren. In dem Moment, in dem die Welt dunkel geworden war, war es auch kälter geworden.

Joan kniff sich in den Arm. Es tat weh. Die Luft war kühl. Der Boden unter ihren Füßen fest. Es war kein Traum. Aber wenn das hier real war … Sie drehte sich wieder zu den dunklen Fenstern des Ladens hinter ihr um. Dort hing ein Schild mit den Öffnungszeiten des Cafés: von sieben bis einundzwanzig Uhr. Wenn das alles real war, dann konnte sie sich an mindestens dreizehn Stunden nicht erinnern.

Sie drängte die erneut aufkommende Panik zurück und griff in ihre Tasche, um ihr Smartphone herauszufischen. Sie musste mit Nick reden – ihm sagen, dass sie hier war –, aber dann fiel ihr wieder ein, dass ihr Handy weg war.

Da überkam sie eine neue Welle der Panik. Es war zu viel. Sie war allein in der Dunkelheit und hatte keinerlei Erinnerung an den Tag. Mit einem Mal wollte sie nur noch nach Hause zu ihrer Gran. Sie fühlte sich wieder wie ein Kind – als wäre sie gestürzt und hätte sich wehgetan. Als würde alles wieder in Ordnung kommen, wenn sie nur nach Hause gehen und von ihrer Gran fest umarmt werden würde.

Stockend lief Joan über die Kensington High Street und dann auf die Earl’s Court Road. Die vertrauten Straßen wirkten in der Dunkelheit fremd, die Läden waren wie leere Hüllen. Wie spät war es? Es fühlte sich richtig spät an.

Was war nur passiert? Hatte sie irgendjemand k. o. geschlagen? Sie unter Drogen gesetzt? Hatte sie sich das alles nur eingebildet? Jeder Gedanke machte ihr noch mehr Angst.

Panisch blieb sie stehen und tastete ihre Kleidung ab. Erleichtert stellte sie fest, dass sie noch immer angezogen war und die Kleidung für ihr Date mit Nick trug – das Sommerkleid und die Sandalen.

War sie schlafgewandelt? Das hatte sie noch nie gemacht.

Aber hinter all ihren Mutmaßungen verbarg sich eine andere Frage, eine, an die sie nicht gern dachte: Was hatte Mr Solt ihr angetan?

Mr Solts Haus ragte an der Ecke zur Lexham Mews auf. Joan wich davor zurück, aus Angst, er könnte die Tür öffnen. Sie rannte los und stolperte über den unebenen Weg vor seinem Haus. Dann raste sie den Rest des Weges nach Hause und kam schlitternd auf der Türschwelle ihrer Großmutter zum Stehen.

Sie riss die Tür auf und verschloss sie hinter sich. Dann prüfte sie das Schloss zweimal. Als sie sich umdrehte, erwartete sie, das Haus dunkel und still vorzufinden, aber zu ihrer Überraschung leuchtete in der Küche noch immer Licht. Jemand war noch wach.

Joans Gran saß am Küchentisch und trank Kakao. Auf dem Herd köchelte ein ganzer Topf davon vor sich hin. Joan zögerte im Türrahmen, nicht sicher, ob sie in Schwierigkeiten steckte. Die Zeiger auf der Uhr verrieten ihr, dass es kurz nach eins war. Ihr Dad wäre durchgedreht, wenn Joan so lange weggeblieben wäre, ohne Bescheid zu sagen.

»Hallo, Liebes«, sagte Gran, ohne aufzusehen. »Komm, setz dich.« Auf dem Tisch stand eine zweite Tasse Kakao. Dampf stieg aus ihr auf.

»Ich …« Joan wusste nicht, was sie sagen sollte. Gran, ich glaube, ich wurde unter Drogen gesetzt. Oder ich hab mir den Kopf angeschlagen und das Bewusstsein verloren. Nichts davon fühlte sich richtig an. »Es ist was passiert«, brachte sie hervor. »Jemand hat mir was angetan.«

»Setz dich, Liebes«, forderte Gran sie noch mal auf. Dann schob sie den Kakao über den Tisch.

Joan ließ sich auf einen Stuhl fallen und legte die Hände an die Tasse. Sie war heiß.

In dem gedämpften Licht wirkte Gran sanfter als sonst. Sie trug einen Bademantel aus Flanell, und ihr gelocktes Haar umgab ihren Kopf wie ein grauer Heiligenschein. Sie wartete, bis Joan am Kakao genippt hatte, bevor sie fragte: »Was ist passiert? Erzähl es mir ganz genau.«

Joan versuchte, sich zu erinnern, und die Panik kroch sofort wieder in ihr hoch. Sie hatte den ganzen Tag vergessen. Sie konnte sich an nichts erinnern. »Mr Solt hat mir irgendwas angetan. Er hat was gemacht. Er … Er hat mich gegen die Wand gestoßen. Und dann …« Sie stand wieder vor der leeren Stelle in ihrem Kopf. »Und dann erinnere ich mich an nichts.« Die Worte platzten geradezu aus ihr heraus. »Gran, ich weiß nicht mehr, was seit heute Morgen passiert ist.«

»Er hat dich gestoßen.« Gran klang gelassen, was irgendwie beruhigend war. »Hast du ihn zurückgestoßen?«

»Was?« Die Frage kam so unerwartet, dass Joan nicht wusste, was sie darauf erwidern sollte. »Nein.«

»Aber du hast ihn berührt.« Sie fasste sich an den eigenen Nacken. »Hier.«

Joan wollte es schon abstreiten, aber dann erinnerte sie sich wieder daran, wie sie die Hand ausgestreckt hatte, um ihr Gleichgewicht zurückzuerlangen. Sie spürte wieder ganz deutlich, wie ihre Hand gegen Mr Solts Hals gestoßen war.

»Es war Tag«, sagte Gran. »Und dann war es Nacht, ohne dass Zeit vergangen war.«

Joan starrte sie an. Genauso war es gewesen. »Er hat mir was angetan«, hauchte sie.

»Er hat dir gar nichts angetan«, widersprach Gran. »Sondern du ihm.«

»Wie bitte?«

»Liebes, als du sechs warst, habe ich dir gesagt, was du bist.«

Joan schüttelte den Kopf. Sie konnte den Blick nicht vom Gesicht ihrer Gran lösen, die sich nun zu ihr vorbeugte. Gran »Du bist ein Monster, Joan.«

Auf dem Herd köchelte noch immer der Kakao. Joan hörte das träge Ticken der Uhr. Und die ganze Welt schien nur noch aus den grünen Augen ihrer Gran zu bestehen.

»Ich kann Dinge verschwinden lassen? Und dann zurückholen?« Sie war nicht besonders gut darin. Wenn überhaupt, so war ihre Fähigkeit über die Jahre schwächer geworden. Gran und Onkel Gus konnten ganze Gemälde verschwinden lassen, aber Joan war nie etwas Größeres als eine Münze gelungen.

Im gelben Küchenlicht strahlten die Augen ihrer Gran wie die einer Katze. »Das ist die Familienkraft der Hunts. Jede Monsterfamilie hat ihre eigene Kraft, aber alle Monster haben eine Kraft gemeinsam: Wir können reisen. Das ist es, was du gemacht hast.«

»Reisen?«

»Menschen sind an ihre Zeit gebunden«, erklärte Gran. »Monster nicht. Du hast dem Mann Zeit gestohlen und sie genutzt, um von heute Morgen nach heute Nacht zu reisen. Du bist durch die Zeit gereist.«

Joan wollte lachen. Sie wollte, dass Gran lachte. Aber diese sah sie nur an. »Wovon redest du?«

»Lebenszeit. Du hast ihm ein paar Stunden Lebenszeit gestohlen.«

»Hab ich nicht!« Sie hatte keine Ahnung, wovon Gran gerade sprach.

»Es war nicht viel«, sagte Gran. »Vielleicht ein halber Tag. Er wird einen halben Tag früher sterben, als er sollte.«

»Nein!« Menschen Lebenszeit stehlen … Joans Familie hatte sich immer als Monster bezeichnet, aber das, was Gran da behauptete, hörte sich so an, als wären sie richtige Monster! Als würden sie Jagd auf Menschen machen. Ja, manchmal klauten sie. Ruth konnte ein Fahrradschloss knacken. Bertie stahl sich durch die Hintertür ins Kino. Aber sie waren doch keine Monster!

»Ich hab ihm keine Lebenszeit gestohlen«, sagte Joan. »Das würde ich nie tun. Wir würden das nie tun! Und Zeitreisen … Das ist doch …«

In dem Moment fiel Joans Blick auf den Hut von Onkel Gus, der auf der Küchenbank lag. Er war wie alle Hüte von Onkel Gus gut erhalten. Dieser hier war kastanienbraun und hatte ein dunkelbraunes Hutband. Gus war schlank und kleidete sich gern im Stil der 1950er. Er mochte elegante Anzüge und Hüte. Selbst seine Frisur war altmodisch: glatt und mit einem sauberen Seitenscheitel.

Joan musste daran denken, was Tante Ada gestern früh getragen hatte. Ada hatte eine ausgefallene Garderobe, was Joan schon immer gefallen hatte. Gestern hatte sie einen Overall getragen und sich ein Tuch um den Kopf gebunden und über dem Scheitel zusammengeknotet, als wäre sie eine Mechanikerin. Vorgestern hatte sie ein weißes Kleid angehabt, als würde sie zu einer Gartenparty in den 1920ern gehen.

Als würde sie in der Zeit zurück zu einer Gartenparty in den 1920ern reisen.

Joan schob sich vom Tisch weg. Ihr Stuhl kratzte laut über den Boden.

»Joan«, sagte Gran.

Doch Joan klammerte sich an den Tisch und schüttelte den Kopf. Auch wenn ihr nicht klar war, was genau sie damit leugnen wollte.

Gran hielt ihr etwas entgegen. Es war Joans Smartphone, das sie im Kampf mit Mr Solt fallen gelassen hatte. Der Bildschirm hatte einen Riss.

»Vergiss die Regel nicht«, sagte Gran. »Niemand darf erfahren, was wir sind. Was du bist. Du darfst niemandem von Monstern erzählen!«

Joans Zimmer im oberen Stock war noch genauso, wie sie es am Morgen zurückgelassen hatte: Das Bett war unordentlich, und ihr Pyjama lag auf dem Kissen. Sie starrte auf ihr Smartphone, auf den langen, gezackten Riss im Bildschirm. Jemand hatte es ausgeschaltet. Gran hatte gewusst, dass sie heute Abend auf Joan warten musste, und offenbar hatte sie auch gewusst, dass sie Joans Smartphone holen musste. Joan schluckte.

Dann schaltete sie ihr Handy wieder ein. Als es aufleuchtete, fühlte sie sich, als hätte ihr jemand einen Eimer kaltes Wasser über den Kopf geschüttet. Sie sah mehrere Nachrichten von Nick, und sofort schossen ihr Tränen in die Augen. Sie hatte sich so auf den Tag mit ihm gefreut, und dann hatte sie ihr Date mit ihm verpasst. Nicht nur das, sie hatte ihm auch noch wehgetan. Sie hatte ihn versetzt.

Mit einem Kloß im Hals las sie die Nachrichten. Die erste war die, die sie heute Morgen gelesen hatte. Sie hatte ihm gerade antworten wollen, als Mr Solt aufgetaucht war.

Ich bin in der U-Bahn!

Ich bin da!

Alles in Ordnung? Treffen wir uns noch zum Frühstück?

Joan, ist alles in Ordnung?

Joan schluckte den Kloß in ihrem Hals runter. Die erste Nachricht hatte er ihr um 7:39 Uhr geschrieben, die letzte um 18:23 Uhr. Sie starrte auf ihr Handy und wusste nicht, was sie sagen sollte. Letztlich schrieb sie:

Tut mir leid! Mir geht’s gut. Es gab Probleme in der Familie.

»Du hast dem Mann Zeit gestohlen«, hatte Gran gesagt, »und sie genutzt, um von heute Morgen nach heute Nacht zu reisen. Du bist durch die Zeit gereist.«

Joan ließ sich auf ihr Bett fallen. Am liebsten hätte sie die Arme über das Gesicht gelegt und die ganze Welt ausgesperrt. Das konnte nicht real sein. Das könnte sie nicht ertragen! Gran hatte ihr erklärt, dass sie Mr Solt Zeit gestohlen hatte, dass er wegen ihr früher sterben würde. Aber das konnte nicht stimmen. Joan würde ihm doch nie wehtun! Und der Rest der Geschichte … war einfach unmöglich.

Trotzdem zeigte ihr Wecker Viertel nach eins an. Das war real. Dabei war Joan vor nicht mal einer Stunde zum Café gegangen. Auch das war real.

Monster. So hatte sich Joans Familie immer bezeichnet. Warum hatte sie nie nach dem Grund gefragt?

Sie beobachte das Blinken des Weckers. Die Minuten zogen in derselben Geschwindigkeit an ihr vorbei wie immer. Ein Uhr fünfundvierzig. Zwei Uhr dreißig. Es fühlte sich unnatürlich an, so spät in der Nacht noch hellwach zu sein. Als hätte sie einen Jetlag.

Bei diesem Gedanken kamen Erinnerungen in ihr hoch. Daran, wie Ruth manchmal völlig überdreht wirkte und dann eine Stunde später so erschöpft war, dass sie ins Bett fiel und die ganze Nacht durchschlief. Daran, wie sich Bertie fünfmal am Tag umzog.

Ruth und Bertie … Wenn das stimmte, dann hatten die beiden es die ganze Zeit gewusst und hatten Lebenszeit von Menschen gestohlen. Mr Solt würde einen halben Tag eher sterben, als er sollte, aber ihrer Gran hatte das scheinbar nichts ausgemacht. Als wäre sie wirklich ein Monster. Allein der Gedanke war unerträglich.

Sechs Uhr dreißig. Sieben Uhr dreißig. Irgendwann danach musste Joan eingeschlafen sein.

In ihrem Traum stand sie wieder mit Mr Solt vor dem Café. Doch als er sie diesmal schubste, drehte sie sich um, legte die Hände um seinen Hals und drückte zu. Er würgte und wehrte sich, aber obwohl er viel größer war als sie, war sie dieses Mal stärker. Dann, als hätte jemand einen Schalter umgelegt, wurde aus dem Tag Nacht.

Mr Solts Stimme drang aus der Dunkelheit: »Du bist ein Monster.«

Und Joan schreckte aus dem Schlaf. Die Vorhänge waren offen, und der Himmel hinter dem Fenster strahlte blendend weiß. Sie griff sich an den eigenen Hals und spürte die zarte Bewegung, als sie schluckte. Was war das für ein Traum gewesen? Was für ein Mensch würde so was träumen?

In der Küche unten aß Ruth Toast mit Marmite. Die Küchenuhr zeigte halb vier an. Joan konnte sich darauf keinen Reim machen. Ruth frühstückte. Draußen war es hell. Laut der Uhr war es halb vier. Das passte einfach nicht zusammen. Doch dann stellte sich ihr Zeitgefühl wieder ein: Es war halb vier am Nachmittag.

Ruth hob den Kopf. »Hi! Ich fasse nicht, dass du mich nicht geweckt hast, als du nach Hause gekommen bist! Wie war dein Date mit dem heißen Nerd? Erzähl mir alles!« Sie klang so normal, dass Joan wieder ihr Gefühl für die Realität zu verlieren drohte. »War es so richtig gut? Habt ihr …« Ruth spitzte die Lippen zu einem übertriebenen Kuss.

»Ich hab es verpasst«, hörte Joan sich sagen.

»Verpasst?« Das freudige Funkeln verschwand aus Ruths Augen. »Du hast dein Date verpasst? Wie meinst du das? Du hast dich doch so sehr darauf gefreut!«

Joan starrte sie an. Ruths Haare waren toupiert, ihre Jacke hatte breite Schulterpolster, und ihr Make-up war leicht verschmiert. Sie sah aus, als wäre sie gerade von einer Party mit »1980er«-Motto gekommen.

Oder aus den 1980ern.

»Es stimmt, oder?«, sagte Joan langsam.

Ruth runzelte die Stirn. »Was stimmt?«

»Dass wir Monster sind, richtige Monster. Unsere Familie stiehlt Menschen ihre Lebenszeit.«

Joan konnte den Blick nicht von Ruths vertrautem Gesicht lösen. Sie kannte Ruth schon ihr ganzes Leben lang – noch bevor sie sprechen gelernt hatte. Manchmal hatten sie sich im Sommer ein Zimmer geteilt. Sie hatten sich über dumme Sachen gestritten und sich wieder vertragen. Sie waren die ganze Nacht aufgeblieben und hatten über alles Mögliche geredet. Joans Kehle war wie zugeschnürt. Lach, dachte sie. Bitte! Oder sei verwirrt, oder leugne es. Sag mir, dass ich völlig den Verstand verloren hab!

Bitte, Ruth! Bitte sag mir, dass es nicht stimmt!

Ruth öffnete den Mund und schloss ihn wieder, als wäre sie sich nicht sicher, was sie sagen sollte. Es war seltsam, sie so unsicher zu sehen. Normalerweise war sie selbstbewusst, egal, worum es ging. »Jemand hat es dir erzählt?«, fragte sie schließlich.

Joans Magen verkrampfte sich. Es stimmte also. Was Gran ihr letzte Nacht erzählt hatte, war die Wahrheit gewesen. »Warum hast du es mir nicht gesagt?«, platzte es aus ihr raus.

Ruth wich alle Farbe aus dem Gesicht. »Joan …«

»Du hast Menschen Lebenszeit gestohlen? Gran und Bertie auch?« Die ganze Familie! In Joans Magen rumorte es, als würde ihr gleich schlecht werden. »Ruth, das ist schlimm! Richtig schlimm! Es ist böse!« Ein schrecklicher Gedanke kam ihr. »Habt ihr jemals Lebenszeit von meinem Dad gestohlen? Oder von mir?«

Ruth wirkte erschrocken. »Natürlich nicht! Wie kannst du das nur denken?«

Joan wich in die Diele zurück. Ihr drehte sich der Magen um. Sie war sich sicher, dass sie sich gleich übergeben würde.

»He!«, rief Ruth. Sie sprang auf die Füße. »Wohin willst du? Du solltest mit Gran reden!«

»Mit Gran?«, entgegnete Joan fassungslos. »Ich will mit keiner von euch reden!« Sie musste raus aus diesem Haus. Fort von ihrer Familie.

»Joan …«

»Nein!« Joans Stimme überschlug sich. Sie wich weiter zurück. »Ich will euch nie wieder sehen!«

Drei

Letzte Nacht war Joan an Mr Solts Haus vorbeigeeilt, weil sie Angst vor ihm gehabt hatte. Jetzt lief sie mit vor Scham eingezogenem Kopf daran vorbei. Laut ihrer Gran hatte nicht er ihr was angetan, sondern sie ihm!

In dem Moment wünschte Joan sich von ganzem Herzen, dass sie nach Hause gehen konnte – ihrem echten Zuhause. Nicht zu ihrer Gran, sondern zu ihrem Dad nach Milton Keynes. Aber ihr Dad machte gerade Urlaub in Malaysia, wo er die andere Seite von Joans Familie besuchte.

Joan fühlte sich, als hätte sie die reale Welt verlassen. Dort drüben in der realen Welt war ihr Dad in Malaysia. Dort drüben genossen alle anderen die Sommerferien. Aber hier … hier hatte Joans Familie die ganze Zeit Lebenszeit gestohlen, ohne dass Joan jemals was davon gewusst hatte. Hier hatte gestern auch Joan jemandem Lebenszeit gestohlen.

Sie bog auf der Straße ihrer Gran um die Ecke und stellte fest, dass sie keine Ahnung hatte, wohin sie gehen sollte. Wenn sie ihren Dad anrief und versuchte, nach Milton Keynes zurückzukehren, oder wenn sie eine Freundin fragte, ob sie bei ihr übernachten könnte, würde das Fragen aufwerfen. Fragen, die sie nicht beantworten konnte.

Irgendwann fand sie sich auf dem Weg zum Holland House wieder, dem Museum, in dem sie in den Ferien arbeitete. Der einzige Ort, an den sie noch gehen konnte. Zu Nick.

 

Holland House war ein Anwesen in Kensington, das restauriert und in ein lebendiges Museum umgewandelt worden war. Jeder Raum war eine perfekte Nachahmung des Hauses in seiner Glanzzeit im achtzehnten Jahrhundert. Drinnen führten verkleidete Geschichtskundige Touristen durch das Haus und erzählten davon, wie die Leute des Hauses damals gelebt hatten. Draußen gab es Gärten für Picknicks und ein Heckenlabyrinth für die Kinder.

Seit Beginn der Sommerferien hatte Joan hier drei Tage in der Woche gearbeitet. Ihre Arbeit bestand vorwiegend darin, sauber zu machen und die Gärten zu pflegen, aber es gefiel ihr, denn Geschichte war ihr Lieblingsfach. Alle anderen wollten Filmstars oder mit ihrer Musik berühmt werden, Joan träumte davon, im Museum zu arbeiten.

Sie lief die vertraute Route zum Holland House entlang. Die Welt um sie herum wirkte auf surreale Weise normal. Die leeren Hüllen auf der Earl’s Court Road sahen wieder aus wie gewöhnliche Geschäfte. Selbst der blaue Himmel von gestern war dem üblichen Londoner Grau gewichen. Es war, als hätte es den gestrigen Tag nie gegeben.

Joan erreichte die Kensington High Street, und die gusseisernen Tore vom Holland House standen auf der anderen Straßenseite weit offen. Es war bereits so spät, dass die Touristen das Gebäude wieder verließen und nach Kensington strömten. Es war seltsam, gegen den Strom zu laufen. Als würde sie in die falsche Richtung gehen. Vielleicht tat sie das ja auch.

Was sollte sie Nick überhaupt sagen, wenn sie ihn sah? Aus seiner Sicht hatte sie seine Nachrichten ignoriert und ihn versetzt. Und dann hatte sie heute auch noch ihre Schicht verpasst, ohne Bescheid zu sagen. Was, wenn er gar nicht mit ihr reden wollte? Bei dem Gedanken musste sie schlucken.

Auf dem von Ulmen gesäumten Pfad hinauf zum Haus kamen ihr Touristen mit leeren Picknickkörben und kleinen Geschenken aus dem Souvenirladen entgegen. Kinder rannten an ihr vorbei und wedelten mit Schwertern aus Schaumstoff, ihre Eltern folgten ihnen in einem gemächlicheren Tempo.

Wie immer tauchte das Holland House stückchenweise vor ihr auf. Erst schimmerten die roten Ziegelsteine durch die Bäume hindurch, dann die weiße Verkleidung und die leuchtenden Fenster, bevor der Pfad sich zu einem gepflegten Rasen öffnete und das Haus im Ganzen enthüllte. Das Museum war ein rotes, von Efeu überwuchertes Ziegelsteingebäude. Das Dach hatte Giebel und Türmchen, und auf dem Rasen mit dem Brunnen streiften Pfauen umher.

Joan blieb am Wiesenrand stehen. Sie hatte erwartet, dass das Haus sich verändert hatte, aber es sah genauso aus wie vor zwei Tagen. Die ganze Welt war unverändert: die Küche ihrer Gran ebenso wie die Earl’s Court Road. Das Einzige, was sich verändert hatte, war Joan.

Jetzt wusste sie, dass hinter der Fassade des gewöhnlichen Londons Monster lauerten.

 

Joan stieg die Personaltreppe im hinteren Bereich des Hauses hinauf. Das Licht der Nachmittagssonne fiel durch die Fenster, und in der Luft hing der Duft von sonnengewärmter Politur und Holz.

Nick arbeitete in der Bibliothek. Es war eine lange Galerie, die sich über die gesamte Länge des Hauses erstreckte. Bücherregale und Ölgemälde nahmen die Wände ein. An einem Ende der Galerie zeigten die Fenster auf einen gepflegten Garten hinaus, am anderen zum vorderen Hof.

Joan blieb im Türrahmen stehen und zögerte. Nick stand mit dem Rücken zu ihr. Er arbeitete allein und wischte mit einem weichen Staubtuch über einen der Bilderrahmen. In der Bibliothek war es warm, und er hatte die Hemdsärmel bis zu den Ellbogen hochgekrempelt. Joans Blick heftete sich auf den Streifen nackter Haut zwischen seinem Kragen und dem Haaransatz. »Du hast ihn berührt«, hatte Gran gesagt. »Hier.«

Das surreale Gefühl war hier noch stärker. Joan erinnerte sich daran, wie sie Nick zum ersten Mal begegnet war – an ihrem ersten Tag im Museum. Es war ein sonniger Samstag zum Sommeranfang gewesen. An jenem Morgen war die Menschenmenge im Holland House immer weiter angewachsen, bis es ihr vorgekommen war, als ob halb London auf dem Grundstück picknickte und sich Schulter an Schulter durch das Labyrinth drängte. In ihrer Mittagspause hatte Joan sich ins Haus zurückgezogen, war die hintere Treppe raufgestiegen und hatte sich allein in der Bibliothek wiedergefunden. Sie hatte die Augen geschlossen und den Duft nach Papier und in Leder gebundenen Büchern eingeatmet. Die Atempause war eine riesige Erleichterung gewesen.

Eine der Bodendielen hatte geknarzt, und sie hatte die Augen aufgeschlagen und gesehen, wie gerade ein Junge die Bibliothek betrat. Er war ein bisschen älter als sie – vielleicht siebzehn. Ihr erster Gedanke damals war, dass er auf klassische Art und Weise schön war: adrett, mit dunklem Haar und einem kräftigen Kiefer. Als er sie angesehen hatte, hatte Joan gespürt, wie sich Wärme in ihr ausbreitete, als wäre sie in einen Sonnenstrahl getreten.

Später hatte sie gemerkt, dass er nett war. Dass er nie log. Dass er mit allen respektvoll redete und jeder einzelnen Person dieselbe Aufmerksamkeit schenkte.

Jetzt verlagerte Joan ihr Gewicht, und eine der Bodendielen knarzte. Ganz kurz verschmolzen Erinnerung und Wirklichkeit, als Nick sich umdrehte.

Joans Herz setzte einen Schlag aus, als seine dunklen Augen ihren Blick erwiderten. »Es tut mir leid«, sagte sie. »Es tut mir so leid, dass ich gestern nicht da war.«

Nick fuhr sich mit einer Hand durch das Haar. Manchmal sah es im Licht vollkommen schwarz aus – schwarz wie bei Mr Darcy, hatte ihre Freundin Astrid es beschrieben. Das Fenster hinter ihm ließ es jetzt heller erscheinen. »Ist schon gut«, sagte er gelassen, aber es schwang ein verletzlicher Unterton mit. Er schien sich auf eine Zurückweisung gefasst zu machen.

»Es gab ein Problem in der Familie.« Genau genommen war das nicht gelogen, aber es klang wie eine Lüge. »Und … es tut mir leid, dass ich auf deine Nachrichten nicht reagiert hab. Ich hab mein Smartphone verloren …« Sie hörte, wie sich ihre Stimme verlor. »Aber ich hab es wiedergefunden.«

»Du darfst niemandem etwas über Monster verraten«, hatte Gran sie gewarnt. Zum ersten Mal fragte Joan sich, ob dieses Geheimnis immer zwischen ihr und den Menschen stehen würde, die ihr etwas bedeuteten. Zwischen ihr und Nick und ihr und ihrem Dad.

Sie stellte sich vor, wie Nick im Café auf sie gewartet hatte. Sie hatte auf keine seiner Nachrichten reagiert. Aber sie kannte ihn. Er war bestimmt dortgeblieben, nur für den Fall. Wie lange hatte er gewartet, bis er erkannt hatte, dass sie nicht kommen würde? In seiner letzten Nachricht hatte er sie gefragt, ob alles in Ordnung war. Sie stellte sich auch vor, wie er Stunden später ihre knappe Antwort erhalten hatte, dass es Probleme in der Familie gegeben hatte.

»Joan …« Nick stand noch immer da und wartete auf mehr. Doch langsam dämmerte es ihm, dass sie ihm keine bessere Erklärung geben würde, und Joan sah den Schmerz in seinen Augen.

Unten schlossen sich die Türen. Stapfende Schritte Richtung Haupteingang waren zu hören – die letzten Touristen verließen das Grundstück.

Joan rieb sich über das Gesicht. Das war ihr alles zu viel. Sie brauchte etwas Reales. »Ich könnte …« Sie deutete ungelenk auf das Staubtuch in Nicks Hand. Er senkte den Blick, als hätte er vergessen, dass er das Tuch in der Hand hielt. »Ich könnte den Rest putzen. Ich weiß, dass ich damit die Schicht nicht wiedergutmache, die ich verpasst hab, aber …«

Nick musterte ihr Gesicht. »Das musst du nicht.«

»Es dauert nicht lange«, sagte Joan. Sie trat zu den Putzmitteln. Sie spürte Nicks Blick auf sich, während sie nach einem Tuch suchte. Ihr war klar, dass sie sich total merkwürdig verhielt und dass sie das Unvermeidliche nur hinauszögerte.

Der Bilderrahmen war aus Holz und mit geschnitzten Rosen verziert. Sie reinigte ihn, wie man es ihnen beigebracht hatte, und wischte den Staub zwischen den winzigen Rillen der Schnitzarbeiten, darum bemüht, nicht das Gemälde selbst zu berühren. Die Stille lastete schwer auf ihr. Sie war völlig verkrampft und wartete darauf, dass er ihr sagen würde, wie sehr sie ihn verletzt hatte. Dass es nicht okay war. Vielleicht würde er auch einfach gehen.

Sie hörte Nicks Schritte. Langsam, so wie sie auf Mr Solt zugegangen war. Er ging nicht weg. Nein, er blieb neben ihr stehen, und sie spürte seine Nähe überdeutlich: die breiten Schultern, den kräftigen Kiefer. »Joan?« Seine Stimme war wie ein sanftes Grollen. »Was ist gestern passiert?«

Joans Hals wurde eng. Sie fragte sich, wie oft ihre Familie das schon gemacht hatte. Wie viel Lebenszeit hatte sie gestohlen – und von wem? Hatte Ruth in der Nachbarschaft Zeit gestohlen? Von Leuten, die Joan kannte? Einen kühnen Augenblick lang wünschte sie sich, sie könnte Nick alles erzählen. Sie hatte sich immer besser gefühlt, wenn sie mit ihm geredet hatte. Was Gran ihr gestern Nacht enthüllt hatte, machte ihr solche Angst, dass sie jemandem davon erzählen musste. Aber Nick konnte sie das niemals sagen. Er war ein Mensch, und Gran hatte sie letzte Nacht daran erinnert, dass sie es niemandem verraten durfte.

Unten verabschiedete sich die Belegschaft voneinander. Weitere Türen wurden zugeschlagen. Die Leute gingen nach Hause. »Ich bin nur hergekommen, um mich zu entschuldigen.« Joan musste sich zwingen, die Worte auszusprechen, so eng war ihr die Kehle geworden.

Sie hätte gar nicht herkommen sollen, das wurde ihr jetzt klar. Sie hatte nicht gewusst, an wen sie sich wenden sollte, aber sie hätte nicht zu Nick gehen sollen. Letzte Nacht war sie in eine fremdartige, gefährliche Welt getreten. Eine, in die Nick nicht gehörte.

Nick antwortete ihr lange nicht, aber sie las ihm am Gesicht ab, was er fühlte. Hatte er erraten, dass sie nicht zurückkommen würde, wenn sie von hier verschwand?

Joans Brust schmerzte. »Ich mag ihn«, hatte sie zu Ruth gesagt. Aber das wurde ihren Gefühlen nicht gerecht. Als sie ihn getroffen hatte, war es ihr vorgekommen, als hätte sie ihn wiedererkannt. Als wäre er ihr schon ihr ganzes Leben lang vertraut gewesen. Als er sie gefragt hatte, ob sie mit ihm ausgehen wollte, war es, als hätte sich etwas Neues in ihr geöffnet. Sie hatte nicht gewusst, dass sie so was empfinden konnte.

Der Gedanke, jetzt zu gehen – ihn nie wiederzusehen –, brach ihr das Herz. Aber sie wusste, dass es nicht anders ging. Sie kannte sich, sie würde ihn nicht anlügen können. Vorhin hatte sie schon das leichtsinnige Verlangen gespürt, ihm alles zu verraten. Sie spürte es noch immer.

»Joan«, sagte Nick. Sie waren sich so nah. »Bleib.« Ein intensiver Blick lag in seinen dunklen Augen. »Geh nicht.« Er hatte es also wirklich erraten.

Ich muss, dachte sie. In deiner Nähe kann ich mir selbst nicht vertrauen. Ich hab Angst vor dem, was ich dir sagen könnte. Ich hab Angst vor dem, was ich bin.

Aber als er sie noch mal bat, nickte sie unweigerlich.

 

Das Personal sollte eigentlich nach den Schließzeiten das Haus verlassen. Es fühlte sich seltsam an, diese Regel zu brechen – für gewöhnlich hielt sich Joan an die Regeln, genau wie Nick. Doch jetzt zogen sie sich ans hintere Ende der Bibliothek zurück und setzten sich nebeneinander auf den bloßen Holzboden unter dem Fenster – wo sie nichts beschädigen konnten.

Nick fand einen Haselnussschokoriegel in seiner Tasche und breitete seine Jacke als improvisierte Picknickdecke aus. »Damit wir nicht auf den Boden krümeln«, sagte er ernst. Sein Kragen verrutschte, während er die Jacke glatt strich, und Joan bemühte sich, nicht auf seinen blassen Hals zu starren.

Nicks Finger berührten ihre, als er ihr den Schokoladenriegel gab. Joan versuchte, nicht zurückzuschrecken. Sie hatte Mr Solt Zeit gestohlen, indem sie einfach nur seinen Hals berührt hatte. Sie würde es sich nie vergeben, wenn sie Nick so was antun würde.

In stummer Übereinkunft vermieden sie es, über den gestrigen Tag zu reden. Stattdessen bemühten sie sich um Small Talk, der nur stockend vorankam.

»Warst du heute im Garten?«, fragte Joan. Es klang genauso unbehaglich, wie sie sich fühlte.

In Nicks Augen lagen hundert Fragen, aber er antwortete nur: »Wir gehen noch die Inventur für die Versicherung durch.« Er stammte aus Yorkshire und hatte noch immer einen schwachen Akzent. Wenn er müde war, wurde der Akzent stärker, was Joan jetzt deutlich raushören konnte. »Ich hab den Raum katalogisiert, den du so magst – den mit den ganzen kleinen Gemälden.«

»Den Miniaturenraum.« Es musste ewig gedauert haben, um all die Kuriositäten aufzulisten. Das war eine Aufgabe für zwei Personen, und er hatte das heute ganz allein machen müssen. Kein Wunder, dass er müde war. Sie senkte den Blick. Ihre Schuldgefühle regten sich in ihr wie ein lebendes Wesen. Gestern hatte sie Mr Solt wehgetan. Und Nick. Es war keine Absicht gewesen, aber sie hatte es getan. War es das, was Monster taten?

Während sie ihren Small Talk fortsetzten, hingen die unausgesprochenen Dinge schwer in der Luft zwischen ihnen, und die Worte, die sie nicht sagten, erklangen lauter als die, die sie tatsächlich äußerten.

Joan zog die Knie an sich heran. Im Haus wurde es immer stiller, bis selbst das Knarzen der Holzdielen verstummte. Sie waren die Einzigen, die noch da waren.

Am anderen Ende der Bibliothek fiel das Licht der Nachmittagssonne auf das zum Teil noch immer verstaubte Gemälde. »Ich hab den Rahmen nicht zu Ende geputzt«, stellte Joan fest. Es würde sicher noch eine halbe Stunde in Anspruch nehmen. »Das mach ich noch, bevor wir gehen.«

»Ich mach es morgen«, sagte Nick sanft.

Morgen. Joan konnte nicht an morgen denken. Sie konnte sich den heutigen Abend kaum vorstellen. Sie stützte den Kopf gegen die Wand hinter sich. Das Gemälde war fast lebensgroß, aber von hier aus wirkte es wie eine der Miniaturen. Der Mann auf dem Bild trug Jagdkleidung im Regency-Stil und stand unter einer Eiche, das Kinn hochmütig gereckt.

Nick folgte Joans Blick. »Astrid nennt ihn Hottie McTottie«, sagte er, worüber Joan lachen musste. In ihren Augen hatte der Mann im Porträt schon immer einfach nur grausam gewirkt. Zu seinen Füßen lag ein toter Fuchs, und seine Schuhspitze ruhte auf dem Hals des Tieres. Seine Augen waren kalt und raubtierhaft dargestellt. »Es heißt, dass ihm das Haus mal gehört hat.«

Joan dachte an all die leeren Räume, die sie umgaben. »Kannst du dir vorstellen, wie es gewesen sein muss, als hier nur eine Familie gelebt hat? Sie hatten so viel Platz.«

Nick sah zur Decke hoch, in der es eine Reihe Oberlichter gab, die von silbernen Sternen auf einem nachtblauen Untergrund unterbrochen wurden. »Ich kann mir nicht vorstellen, hier aufzuwachsen. Meine Familie hatte eine winzige Wohnung, als ich noch klein war. Wir haben zu acht in einer Zwei-Zimmer-Wohnung gelebt.« Er klang entspannter – als würden sie sich ganz normal unterhalten.

»Zu acht?«, fragte Joan überrascht. Er hatte ihr ein wenig von seinen Geschwistern erzählt, aber ihr war nicht klar gewesen, dass es so viele waren.

»Drei Brüder und zwei Schwestern«, sagte er. »Meine Brüder und ich haben im Wohnzimmer geschlafen, bis ich sieben war. Aber das war uns egal. Es war irgendwie schön … Gemütlich. Macht das Sinn?«

»Ja.« Joan musste daran denken, wie es war, wenn sie bei ihrer Gran war. Sie mochte das ruhige Haus ihres Dads, aber im Sommer wohnte sie gern bei den Hunts. Früher zumindest. Sie war sich nicht sicher, was sie jetzt davon halten sollte. Ganz kurz schloss sie die Augen, als sie merkte, wie Tränen in ihr hochstiegen und sich ihr Hals zuschnürte.

Nick zögerte. Sie ahnte, was er sagen wollte, und wappnete sich aus Angst vor der Frage. Doch stattdessen verlagerte Nick nur sein Gewicht und rückte dichter an sie ran, bis sich ihre Arme berührten.

Eine Weile blieben sie so sitzen, bis Joan sich wieder gefangen hatte. »Wie ist deine Familie so?«, fragte sie.

Er zögerte, und sie spürte seinen Blick auf sich. »Wir hatten nicht viel. Unsere Eltern haben uns beigebracht, aufeinander achtzugeben. Gut zueinander zu sein. Menschen in Not zu helfen. Daran glaube ich – dass wir Menschen helfen sollten, wenn wir können.« Jemand anderes hätte spöttisch geklungen – um zu zeigen, dass sie wussten, wie kitschig das klang. Aber Nick sagte es einfach nur. Als wäre es ihm ernst.

Joan sah auf ihre Hände runter – die Hände, mit denen sie gestern Zeit gestohlen hatte. Auch sie hatte immer daran geglaubt. Wie Nick. So wollte sie sein. Sie hatte gedacht, dass sie so wäre. Doch nach dem Gespräch mit ihrer Gran hatte Joan das Gefühl, dass aus ihr etwas wurde, das sie nicht verstand. Jetzt, da sie mit Nick redete, fragte sie sich, ob es eine Möglichkeit gab, sich selbst wiederzufinden. Einfach nur Joan zu sein. War es möglich, auch wenn sie wusste, was sie war?

»Mein Dad hat mir das auch beigebracht«, sagte sie.

Sie erzählte Nick von ihrem Dad und ihrer Familie in Malaysia. Davon, dass sie ein Einzelkind war, und – zögerlicher – dass sie manchmal bei den Hunts wohnte, wo sie einen Cousin und eine Cousine hatte, die in ihrem Alter waren.

Sie unterhielten sich lange, wobei das Gespräch von ihren Familien zu den Menschen im Holland House und dann zu allen möglichen Leuten wanderte, die ihnen in den Sinn kamen. Als ihnen schließlich die Worte ausgingen, stellte Joan erleichtert fest, dass das Unbehagen zwischen ihnen verschwunden war. Die Stille fühlte sich normal an. Angenehm.

»Ich rede normalerweise nicht so viel über mich«, gestand Nick. Er klang verunsichert, als hätte er Angst, er hätte sie gelangweilt.

Joan stützte ihren Kopf an der Wand neben seinem ab. »Ich rede gern mit dir.« Sie erinnerte sich daran, wie nervös er geklungen hatte, als er sie zum Frühstück eingeladen hatte. Er sah umwerfend aus, wie ein Filmstar, und die Leute mussten sich um ihn gerissen haben, wo er aufgewachsen war. Tatsächlich aber schien er genauso unerfahren zu sein wie sie.

»Ich bin gern in deiner Nähe. Ich … Nick, ich wollte wirklich gern den Tag mit dir verbringen. Wirklich! Ich hab mich extra schick gemacht.« Jetzt war sie nicht schick angezogen, bemerkte sie. Sie hatte kaum an ihren Aufzug gedacht, als sie aufgestanden war, und hatte sich einfach nur ein Kleid über einem Tanktop und einer Radlerhose angezogen.