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Ein farbenprächtiger Roman über Leben und Lieben auf der Bühne
Triumph und Niederlage, Höhen und Tiefen, nirgendwo wird so intensiv gelebt und gelitten wie in der Oper. Dabei geht es hinter den Kulissen mindestens so dramatisch zu wie auf der Bühne. Von der Diva bis zum Beleuchter, von der Kantinenwirtin bis zum Intendanten – sie alle sind Teil eines ganz speziellen sozialen Kosmos, von dem Petra Morsbachs »Opernroman« leichtfüßig erzählt. Da opfern die einen für die Kunst ihr Leben, während andere die Kunst skrupellos in den Dienst ihrer Karriere stellen. Intrigen, Liebschaften und große Gefühle gehören zum Alltag – auch nachdem der Vorhang gefallen ist.
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Seitenzahl: 407
Petra Morsbach, geboren 1956, studierte in München und St. Petersburg. Sie lebt als freie Schriftstellerin in der Nähe von München. Ihre Romane werden von Kritikern hochgelobt, ihr Werk wurde mit zahlreichen Stipendien und Preisen ausgezeichnet. 2017 erhielt sie für »Justizpalast«, für den sie über neun Jahre lang recherchierte, den Wilhelm-Raabe-Preis.
Petra Morsbach in der Presse:
»Ein sympathischer Roman, mit sehr viel Humor und Intelligenz geschrieben.«Marcel Reich-Ranicki
»Ein Buch von zauberhafter Leichtigkeit.«Frankfurter Rundschau
Außerdem von Petra Morsbach lieferbar:
Petra Morsbach, Plötzlich ist es Abend Petra Morsbach, Gottesdiener Petra Morsbach, Justizpalast
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Petra Morsbach
OPERNROMAN
ROMAN
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1. Auflage 2018 Copyright © 2009 by Petra Morsbach Genehmigte Taschenbuchneuausgabe im Penguin Verlag, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München Der Titel erschien erstmals 1998 im Eichborn Verlag, Frankfurt/Main. Umschlaggestaltung und Umschlagmotiv: www.buerosued.de ISBN 978-3-641-24690-7V001
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MEINEN ELTERN
INHALT
VORREDE
TRISTAN UND ISOLDE, ODER: AUGENBLICKE
FIGAROS HOCHZEIT,ODER: DIE ARBEIT
FIDELIO, ODER: DIE LIEBE
DIE FLEDERMAUS, ODER: ALLTAG
REQUIEM, ODER: ABSCHIEDE
EPILOG
DANK
VORREDE
»Wann immer ich draußen erzähle, daß ich am Theater arbeite, sagen die Leute, man solle die Subventionen streichen«, weiß Jan zu berichten. »Und dann fragen sie empört nach Skandalen, Abfindungen und Riesengagen, von denen sie in der Zeitung gelesen haben. Sie schimpfen auf die Kunst, weil die Künstler sich schlecht benehmen. Das tun die Künstler wirklich«, gibt Jan zu. »Doch was hat das mit Kunst zu tun? Kunst ist Harmonie, ist Gnade. Künstler aber sind bloß Menschen. Eine Kunst ohne Menschen wäre vielleicht besser«, verhaspelt sich Jan, errötet und setzt sich ans Klavier.
TRISTAN:
Dem Land, das Tristan meint,
der Sonne Licht nicht scheint.
Es ist das dunkel nächt’ge Land,
daraus die Mutter mich entsandt,
als, den im Tode sie empfangen,
im Tod sie ließ an das Licht gelangen.
Was, da sie mich gebar,
ihr Liebesberge war,
dies Wunderreich der Nacht,
daraus ich einst erwacht:
das bietet dir Tristan,
dahin geht er voran.
Ob sie ihm folge treu und hold,
das künd’ ihm jetzt Isold’!
Aus Tristan und Isolde
von Richard Wagner;
Text: Richard Wagner
TRISTAN UND ISOLDE, ODER: AUGENBLICKE
Einweisungsprobe
Vor der Vorstellung
Vorstellung
Danach
Kantine
Einweisungsprobe
Einweisungsprobe für die Oper Tristan und Isolde von Richard Wagner, eine Neuinszenierung vom vorigen Monat. Der erste Tristan hat versagt und wurde gefeuert, den zweiten mochte Isolde nicht leiden, jetzt ist kurzfristig ein dritter angereist und wird von der Regieassistentin Babs in die Inszenierung eingewiesen.
Nachmittags ist es im Theater still. Auf der leeren Probebühne im beinahe verwaisten Haus arbeiten nur der Gasttenor James McGuire, die Assistentin Babs und der Korrepetitor Jan. Die Probebühne ist fast so groß wie die Bühne, befindet sich im dritten Stock des Hauses und hat eine lange, halbrunde Fensterfront zu den Dächern der Altstadt hin. Sonnenlicht scheint herein. Das Bühnenbild ist mit Holzpaletten markiert worden, damit der Sänger sich auskennt, wenn er morgen abend zum ersten Mal die richtige Bühne betritt.
Gegenüber der Glasfront an der schmutzigen Rückwand vor einem abgestoßenen Probenklavier wartet der Korrepetitor Jan. Er ist weich und blaß, hat spitze, abstehende Ohren und langweilt sich. Korrepetitoren langweilen sich oft. Sie müssen am Klavier den Orchesterpart simulieren, Einsätze geben und außerdem alle Partien singen können. Aber auf szenischen Proben müssen sie vor allem viel warten.
»Hier ist die Stelle auf der Mauer, von wo Sie runter in den Garten springen.« Man probt bereits den zweiten Akt, in dem Tristan heimlich unter Todesgefahr seine Geliebte Isolde besucht. »Passen Sie auf, Isolde schmeißt manchmal ihre Fackel dorthin. Die Fackel hat einen spitzen Kranz …« Babs blättert angespannt in ihrem Klavierauszug, in dem sie die Regieanweisungen notiert hat. Sie ist patent und zwanghaft, so, wie Assistenten sein müssen. Stämmig, Igelschnitt, weiter Pullover, um die Hüften ein Ledertäschchen, das die ganze Notausrüstung enthält. »Und hier«, erklärt sie James, »ist die Bank, auf der Sie später landen.«
»Aaah!« James leckt sich die Lippen.
Jan klimpert auf dem Klavier leise Jazz.
»Achtung, Kapelle!« ruft Babs ihm zu. Jan kann diesen Ausdruck nicht leiden. Er sieht sich als Künstler, als Könner, und nicht als Musikmaschine. Außerdem sind Korrepetitoren besser ausgebildet, klüger und schneller als Regieassistenten und lassen sich deswegen ungern was sagen. Aber Jan streitet sich heute nicht. Er spielt die paar Takte vor dem Auftritt Tristans, während James laut mitzählt: vier – fünf – sechs –
ISOOOLDE!
James hechtet wie Tarzan auf die Spielfläche.
Jan singt mit dünner Stimme die Repliken Isoldes. Babs unterbricht und erläutert. Jan läßt den Kopf zwischen die Schultern sinken und ähnelt jetzt einer bleichen, dicklichen Fledermaus.
James McGuire ist fröhlich, graublond, untersetzt, hat kräftige kleine Zähne und sieht etwas verlebt aus. Er kommt aus Oklahoma und trägt als Markenzeichen Lederjacke und Cowboystiefel. Er hat gute Nerven, arbeitet seit vielen Jahren in Deutschland, liebt die Fachbezeichnung Heldentenor und ist stolz darauf, einer der wenigen Tenöre der Welt zu sein, die the Tristan schaffen.
»Mr. McGuire …« Babs kämpft gegen seine robuste Einschätzung der Oper.
»Jim, please.« Er hat, mit seinen sechsundvierzig Jahren, einen jungenhaften Charme.
»Jim, ich kann doch nichts dafür. Das ist eine moderne Inszenierung, da bleiben Sie stehen während des 0 sink hernieder. Das bedeutet, daß Sie verklemmt sind und sich nicht trauen. Sie können nur, wenn es dunkel ist.«
Jan, an seinem Klavier, fragt sich, ob Babs kokett ist oder nur dämlich.
»Und – wird es dunkel?« fragt Jim.
»Ja.«
»Aaah!« Er greift nach ihr.
Babs, warnend: »Genau. Er steht und hält sie während des ganzen Wachrufs. Aber ohne Sex.«
»Jesus«, lacht Jim, »that’s the Lach of the Jahrhundert! Wer hat euch eigentlich aufgeklärt? Euer Tristan ist kein Held, er ist ein Psycho-Cripple!«
Babs will Jan ein Zeichen geben, Jim faßt ihre Hand. »Hast du im Kino gesehen Conan der Barbar? Das ist Tristan! Before you haven’t seen that, you shouldn’t talk about theTristan …«
Jan, an seinem Klavier, nimmt sich vor, Conan der Barbar anzuschauen.
Die Oper ist lang. Jim möchte bestimmte Sachen ganz genau wissen, und so zieht sich die Probe hin. Es dämmert. Jan sieht von seinem Platz aus nur zwei Schatten, die sich einander nähern. Er markiert Brangänes Wachruf, bei den ausgehaltenen Tönen zittert seine Stimme. Die Schatten von Jim und Babs versinken hinter dem Klavier, Babs schießt noch mal empor, dann legt sich Jims Hand um ihren Nacken und zieht sie hinab.
»Können wir das springen?« fragt Jan.
Jims Organ: »Auf keinen Fall, I need the timing, go ahead!«
Jan singt allein auf der dunklen Probebühne mit seiner schütteren Stimme:
EINSAM WACHEND IN DER NACHT …
Danach gibt es eine kurze Pause. Babs schaltet das Licht an, minutenlanges Neonflackern über der staubigen, abgenutzten Bühne. Jan holt vom Automaten eine heiße Schokolade und zwei Kaffee. Es folgt der dritte Akt.
Jan und Babs sind erschöpft, Jim platzt vor Energie. Aus purer Lebensfreude singt er alles aus, anstatt seine Stimme für die Aufführung zu schonen.
Babs markiert Tristans Diener und Gefährten Kurwenal, das heißt, sie macht seine Gänge und Bewegungen, während Jan am Klavier seine Partie singt. Der todkranke Tristan soll sich an Kurwenal hochziehen, aber Jim ist nicht einverstanden damit. »Tristan ist schwer verwundet!« beschwört ihn Babs. »Er stirbt noch im selben Akt!«
»Er stirbt aus Liebe!« schimpft Jim. Ein Kennzeichen des Helden ist Eigensinn.
»Er stirbt aus Liebe und Verwundung!« schlägt Babs vor.
»Nein! Wenn er nicht wäre gestorben vor Liebe, niemand würde sich interessieren für that fucking story. Dann gäbe es nicht diese Oper, und ihr beide würde arbeitslos!«
Babs resigniert. »Also gut. Mach, was du willst. Spring auf, steh wie ein Baum …«
Kurze Pause. Jim, plötzlich galant: »Don’t worry, darling. I’ll do it for you. Although I think, that it is just Regisseurs-bullshit.«
Die Probe kann weitergehen. Babs ist erleichtert, denn am Gehorsam der Gastsänger wird ihre Leistung gemessen. »So please go down … Can you get my left leg?«
»I can get any leg you want, sweetheart!«
Jan setzt auf Babs’ Zeichen kurz vor dem Kurwenal-Monolog ein. Jim spielt mit rollenden Augen den delirierenden Tristan. Er packt den verzweifelten Kurwenal (Babs), zieht sich an ihm hoch, markiert nicht, sondern brüllt wie ein Stier:
MEIN KURWENAL, DU TRAUTER FREUND! …
MEIN SCHILD, MEIN SCHIRM IN KAMPF UND STREIT
ZU LUST UND LEID MIR STETS BEREIT:
WEN ICH GEHASST, DEN HASSTEST DU,
WEN ICH GEMINNT, DEN MINNTEST DU …
Jan, der mißbilligend aufblickt, weil der Sänger den Takt verloren hat, sieht: Jim nun aufgerichtet, eine Hand umklammert Babs’ Genick, die andere ihren Arm, er stützt sich schwer auf sie und produziert einen Riesenton. Es schüttelt ihn wie einen Jet beim Durchbrechen der Schallmauer, Babs wird hin- und hergeschleudert und ringt nach Luft. Jan wandelt in einer Eingebung den Orchester-Part des Tristan um in eine Jazz-Improvisation. Jim merkt es nur allmählich, ist zunächst verblüfft, dann zornig, dann bricht er in ein übermütiges, donnerndes Gelächter aus.
Vor der Vorstellung
Vor der Vorstellung summt das Theater wie ein Bienenstock. Der Bühnenmeister überprüft die Dekoration, kümmert sich darum, daß Falten in den Prospekten glattgezogen und Risse genäht werden. Der Requisiteur sieht die Requisiten durch, bevor er sie auf zwei Regale links und rechts des Innenportals verteilt, und ärgert sich, daß an Isoldes Fackel wieder zwei Zacken verbogen sind. Er findet, der Bühnenbildner hätte sich eine zackenlose Fackel ausdenken können, wenn die Regie schon vorsieht, daß Isolde die Fackel durch die Gegend schleudert. Insgeheim wirft er den Regisseuren überhaupt ein liebloses Verhältnis zu Requisiten vor.
In der Herrenschneiderei kürzt man immer noch das Kostüm für den Gast-Tristan, der zu spät zur Anprobe erschienen war.
In der Maske wappnet man sich gegen die Wut der Chorsänger, die laut Regie im Gesicht kalkweiß geschminkt werden.
Die Solisten singen sich warm.
Im Stimmzimmer diskutieren Orchestermusiker das Fußballspiel des Nachmittags, bei dem der FC von der Borussia eine 0:5-Packung gekriegt hat. Einige sind im Frack, andere noch in Zivil; nur der Konzertmeister ist schon eingespielt. Vor der nüchternen Atmosphäre und dem Lärm ist er mit seiner Geige in das verlassene Treppenhaus des Werkstättentrakts geflohen, um noch einmal die schwierigsten Ansätze zu üben und ein paar heikle Stellen durchzufingern. Er ist heute nervös. Meistens überfällt ihn die Spannung erst später, und dann schlagartig: wenn er am Pult sitzt und im Saal das Licht ausgeht. Heute ist er aus irgendeinem Grund aufgewühlt. Er denkt den chromatischen Linien des Vorspiels nach und ist schon gefangen von der schmachtenden Gewalt dieser Musik. Vor Wonne sträuben sich ihm die Haare; der pure Gedanke an den Tristan-Akkord macht ihn fertig.
Der Oboist, der im dritten Akt das Englischhorn blasen wird, hat Zahnschmerzen und fürchtet um seine Solostellen. Er hätte absagen sollen; wer schätzt sein Opfer? Bestimmt nicht der Dirigent. Auf den hat er eine Wut. Seine Frau hat in der letzten Vorstellung im Rang gesessen und ihm bestätigt, was er längst ahnte: Der Dirigent – übrigens auch noch ihr musikalischer Leiter, der sogenannte Generalmusikdirektor – vernachlässigt die Holzbläser und setzt viel zu sehr auf Blech und Streicher, als daß ein anständiger Orchesterklang entstehen könnte. (Niemand ist hier gut zu sprechen auf den GMD, der hart schlägt und für seine Fehler immer die Musiker verantwortlich macht. »Schlecht und frech«, sagen die Musiker über ihn, »aber was soll man machen? Ein Orchester ist wie eine Hure: Jeder darf drüber.«)
Die Fagotte haben sich inzwischen eingeblasen und verlassen das Stimmzimmer, um in der Kantine eine letzte Runde Skat zu dreschen. Das schwere Blech schwärmt aus, um den verschwundenen ersten Hornisten zu suchen: Alkoholalarm. Wenn er gut aufgelegt ist, spielt dieser Hornist wie ein Engel, pures Gold kommt aus seinem Instrument. Aber gut aufgelegt ist er nur zwischen zweikommanull und zweikommadrei Promille; jenseits droht Koma, diesseits Delirium. Der Lebensgefährte (Piccoloflöte) achtet normalerweise auf den Pegel, aber jetzt ist der Hornist verschwunden, und jemand hat ihn mit einer Schnapsflasche im Ballettsaal gesehen.
Nur der Pauker lehnt in sich gekehrt am Spind und träumt; er hat sich verliebt, in eine sehr nette Oboe.
Auch Babs ist verliebt, in den zweiten Trompeter. Beide haben den Nachmittag zusammen verbracht und kommen Hand in Hand ins Theater. Jetzt müssen sie sich trennen, und ihre Stimmung schlägt um. Sie klammern sich in der Nullgasse aneinander und malen sich aus, wie es sein wird, wenn sie sich nach der Vorstellung wiedersehen. »In fünf Stunden!« Auch er, Harry, ist den Tränen nahe. Er hört seine Kollegen im Stimmzimmer sich warmspielen, er weiß, er ist spät dran, in der letzten Vorstellung hat er dreimal geschmissen, man wirft ihm Faulheit vor. Er legt den Arm um Babs und zieht sie mit sich, während er seine Wange an ihr Igelhaar preßt. Babs muß dringend mit dem Gasttenor Jim noch mal die Szene durchgehen, wahrscheinlich trippelt der schon in seiner Garderobe. Sie spürt Harrys biegsame Taille, schon sind sie angelangt, die Eisentür steht offen. Abschiedskuß, benommen. Harry geht hinein, Babs entfernt sich durch den langen, breiten Gang Richtung Garderoben. Sie hört aus dem Gewirr von Instrumenten Harrys Trompete, die heller als sonst klingt, frischer, optimistisch, was soll man sagen? verliebt, und je wärmer und elastischer Harrys Lippen werden (ein Schauer!), desto klarer und strahlender werden die Töne. Schmachtend nimmt Babs diesen Trompetenklang mit um die Ecke in den nächsten langen Gang und steht jetzt vor der Tür mit der Aufschrift Herren Solo. Plötzlich ein herrliches, ausbrechendes hohes Trompeten-C, ein Jubelruf: Es ist, als springe Harry vor Freude aus dem Stand zwei Meter hoch in die Luft. Babs, wie vom Blitz getroffen, läßt die Tür los und rennt zum Orchesterprobenraum zurück, um die Ecke kommt ihr schon Harry entgegen, Trompete in der Hand, Tränen in den Augen, und sie fallen einander in die Arme.
Vorstellung
Tristan, zweiter Akt. Die Bühne funkelt in magisch blaugrünem Licht wie ein Smaragd. In einem ummauerten Garten warten Isolde und ihre Dienerin Brangäne auf Tristan. Isoldes Gemahl Marke ist gerade ausgeritten zur Jagd: perlend, verheißungsvoll der Klang der abziehenden Hörner. Isolde streicht nervös um die Fackel. Tristan wartet im Dunkel – wenn die Fackel verlischt, wird er kommen. Margaret Tales, genannt Peggy, eine kraftvolle junge Frau aus Pittsburgh/Pennsylvania, singt die Isolde. Sie hat jahrelang um diese Chance gekämpft. Ihr voriger Intendant hatte ihr das schwere Fach nicht zugetraut und etliche Infamien gesagt. »Wie, zu schwach?« hatte sie geschimpft und ihren Bizeps entblößt. Sie ist einsneunzig groß, und man hatte sie gezwungen, in italienischen Standardopern lyrische Liebhaberinnen zu geben mit einem leichtgewichtigen Tenor als Partner, der vor ihrer Vehemenz oft genug hinter das nächste Versatzstück geflohen war. »Ich dulde nicht«, hatte sie gebrüllt, »daß man mich lächerlich macht!« – »Aber Peggy-Maus!« hatte der Intendant, ein spitzbärtiger Bürokrat, geantwortet. »Niemand macht dich lächerlich außer dir selbst. Wenn’s dir aber hilft, nehme ich dich aus dem Schülerabo.« Noch heute, wenn Peggy davon erzählt, spuckt sie vor Wut. Hier, in Neuburg, hat man ihr eine Chance gegeben, und sie hat sie genutzt. Sie überzeugte als Salome, als Tosca. Peggy hat eine keusche Stimme mit dunkler Mittellage und einer klaren, geheimnisvoll frostigen Höhe.
Peggy spielt eine wilde Isolde, ein stolzes, nur mühsam gebändigtes irisches Naturkind, das versehentlich Königin wurde. Versehentlich? Peggy ist schwerkalibrig, aber von eigentümlicher Grazie. Sie ist eine Königin. Sie ist schon als Peggy eine Königin, es haben nur noch nicht alle gemerkt. Heute nach der Vorstellung werden weitere tausend Leute es wissen. Schon nach dem ersten Akt mußte sie fünfmal vor den Vorhang. Peggy spürt, wie die gewaltige Stimme sich aus ihr erhebt, die durch Zufall oder Gottes Gnade ihre eigene ist; unverwechselbar und ungeheuer schön. Immer hat Peggy sich danach gesehnt, mit Orchester die Isolde zu singen, und frohlockend nimmt sie jetzt den Lohn der jahrelangen Kämpfe und Demütigungen entgegen: Sie fühlt sich, als lebe sie dreifach. Es ist mehr als ein Erfolg, es ist ein Sieg, es ist die Krönung. Sie reißt die Fackel aus ihrer Halterung – spürt das andächtige Erschrecken im Saal –
LASS MEINEN LIEBSTEN EIN! –
eine Tigerin vor dem Sprung. Nein, bitte, widerspricht angstvoll Dienerin Brangäne.
NUR HEUTE HÖR, O HÖR MEIN FLEHEN!
DER GEFAHR LEUCHTENDES LICHT,
NUR HEUTE, NUR HEUTE
DIE FACKEL DORT LÖSCHE NICHT!
*
Die Hornisten auf der Hinterbühne haben ihren Part zu Ende gespielt, nehmen die Noten von den beleuchteten Ständern, klemmen die Hörner unter die Achsel und kehren in den Orchestergraben zurück. Ein letzter Blick auf den Monitor, der den GMD zeigt, und der übliche, inzwischen rituelle Kurzdialog:
»Was ist der Unterschied zwischen einem Ochs und einem Orchester?«
»Beim Ochs sitzen die Hörner vorn und das Arschloch hinten.«
Erster Höhepunkt des zweiten Aktes: Die liebeskranke Isolde entreißt ihrer entsetzten Dienerin Brangäne die Fackel, um Tristan das Zeichen zu geben. Sie hält es nicht aus, sie kann nicht mehr warten –
DIE LEUCHTE, UND WÄR’S MEINES LEBENS LICHT
SIE ZU LÖSCHEN, ZAG ICH NICHT!
In großartiger Raserei schleudert Peggy-Isolde die Fackel in die Ecke, in die gleich Tristan von der Mauer springen wird.
Jim, als Tristan, schäumt wie ein Rennpferd vor dem Start. Babs führt ihn zum Auftritt. Er nickt ihr noch einmal zu, bevor er auf die Bühne springt, man hört ihn über die Fackel stolpern, sein Brunftschrei
ISOOOOLDE!
kommt um eine Idee zu spät.
Die Inspizientin Andrea raunt ins Mikro: »Achtung, die Herren der Technik bitte Schnürboden links besetzen!«
»Zu schnell.« Jan steht neben ihr und betrachtet mißgünstig den GMD im Monitor.
Der Tenor Hans, im Kostüm des Melot, stellt sich neben Andrea hinter das Inspizientenpult. Andrea fixiert die Zeile der Signallampen.
Hans hat eine Frage, und zwar: »Was sagt eine Frau nach dem zehnten Orgasmus?«
Andrea ins Mikro: »Ist niemand auf Schnürboden links? Ich brauche eine Rückmeldung!«
»Na?« fragt Hans.
Andrea drückt nervös die Knöpfe. »Also was?«
Hans, treuherzig: »Danke, Hans!«
»Es ist doch nicht zu fassen!« schimpft Andrea. »Raus aus dem Cockpit!«
»Vorsicht, die Hand immer am Pult!« warnt Hans.
Ein grünes Licht leuchtet auf.
*
Tristan hält Isolde im Arm, während Brangäne auf der Mauer ihren Wachruf singt.
EINSAM WACHEND IN DER NACHT,
WEM DER TRAUM DER LIEBE WACHT …
»Who’s the Tristan here?« fragt auf der Bühne Jim, der Peggy-Isolde stehend umschlungen hält. Er muß nicht einmal flüstern, nur sein Kinn hinter Peggys Hals verbergen, damit das Publikum die Mundbewegungen nicht sieht. Er hat bis hierher keine schlechte Figur gemacht und hofft, ein paar weitere Vorstellungen zu kriegen. Abendgage Dreitausend. In der Kantine hat er munkeln gehört, daß ein Tristan rausgeflogen sei.
Peggy antwortet: »He’s a Scheiß-kraut.«
»The tall blond guy I saw at the slot machine?«
»No. Mine is short and fat.«
»How can he lift you?« entfährt es Jim. Peggy lehnt sich mit ihren neunzig Kilo schwer in seinen Arm und versucht, sich auf die Musik zu konzentrieren.
»What’s your weight, darling?« stößt Jim hervor.
»Shut up!«
HABET ACHT!
BALD ENTWEICHT DIE NACHT!
warnt Brangäne.
LAUSCH, GELIEBTER!
Isolde, halb im Traum.
LASS MICH STERBEN!
Tristan, heiser.
*
»Das Orchester entspricht von der Emotionalität her dem Wirtschaftsteil einer bekannten deutschen Tageszeitung«, kommentiert der Korrepetitor Jan in der Nullgasse, wo er der Inspizientin Andrea die Beleuchtungsstände angibt.
Für ihn ist das So sterben wir, um ungetrennt sozusagen der Beginn der Vereinigung. Die Stimmen verlieren sich hier. Die drängend übereinanderwogenden Triolen sind nur mehr Gestammel der Seelen; der Akt selbst, der körperliche, kosmische, geschieht im Orchester: das Gewitter der Nerven und Muskeln, die Explosion der Sinne. Hier, heute, spielt sich da nichts ab, der Dirigent jagt das Orchester über die Noten, das ist kein Liebesakt, sondern nur ein pompöser Krampf.
Jeder Korrepetitor ist ein ausgebildeter Dirigent, der überzeugt davon ist, daß nur er weiß, wie man es richtig macht. Sonst hätte er die Mühsal dieses Studiums nie auf sich genommen. Jan, in dessen Kopf die Partitur richtig erklingt, kann das, was er im Orchestergraben hört, nur als brutale Parodie empfinden. Gleichzeitig ahnt er, daß er selbst Tristan nie dirigieren wird, und vor Scham tritt er rasch aus dem Kegel der Pultlampe. Im Halbdunkel zuckt sein blasses Gesicht.
Neben ihm strickt die Inspizientin Andrea, die während des Liebesduetts nicht viele Einsätze hat, aus schwarzer Wolle eine Weste.
»Trauerfall?« fragt Tenor Hans flüsternd.
»Dienstpullover!« kichert Andrea.
»Ah, gratuliere! Darf ich fragen?«
»Geheimnis!« sagt sie errötend. Aber sie hört mehr aufs Orchester als auf die Sänger, und ab und zu lächelt sie andächtig: »Fagott!«
*
Nach dem zweiten Akt gibt es acht Vorhänge für Peggy. Sie dankt lächelnd. Sie hat ein kühnes Profil, das an manche Statuen der Göttin Athene erinnert: eine hohe Stirn, die mit der Nase eine Gerade bildet, ein kräftiges Kinn, strenge, eng beieinander liegende Augen mit geschwungenen Brauen und einen herzförmigen Mund.
*
Pause. Auf der Bühne Arbeitslicht. »Umbau beendet!« ruft der Bühnenmeister Andrea zu.
Die Dekoration des dritten Aktes zeigt eine abstrakte Wüstenlandschaft mit bizarren Felsen, die an Eisschollen erinnern. Ein weißes, kunstvoll gefaltetes Bodentuch verstärkt diesen Eindruck. In dieser Einöde wird der schwer verwundete Tristan dahinsiechen, im Delirium auf Isolde wartend, die als einzige ihn retten kann.
Jim, im blutig zerfetzten Tristan-Kostüm, geht die Bühne ab und murmelt vor sich hin: »Bitch! Fucking bitch!«
»Gibt’s Probleme?« fragt Babs.
»This Peggy woman, das ist eine fucking bitch. Sie hat mir so schwer in die Arm gelegt, daß ich der Luft verloren habe. Das nächste Mal ich trete ihr auf den Fuß. Das ist die letzte Mal, daß eine soprano so was mit mir macht! Goddam bitch!«
»Was sind das für rote Pillen?« fragt Babs.
»Vitamin C. Für zwischen die Monologe. Bitch, bitch, bitch.«
*
Andrea, am Inspizientenpult, spricht ins Mikro:
»Die Pause ist beendet. Die Damen und Herren des Orchesters werden gebeten, in den Orchestergraben einzusteigen. Bitte alle beteiligten Soli zum dritten Akt: Herr McGuire, Herr Schneider. Englischhorn bitte zur Bühne …«
Vier Bühnenarbeiter sitzen im Mannschaftsraum, trinken Bier und spielen Karten. Während der Akt läuft, langweilen sie sich. Ein fünfter setzt ein Videogerät in Gang, das ihnen der Tonmeister geschenkt hat. Sie haben insgesamt fünf Videos im Mannschaftsraum, keiner weiß, was gerade eingelegt ist.
Auf dem Bildschirm erscheint ein perverser Japaner, der mit einem Samuraischwert eine nackte blonde Frau bedroht. Sie ist zu Boden gestürzt und drückt sich voll Todesangst in eine Ecke. Der Japaner fragt: »Erinnerst du dich, wie du das erste Mal masturbiert hast? Mach’s mir vor, dann laß ich dich laufen!«
Die Kartenspieler blicken auf. Andreas Lautsprecherstimme übertönt das Stöhnen der Frau. »Drei Herren der Technik bitte zur Bühne, sofort! Was ist eigentlich los da unten?«
Betreten stehen sie auf.
»Jetz kriege mer Saures.«
»Scheiß-Video.«
»Solle se halt kürzere Obern schbiele!«
Auf dem Bildschirm Gemetzel, Blut spritzt; die verdrehten Augen und gellenden Schreie der blonden Frau.
*
Der dritte Akt nähert sich seinem Höhepunkt. Peggy, straff, gesammelt, steht in der Nullgasse und beobachtet reglos Jim, der draußen an der Rampe den letzten Tristan-Monolog brüllt. Sie trägt jetzt ein hellblaues, perlenbesticktes Kostüm und sieht darin mit ihrer roten Perücke wie eine Puffmutter aus. Neben ihr stehen die Kollegen Hans, als Melot, und Jonathan, König Marke. Vor ihr im Innenportal auf einem Klappstuhl döst ein Feuerwehrmann. Peggy liest im Klavierauszug mit, behält dabei den Monitor mit dem Dirigenten im Auge und wartet auf ihren ersten Einsatz, der im Off zu singen ist. Tristan auf der Bühne schwenkt seinen blutigen Verband.
MIT BLUTENDER WUNDE BEKÄMPFT ICH EINST MOROLDEN:
MIT BLUTENDER WUNDE ERJAG ICH MIR JETZT ISOLDEN!
Peggys Einsatz.
TRISTAN! GELIEBTER!
Sie drückt dem verdutzten Feuerwehrmann den Klavierauszug in die Hand und betritt majestätisch die Bühne.
»Gell, hier ist was los?« sagt Hans zum Feuerwehrmann.
Der blättert ratlos in den Noten. Hans-Melot zieht sein Schwert.
Andrea flüstert ins Mikro: »Ein Herr der Technik bitte den Vorhang besetzen. Bitte alle Soli zum Applaus!«
Tristan ist zu Isoldes Füßen zusammengebrochen, Isolde steht, im Halbdunkel als einzige beleuchtet, zwischen lauter Leichen.
Jan, hinter der Bühne, umklammert seinen Klavierauszug.
Der dritte Akt bringt die Erlösung, die dem Paar im zweiten Akt versagt blieb. Der zweite Akt bietet eher Beschwörung als Handlung, ja sogar eher Einstimmung als Vorspiel, hauptsächlich ein allerdings köstliches flaues Gefühl im Unterleib, empfindet Jan. Danach gibt es etliche Anläufe, am Ende auch wirklich eine große musikalische Steigerung, ein gewissermaßen spiralförmig ansteigendes, anschwellendes, sich beschleunigendes Jauchzen, das von der Bewegung her tatsächlich eindeutig ist; als aber der Höhepunkt bevorsteht und Isolde zu ihrem eindeutigsten hohen H ansetzt, stürmt Kurwenal herein (Rette dich, Tristan!) und zerstört das, was wir eine Stunde lang erfiebert haben.
Die wirkliche Erfüllung geschieht jetzt, im Liebestod.
Isolde begreift nicht, daß Tristan tot ist.
MILD UND LEISE, WIE ER LÄCHELT,
WIE DAS AUGE HOLD ER ÖFFNET,
SEHT IHR, FREUNDE?
Etwas später wird sie voll Unruhe fragen:
FÜHLT UND SEHT IHR’S NICHT?,
um sich sofort wieder entschlossen der Trance hinzugeben. Das kreiselnde Jauchzen vom Ende des Liebesduetts kündigt sich an.
Beim Liebestod sind schon viele Isoldes verreckt, wie es im Jargon heißt. Die Sängerin muß ewig lange Bögen singen auf einem Atemzug, sie muß über das vollbesetzte Orchester pfeifen, sie braucht unerhörte Ruhe und Kraft, obwohl sie darstellerisch ersterben, hinsinken muß; das alles nach drei Stunden Schwerstarbeit. Die meisten Isolden singen das Mild und leise einen Viertelton zu tief, weil sie nicht mehr die Kraft haben, es durchzustützen, und davor fürchten sie sich den ganzen Abend lang.
Auch Peggy hat sich gefürchtet, ist aber mit jeder Vorstellung besser geworden. Heute gelingt es wie noch nie. Wundervolle Weise bringt sie mit solcher Intensität, daß man die Erfüllung beinah greifen kann, und wenn sie sich dann mit leise Wonne noch mal zurücknimmt, stöhnt das Publikum in süßer Qual. Von der Nullgasse aus sieht Jan, wie Peggys Körper arbeitet, hochgespannt, athletisch, ein Kraftwerk riesiger Töne. Das Drängen wird stärker, Apotheose eines entschlossenen, todesbereiten Entzückens, Peggy bereitet sich vor, kontrollierte, mächtige Stimme, und jetzt – jetzt ist der Höhepunkt da:
IN DES WELT – – – – ATHEMS WEHENDEM ALL –
Nur Wagner, denkt Jan, konnte bei so einem Satz nichts schuldig bleiben. Jan sieht Peggy im Glanz ihres Schweißes, wie sie nach diesem Ausbruch in einem überirdischen piano verhaucht, und ihm selbst bricht der Schweiß aus.
Jan hat sich erst vor kurzem von der Maxime trennen können, daß Schönheit etwas mit Wahrheit zu tun habe. Die Oper, die gerade läuft, strotzt vor Anmaßung, Selbstverliebtheit und Verblendung. Aber es ist wunderbare Musik, an harmonischer Fülle und imaginativer Wucht kaum zu überbieten. Oper ist kein Terrain der Bescheidenheit. Sie ist ekstatisches Verleugnen der menschlichen Grenzen, und offenbar brauchen wir das ab und zu. Oder weshalb mußte ein Skeptiker und Langweiler wie ich sein Leben dem Theater verschreiben? Ich bin ein Schwachleber, ein Sekundär-Mensch, denkt Jan, und das habe ich jetzt davon.
»Vorhang!« kommandiert Andrea leise ins Abebben der Musik. Der Bühnenarbeiter Peter hat den Ehrgeiz, behutsam zu ziehen, künstlerisch (er sagt »künstlich«). In der Bühnenanweisung steht nur Vorhang langsam. Nicht viele Bühnenarbeiter kümmern sich um die Musik, aber Peter, der sie bewundert, hat sie als Bra-bra-bra-bra-bsssss auf seiner Zigarettenschachtel notiert (mit einem langen, aufwärtsgebogenen Pfeil über dem »bsssss«), um eine Orientierung zu haben. Als er sich lauschend an das rauhe Zugseil hängt, hat er das Gefühl, zu musizieren. Zum ersten Mal schafft er es, den Vorhang genau mit dem letzten Akkord zu schließen. Das macht ihn glücklich. Mit roten Ohren schaut er zu Babs, aber die reißt hektisch den Zettel mit der Applausordnung aus der Tasche und beachtet ihn nicht.
Der Beifall bricht los, durch den dicken Vorhang noch gedämpft. Erste Bravos.
Babs stürzt auf Peggy und Jim zu, die, zwei dampfende Kolosse, übereinander liegen. Sie wuchtet den benommenen Jim hoch. Peggy kommt keuchend selbst auf die Füße. Zwei Bühnenarbeiter stemmen sich in die Schlaufen, um eine Vorhanggasse zu bilden. »Los!« Babs schiebt Jim und Peggy hinaus, im Zuschauerraum ein Aufschrei der Wonne, dröhnendes Getrampel. »Jetzt Melot, Marke, Kurwenal, schnell! Wo ist Kurwenal? Bobbyyy!« Es gehört zu Babs’ Aufgaben, die Applausordnung möglichst schnell durchzuziehen, damit es mehr Vorhänge gibt.
Der GMD, naßgeschwitzt aus dem Orchestergraben, fragt im Vorüberrennen Andrea: »Wie schnell?«
»Eine Stunde vier Minuten achtundvierzig.« Andrea hat mitgestoppt.
»Fünfzig Sekunden schneller als das letzte Mal. Ich schaff’s noch unter einer Stunde!« Er tritt vor den Vorhang.
Jan, das Seilzuggeländer umklammernd, spricht zwischen den Zähnen: »Kretin.«
Das Publikum applaudiert. Soeben ist als einziger Jim draußen.
»So ein Arschloch!« kreischt Peggy. Sie packt den Dirigenten am Revers. »Du mußt einen anderen Gast suchen, mit dem sing ich nie wieder!«
Der Dirigent befreit sich. »Du hast im Duett geschmissen, Schatz.« Auf seinem glänzenden Frackrevers die nassen Abdrücke von Peggys Fingern.
Babs ruft: »Achtung, Isolde für Einzelvorhang!«
»Der hat mich abgelenkt, hat absichtlich auf mich eingequatscht«, wütet Peggy, »damit ich meinen Einsatz verpasse, und beim Liebestod hat er sich gegen meine Wade gerollt, um mich zu irritieren! Ich will ja keine Namen nennen, aber so was Unprofessionelles habe ich noch nie erlebt!«
Jim kehrt zufrieden von seinem Applaus zurück. Peggy zwinkert ihm zu, gibt ihm im Vorübergehen einen Kuß und tritt hinaus. Bravos aus Hunderten von Kehlen, Blumen fliegen auf die Bühne. Peggy sinkt langsam in einen tiefen Knicks: Königin. Das Publikum unterwirft sich mit einem Schrei.
Danach
Ein Mann von der Maske im weißen Kittel stellt sich auf die Zehenspitzen, um Jim die Perücke abnehmen zu können. Jim hält die Hand von Babs, die sich verabschieden will.
»Any notes?« Seine Stimme ist heiser.
»Na hör mal, du willst mich wohl verarschen? Zwei Stunden habe ich mit dir den dritten Akt geprobt und mit Engelszungen über Siechtum geredet, und was tust du? Stürmst an die Rampe und singst volles Rohr!«
»Aber ich bin doch zusammengebrochen, mindestens fünf Mal!«
»Ja, um deine roten Pillen aufzupicken! Denkst du, du machst mir was vor?«
Jim küßt ihr die Hand. »I love pflichtbewußt German girls. Come on, let’s have a beer, you are invited! Okay?«
Kantine
Die Kantine befindet sich im Keller. Rote Belüftungskanäle an der Decke, Neonlicht, Holzgarnituren; im Eingangsbereich zwei Spielautomaten. Die Kantinenwirtin ist noch blasser als sonst. Gerade hat sie ihren Sohn dabei ertappt, wie er hundert Mark aus der Kasse stahl. Der Sohn ist zwanzig, doppelt so groß und dick wie sie, und hat nichts gelernt. Er verzockt sein Geld an den Daddelmaschinen und holt dann neues aus der Kasse. Sie hatte ihn schon öfter in Verdacht wegen der ständigen Fehlbeträge. Als sie ihn ertappte, hat er geschrien: »Halt’s Maul, alte Kuh, du hast mein Leben ruiniert!« Er hat sogar die Faust geschüttelt; und die ausgemergelten Ballettänzer am ersten Tisch haben aufgeblickt, aber keiner mischte sich ein. Sie sank in sich zusammen. Sie arbeitet und arbeitet, aber ihre Schulden nehmen zu.
An einem langen Tisch sitzen die Sänger. Jim, am Kopfende, geduscht, Lederjacke, hat gerade sein drittes Glas Bier geleert und leckt sich den Schaum von der Oberlippe. Aus seiner Tasche ragt der weiße Umschlag mit der Abendgage. Heiser, aufgeräumt hält er eine Ansprache an Babs, die nach dem Trompeter Harry Ausschau hält. Die Ansprache betrifft den weltberühmten Tenor Angel Sábado.
»Angel Sábado denkt, er ist ein Gott. Er sagt, er will in seine Leben drei Dinge tun. Erstens, alle großen tenor parts singen. Zweitens, alle Frauen bumsen. Drittens, alle Opern dirigieren. Ich kann dazu nur sagen: Dirigieren wird er vielleicht alles, daran ich kann ihm nicht hindern. – Alle Frauen –«, schmunzelt Jim, »okay, da wird er sich müssen ranhalten. Aber eins ist sicher:« – triumphierend: »Er wird niemals the Tristan singen!«
Am ganzen Tisch lebhafte Unterhaltung.
Bariton Erwin, drei Plätze weiter, sagt zu seiner Nachbarin: »Oans ist sicher: Der wird hier nie wieder den Tristan singen. Er ist bei Peggy in Ungnade gefallen.«
»Zu Recht. Peggy hat ihn in Grund und Boden gesungen«, findet Willi, der strenge Chor-Tenor.
»Tja, die starken Frauen, die schlucken uns alle«, lacht der Bassist Hofmann. »Kennt ihr die Geschichte vom Tenor Schumm, der mit Bessie Horman in New York in der Walküre auftrat?«
»Wie, singt Bessie Horman nicht nur noch Konzerte? Ich hörte, für die Bühne sei sie zu fett?« fragt Kicki, die grazile Soubrette.
»Nein, unter Johnny Levy tritt sie auf. Bei ihm darf sie alles, der schwört auf sie, zu Recht. Sie sang also die Sieglinde, da mußte sie sich hinlegen, und wenn sie einmal liegt, kommt sie aus eigener Kraft nicht mehr hoch. Schumm, als Siegmund, beugte sich über sie und fragte: ›May I come in?‹, und sie antwortete: ›Okay, but leave your shoes outside!‹«
Lachsalve. Bassist Hofmann holt gerade zur nächsten Anekdote aus, da wird es still. Peggy betritt die Kantine, schweren Schritts, Blumen im Arm.
Allgemeiner Applaus. Sie lächelt erschöpft. Ihre Fans von Statisterie und Chor umringen sie. »Du warst phantastisch, Peggy!« – »Gibst du mir ein Autogramm?« – »Wann kommt die erste CD?«
»Ich habe für dich eingekauft, Peggy!« wispert eine magere Choristin.
»Danke, das war süß von dir. Wo steht es?«
»Beim Pförtner!« antwortet die Choristin, die sich nicht traut, das ausgelegte Geld zurückzufordern.
»Jungs, Mädels, ihr seid Spitze, aber ich bin hundemüde. Seid mir nicht böse, ich muß ins Bett. « Peggy kann sehr nett lächeln mit ihrem herzförmigen Mund.
»Du hast versprochen, einen Sekt mit uns zu trinken.« Das war der Anführer der ortsansässigen Claque. »Schließlich haben wir sehr gute Arbeit für dich geleistet! Mit Überzeugung natürlich«, fährt er rasch fort, als ihn ein wilder Blick trifft.
Peggy setzt sich zu ihren Fans.
Am langen Sängertisch Sängergespräche. Alle haben vorgestern nacht eine Fernsehaufzeichnung von Tosca an der Met gesehen, die man jetzt kommentiert. »Beschissen.« – »Bergner hat ihren Zenit wirklich überschritten. Ein Vibrato, da weiß man nicht, singt sie ’n Ton oder singt sie ’n Triller.« – »Jordi Caracas klingt in der Höhe wie ein altes Waschweib.«
Opernsänger-Themen sind immer Stimmen, Partien, Gesundheit.
»Wieso hast du bloß Eboli abgelehnt?«
»Ich denke, es schadet meiner Stimme. Neuerdings ist es Mode geworden, bei dem Schlenker e-f-e-dis in die Bruststimme zu gehen, wegen dem erotischen Effekt. Aber bei mir entsteht, wenn ich in dieser Lage nicht Brust- und Kopfstimme mische, ein Loch in der Stimme, und ich komme nicht mehr in die Kopfstimme. Plötzlich muß ich dann mit der Bruststimme immer höher hinauf, da fühle ich mich, als würde ich im falschen Gang Auto fahren. Meine Kehle ist dann drei Tage lang wund.«
»Valtsa singt in der Bruststimme bis g«, weiß Kicki.
»Ich weiß, was Kurwenals Problem ist«, sagt Jim zu Babs. »Er singt im falschen Fach. Er ist eigentlich ein Tenor, und zwar ein dramatic Tenor. Aber ich werde ihm das nicht sagen.«
»In der Höhe klingt seine Stimme aber hohl«, antwortet Babs, glücklich, weil Harry sich neben sie gesetzt hat.
Eine Sängerin kommt herein, die letztes Jahr hier engagiert war. Großes Hallo. Sie erzählt von der Rigoletto-Neueinstudierung in Kassel, wo sie Maddalena gesungen hat. Sofort fragt jeder nach dem Sänger der eigenen Partie. Erleichterung, wenn der versagte, Skepsis und Unruhe, wenn er gut war.
Jan hat soeben mit Sphinx-Lächeln die Tempi des Dirigenten analysiert und für übersteuert befunden.
»Wann werden wir den Tristan von dir hören?« fragt die Soubrette Kicki. »Ich bin echt gespannt.«
Jan lächelt zerstreut.
»Ich trau’s ihm zu«, verteidigt ihn Bassist Hofmann. »Er ist ein viel besserer Musiker als Beetz, ihm fehlt nur die Pultstürmermentalität.«
Ein schüchterner rothaariger Holländer kommt herein, den die Kasseler Sängerin als ihren Freund vorstellt. »Er hat gerade Lohengrin gesungen.«
»Wo?« Alle sind plötzlich interessiert. Lohengrin ist eine Partie der Schwergewichtsklasse, und mit erfolgreichen Sängern stellt man sich gut.
»In Lübeck.«
»Ach so.« Sie wenden sich wieder den eigenen Gesprächen zu.
Der Holländer hat einen vier- oder fünfjährigen Sohn dabei, ein trostloses, vereinsamtes Theaterkind, das jetzt durch die Kantine streift und die Sänger mit Bierdeckeln bewirft.
Die Kasseler Sängerin sieht Peggy. »Peggy Tales? … Isolde, wirklich? … Wie war’s?«
»Leider nichts dran auszusetzen«, sagt jemand. »Woher kennst du sie?«
»Wir haben beim selben Lehrer studiert. Sie hatte es sehr schwer, glaube ich. Aus armen Verhältnissen – von Zuhause durchgebrannt … Unser Lehrer hat ihr jahrelang das Appartement bezahlt, vielleicht hätte sie’s sonst nicht geschafft.«
»Die hätte es immer geschafft.«
»Naja, ehrgeizig war sie natürlich. Die Stimme war damals kleiner als heute, aber schon so dunkel-metallisch, und paßte schlecht zu den lyrischen Sachen, die sie zu singen bekam.«
»Persönlich?«
»Persönlich – aber das bleibt bitte unter uns – habe ich sie nur einmal getroffen. Wir hatten miteinander ein Weihnachtskonzert gesungen, und danach gingen wir in ein Restaurant. Während des Essens ließ sie unauffällig Stoffservietten, Salzstreuer und Besteck in ihrer Tasche verschwinden und klaute mir anschließend noch den Regenschirm. Als wir nämlich das Lokal verließen, hat es getröpfelt. Sie bat mich um meinen Schirm und ging damit die dreizehn Meter zum Taxi. Auf der Fahrt bat ich sie mehrmals, ihn mir zurückzugeben, und Peggy sagte: ›Later.‹ Dabei blieb es. Übrigens glaube ich, sie wußte selbst nicht, was sie tat. Hätte im Lokal jemand sie nach dem Salzstreuer gefragt, hätte sie sich überrascht umgesehen und die Kellnerin gerufen.«
Am Fan-Tisch leert Peggy ihr zweites Glas Sekt. Als sie aufsteht, erblickt sie die Kasseler Sängerin. »Na sowas. Ich dachte, die wäre erledigt.« Wenn Peggy sich aufregt, spricht sie klirrend, mit Stütze.
»Keine Konkurrenz, Peggy. Die singt fast nur noch moderne Musik.« Die Fans schütteln sich.
»Trotzdem, so was dürfte in der Kunst eigentlich nicht existieren«, erregt sich Peggy. »Das ist die übelste, unprofessionellste Egoistin, die mir je über den Weg gelaufen ist. Die lügt, wenn sie den Mund aufmacht.«
»Sie hat Sonntag morgen eine Matinee bei uns«, weiß der Fan, der die Claque kommandiert. »Sollen wir sie ausbuhen?«
Wieder ein anderer Tisch: Orchestermusiker. Hauptsächlich Streicher. Marlene, Cellistin, unterhält sich mit der Bratscherin Lülü. Lülü ist klein und dick, kommt aus Belgien und heißt eigentlich Lulu, aber im Theater hat sich die französische Aussprache durchgesetzt. Marlene ist eine große, knochige Norddeutsche mit aschblondem Haar.
Auf Marlenes Schoß schläft ein dreijähriges Mädchen, das jetzt allmählich erwacht.
»Was machst du mit ihr während der Vorstellung?« fragt Lülü. »Legst du sie ins Etui?«
»Nein, Gottseidank tut Otti sie in den Kostümfundus. Das ist ganz praktisch zwischen den Kostümen, da hört keiner, wenn sie schreit.«
»Hast du nicht gesagt, der verschollene Vater ist wieder aufgetaucht?«
»Ja. Er prozessiert mit uns.«
»Alimente?«
»Gewissermaßen. Er sagt, er hätte ja schon vor der Geburt von mir gelebt, deswegen hätte er das Recht, auch jetzt von mir zu leben.«
Das kleine Mädchen klettert von Marlenes Schoß und wandert durch die Kantine. Tische, Beine, schöne Stimmen. Eine schwere Tür öffnet sich überraschend von selbst, das Mädchen gerät in einen langen Gang mit weichem Boden und schmutzigen Wänden. Halbdunkel. Sie klettert eine Treppe hoch. Licht aus einer offenen Tür. Es ist der Bühnenbildnerraum. Zwischen bekritzelten Basteltischen, Leim, Stoffen, Holzgerümpel steht auf einem Hocker ein Bühnenbildmodell. Dahinter taucht der Kopf eines Jungen auf. Roter Schopf, hellblaue, ratlose Augen. Es ist der kleine Sohn des Lübecker Lohengrin.
Das Modell zeigt ein hohes, düsteres Zimmer. In schrägen grauen Wänden stecken riesige Dolche, Blut rinnt die Wände hinab und versickert in glibbrigschwarzen Bergen von Eingeweiden.
Das Mädchen betrachtet es staunend.
Der Junge liest mit spröder Stimme die Aufschrift an der Rückseite. Er kann schon ein bißchen lesen, und er kennt die magischen Worte. Dieses lautet: Macbeth.
Das Mädchen fragt zögernd: »Puppen-Stube?«
Der Junge tritt hinter dem Modell hervor. Er hat alle seine Kleider ausgezogen und reißt ein Streichholz an, wie um sie anzuzünden. Dabei murmelt er Beschwörungsformeln. Nach drei Streichhölzern tritt er entschlossen auf den Kleiderhaufen zu, wirft nochmal einen kurzen Blick auf das Mädchen und erstarrt.
Auch sie hat sich ausgezogen. Sie hält ihm ihre Kleider entgegen und lächelt vertrauensvoll.
Er weicht zurück. Er ist ziemlich erschrocken. »Mensch wie siehst du denn aus?«
GRÄFIN:Schreibe du nur hin: »Abendlied«.
SUSANNA:Nur: »Abendlied«.
GRÄFIN (diktiert): »Welches süße, zarte Lüftchen«
SUSANNA (schreibt): »… zarte Lüftchen …«
GRÄFIN:»wird an diesem Abend wehn …«
SUSANNA:»… diesem Abend wehn …«
GRÄFIN:»bei den Pinien dort im Wäldchen …«
SUSANNA:»bei den Pinien«?
GRÄFIN:»Bei den Pinien dort im Wäldchen …«
SUSANNA:»Bei den Pinien dort im Wäldchen …«
GRÄFIN:Und den Rest wird er verstehn.
SUSANNA:Ganz gewiß, er wird’s verstehn.
GRÄFIN:Er wird verstehn.
SUSANNA:Er wird verstehn.
BEIDE:Gewiß, gewiß, er wird verstehn.Aus:
Die Hochzeit des Figaro
von Wolfgang Amadeus Mozart,
Text: Lorenzo da Ponte
FIGAROS HOCHZEIT,ODER: DIE ARBEIT
Das Theater
Arbeit
Jan
Ein Regisseur
Vorabend
Kazuko
Morgen
Erste Szenenprobe
Gedanken über Glitter
Versuch einer Auswertung
Gebremste Flucht
Refrain
Karriere
Lauter Absagen
Laurent
Beleuchtung
Orchesterproben
Maske
Endproben
Anruf eines Rezensenten
Premiere
Die drei Schwarzen
Nach der Premiere
Das Theater
Das Neustädter Theater gibt es seit hundert Jahren. Im Krieg wurde es zerbombt und in den fünfziger Jahren wieder aufgebaut.
Es steht am Rand der Altstadt, durch eine breite Ringstraße von ihr getrennt, ein grau gestrichenes Jugendstilimitat. Das Foyer, schmal, durch Spiegel aufgehellt, nimmt die Hufeisenform des Zuschauerraums auf, ebenso die Fassade hinter der geschwungenen Freitreppe. Zu beiden Seiten dieser Fassade, etwas zurücktretend, schmucklos und eckig die Technik-Flügel, in deren unteren Etagen Magazine, Werkstätten und Garderoben untergebracht sind. In den oberen Etagen befinden sich Probebühnen, Probezimmer und Ballettsaal (links) sowie der Administrationstrakt mit Intendanz, Betriebsbüro, Verwaltung und Dramaturgie (rechts). Durch diese Flügel und den vorspringenden Zuschauertrakt hat der Bau eine Art Kleeblattform, aus deren Mitte weitere vier Etagen hoch der Kasten des Bühnenhauses ragt: noch grauer, da seit langem nicht gestrichen, fensterlos.
Das Neustädter Theater ist ein städtischer Dienstleistungsbetrieb, der für bis zu tausend Zuschauer pro Abend Kunst produziert. Als sogenanntes Dreispartentheater bietet es Oper, Schauspiel und Ballett, insgesamt über zwanzig Produktionen pro Spielzeit. Es hat vierhundert Angestellte, davon zählen zweihundertvierzig zum technischen, hundertsechzig zum künstlerischen Personal.
Einer davon ist Jan.
Arbeit
Jan wohnt eine Viertelstunde vom Theater entfernt in einem alten Viertel außerhalb des Rings. Sein Arbeitsweg führt durch einen kleinen Park und über eine Eisenbahnbrücke.
Ins Haus kommt er meistens um neun Uhr früh. Der Pförtner, der von einer Glaskabine aus den Bühneneingang überwacht, salutiert ironisch mit seiner Zigarette, während er Jan den Schlüssel zum Ensembleprobenraum zuschiebt. Der Pförtner ist meistens gut gelaunt, hat einen Bierbauch und hält alle Künstler für faule Säcke.
Die Morgenprobe beginnt erst um zehn, aber Jan muß sich warmspielen; um neun Uhr ist der Ensembleprobenraum noch frei.
Im obersten Stock liegen wie Boxen nebeneinander die Korrepetitionszimmer. Im Vorbeigehen hört Jan einzelne Sänger üben; nicht die, die es nötig hätten, registriert er flüchtig. Die Stimmen klingen frisch. Jetzt, nach den Sommerferien, sind die Sänger erholt und voller Tatendrang.
Im Ensembleprobenraum steht der einzige Flügel. Kein überragendes Instrument, ein Gebrauchsstutzflügel, aber er klingt wenigstens, anders als die gemarterten Klaviere, auf denen die Korrepetitoren herumhämmern, um den Sängern metrische Orientierung zu geben. Jan nennt sie Drahtkisten, er haßt ihr Scheppern und den ausgeleierten Anschlag. Leider darf er nach zehn Uhr nur selten in den Ensembleprobenraum, der für den Studienleiter und die Dirigenten reserviert ist.
Behutsam greift er in die Tasten, horcht auf Stimmung und Klang, folgt Impulsen in seinen Händen. Die Fingergeläufigkeit ist sofort da, die Laune auch, vom Improvisieren geht er allmählich zu Mozart-Melodien über, tastet sie ab, sucht ihren Schwerpunkt. Jetzt zieht er den Klavierauszug von Figaros Hochzeit aus der Tasche. Figaros Hochzeit ist die erste Oper, die in dieser Spielzeit in Neustadt herausgebracht wird, und Jans Aufgabe ist es, den Sängern die Partien einzutrichtern. Während er übt, überlegt er sich schon Vereinfachungen für die heutige Probe: wo kann er Noten auslassen, um umzublättern oder Einsätze zu geben? Bei welchem Sänger muß er die Melodie mitspielen, bei wem den Takt stärker betonen? Er kennt natürlich die Sänger des Hauses, er hat ein Konzept, und während er alle wichtigen Passagen durchspielt, gerät er ins Musizieren und ist bester Stimmung.
Da klopft es, und er muß den Ensembleprobenraum verlassen. Es ist zehn Uhr.
Im Korrepetitionszimmer wartet Nikolaus Hofmann, der Bassist, der in Figaros Hochzeit den Gärtner Antonio singen wird; immerhin warmgesungen, Schweißflecken auf Brust und Ärmeln. Hofmann ist fünfzig, seit siebzehn Jahren hier; unkündbar, ein mißachteter Gebrauchssänger. Den Gärtner Antonio hat er schon hundertmal gesungen, er soll »nur« rhythmisch auf Vordermann gebracht werden, ein, wie Jan weiß, aussichtsloses Unterfangen. Hofmanns Stimme ist ohne Spannkraft, pastos; von sumpfig-provinzieller Wärme, ohne weitere Ausdrucksmöglichkeiten. Jan spielt die Partie mit Hofmann dreimal durch, gibt Hinweise, festigt Einsätze und ruft dann: »Danke!«, während er aufspringt und das Fenster aufreißt.
»Magst’n Apfel?«
Hofmann zieht eine Plastiktüte hinter dem Klavier hervor. Hofmann wohnt auf dem Land und redet für gewöhnlich von seinen Obstbäumen, falls er nicht Stammtischwitze reißt. Hofmann ist jovial, von erbarmungsloser Operettenfröhlichkeit; dick, etwas ungepflegt, laut; ein lieber Mann. »Oder ’ne Birne?«
Jetzt legt er eine Reihe verwachsener grüner Äpfel und verdrehter Birnen auf das Klavier. »Eigene Ernte. Direkt vom Baum.«
Es ist zwanzig vor elf. Jan lehnt sich aus dem Fenster und sieht tief unten vor der Pforte den hübschen Tenor Danny vom Fahrrad steigen.
»Was ich fragen wollte: Haste Lust auf ’ne Tingelei?«
Hofmann versteht sich vor allem als Entertainer, er singt gern in Kneipen Operettenarien und moderiert bunte Vereinsabende.
»Um was geht’s?«
»Jubiläum vom Polizeiorchester. Keyboard.«
»Wann?«
»Nächsten Samstag.«
»Ich muß nachsehen, ob ich Dienst …«
»Nein, hast du nicht.« Hofmann ist nicht so harmlos, wie er tut. Jan verachtet ihn ein bißchen und ist doch froh, daß Hofmann ihn mag.
»Ich hab ein paar neue Witze auf Lager. Weißt du, was EHE bedeutet? Errare Humanuni Est! Oder den? Ich hör auf zu trinken, ab jetzt bin ich voll da!«
»Ziemlich billig, nein?«
»Billig sind die nicht!« Hofmann amüsiert sich wie Bolle. »Na, keine Panik. Du darfst das nicht auf die ernste Schulter nehmen!«
»Schmerzensgeld?« fragt Jan spröde.
»Hundertfünfzig. Mehr ist nicht drin.«
Nicht mal die Telefonrechnung. »Etwas mehr müßte es aber sein«, meint Jan.
»Na gut, ich leg’s aus meiner Tasche drauf. Weil du’s bist!« Hofmann schlägt ihm auf die Schulter.
»Schwarz?« fragt Jan.
»Ehrensache.«
Um elf ist die Sopranistin Kazuko dran, die im Figaro die Gräfin singen wird. Sie hat sich wie immer gut vorbereitet, singt intonationssicher, ohne rhythmische Probleme. Von Jan erwartet sie Tips für Phrasierung und Ausdruck; dankbare Arbeit. Kazuko ist achtunddreißig und kämpft sich ins jugendlich-dramatische Fach vor, nachdem sie für die lyrischen Partien nicht mehr frisch genug war. Sie weiß nicht, wie weit ihre Stimme sich hochtrainieren läßt, da gibt es Anlaß zu Bedenken; aber in der Kunst weiß man sowieso nie. Die Stimme ist nicht groß, aber gut geführt; anmutig, weich, weiblich; in guten Phasen gewinnt sie eine pastellene Transparenz, ein Leuchten, einen unerhörten Charme. Man könnte das gleiche über die Person Kazuko sagen.
Mit der heutigen Probe ist Kazuko zufrieden; Kazuko, die zurückhaltende, disziplinierte Kazuko, ist so froh über ihre Leistung, daß sie ums Klavier tanzt und Jan auf den angegrauten Schopf küßt. Sie ist gepflegt und duftet nach einem süßlichen Parfüm, das Jan an Müllkippen erinnert.
»Vielen Dank! Du bist mein Lieblings-Coach!« ruft Kazuko.
Jan antwortet: »Otskarai samá.« Das ist die einzige japanische Wendung, die Kazuko ihm beibringen konnte, und bedeutet angeblich: Vielen Dank, wir haben gut gearbeitet, jetzt wollen wir ausruhen. Kazuko stopft lachend den Klavierauszug in ihre Notentasche; den Abschiedskuß kann Jan verhindern.
Jan will nicht in die Kantine. Die Pause verbringt er am Fenster, er lehnt die Stirn gegen das warme Holz des Rahmens und schaut nach dem Tenor Danny aus.
Die letzte Klientin des Vormittags ist Mezzosopranistin Heidrun. Für Jan leichte Arbeit: Heidrun ist gescheit, die Partie der Marzelline hat sie beim ersten Durchsehen erfaßt, sie ärgert sich, daß sie überhaupt für die Probe aufgeschrieben wurde (»Beschäftigungstherapie?«). Sie kann alles, hätte Volumen und Technik für ein größeres Haus, allerdings klingt die Stimme neutral, hat wenig Ausstrahlung. Heidrun ahnt das. Ihr Ausdruckswille findet keinen Weg in die Stimme. Es gibt Bereiche, die nicht dem Willen unterworfen sind, formuliert Jan lautlos mit gespitzten Lippen, während er die Begleitung spielt. Heidrun versucht, den erkannten Mangel durch Kampfgeist auszugleichen; sie gilt als stutenbissig, die Kolleginnen fürchten sie. Jan, der nichtweibliche Kollege, wird geduldet, fühlt aber ebenfalls Heidruns Mißtrauen und erhebt keinen Einspruch, als die Sängerin nach dem ersten Durchlauf meint: »Es reicht.«
Als sie weg ist, übt er die Orchesterpartie von Hummels Trompetenkonzert. Übermorgen ist Orchestervorspiel für die Stelle der ersten Trompete. Jan muß aus der Partitur spielen, er hat sich eine verbindliche Fassung überlegt, die er konsequent durchziehen muß. Bei Orchestervorspielen ist höchste pianistische Genauigkeit gefordert, der Trompeter muß die begleitenden Instrumente genau heraushören, da kann Jan nicht mit Auslassungen und Tricks arbeiten wie bei den Sängern. Außerdem sitzt bei einem Instrumentalistenvorspiel das halbe Orchester im Zuschauerraum und wird dem Spiel des Pianisten entnehmen, wie ernst der das Orchester nimmt. Nimmt er’s nicht ernst genug, wird er das als Dirigent zu spüren bekommen.