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Eberhard Starusch, „Studienrat für Deutsch und also Geschichte“ in Westberlin, sammelt Material zu einem Wehrmachtsgeneral, der im Sandkasten den Zweiten Weltkrieg nachträglich gewinnen will. Doch die aktuelle Studentenrevolte wird für Starusch immer vordringlicher. Dem empörten Aufschrei seines Schülers, der als Protest gegen den Napalm-Einsatz in Vietnam einen Dackel auf dem Kudamm verbrennen will, setzt er die Traurigkeit seines Besserwissens entgegen: Wer die Welt radikal verändern wollte, müsste zuerst den Menschen abschaffen. Eine Zahnbehandlung wird Starusch zum Symbol des einzig möglichen Fortschritts: örtliche Betäubung gegen das Leiden an der Welt.
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Seitenzahl: 341
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Das erzählte ich meinem Zahnarzt. Maulgesperrt und der Mattscheibe gegenüber, die, tonlos wie ich, Werbung erzählte: Haarspray Wüstenrot Weißeralsweiß… Ach, und die Tiefkühltruhe, in der zwischen Kalbsnieren und Milch meine Verlobte lagerte, Sprechblasen steigen ließ: »Halt du dich da raus. Halt du dich da raus…«
(Heilige Apollonia, bitte für mich!) Zu meinen Schülerinnen und Schülern sagte ich: »Versucht, nachsichtig zu sein. Ich muß zum Zahnklempner. Das kann sich hinziehen. Also Schonfrist.«
Kleines Gelächter. Mittlere Respektlosigkeiten. Scherbaum breitete skurrile Kenntnisse aus: »Sehr verehrter Herr Starusch. Ihr leidgeprüfter Entschluß legt es uns, Ihren mitfühlenden Schülern, nahe, Sie an das Martyrium der Heiligen Apollonia zu erinnern. Im Jahre 250, unter der Regierung des Kaisers Decius, wurde das gute Mädchen in Alexandria verbrannt. Weil die Meute ihr vorher mit Kneifzangen alle Zähne gezogen hatte, ist sie die Schutzheilige aller Zahnwehleidenden und ungerechterweise auch der Dentisten. Auf Fresken in Mailand und Spoleto, in den Gewölben schwedischer Kirchen, aber auch in Sterzing, Gmünd und Lübeck sieht man sie mit Zange und Molar abgebildet. Viel Spaß und fromme Hingabe. Wir, Ihre 12a, werden die Heilige Apollonia um Fürbitte ersuchen.«
Die Klasse murmelte Segenssprüche. Ich bedankte mich für den mäßig witzigen Unsinn. Vero Lewand verlangte mir sogleich eine Gegenleistung ab: mein Votum für die seit Monaten geforderte Raucherecke neben dem Fahrradschuppen. »Das kann ja kaum in Ihrem Sinn sein, wenn wir unbeaufsichtigt auf dem Klo qualmen.«
Ich versprach der Klasse, während der nächsten Konferenz und dem Elternrat gegenüber eine zeitlich begrenzte Raucherlaubnis zu befürworten, wenn Scherbaum bereit sei, die Chefredaktion der Schülerzeitung zu übernehmen, falls ihn der Schülerausschuß der SMV dazu auffordern sollte: »Entschuldigen Sie den Vergleich: Meine Zähne und euer Wurstblättchen müssen behandelt werden.«
Aber Scherbaum winkte ab: »Solange aus der Schülermitverantwortung keine Schülermitbestimmung wird, tu ich nix. Einen Blödsinn kann man nicht reformieren. Oder glauben Sie etwa an reformierten Blödsinn? - Na also. - Das mit der Heiligen stimmt übrigens. Können Sie nachschlagen im Kirchenkalender.«
(Heilige Apollonia, bitte für mich!) Denn die einmalige Anrufung schlägt bei den Märtyrern nicht zu Buch. So machte ich mich am späten Nachmittag auf den Weg, verzögerte die dritte Anrufung, und erst auf dem Hohenzollerndamm, wenige Schritte vor jenem Hausnummernschild, das mir in der zweiten Etage des bürgerlich bemessenen Mietshauses die Praxis des Zahnarztes versprach, nein, im Treppenhaus erst, zwischen vaginalen Jugendstilornamenten, die, zum Fries geordnet, gleich mir treppauf stiegen, entschloß ich mich, wider besseres Wissen, zur dritten Anrufung: »Heilige Apollonia, bitte für mich…«
Irmgard Seifert hatte ihn mir empfohlen. Sie nannte ihn zurückhaltend, behutsam und doch bestimmt. »Und stellen Sie sich vor: Er hat Fernsehen in der Praxis. Zuerst wollte ich nicht, daß es läuft während der Behandlung, aber jetzt muß ich zugeben: Es lenkt fabelhaft ab. Man ist ganz woanders. Und selbst die blinde Mattscheibe ist noch anregend, irgendwie anregend…«
Darf ein Zahnarzt seinen Patienten nach seiner Herkunft fragen?
»Ich verlor meine Milchzähne im Hafenvorort Neufahrwasser. Die Leute dort, Stauer und Schichauarbeiter, hielten es mit dem Kautabak; so sahen auch ihre Zähne aus. Und wo sie hintraten, setzten sie ihre Marken: teerhaltigen Qualster, der bei Frost nicht gefrieren wollte.«
»Jaja«, sagte er in Segeltuchschuhen, »aber mit Kautabakschäden haben wir heute kaum mehr zu tun.« Und war schon woanders: bei Artikulationsstörungen und bei meinem Profil, dem seit der Pubertät ein progener Unterkiefer mehr Willensstärke zuspricht, als eine dentale Frühbehandlung hätte verhindern können. (Meine ehemalige Verlobte verglich mein Kinn mit einer Schubkarre; neben einer Karikatur, die Vero Lewand in Umlauf gebracht hatte, wurde meinem Kinn eine weitere Funktion zugemutet: als Tieflader.) Jadoch ja. Wußte ich immer schon: Ich habe einen Hackbiß. Ich kann nicht mahlen. Der Hund reißt. Die Kuh mahlt. Der Mensch kaut mit beiden Bewegungen. Mir fehlt diese normale Artikulation. »Sie hacken«, sagte mein Zahnarzt. Und schon war ich froh, daß er nicht sagte, Sie reißen, wie der Hund reißt. »Deshalb machen wir einen Röntgenstatus. Schließen Sie ruhig die Augen. Wir können aber auch den Fernseher…«
(»Danke, Doktor.« - Oder verschliff ich die Anrede schon anfangs zum vertraulichen »Dokter«? Später, abhängig, rief ich: »Hilfe, Doktä! Was soll ich denn machen, Doktä? Sie wissen doch alles, Doktä…«)
Während er mit seinem elfmal summenden Handgerät meine Zähne erfaßte und dabei plauderte - »Ich könnte Ihnen Geschichten aus der Vorzeit der Zahnmedizin erzählen…« -, sah ich auf milchiger Wölbung viel, zum Beispiel Neufahrwasser, wo ich einen Milchzahn, dem Holm gegenüber, in der Mottlau versenkte.
Sein Film fing anders an: »Man muß bei Hippokrates beginnen. Er empfiehlt Linsenbrei gegen Abszesse im Mundmilieu.«
Und mein Muttchen schüttelte den Kopf auf der Mattscheibe: »Nai, nech väsenken wolln wä. Aufbewahrn mechten wä se em Schmuckkastchen auf blaue Watte.« Leicht gewölbt breitete sich Güte aus. Wenn mein Zahnarzt in historischen Lehrsätzen sprach - »Das Gurgeln mit Pfefferlösung soll, nach Hippokrates, gegen Zahngeschwulst helfen« -, sprach mein Muttchen inmitten unserer Wohnküche: »Ond Granatbrosche leg ech zu Bärnstain ond Opa saine Orden. Ond daine Melchzähne sammeln wä fleißich, damit schpäter Frau ond Kinderchen mechst sagen kennen: so sahn se aus.«
Er aber hatte es auf meine Prämolaren, auf meine Molaren abgesehen. Denn von allen meinen Backenzähnen standen die Weisheitszähne, acht plus acht - acht minus acht, am sichersten: Brückenpfeiler sollten sie werden und mir, dank korrigierender Brücke, den Hackbiß mildern. »Eingriff«, sagte er. »Wir werden uns zu einem größeren Eingriff entschließen müssen. Darf ich nun, während meine Hilfe den Röntgenstatus entwickelt und ich Ihren Zahnstein entferne, Bild und Ton hineingeben?«
Immer noch: »Danke.«
Er gab Prinzipien auf: »Vielleicht das Ostprogramm?« Mir genügte die alles duldende Mattscheibe, auf der ich mich langsam und immer wieder, dem Holm gegenüber, einen Milchzahn in der Hafenbrühe versenken sah. Noch gefiel mir meine Familiengeschichte, denn mit den Milchzähnen hatte es angefangen: »Bestimmt, Muttchen, habe ich einen Beißer - denn einer fehlt ja - im Hafen versenkt. Und den hat ein Fisch, kein Zander, ein Grundwels verschluckt, der alle schlimmen Zeiten überstanden hat. Immer noch liegt er auf Lauer, denn Grundwelse werden alt, und wartet auf weitere Milchzähne. Aber die restlichen Beißer perlen milchig und ohne Zahnstein auf roter Watte, während die Granatbrosche samt Bernstein und Opas Orden verlorenging…«
Mein Zahnarzt befand sich mittlerweile im elften Jahrhundert und berichtete von dem arabischen Arzt Albukassis, der in Cordoba als erster vom Zahnstein gesprochen hatte. »Absprengen muß man ihn.« Auch erinnere ich mich an Sätze wie diesen: »Wenn der Säurerest im Alkalischen, also unter pH sieben liegt, bildet sich Zahnstein, weil die Speicheldrüsen im Unterkiefer gegen die Schneidezähne und die Ohrenspeicheldrüse gegen sechs plus sechs den Speichel entleeren, besonders stark bei extremen Mundbewegungen, etwa beim Gähnen. Gähnen Sie mal. Ja, ja, schön…«
Ich machte das alles mit, gähnte, ließ Speichel spritzen, der Zahnstein erzeugte, und konnte meinen Zahnarzt doch nicht bewegen, Anteil zu nehmen: »Nun, Doktor, wie heißt meine kleine Produktion? - Die geretteten Milchzähne. Denn mein Muttchen hat, als sie im Januar fünfundvierzig packen mußte - mein Vater war ja beim Lotsenamt und konnte vorsorgen -, mit dem letzten Truppentransport Neufahrwasser verlassen können. Doch bevor sie verließ, packte sie das Allernotwendigste, also auch meine Milchzähne, in Vaters großen Seesack, der, wie es bei überstürzten Fluchtvorbereitungen zuzugehen pflegt, irrtümlicherweise auf die »Paul Beneke«, einen Rad- und Vergnügungsdampfer, verladen wurde, der nicht auf eine Mine lief und heil wie überladen Travemünde erreichte, während mein gutes Muttchen weder Lübeck noch Travemünde zu sehen bekam; denn jener Truppentransporter, von dem ich behaupte, er sei der letzte gewesen, lief südlich Bornholm auf eine Mine, wurde torpediert und ging - wenn Sie bitte hinter sich schauen und vom Zahnstein ablassen wollen - mit meinem Muttchen, wie damals inmitten Eisgrütze, so heute auf Ihrer Mattscheibe, regelrecht unter. Nur einigen Herren von der Gauleitung soll es gelungen sein, rechtzeitig auf ein Torpedoboot umzusteigen…«
Mein Zahnarzt sagte: »Nun spülen Sie mal.« (Während andauernder Behandlung bat, forderte er mich auf, rief er: »Nochmal!«, erlaubte er mir, den Blick abzuziehen.) Nur selten gelang es den Bildchen meiner Produktion, mitzufliehen und in der Speischale den Auswurf, etwa die abgesprengten Zahnsteinkonkremente, zu überblenden: Die Distanz zwischen Mattscheibe und Speischale, dieses Nachflimmern bei gleichzeitigem Speichelandrang, war reich an Stolperdrähten und gab eingeklammerte Sätze her: Zwischenrufe meines Schülers Scherbaum, private Streitereien zwischen Irmgard Seifert und mir, alltäglichen Schulkram, Fragen an den Kandidaten der zweiten Staatsprüfung für Lehrämter und Seinsfragen, in Zitate verpackt. Doch so schwierig es war, von der Mattscheibe zur Speischale zu finden und nach dem Spülvorgang wieder einzublenden, es gelang mir fast immer, Bildstörungen zu vermeiden.
»Wie das so zugeht, Dokter: Lange lagerten meine Milchzähne; denn was einmal gerettet wird, geht so schnell nicht wieder verloren…«
»Doch machen wir uns nichts vor: Gegen Zahnstein gibt es kein Mittel…«
»Als der Sohn die Eltern suchte, wurde ihm ein Seesack zugestellt…«
»Deshalb wollen wir heute den Zahnstein oder den Feind Numero eins bekämpfen…«
»Und jedes Mädchen, das in mir ihren zukünftigen Verlobten vermutete, bekam meine geretteten Milchzähne zu sehen…«
»Denn die instrumentelle Beseitigung des Zahnsteins gehört a priori zu jeder Zahnbehandlung…«
»Doch nicht jedes Mädchen fand Eberhards Milchzähne schön oder interessant…«
»Neuerdings gibt es Ultraschallbehandlung. Nun spülen Sie mal.«
Ein, wie ich zuerst meinte, ärgerlicher Zwischenschnitt, denn beinahe wäre es mir gelungen, mit Hilfe der geretteten Milchzähne meine ehemalige Verlobte auf den Bildschirm zu locken und anzufangen (wie ich auch jetzt endlich anfangen will mit meinem Lamento), aber mein Zahnarzt war dagegen: Zu früh.
Während ich ausgiebig spülte, unterhielt er mich mit Anekdoten. Er erzählte von einem gewissen Scribonius Largus, der für Messalina, die erste Frau des Kaisers Claudius, ein Zahnpulver erfunden hatte: gebranntes Hirschhorn plus chiotisches Harz und Ammoniaksalz. Als er zugab, daß schon bei Plinius zerstoßene Milchzähne ein beliebtes Glückspülverchen hergegeben hätten, klopfte mir wieder meines Muttchens Satz im Ohr: »Hiä Jonkchen, auf griene Watte leg ich diä. Das mecht diä mal Glick bringen…«
Was heißt hier Aberglaube! Schließlich entstamme ich einer Seemannsfamilie. Mein Onkel Max blieb auf der Doggerbank. Mein Vater überlebte die »Königsberg« und stand bis zum Ende der Freistaatzeit im aktiven Lotsendienst. Und mich haben die Jungs von Anfang an Störtebeker genannt. Bis zum Schluß blieb ich ihr Anführer. Moorkähne durfte die zweite Geige spielen. Wollte deswegen die Bande sprengen. Aber das habe ich nicht geduldet: »Mal herhören, Jungs.« - Und das so lange, bis unser Laden aufflog, weil das spirrige Aas gesungen hatte. Ich sollte mal auspacken und alles der Reihe nach, so wie es wirklich gewesen ist, flimmern lassen. Doch nicht mit den üblichen Spannungseffekten - Aufstieg und Fall der Stäuberbande -, mehr wissenschaftlich analytisch: Jugendbanden im Dritten Reich. Denn die Akten der Edelweiß-Piraten im Keller des Kölner Polizeipräsidiums hat bis jetzt noch niemand gelüftet. (»Was meinen Sie, Scherbaum? Das müßte Ihre Generation doch interessieren. Wir waren damals siebzehn, wie Sie heute siebzehn sind. Und gewisse Gemeinsamkeiten, kein Eigentum, das gruppeneigene Mädchen und die absolute Frontstellung gegen alle Erwachsenen lassen sich nicht übersehen; auch der vorherrschende Jargon in der 12a erinnert mich an unseren Betriebsjargon…«) Allerdings war Krieg damals. Da ging es nicht um Raucherecken und ähnliche Kindereien. (Als wir das Wirtschaftsamt ausräumten… Als wir den Seitenaltar in der Herz-Jesu-Kirche… Als wir auf dem Winterfeldplatz…) Wir leisteten richtigen Widerstand. Mit uns wurde keiner fertig. Bis Moorkähne uns verpfiffen hat. Oder die Zaunlatte mit ihren Schneidezähnen. Hätte beide hopsgehen lassen sollen. Oder striktes Verbot: Keine Weiber! Übrigens hab ich damals meine Milchzähne in einem Säckchen auf der Brust getragen. Wer aufgenommen wurde, mußte bei meinen Milchzähnen schwören: »Das Nichts nichtet unausgesetzt.« Hätte sie mitbringen sollen: »Sehen Sie, Dokter. So schnell geht das. Gestern noch war ich Chef einer im Reichsgau Danzig-Westpreußen gefürchteten Jugendbande; und heute schon bin ich ein Studienrat für Deutsch und also Geschichte, der seinen Schüler Scherbaum überreden möchte, vom jugendlichen Anarchismus abzulassen: ›Sie sollten die Schülerzeitung übernehmen. Ihre kritische Begabung verlangt nach einem Instrument.‹ Denn ein Studienrat ist ein umgepolter Jugendbandenführer, den - wenn Sie mich als Maßstab nehmen wollen - nichts mehr schmerzt als Zahnweh, seit Wochen Zahnweh…«
Mein Zahnarzt begründete meine wenn auch erträglichen, so doch anhaltenden Zahnschmerzen mit Kieferknochenrückgang, der den Zahnfleischschwund gefördert und die empfindlichen Zahnhälse freigelegt habe. Als ein weiteres Anekdötchen bei mir nicht verfing - »Plinius hat gegen Zahnschmerz empfohlen: Streuet euch Asche vom Schädel des tollen Hundes ins Ohr« -, wies er mit seinem Spezialkratzer über die Schulter: »Vielleicht sollten wir doch den Fernseher…« - Aber ich bestand auf dem Schmerz: Wehgeschrei. Ein Lamento, das sich niemals vertagt. (»Entschuldigt bitte, wenn ich zerstreut bin.«)
Mein Schüler führte sein Fahrrad durchs Bild: »Sie mit Ihren Zahnschmerzen. Und was ist im Mekong-Delta los? Haben Sie das gelesen?«
»Ja, Scherbaum, das habe ich gelesen. Schlimm. Schlimmschlimm. Doch muß ich zugeben, daß mich dieses Ziehen, diese auf immer den gleichen Nerv gerichtete Zugluft, daß mich dieser zu lokalisierende, gar nicht mal schlimme, doch auf der Stelle tretende Schmerz mehr würfelt, trifft und bloßstellt als der fotografierte, unübersehbare und dennoch abstrakte, weil nicht meinen Nerv berührende Schmerz dieser Welt.«
»Macht Sie das nicht zornig oder wenigstens traurig?«
»Oft versuche ich, traurig zu sein.«
»Empört Sie das nicht, dieses Unrecht?«
»Ich gebe mir Mühe, empört zu sein.«
Scherbaum verging. (Er stellte sein Rad im Fahrradschuppen ein.) Mein Zahnarzt war da in Zimmerlautstärke: »Wenn es schmerzt, bitte ein kleines Zeichen…«
»Es zieht. Ja. Da vorne zieht es.«
»Das sind Ihre bloßstehenden, vom Zahnstein angegriffenen Zahnhälse.«
»Himmel, das zieht.«
»Wir nehmen dann Arantil später.«
»Darf ich mal spülen, Dokter, nur mal kurz spülen.«
(Und Abbitte leisten. Nie wieder will ich…) Da hatte ich schon meine Verlobte im Ohr: »Du mit deinem Wehwehchen! Schmerzlicher Abschied, wenn ich das höre. Sag mir dein Konto, und ich überweise ein Pflästerchen. Steht dir doch zu, die Rente. Fang was Neues an. Fütter dein Hobby: keltische Grabornamente.«
(Weg von der Speischale zur Basaltgrube auf dem Mayener Feld. Nein, auf dem Friedhof in Kruft flimmert sie. Oder ist es das Bimslager, und sie zwischen Hohlbausteinen…)
»Sei nützlich. Ich wette, du gibst einen prima Pauker ab.«
(Kein Bims: Andernach. Die windige Rheinpromenade. Zwischen dem Bollwerk und der Autofähre gestutzte Platanen zählen. Hin und her mit abrechnenden Worten.)
»Wieviel Pädagogik hast du auf mich geträufelt? Kau keine Nägel. Lies langsam und systematisch. Fasse zusammen, bevor du abschweifst. Mich mit Hegel und deinem Marxengels gefüttert…«
(Ein starres Ziegengesicht, aus dem Sprechblasen steigen, platzvoll gefüllt mit Zahnsteinsplitt Gedächtniskies Haßschotter. Ach, Lois Lane!)
»Ich bin erwachsen. Bin dich los. Endlich los. Du Memme Versager Superfeigling!«
(Und hinter der Sprechmaschine Bewegung, flußauf flußab: Keuch! Keuch!)
»Du warst ein guter, etwas weinerlicher Lehrer.« (Rechtsrheinisch Leutesdorf mit dem doppelt gebuckelten, braunschwarz verregneten Wachstum Rosengarten: Seufz! Seufz!)
»Mach was aus deinen Talenten. Raus aus dem Bims und Zement, bevor es zu spät ist. Wie willst du die fuffzehntausend haben?«
(Zu Füßen des Wachstums: Güterzüge und Autoverkehr. Bewegung strengt sich als Hintergrund an. Worte, links rechts an mir vorbei, auf die leere Terrasse des Hotels Traube gespuckt: Bla! Bla!)
»Auf Stottern oder als richtigen Batzen?«
(Da steh ich in meinem Windfang, dem Trenchcoat: Supermans Handgeld.)
»Nun los schon. Sag mir dein Konto.«
(Früher einmal war das Andernacher Bollwerk die Rheinzollbastion der kurkölnischen Landesfürsten gewesen…)
»Nimm es als Lastenausgleich, und hör auf mit dem Flennen.«
(…später wurde es Kriegerdenkmal für die von vierzehn bis achtzehn. Die Kamera schwenkt. Ein Regieassistent hat meine Verlobte überredet, Möwen zu füttern: Schrey! Schrey!)
Sie hat mich ausgezahlt. Und ich legte das Geld zielbewußt an. Ein später Student sattelte um. Die Universität Bonn - ich wollte in ihrer Nähe bleiben - verwandelte den Betriebsingenieur und Spezialisten für Fliehkraftentstauber in einen Referendar, später Assessor, der seit Herbst letzten Jahres Studienrat für Deutsch und Geschichte ist. »Wäre es nicht besser«, wurde dem Umschüler nahegelegt, »bei Ihrem Fachwissen Mathematik als Hauptfach zu belegen?« - Und auch er in Segeltuchschuhen nahm Abstand von meinem Zahnstein: »Wie konnten Sie nach abgeschlossenem Maschinenbaustudium darauf verfallen? Das dauert doch ewig.«
Ich spülte gründlich: Wenn schon umschulen, dann total. Soll ihr Geld nicht umsonst rausgeworfen haben. Blieben sogar runde dreitausend übrig (die ich später auf sein Konto überweisen mußte, denn die Kasse wollte nur die Hälfte übernehmen). Soviel sollte mir mein Hackbiß wert sein. Dafür setzte ich mich in seine halbautomatische Instrumatik, Ritter genannt, die ihm die Vielzahl der Instrumente ins kunstfertige Händchen lieferte, damit er, während ich, nein, wir beide in meinem Köpfchen, das gerne Besuch hat: »Was meinen Sie, Dokter, hätte ich mir die Taschen zunähen sollen?«
Meine Verlobte sagte die Sendung aus Andernach ab: »Soeben sahen wir, welch verheerende Wirkung grüner Kryptonit auf Supermans Zahnschmelz hat. Wie aber werden Supermans Zähne auf roten Kryptonit reagieren? - Darüber wird unsere nächste Superman-Schau berichten. Inzwischen werfen wir einen Blick in die Werkstatt des Kryptonitmannes…«
Sie zeigte mir mein Milieu: »Dieser schön geformte Speichelabsauger mit versenkbarem Schlauch wird durch eine Wasserstrahlpumpe betrieben und wirbt auf allen Dentalmessen dank seiner außerordentlich hohen Absaugleistung.« - Mit einem Stimmchen, als wollte sie Christbaumschmuck anpreisen, pries sie die Speischalenspülung und des Ritters zweigelenkigen Speifontänenarm: »Er macht die Schale auch vertikal beweglich.« - Und sie auf der Mattscheibe und seine Hilfe mit klammen Griffeln, beide erteilten Weisungen mittels Drucktaste an der Vorderseite des Schwebetischchens. Wie sie mich bedienten. Wie sie den Absauger aus der Versenkung lockten. Es machte mir Spaß, wie er schlurfte blubberte durstig tat, bevor er mir in die Spucke gehängt wurde.
»Und die Zunge bitte locker hinten unten lassen.« Mein Zahnarzt beugte sich über mein Angebot, verdeckte vier Fünftel der Mattscheibe, suchte mit dem rechten Ellenbogen Halt zwischen Rippe und Hüfte und stocherte zwischen den zahnsteinverkrusteten Hälsen meiner oberen Schneidezähne: »Nicht schlucken, das macht der Absauger. Durchatmen, so. - Soll ich vielleicht doch…« Neinneinneinnein. (Heute noch nein.) Das wollte ich hören, wie er den Muschelbelag von den Beißern sprengte…
Schauen Sie, Scherbaum, auch das will beschrieben werden: Ich sammle Speichel Schaum Blut mit allen körnig knirschenden Absprengseln, lasse, nachdem ich die Zunge neugierig werden, erschrecken ließ, den Reichtum in die Speischale fallen, greife das handliche, klein gehaltene Glas - es soll den Patienten nicht zum mehrmaligen Spülen verführen -, spüle, schaue dem Auswurf zu, sehe mehr, als da ist, nehme Abschied von meinem zermürbten Zahnstein, stelle das Glas zurück und erlebe belustigt, wie es sich selbsttätig mit lauem Wasser füllt. Der Ritter und ich, wir arbeiten planvoll zusammen.
Denn schauen Sie, Scherbaum, die Gleichzeitigkeit einer Vielzahl von Tätigkeiten will beschrieben werden: Während ich mich mauloffen gebe und inwendig die Klagelieder des Jeremias zitiere, balanciert der Ritter linkshändig das schwebende Instrumententischchen und läßt er in Segeltuchschuhen den gleitenden Instrumententräger ausfahren, in dem das Werkzeug auf Abruf wartet. Zum Beispiel das Schwachstromhandstück für den Elektronen-Zahnprüfer, der sich automatisch auflädt und nicht ortsgebunden ist; er könnte ihn in der Tasche, auf Waldwegen um den Grunewaldsee, am Teltow-Kanal, auch beim Besuch der Grünen Woche geladen spazieren führen, wo immer ein Zahnarzt sich anpirscht und sein Wild zu erlegen hofft: »Darf ich mal schnell? Hier mein Kärtchen. Sie haben, frei heraus gesagt, einen Hackbiß. Der gibt Ihnen, bei vorgeschobenem Unterkiefer, ein übertrieben markantes Aussehen. Brutalität wird vermutet. Hemmungen suchen Ausgleich. Deshalb sei Ihnen zu Degudentbrücken geraten. Anruf genügt. Wir machen einen beiderseits günstigen Termin aus. Nur sechs bis sieben Sitzungen, wenn keine größeren Komplikationen Erschwernisse bringen. Vertrauen Sie mir und meiner diskreten Gehilfin. Zudem wird ein Fernsehgerät für Ablenkung sorgen. Ja, selbst die blinde Mattscheibe vermag Ihren Gedankenflug einzublenden; nur muß ich Sie bitten, mit mir an meine Ritterbohrmaschine mit ihren Schnellaufhandgelenken zu glauben - und an die dreihundertfünfzigtausend Umdrehungen pro Minute, die der Turbinenkopf meiner Airmatik bei abgeschwächtem Geräusch garantiert!«
»Wirklich?«
»Spielend leicht wechsle ich Bohrer und Schleifer.«
»Und all mein Schmerz?«
»Wird örtlich betäubt.«
»Muß das denn sein?«
»Wenn wir zum Schluß noch einmal nachpolieren, werden Sie anerkennen, daß Ihre Verlobte nicht sinnlos Abstand gezahlt hat.«
»Immerhin sind wir zweieinhalb Jahre lang verlobt gewesen.«
»Packen Sie aus, mein Lieber, packen Sie aus!«
»Es war im Jahre vierundfünfzig…«
»Ein schöner Anfang…«
Das erzählte ich meinem Zahnarzt: »Aber ich warne Sie, Dokter, hier wird von Traß, Bims, Kalk, Mergel und Ton, von Schiefer und Klinker, von Dörfern, die Plaidt, Kretz und Kruft heißen, vom Ettringer Tuff und von den Kottenheimer Basaltlava-Fertigerzeugnissen, von den Bimsgruben am Korrelsberg und von den jungvulkanischen Basaltvorkommen auf dem Mayener Feld, zuerst aber - bevor von mir, Linde und Schlottau, von Mathilde und Ferdinand Krings die Rede sein wird - wird, ich warne Sie, Dokter, vom Zement die Rede sein.«
Mein Zahnarzt sagte: »Nicht nur Gips, bestimmte Spezialzemente bilden die Grundlage meiner Arbeitsmaterialien; wir werden damit zu tun bekommen.«
Also begann ich: »Zement ist ein industriell gewonnener Nutzstaub. Er entsteht durch Mahlung von Rohmehl und Rohschlamm aus Kalkstein, Mergel und Ton, durch Mahlung von gebranntem Zementklinker, durch Schwemmung und durch das Zerstäuben von Wasser und Rohschlamm im Drehofen…«
(Wie gut ich noch alles parat hatte. Schon klingelte der Gedanke, meine Schüler mit diesem Detailwissen zu überraschen. Gewiß hielt mich Scherbaum für einen weltfremden Spinner; und meinem Zahnarzt empfahl ich, seinen dentalen Arbeitsstaub absaugen zu lassen. Er wies darauf hin, daß durch gleichzeitige Verschlemmung beim Schleifen der Staubanfall erträglich bleibe.) »Mag sein. Aber das Ziel ist die totale Entstaubung. Zementwerke werden entstaubt durch Staubkammern in den Öfen, durch Fliehkraftentstauber, durch Filter, Brecher, Granulierungseinrichtungen und durch das Wegführen und Verteilen von Zementstaub über den Rhein zwischen Koblenz und Andernach…«
»Ich kenne die Voreifel. Eine Mondlandschaft.«
»Doch, wie Sie sehen, geeignet für Außenaufnahmen.«
»Von einem Dentistenkongreß in Koblenz machte ich mit Kollegen einen Abstecher nach Maria Laach.«
»Das lag noch innerhalb unserer Staubablagerungszone; denn die beiden Kamine der Kringsschen Zement-, Traß- und Schwemmsteinwerke hatten vor meiner Zeit eine Höhe von nur achtunddreißig Metern. Während sich damals der Auswurf nur in unmittelbarer Nähe des Werkes verteilte, kann Krings-Zement heute, nach der Erhöhung der Kamine, besonders aber nach dem Übergang zur Mahltrocknung mittels Schwebegasaustauschern und der Zwischenschaltung des Kühlturmes, auf einen Rückgang des Zementstaubauswurfes bis zu 0,9 Prozent und eine gleichmäßige Verteilung des Staubes über den Rhein hinweg auf das gesamte Neuwieder Becken hinweisen…«
»Welch vorbildlicher Gemeinsinn der verantwortlichen Fabrikherren.«
»Sagen wir lieber: Gesundes Profitstreben; denn die im Elektrofiltersystem zurückgewonnenen Staubmengen betragen bis zu 15 Prozent der Zementklinkerproduktion…«
»Und ich kleiner, auf die Tageszeitungen angewiesener Zahnarzt habe gedacht, die Entstaubung der Industriewerke habe ausschließlich gemeinnützige Bedeutung…«
(Später habe ich meine 12a mit den Problemen der zunehmenden Luftverschmutzung bekannt gemacht. Sogar Scherbaum war beeindruckt: »Verstehe nicht, warum Sie Lehrer geworden sind, wo Sie doch bei der Entstaubung viel mehr hätten leisten können…«)
»Ich glaube, Dokter, wir dürfen von einer Doppelwirkung sprechen. Dank meiner frühzeitigen Initiative ist es Mitte der fünfziger Jahre gelungen, einerseits durch Nutzung des hochwertigen Staubes rationeller zu arbeiten und andererseits jene Welle von berechtigten Gemeindeeingaben einzudämmen, die den Führungskräften unseres Werkes zu schaffen machte. Anfangs wehrte Krings meine Vorschläge ab: ›Was dem Altertum Vulkanausbrüche, Erosionen und Staubstürme gewesen sind, das sind uns heute die Rauch- und Staubauswürfe der Industrieballungsgebiete. Wir leben nun mal von Bims, vom Traß, vom Zement; also leben wir auch mit dem Staub!‹«
»Ein moderner Stoiker.«
»Krings kannte seinen Seneca.«
»Ein Philosoph, der uns auch heute einiges sagen könnte.«
»Um meine Gutachten anschaulicher zu gestalten - denn Krings war nur mit praktischen Beispielen zu überzeugen -, fügte ich einem Vortrag über die luftintensive Wirtschaft der Bundesrepublik das folgende Bild ein: ›Wenn der Wirtschaft die Atmosphäre hauptsächlich als Vorfluter für schwebfähige, feste und gasförmige Stoffe dient und wenn die Luftbeeinflussung sich weiterhin in jener bodennahen Luftschicht abspielt, die gleichzeitig Atemraum nicht nur der Menschen und Tiere ist, wird es Zeit, die Natur als Zeugen der Anklage zu laden!‹ - Sie sehen hier, Dokter, mit einer Handkamera aufgenommen, die alte Buche im Park der Villa Krings, der vom Volksmund ›Der graue Park‹ genannt wird. Dieser weitverzweigte Baum hat etwa hundertfünfzig Quadratmeter Blattoberfläche. Da ein Hektar Buchenwald während eines Jahres, bei andauernder Beschichtung, von etwa fünfzehn Tonnen Feinstaub belastet wird, fällt es nicht schwer, anhand dieser einen Buche die Belastung des einen Hektar großen Parks, dessen Baumbestand zur Hälfte Nadelbäume sind, zwingend vor Augen zu führen; zumal ein Hektar Fichtenwald bis zu zweiundvierzig Tonnen Feinstaub im Jahr zu ertragen hat… Ich gebe zu, daß mein Vortrag Krings bewogen haben mag, der Installierung elektrischer Ofenentstauber zuzustimmen.«
»Alles in allem: Sie hatten Erfolg.«
»Dennoch wird der Kringssche Park, bedingt durch seine betriebsnahe Lage, immer ›Der graue Park‹ bleiben, wenn auch, dank meiner Hartnäckigkeit, dem Buchengrün größere Hoffnung gemacht werden konnte.«
Mein Zahnarzt stellte sein Interesse durch den Nachsatz »Die Natur wird es Ihnen danken« in Frage. (Diese Angst, nicht ernst genommen zu werden, ist Beisitzer auch meiner Unterrichtsstunden: Das Lächeln einiger Schüler - oder wenn Scherbaum, als sei er um mich besorgt, den Kopf schräg hält - läßt mich stocken, abschweifen, und oft genug muß mich einer der Schüler, muß mich Scherbaum mit einem lässigen »Wir waren bei Stresemann stehengeblieben« zurückrufen; wie mich mein Zahnarzt mit aufmunternder Frage »Und was wurde aus Ihrem Krings?« wieder zur Sache kommen ließ.) »Wenn Sie zuvor noch einmal spülen wollen…«
Es kam nicht mehr viel. Steinschlamm. Notizengeraschel. Angelesener Überdruß. Danach der Versuch, auf der Ablegefläche des Instrumententischchens zwischen dem Ampullenwärmer und dem schwenkbaren Bunsenbrenner frühsommerliche Landschaft zu erinnern. Die gesammelten Bedenken eines Studienrates. Vergebliche Versuche, traurig, zornig, betroffen zu sein. Zugluft zwischen den Zahnhälsen. Scherbaums Lachgrübchen.
»Jedenfalls so, Dokter, hat es anzufangen…«
Totale der Voreifellandschaft von Plaidt aus in Richtung Kruft. Der Titel »Verlorene Schlachten« steht vor sommerlichen Wolkenformationen. Während langsamer Fahrt durch das zernagte, geklüftete und grob vernarbte Bimsabbaugebiet auf das doppelkaminige Krings-Werk zu die weiteren Titel. Jetzt spreche ich wie bei einer Betriebsführung:
»Die Krings-Werke erzeugen im Dienste der neuerstandenen bundesdeutschen Bauwirtschaft aus den reichen und mannigfaltigen Bodenschätzen der vulkanischen Eifel Baustoffe für den Hoch-, Tief- und Straßenbau. Der Aufschwung der Zementindustrie vor dem letzten Krieg und während des Krieges - ich darf an die Autobahnbauten, darüber hinaus an die Befestigung unserer Westgrenze, darüber hinaus an die Entwicklung des Luftschutzbetons und nicht zuletzt an die Betongroßbauten an der Atlantikküste erinnern - hat sich erfreulich auf die nunmehr friedliche Weiterentwicklung der Traßzemente und auf die Spannbetonbauweise ausgewirkt. Da das Gebot der Stunde Investieren heißt, muß Investieren Modernisieren bedeuten. - Auch unsere Krings-Werke werden sich diesem Prozeß fügen müssen. Wenn Tonnen und Abertonnen hochwertigen Zementstaubs heute noch durch die Schlote wandern und so dem Produktionsgang verlorengehen, werden schon morgen elektrische Ofenentstauber…«
Die Stimme des Betriebsingenieurs wird langsam ausgeblendet. Die Kamera folgt dem Kaminrauch. Totale der Abgase und ihrer wolkenden Dynamik. Danach rauchverhangene Vogelflugtotale der Voreifel zwischen Mayen und Andernach bis über den Rhein, die sich im Sturzflug auf den Kringsschen Park neben der schiefergedeckten, basaltgrauen Krings-Villa verengt: groß Zementstaub auf Buchenblättern. Knoten und Krater. Verschlemmte porige Inselchen vom letzten Regen. Rieselnder Staub verlagert sich. Rissige Zementstrukturen auf verkrampften Blättern. Rutschende wandernde Staublawinen über motivlosem Jungmädchengelächter. Überladene Blätter geben nach. Gelächter Staubfahnen Gelächter. Und jetzt erst die Mädchengruppe in Liegestühlen unter der Zementstaub tragenden Buche. Stehende, dann gleitende Kamera.
Inge und Hilde haben ihre Gesichter mit Zeitungspapier bedeckt. Sieglinde Krings, allgemein Linde gerufen, sitzt aufrecht im Liegestuhl. Ihr länglich verschlossenes Gesicht, dem ziegenhafte Starre Ausdruck gibt, hat keinen Anteil an dem zweistimmigen Gelächter unter Zeitungspapier. Inge hebt sich den Bogen vom Gesicht: Sie ist glatt ungeprägt hübsch. Hilde macht es ihr nach: Weich und gesund verschlafen blinzelt sie gerne. Auf dem Nähtischchen, zwischen den mit Kollegheften abgedeckten Coca-Cola-Gläsern, liegt ein dritter Zeitungsbogen, auf dem sich ein Tasseninhalt Zementstaub häuft. Die Kamera haftet an dem Stilleben. Angeschnittene Schlagzeilen verkürzen die Namen Ollenhauer, Adenauer und den Begriff Wiederbewaffnung. Lindes Freundinnen kichern, während sie den Zementstaub von den Zeitungsbögen auf das Häufchen rieseln lassen.
Hilde: »Bald haben wir ein Pfund Krings-Zement gerettet.«
Inge: »Schenken wir Hardy zum Geburtstag.«
Jetzt plaudern sie über Ferienpläne. Inge und Hilde sind sich nicht schlüssig, ob Positano der Adria vorzuziehen sei.
Hilde: »Und wohin will unser kleiner Hardy?«
Inge: »Interessiert er sich neuerdings etwa für Höhlenmalerei?« Gelächter.
Hilde: »Und du?« Pause.
Linde: »Ich bleibe hier.« Pause und rieselnder Zementstaub.
Inge: »Weil dein Vater kommt?« Pause Zementstaub.
Linde: »Ja.«
Inge: »Wie lange war er eigentlich da unten?«
Linde: »Knapp zehn Jahre. Zuerst in Krasnogorsk, dann isoliert in den Gefängnissen Lubjanka und Butyrska, zum Schluß im Lager Wladimir, östlich Moskau.«
Hilde: »Meinst du, das hat ihn gebrochen?« Pause und Zementstaub.
Linde: »Ich kenne ihn nicht.« Sie steht auf und geht umweglos in Richtung Villa davon. Die Kamera schaut zu, wie sie kleiner wird.
Ein Denkmal. Erst in der Praxis meines Zahnarztes gelang es mir, meine statuarische Verlobte zu zerlegen: Zwischen Schnitt und Schnitt wechselte sie die Röcke, selten den Pullover; sie wollte alleine oder mit ihrem Hardy, mal zwischen Ginster in einer verlassenen Basaltgrube, mal im Gasthof »Wilder Mann«, knapp hinterm Neuwieder Deich, mal auf der Andernacher Rheinpromenade, auch zwischen Bimsfelder im Nettetal und immer wieder im Schwemmsteinlager eingeblendet werden, während Hardy nach Einblendungen verlangte, die ihn als kunstgeschichtlichen Spurenleser zwischen römische und frühchristliche Basaltbrocken führten, oder er erklärte Linde an einem selbstgebastelten Modell sein Lieblingsobjekt, den elektrischen Zementofenentstauber. Schnitt: Beide weit weg am gegenüberliegenden Ufer des Laacher Sees. Schnitt: Beide treibt Regen in eine verlassene Steinmetzbude auf dem Bellfeld. (Streit, der zum Koitus auf dem wackeligen Holztisch führt.) Schnitt: Sie im halbaufgebauten Mainz nach der Vorlesung. Schnitt: Hardy fotografiert das Geroldkreuz…
»Wer ist denn Hardy?« fragte mein Zahnarzt. Auch seine Hilfe verriet durch naßkalten Fingerdruck Neugierde. »Jener vierzigjährige Studienrat, den seine Schüler und Schülerinnen gutmütig herablassend ›Old Hardy‹ nennen, jener Old Hardy, dem Sie, unterstützt vom klammen Dreifingergriff Ihrer Hilfe, den Zahnstein Schicht um Schicht abbauen, jener Hardy…«
Ich: mit meinem rechtzeitig abgebrochenen Studium der Germanistik plus Kunstgeschichte, mit meinem in Aachen gebauten Maschinenbauingenieur, mit meinen damals achtundzwanzig Jahren, mit meinen abgelegten Verhältnissen und meinem beinahe krisenfreien Verlöbnis: ein erfolgreicher junger Mann inmitten erfolgreicher junger Nachkriegsmänner. Nach halbbegriffenen Fronterfahrungen wird der achtzehnjährige Hardy im August fünfundvierzig in Bad Aibling, zu Füßen immer verregneter Berge, aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft entlassen - seitdem hängt ihm der Kurzname Hardy an; der Ostflüchtling Hardy, mit dem Flüchtlingsausweis A, nistet bei einer Tante in Köln-Nippes und beeilt sich, sein Abitur nachzuliefern; der Werkstudent im ersten Semester erinnert sich an das Wort seines Vaters: »Die Zukunft der Menschheit liegt im Brückenbau!« - Also strebt er in Aachen dem Vaterwort nach: Er büffelt Statik, pflegt nachlässig wechselnde Bekanntschaften, tritt kurz vor dem Examen einer studentischen Verbindung bei und wird sogenannten Alten Herren vorgestellt: Der Maschinenbauingenieur Eberhard Starusch, durch Kriegseinwirkung elternlos und deshalb doppelt tüchtig, faßt, sogleich nach dem Absprung, Fuß bei Dyckerhoff-Lengerich, einem Werk, das Zementklinker im Naßverfahren produziert; so besucht Hardy, der seinen kunstgeschichtlichen Neigungen nicht abgeschworen hat, die Externsteine im nahen Teutoburger Wald, so lernt er das Lepol-Rostverfahren kennen; denn bei Dyckerhoff wurde die Umstellung aller Werke vom Naß- zum Trockenverfahren schon frühzeitig projektiert. Hardy wird gefördert; Hardy fertigt eine Studie über Erfahrungen mit Tiefbohr- und Traßzementen beim U-Boot-Bunkerbau in Brest an; Hardy darf die erweiterte Studie auf einer Zementertagung der breiteren Öffentlichkeit, das heißt den Führungskräften der bundesdeutschen zementproduzierenden Industrie vortragen; ein für sein Alter kenntnisreicher, gutaussehender und erfolgreicher Hardy macht in Düsseldorf, anläßlich der mittlerweile historischen Zementertagung, die Bekanntschaft der zweiundzwanzigjährigen Sieglinde Krings und am folgenden Tag - beim Tee, während einer Tagungspause - der Tante Mathilde Krings, jener einsilbig in Schwarz regierenden Chefin der Krings-Werke. Hardy kommt mit beiden Damen wie zufällig ins Gespräch. Hardy wird von einem Alten Herren seiner Aachener Studentenverbindung der Krings-Chefin gegenüber lobend erwähnt. Hardy nimmt den Schlußball im Hotel Rheinischer Hof wahr: Er tanzt mehrmals, aber nicht zu oft mit Sieglinde Krings. Hardy versteht es, nicht nur von Fliehkraftentstaubern, sondern auch von der Schönheit romanischer Basaltarchitektur zwischen Mayen und Andernach zu plaudern. Hardy läßt es nach Mitternacht, während ringsum schon feucht-fröhliche Zementerstimmung herrscht, nur zu einem einzigen Küßchen kommen. (Sieglinde Krings spricht den bedeutenden Satz aus: »Sie, wenn ich mich in Sie verknallt habe, kommt Sie das teuer zu stehen…«) Jedenfalls macht Hardy Eindruck und verläßt bald darauf Dyckerhoff-Lengerich mit den günstigsten Referenzen: Voll und ganz, das heißt erfolgreich steigt er in die Krings-Werke ein; denn wie er sich rasch und umsichtig im größten geschlossenen Zementverbraucherkreis Europas einlebt, gelingt es ihm ähnlich einfühlsam zugreifend, im Frühjahr vierundfünfzig eine Verlobungsfeier fällig werden zu lassen; aus Rücksicht auf den immer noch kriegsgefangenen zukünftigen Schwiegervater wird sie abseits im Ahrtal, in der Lochmühle gefeiert: Auf graugestufter Mattscheibe stellen sich Sieglinde im schiefergrauen Kostüm und Hardy im basaltgrauen Einreiher vor; ein weltoffenes, etwas zu glattes Paar, rascher sichernder Blicke aus Augenwinkeln fähig, als skeptische Generation eingestuft und der gesteigerten Leistung mehr und mehr verdächtig; denn Sieglinde begann, unter meinem Einfluß, in Mainz Ernst zu machen: Sie studierte systematisch und unbeteiligt Medizin - während ich mich gründlich, leidenschaftlich und gleichfalls unbeteiligt mit dem Nettetaler Traß, der Kringsschen Traßzement-Produktion, besonders aber mit unseren veralteten Schwemmsteinautomaten, also mit dem Bims vertraut machte…
Als mich mein Zahnarzt noch einmal zum Spülen aufforderte - »Und dann wollen wir nachpolieren, damit der Zahnstein nicht so schnell neuen Ansatz findet« -, nutzte ich die Pause als Einladung für einen kleinen Vortrag zuerst über den Traßabbau der Römer zwischen fünfzig und hundert vor Christus - »Noch heute finden sich zwischen Plaidt und Kretz Untertagestollen mit lateinischen Kritzeleien römischer Bergleute« -, um dann, während er nachpolierte, vom Bims zu sprechen: »Der Bims gehört geologisch zu den Laacher Trachyttuffen…«
Er sagte: »Das gründliche Nachpolieren verbürgt, daß das Schmelzoberhäutchen geschlossen wird…«
Ich erzählte vom mittleren Alluvium, von weißen Trachyttuffen und der zwischengelagerten Britzbänke; er wies noch einmal auf meine freiliegenden Zahnhälse hin und sagte: »So. Erlöst, mein Lieber. Nun wollen wir mal den Spiegel…«
Auf die Frage meines Zahnarztes »Was sagen Sie nun?« blieb mir nichts übrig, als »Fabelhaft, einfach fabelhaft!« zu sagen.
Er rettete sich in den mittlerweile entwickelten Röntgenstatus, den seine Hilfe, als wollte sie einen Dias-Abend veranstalten, Bildchen um Bildchen abzog. Der Status zeigte wirrstehende transparente Geisterzähne. Nur die Lücken im Backenzahnbereich, links rechts - oben unten, bewiesen mir, daß mein Gebiß zur Ansicht freistand. Ich sprach dagegen an: »Schon unter einem Meter Humus liegt der Bims…« - aber mein Zahnarzt blieb bei der Sache: »Zwar ergibt unser Status, daß die zu überbrückenden Zähne positiv sind, doch muß ich sagen: Sie haben eine echte, und echt heißt angeborene Progenie, auf deutsch: einen Vorbiß.« (Ich bat meinen Zahnarzt um das reguläre Fernsehprogramm.)
Werbung lief und eroberte sich ein achtel Blick. Er pinselte mein angegriffenes Zahnfleisch ein und wertete immer noch aus: »Beim normalen Schlußbiß steht der Unterkiefer einen bis eineinhalb Millimeter hinter den oberen Schneidezähnen. Bei Ihnen jedoch…«
(Seitdem weiß ich, daß meine falsche Bißlage, die er echt nannte, weil angeboren, an einer horizontalen Bißstufe von zweieinhalb Millimetern zu erkennen ist: mein markantes Profil.)
Weiß dieser Zahnklempner eigentlich, daß seinen Schleif- und Poliermitteln Bimsstein in Pulverform beigemengt ist? Und weiß diese Werbeziege, die mir bekannt vorkommt, verdächtig bekannt vorkommt, daß ihre Putz- und Scheuermittelchen Bims enthalten, unseren Voreifel-Bims?
Mein Zahnarzt blieb bei meiner Progenie: »Das führt, wie unser Röntgenstatus deutlich zeigt, zu einem Rückgang des Kieferknochens oder des Alveole-Kammes…«
Sie wollte mir eine Tiefkühltruhe verkaufen. Während mein Zahnarzt chirurgische Lösungen vorschlug - »Indem wir ganz einfach den aufsteigenden Ast des Kieferknochens durchsägen und zurückverlagern, können wir Ihren Vorbiß beheben…« -, sang Linde ihren Refrain: »Immer frisch und im Vollbesitz aller Vitamine…« und schlug Ratenzahlung vor. Dann öffnete sie die Tiefkühltruhe, in der zwischen Brechbohnen, Kalbsnieren und kalifornischen Erdbeeren meine Milchzähne und Schulaufsätze, mein Flüchtlingsausweis A und meine Studie über Traß- und Tiefbohrzemente, meine eingedickten Wünsche und meine auf Flaschen gezogenen Niederlagen reifberaucht lagerten; und ganz zuunterst, zwischen Rotbarschfilet und eisenhaltigem Spinat, lag nackt und frostüberzogen sie, die soeben noch in Rock und Pullover geworben hatte: O Lindelindelindelinde… (Das werde ich morgen meiner 12a als Aufsatzthema stellen: Sinn und Nebensinn einer Tiefkühltruhe.) Ach, wie sie dauert im kalten Rauch. Ach, wie der Schmerz sich tiefgekühlt frisch hält. Ach, wie ist das Gold so gar verdunkelt…
Mein Zahnarzt bot sich an, das Fernsehen wieder abzustellen. (Irmgard Seifert hatte ihn mir als einfühlsam empfohlen.)
Ich nickte. Und als er auf meine Progenie zurückkam - »Doch von einem chirurgischen Eingriff möchte ich abraten…« -, nickte ich abermals. (Und auch seine naßkalte Hilfe nickte.)
»Darf ich jetzt gehen?«
»Deshalb rate ich zur Überkronung der Zähne im Backenzahnbereich.«
»Jetzt gleich schon?«
»Der Zahnstein hat uns genug beschäftigt.«
»Also übermorgen, kurz vor der Abendschau?«
»Und nehmen Sie noch zwei Arantil auf den Weg.«
»Es hat ja kaum weh getan, Dokter…«
(Seine Hilfe - und nicht meine Verlobte - reichte mir Tabletten, das Glas.)
Als ich heimkam und meine Zunge hinter den Zähnen verlorene Reibung suchte, fand ich auf meinem Schreibtisch neben dem Aschenbecher die korrigierten Aufsatzhefte der 12a, einige Bände Angelesenes, meine begonnene Denkschrift zur Schülermitverantwortung mit dem polemischen Absatz »Wo und wann darf der Schüler rauchen?«, daneben, zwischen Drucksachen, die Richtlinien zur Oberstufenreform und vor dem leeren Wechselrahmen, verdeckt von Zeitungsausschnitten und Fotokopien, die ärgerlich dünne Mappe mit dem Arbeitstitel in Großbuchstaben. Unter römischen Basaltbrocken - Mörserfragmente zumeist -, die ich als Briefbeschwerer benutzte, fand ich Papier…
Weh, mein Zahn. Weh, meine Haare im Kamm. Weh, meine fingerlang kurze Idee. Ach - und die vielen verlorenen Schlachten. Immer das Nächste schmerzt lauter. Oder was hochkommt und sich erinnert: Das ist der Karpfen vom Vorjahr, Silvester… Weh, Schatten, weh. Kieselstein weh. Weh, Zahnweh, weh…
Dabei wollte ich nur meinen Zahnstein entfernen lassen, obwohl ich ahnte: Der findet bestimmt was. Die finden doch immer was. Kennt man schon.
Als Irmgard Seifert kurz nach meiner Rückkehr anrief - »Na, wie war es? Halbsoschlimm. Oder?« -, konnte ich ihr bestätigen: kein Sadist. Dabei unterhaltsam und dennoch diskret. Nicht ohne Bildung. (Kennt seinen Seneca.) Bei Schmerzen unterbricht er sofort. Ein bißchen naiv fortschrittsgläubig - hofft auf Heilzahnpaste -, aber erträglich. Und der Fernseher ist wirklich fabelhaft, wenn auch komisch.
Irmgard Seifert gegenüber, mit der ich seitdem den Zahnarzt teile, lobte ich ihn durchs Telefon: »Seine Stimme ist sanft und nur, wenn er ins Dozieren gerät, von pädagogischer Bestimmtheit…«
Wie sagte er: »Feind Numero eins ist der Zahnstein. Während wir laufen, zögern, schlafen, gähnen, die Krawatte umbinden, verdauen und beten, fördert der Speichel ihn unentwegt. Das lagert ab und ködert die Zunge. Sie, immer nach Muschelbelag unterwegs, mag das Rauhe und spendet Nahrung, die unseren Feind, den Zahnstein, stärkt. Krustig würgt er die Zahnhälse. Blindlings haßt er den Schmelz. Denn mir können Sie nichts vormachen. Ein Blick genügt: Ihr Zahnstein ist Ihr versteinerter Haß. Nicht nur die Mikroflora in Ihrem Mundmilieu, auch Ihre krausen Gedanken, Ihr inständiges Rückwärtsschielen, das immer abrechnet, wo es aufrechnen wollte, also die Neigung Ihres schwindenden Zahnfleisches, bakterienfangende Taschen zu bilden, das alles - die Summe aus Zahnbild und Psyche - verrät Sie: eingelagerte Gewalttätigkeiten, Mordanschläge auf Vorrat. - Spülen Sie nur! Spülen Sie nur. Es bleibt noch Zahnstein genug…«
Ich streite das alles ab. Als Studienrat für Deutsch und also Geschichte sind mir Gewaltaktionen verhaßt, zutiefst verhaßt. Und zu meiner Schülerin Vero Lewand, die vor Jahresfrist in den Bezirken Zehlendorf und Dahlem das sogenannte Sternchenpflücken betrieb, sagte ich, als sie ihre Sammlung abgesägter Mercedessterne im Klassenzimmer zur Schau stellte: »Ihr Vandalismus ist bloßer Selbstzweck.«
Scherbaum klärte mich auf, seine Freundin habe für zeitgemäßen Christbaumschmuck sorgen wollen: »Für die Schulfeier in der Aula.«
Kurz nach Weihnachten war Vero Lewands Metallsäge schon aus der Mode. (Später hat Scherbaum einen Song geschrieben und auf der Gitarre begleitet: »Als wir Sternchen pflücken gingen, pflücken gingen, pflücken gingen…«)
Ohne Anrufung der Schutzheiligen aller Zahnwehleidenden näherte ich mich dennoch gut vorbereitet: mit fertigen Sätzen, ihm in den Mund zu legen. Wenn schon Eingriff bei mir, dann mußte auch er sich Korrekturen gefallen lassen: »Nicht wahr, Dokter, Sie interessieren sich doch für Bims?« - »Wie Sie sich für den Karieszuwachs im Pflichtschulalter interessieren…«
Am Vormittag hatte ich Fragen meiner 12a beantworten müssen. (Vero Lewand: »Wie viele hat er Ihnen gezogen?«) Ich antwortete: »Was fiele euch ein, wenn ihr beim Zahnarzt maulgesperrt einem Fernsehapparat gegenübersitzen müßtet, es liefe Werbung, und man böte euch, sagen wir mal, eine Tiefkühltruhe an…«
Die Antworten zappelten unergiebig. Ich verzichtete auf einen Aufsatz zum Thema, obgleich Scherbaums Einfall, man müßte bestimmte Ideen und Pläne, die noch nicht fertig seien, einfrieren lassen, damit sie eines Tages aufgetaut, zu Ende gedacht und in die Tat umgesetzt werden könnten, einen Ansatz geboten hätte.
»An was für einen Plan denken Sie, Scherbaum?«
»Sage ich ja: kann man noch nicht drüber sprechen.«
Auf meine Frage, ob der zur Zeit noch eingefrorene Plan auf die Übernahme der Schülerzeitung als Chefredakteur ziele, winkte er ab: »Das ist Ihr Bier. Kann auf Eis bleiben.«
Als ich mich gegen Ende der Stunde über die Karies verbreitete - »Das Wesen der Zahnkaries ist die irreparable Zerstörung der harten Zahngewebe…« -, hörte die Klasse, wie versprochen, nachsichtig zu; Scherbaum hielt spöttisch den Kopf schräg.
Mein Zahnarzt war weniger rücksichtsvoll: »Das machen wir auf einmal ab, die vier Backenzähne im Unterkiefer: acht und sechs minus sechs und acht…«
(Dieses geschäftige Klirren mit den sterilen Instrumenten, als hätte er keinen Wimpernschlag lang an meiner Wiederkehr gezweifelt: »Legen Sie los, Dokter. Ich werde stillhalten.«) Seine Hilfe hatte die Spritze schon aufgezogen: »So. Nun der kleine häßliche Pieks. Hat kaum weh getan - oder?«
(Hätte ich, behängt mit dem Speichelabsauger, verbeult von Mullpölsterchen und gesperrt vom Dreifingergriff, mit ihm plaudern sollen: »Nicht die Rede wert, Ihr Pieks. Aber die in Bonn. Haben Sie das gelesen: Talsohle, enger schnallen, auf Verderb und Gedeih… Und die Studenten, schon wieder haben die Studenten auf einer Vollversammlung…«)