Österreich intim - Berta Zuckerkandl - E-Book

Österreich intim E-Book

Berta Zuckerkandl

4,9

Beschreibung

Im Glanz der Jahrhundertwende Berta Zuckerkandl war die letzte große Salonière des Wien um die Jahrhundertwende. In ihrer Villa in Döbling gaben sich Größen aus Literatur, Kunst und Politik gegenseitig die Klinke in die Hand. Namen wie Arthur Schnitzler, Gustav Mahler, Gustav Klimt, Franz Werfel oder Hugo von Hofmannsthal sind ebenso mit dem ihren verwoben wie Größen aus der Pariser Kunst- und Kulturszene, etwa Auguste Rodin, Maurice Ravel oder Eugène Carriere. Die Tochter des Herausgebers des "Neuen Wiener Tagblattes" und engsten Beraters Kronprinz Rudolfs Moritz Szeps war aber nicht nur Mäzenin der schönen Künste, sondern schrieb selbst Artikel für renommierte Zeitungen, konnte aufgrund ihrer Kontakte in Frankreich als Diplomatin zwischen Österreich und Frankreich vermitteln und wirkte als Geheimagentin während des Ersten Weltkrieges. Berta Zuckerkandl erzählt Anekdoten aus Begegnungen mit Großen jener Zeit und schildert die Flucht vor dem Naziregime über Frankreich nach Algier.

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Berta Zuckerkandl

Österreich intim

1 Berta Zuckerkandl in Algier, 1940, vor Beginn der Niederschrift der Memoiren

Berta Zuckerkandl

Österreich

intim

Erinnerungen 1892–1942

Herausgegeben und mit einem Nachwort von

Reinhard Federmann

Mit einem Vorwort von

Theresia Klugsberger

und acht Abbildungen

INHALT

Vorwort (Berta Zuckerkandls Erinnerungen) von Theresia Klugsberger

Mein Telefon-Tagebuch

Hermann Bahr – der Erwecker

Alexander Girardi

Johann Strauß

Arthur Schnitzlers Anfänge und ein Abschied

Gründung der Secession. Otto Wagner, der große Städtebauer

Gustav Mahler

Max Burckhard

Wien, Stadt der Heilkunst

Auguste Rodin in Wien

Die Klimt-Affäre

Gespräch mit Alma

Mahlers Abschied

Europas Akademien der Wissenschaften in Wien

Sigmund Freud

Krawall um Arnold Schönberg

Reinhardt in Wien

Egon Friedell

Österreichische Mode in Paris

Franz Ferdinand

Kathi Schratt

Schweizer Tagebuchbriefe

Untergang und Neubeginn

Emil Zuckerkandl

Unzerstörbares

Der erste »Jedermann« in Salzburg

Erinnerungen an Maurice Ravel

Das Salzburger Große Welttheater

Die Schauspieler der Josefstadt unter Führung von Max Reinhardt

Molière in Leopoldskron

Salzburger Kaleidoskop

London

Hofmannsthal stirbt

Stefan Zweig

Franz Werfel

Aus Gasteiner Gesprächen

Ein Justizirrtum

Zusammenbruch der Großbanken

Begegnung mit Dollfuß

Aus meinem Salzburger Notizbuch

Wien will nicht sterben

Salzburg 1937

Nachwort (Berta Zuckerkandl) von Reinhard Federmann

Anmerkungen

Bildnachweis

VORWORT

(Berta Zuckerkandls Erinnerungen)

1970 erscheint im Propyläen-Verlag ein Band mit Erinnerungen, die zu Beginn der 1940er-Jahre in Algier niedergeschrieben wurden und deren Verfasserin seit einem Vierteljahrhundert tot ist. Die Autorin: Berta Zuckerkandl; der Herausgeber: Reinhard Federmann.

Mitten in seiner Arbeit richtet sich Federmann im November 1969 mit einer dringenden Bitte an die Schwiegertochter, Gertrude Zuckerkandl. »Zu meiner Überraschung war es mir nicht möglich, in Wien das Buch ›Ich erlebte fünfzig Jahre Weltgeschichte‹ aufzutreiben: es findet sich weder in der Nationalbibliothek noch in der Wiener Stadtbibliothek«. Doch zu unserer vielleicht noch größeren Überraschung kann auch Gertrude Zuckerkandl nicht aushelfen. Sie und ihr Mann, Fritz Zuckerkandl, besitzen kein einziges deutsches Exemplar des Memoirenwerks, das 1939 in vier Sprachen vorlag; nur eines der englischen Ausgabe, und das möchten sie verständlicherweise nicht mehr aus der Hand geben.

Diese Episode ist typisch für die Schriften Berta Zuckerkandls zu diesem Zeitpunkt – und wird es ab den Neunzigerjahren des 20. Jahrhunderts wieder. Das Jahr 1970 stellt einen wichtigen Einschnitt dar: Erstmals werden die Memoiren, die Berta Zuckerkandl im Exil in Algier verfasst hat, in der Bearbeitung von Reinhard Federmann zugänglich. Er gibt sie unter dem Titel »Österreich intim« heraus, 1981 erscheinen sie bei Amalthea neu illustriert, 1988 legt sie der Ullstein-Verlag in einer Taschenbuchausgabe vor. Danach sind alle ihre Bücher lange Zeit vergriffen; wenn, dann sind sie nur in Antiquariaten aufzutreiben.

Dass sich die Situation heuer, im März 2013, mit der vorliegenden Neuauflage von Österreich intim im Amalthea Verlag und der Herausgabe von Berta Zuckerkandls Fluchtbericht aus dem Jahr 1940 im Czernin-Verlag ändert, könnte man in die Nähe eines Jubiläums rücken. Am 13. April 2014 jährt sich ihr Geburtstag zum hundertfünfzigsten Mal. Der andere Anlass ist kein Festtag, sondern ein Gedenken. Denn der März 1938 bedeutet auch für Berta Zuckerkandl eine Zäsur. Der »Anschluss« Österreichs an Deutschland vor 75 Jahren zwingt sie dazu, den Staat, für dessen Interessen und Eigenständigkeit sie zeit ihres Lebens eingetreten war, schnellstens zu verlassen. Ihre Herkunft ist das assimilierte jüdische Bürgertum, aber auch aufgrund ihrer politischen Einstellung sieht sie sich gefährdet. Mit Hilfe ihres französischen Dichterfreundes Géraldy und ihres Schwagers Paul Clemenceau – ihre Schwester Sophie hatte 1886 den Bruder des französischen Politikers und späteren Staatsmannes Georges Clemenceau geheiratet – erhält sie die nötigen Papiere und besteigt mit ihrem Enkel Emile am 26. März 1938 den Zug nach Paris. Von diesem Zug aus sieht sie Salzburg das letzte Mal, und mit einem Abschied von Salzburg, 1937, enden auch die hier vorgelegten Memoiren. Ihr letzter Lebensabschnitt beginnt in Paris, setzt in Algier ab Herbst 1940 fort und endet am 16. Oktober 1945 wieder in Paris, wohin sie im September sterbenskrank zurückgekehrt ist.

Reinhard Federmann hat seiner Publikation der Memoiren eine biografische Skizze, schlicht »Berta Zuckerkandl« betitelt, als Nachwort beigefügt. Als wichtiger Bestandteil von Österreich intim ist sie auch in dieser Ausgabe enthalten. Darin beleuchtet er ausgiebig den journalistischen familiären Hintergrund: Ihr Vater war der angesehene Journalist und Zeitungsverleger Moriz Szeps, ihr Bruder Julius wurde Chefredakteur der »Wiener Allgemeinen Zeitung«. In diesem liberalen intellektuellen Milieu entwickelte sich Berta Zuckerkandl als Journalistin. Aus der Perspektive der 1970er-Jahre bildet diese Berufung den roten Faden, an dem sich die Herausbildung Berta Zuckerkandls als öffentliche Person vollzieht.

In den folgenden Jahrzehnten hat sich das Interesse an ihrer Person stärker auf ihre Funktion als Salonnière und Förderin moderner Kunst und Künstler konzentriert. Bereits im gastfreundlichen Haus der Eltern war ihre Mutter Amalie der Mittelpunkt eines Salons, der »Staatsmänner, Parlamentarier und Schauspieler ebenso anlockte wie Dichter, Schauspieler, Aristokraten, Weltdamen und einfache Frauen«. (S. 123) Im Elternhaus lernte sie Georges Clemenceau kennen, der sie mit der modernen französischen Kunst bekannt machte, und ihren späteren Ehemann, den Mediziner und Kunstliebhaber Emil Zuckerkandl. Vor ihrer Heirat begleitete sie ihren Vater als Sekretärin auf seinen Reisen. Die Offenheit ihres Elternhauses führte Berta als Gastgeberin zur Vollendung, sowohl in ihrem Haushalt mit ihrem Mann in der Nusswaldgasse in Döbling als auch ab 1916 in ihrem Salon in der Oppolzergasse, über dem heutigen Café Landtmann gelegen. Politiker, Künstler und Wissenschaftler österreichischer und internationaler, vor allem französischer Provenienz fanden hier ein wichtiges Kommunikationsforum.

Von der Kunst der Secession und der Wiener Werkstätte über den Hagenbund bis zu den Salzburger Festspielen reichen die Strömungen und Kunstereignisse, mit denen der Name Berta Zuckerkandl verbunden ist. Vermittlungsversuche auf internationaler Ebene während und nach dem Ersten Weltkrieg, Interviews und Kontakte mit bedeutenden Politikern stehen auf der anderen Seite des Spektrums ihrer Aktivitäten. Die Verständigung zwischen Österreich und Frankreich ist ihr sowohl in der Kunst als auch in der Politik ein lebenslanges Anliegen.

Ob als Journalistin, als Salonnière, als Kunstförderin: alle diese Rollen sind von ihrer zentralen Funktion als Kommunikatorin bestimmt. Sie stellt die richtigen und wichtigen Kontakte her, vermittelt, scheut keine Auseinandersetzung. Kommunikation, geistiger Austausch ist für Berta Zuckerkandl das Lebenselexier. Im Aufbau von Österreich intim spiegelt sich das wider. »Ich bin süchtig. Telefonsüchtig. … Viele Stunden meines Lebens verbringe und verbrachte ich am Telefon. Sie wissen, dass mir vieles anvertraut wird, und oft hat ein Anruf, ein Gespräch, eine Nachricht, eine Bitte den Anfang, den Höhepunkt oder das Ende schicksalhafter Wendung bedeutet. Diese Telefongespräche, soweit sie mir interessant erschienen, sind mir gegenwärtig.« (S. 13) So ist es kein Zufall, dass sie ihre Erinnerungen als Telefon-Tagebuch entwirft: Manche Kapitel leitet sie in Form eines Telefonats ein (im Entwurf noch stärker als in der redigierten Version), oder sie flicht ein Telefongespräch ein. Zumindest aber ein Gespräch. Oder sie verwendet eine andere Form der direkten Anrede und fügt Briefe ein. Entscheidend aber ist, dass sie das »Wiener Telefonbüchel« überhaupt in ihr zweites Exil in Algier retten konnte. Alle anderen Unterlagen sind entweder in Wien oder Paris verblieben. Ungenauigkeiten oder Abweichungen in den erinnerten Daten und Fakten sind unter diesen Umständen erklärlich.

Briefe spielen eine wichtige Rolle, als sie auf Drängen der Familie ihre Erinnerungen festhält. Ludwig Ullmann berichtet darüber in seinen unveröffentlichten Memoiren Heimat in der Fremde. »Ich hatte zudem einen spirituell lebhaftesten Briefwechsel mit Berta Zuckerkandl aufgenommen, der mit ihrer Familie nach Algier entkommenen unbeugsamen Greisin. Sie begann, abgeschnitten von Freunden, Anregungen, Nachrichten eine wahre Robinsonade des Geistes mit der Niederschrift ihres zweiten Memoirenwerkes, entblößt aller literarischen Hilfsmittel. Was ich vermochte, trug ich nun zu dieser impulsiv erwägungsreichen Arbeit bei, mit Bestätigung, Ausfüllung, aber auch mit Erörterung des Vergangenen wie des gegenwärtig geistig Maßgebenden. Diese Briefe wuchsen zu einem Gedankenaustausch an, der konzentriertere schriftstellerische Spiegelung des tagtäglich Erlebten vollauf ersetzte. Er durchmaß das ›ideelle Material und versuchte vor allem die innere Linie unseres Österreichertums‹ aufrechtzuerhalten.«

Ludwig Ullmann zählte zum Kreis von Berta Zuckerkandls Vertrauten. Ihre Freundschaft vertieften die beiden noch in vergeblichen Anstrengungen in Paris, die Emigranten jenseits von Parteienzugehörigkeit zu einen.

Durch ihn wissen wir heute zumindest ein wenig über die Geschichte des Manuskripts in den ersten Jahren nach dem Krieg. Es fand sehr schnell einen Verleger. »Aus Wien habe ich den Antrag, zu einem im Erwin Müller Verlag im Dezember erscheinenden Buch der seligen Berta Zuckerkandl das Vorwort zu schreiben«, teilt Ludwig Ullmann im August 1946 aus New York seinem Freund Oskar M. Fontana mit. In weiteren Briefen lassen sich die Stadien des Verschwindens nachvollziehen. 1947 krankt der Verlag an Papiermangel. Im Mai 1948 klagt Ullmann darüber, dass Erwin Müller sich über seine Zuckerkandl-Einleitung ausschweige, im Mai 1949 beschwert er sich, dass das Vorwort einfach verschwunden sei. Und wir erfahren, dass er seine Kopie Emile Zuckerkandl überlässt, der das Manuskript zurückgezogen hat und es nun »bearbeiten« lässt.

Es war ein sehr umfangreiches Manuskript, das aus Algier nach Wien gelangte, und das Inhaltsverzeichnis würde den Untertitel, der Österreich intim in jeder Ausgabe hinzugefügt war, auch inhaltlich rechtfertigen: Erinnerungen 1892–1942. Am Schluss stünde nämlich ein Epilog, und der handschriftliche Zusatz verspricht »Afrika 1942« vor der Landung (der alliierten Truppen). Ende der 1960er-Jahre taucht ein Typoskript mit dem Titel Abenteuer des Geistes auf, die angekündigte Bearbeitung der ursprünglichen Fassung. Reinhard Federmann nimmt sich seiner an. Er überarbeitet den Stil, kürzt, redigiert – und schafft eine Fassung, die auch heute noch ein lebendiges Bild von jenem Österreich vermittelt, in dem Berta Zuckerkandl ihr Abenteuer des Geistes lebte. Sie liegt hier vor.

Theresia Klugsberger

Ich danke der Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur, Wien, für die Einsicht in den Nachlass Ludwig Ullmann und dem Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek für die Einsicht in den Nachlass Reinhard Federmann.

Il n’y a pas de souvenirs

superflus quand on a à peindre

la vie de certains hommes.

Baudelaire1

Raconter un peu de cette histoire

individuelle, qui, dans

l’histoire, n’a pas d’historien.

Edmond de Goncourt2

MEIN TELEFON-TAGEBUCH

Ich saß bei Arthur Schnitzler1.

»Warum schreiben Sie eigentlich kein ausführliches Tagebuch?«, fragte er mit einem Mal. »Was Sie mir jetzt in einer halben Stunde erzählten und andeuteten, was Sie mich erraten ließen, wäre schon Stoff zu einem hochinteressanten Buch. Selbst wenn Sie nur registrieren, was Sie erlebt haben, bietet das eine solche Fülle von Abenteuern des Geistes, der Kunst, der Gefühle, die in Ihrer Nähe gewachsen sind und ihr Spiel getrieben haben, dass es einfach unerlaubt ist, diesen Spiegel einer Epoche allgemeiner Einsicht vorzuenthalten.«

Mein Blick fiel auf Schnitzlers Bibliothek: In dicken Manuskriptbänden ruhten dort wohlverschlossen seine kostbaren Tagebücher. Keinen Tag hatte er vorübergehen lassen, ohne ihn im Extrakt festzuhalten.

»Wie könnte ich es wagen«, erwiderte ich, »ärmliche Aufzeichnungen zu Tagebüchern zu stempeln? Ich hätte nie die Geduld zu so minuziöser Arbeit. Einiges habe ich wohl notiert, meist Politisches, aber nur anfallsweise.«

»Gerade Sie als Frau begreifen näher und intimer, aus welchen Elementen eine Epoche geworden ist, die im Rückblick gewiss als einheitliches und bedeutendes Ganzes zu erkennen sein wird.«

»Um Sie versöhnlicher zu stimmen, will ich ein Bekenntnis ablegen. Ich bin süchtig. Telefonsüchtig. Wenn Hofmannsthal das Telefon das ›indiskreteste Instrument‹ genannt hat, so nenne ich es das unmittelbarste und umfassendste. Viele Stunden meines Lebens verbringe und verbrachte ich am Telefon. Sie wissen, dass mir vieles anvertraut wird, und oft hat ein Anruf, ein Gespräch, eine Nachricht, eine Bitte den Anfang, den Höhepunkt oder das Ende schicksalhafter Wendung bedeutet. Diese Telefongespräche, soweit sie mir interessant erschienen, sind mir gegenwärtig. Einzelne Worte erwecken in mir Erinnerungen an Gespräche, Begegnungen, Briefe, die dem Anruf folgten.«

»Bravo! Ich erwarte also ein Telefontagebuch von Ihnen.«

Viele Jahre sind seitdem verflossen. Arthur Schnitzler ist tot. Dank der entschlossenen Obsorge seiner Frau sind seine Tagebücher gerettet worden.2 Freilich hatte ich in den Sorgen der letzten Jahre vor Österreichs Untergang jenes nachmittägliche Gespräch bei Schnitzler lange vergessen.

Wenn man die Flucht ergreift, vergisst man ja meist die notwendigen Dinge und nimmt die überflüssigsten mit; so erging es auch mir. Beim Abschied von Wien ließ ich Wertvolles zurück. Als ich aber in Paris die wenigen mitgeführten Manuskripte und Bücher auspackte, fiel mir als Erstes mein Wiener Telefonbüchel in die Hand. Wer hatte die stupide Idee gehabt, dieses nun toteste aller Bücher einzupacken?

Zufall? Gibt es das? War es nicht vielmehr das Spiel geheimnisvoller Kräfte, deren Willkür wir unbewusst gehorchen? Wenn, dann war es eine mitleidige Kraft gewesen, die mir mein Telefonbüchel ins Flüchtlingsgepäck geschoben hatte.

Heimatlos irrt Erinnerung zur Heimat zurück. Hier, an diesen Namen und Zahlen, rankt sie sich empor. Und sanft führt sie mich zu jenem Einst, drückt mir die Feder in die Hand und flüstert mir zu …:

HERMANN BAHR – DER ERWECKER

Wien 1892

»Hallo … Habe ich Sie aufgerüttelt?«

»Ja. Leider.«

»Bravo. Das war meine Absicht. Sie sind die Erste, der einzige Mensch – den ich …«

»Bahr …1 Endlich zurück! Wie konnten Sie sich von Paris losreißen? Drei Jahre waren Sie fort!«

»Herrlich ist es gewesen. Aber: Wenn man ein Gefäß lange unter den sprudelnden Quell hält, so läuft es über. Ich hab die großartigsten Dinge erlebt. Zola, die Impressionisten, Dostojewski, Stendhal … Das alles erzähle ich Ihnen noch. Man kann nicht stundenlang telefonieren.«

»Warum nicht? Spricht man je ungestörter? Hat man dann genug, so hängt man auf, ohne das übliche Zeremoniell … Also sprechen wir ruhig weiter. Wie finden Sie Wien?«

»Deshalb rufe ich Sie doch in aller Frühe an. Das ist ein Friedhof … Nein, ein Friedhof ist etwas Ehrfurchtgebietendes; da war einmal etwas. Aber in Wien spürt man ja nicht einmal mehr das!«

»Ein Dornröschenschlaf …«

»Was? Sie reden von Schlaf? Haben Sie je eine Stadt schnarchen gehört? Wien schnarcht.«

»Na, jetzt sind Sie ja da. Sie werden es schon wachrütteln.«

»Beuteln werd’ ich’s, das schwöre ich bei Gott! Obwohl Gott diesen Schwur wahrscheinlich nicht zur Kenntnis nimmt, denn er schnarcht ja auch …«

»Ah, noch immer Ihre atheistischen Scherze? Ich sehe Sie noch als Heiligen enden.«

»Wenn Sie anfangen, mir den Hermann Bahr zu erklären, dann hänge ich auf … Darf ich mir aber für einen Nachmittag meinen Kaffee ausbitten? Ich brauche nämlich, ehe ich mit dem Beuteln anfang, gewisse Auskünfte. Sie müssen mir da ein paar Marksteine zeigen …«

»Gern. Ich erwarte Sie also morgen um fünf Uhr.«

Die Locke in der Stirn, mit den spähenden braunen Augen keck in die Welt blickend, ein zynisches Lächeln um den wohlgeformten Mund, hochgewachsen, selbstbewusst und unbekümmert stand Hermann Bahr vor mir.

»Das Beste ist, ich schildere Ihnen, was mir heute Kopfschmerzen macht«, begann ich. »Da werden Sie unsere Probleme sofort verstehen. Ich habe Besuch von Pariser Freunden, die ich mit Wiener Kunst und Kultur bekannt machen soll. Damit steht es aber so schlecht, dass ich mich frage: Wie fang’ ich’s an? Die einst berühmte Oper – heute ist sie vernachlässigt, rückständig, auf abgeleierte Belcanto-Opern eingestellt. Das Burgtheater? Wo ist die Zeit, da es für die deutsche Literatur führend war?2 Jetzt besteht das Repertoire aus Epigonen-Dramen und aus Lustspielen für höhere Töchterschulen … Kunstausstellungen? Die Vereinigung ›Künstlerhaus‹3 ist eine Versicherungsanstalt für Tatenlosigkeit.«

»Da fahre ich lieber gleich wieder weg.«

»Warten Sie. Einen Markstein – nein, zwei Marksteine kann ich Ihnen zeigen. Die Wissenschaft, insbesondere die Naturwissenschaften, die Medizin, und, es ist komisch, gleichzeitig davon zu sprechen – die Wiener Operette.«

»Warum finden Sie das komisch? Da kann ein geheimnisvoller Zusammenhang bestehen. Aber da Sie Ihre Pariser Freunde weder in die Anatomie noch ins Irrenhaus führen können …«

»Ich führe Sie heute Abend ins Theater an der Wien4. Dort ereignet sich ein österreichisches Wunder. Es gibt Johann Strauß5, und es gibt Alexander Girardi6, der – in seiner Art – Österreich beinahe mystisch verkörpert. Der hinreißendste, volkshafteste Darsteller seit Nestroy.«

»Verzeihen Sie, das ist nicht die richtige Charakteristik. Ich bin lange fort gewesen, aber so wie Girardi in mir lebendig ist, sehe ich ihn als Dämon des österreichischen Wesens in seiner gewaltigen Vielfarbigkeit.«

»Ja, seine Heiterkeit reicht vom weisesten Humor bis zur beißenden Ironie. Eine Einsicht und ein Erkennen, und die verschämte Träne.«

»Sie sind mit ihm befreundet?«

»Seit seinen Anfängen. Ein armer Schlosserlehrling war er, der kaum die Schule besucht hat, keine Note konnte er vom Blatt lesen, und plötzlich singt dieser Autodidakt so süß, so rhythmisch, plötzlich tanzt er Strauß-Walzer mit einer undefinierbaren Mischung aus schieberischem Elan und aristokratischer Lässigkeit, plötzlich steht er auf der Bühne, ohne Schule und schon ein Meister. Johann Strauß schreibt seine Operetten für ihn. Ein Akkord zweier Genies, wie er alle Jahrhunderte nur einmal vorkommt. Wollen Sie meine Freunde und mich begleiten? Wir gehen in die Strauß-Premiere. Da sind Sie sofort im Herzen eines Wiens, das eben nicht untergeht.«

2 Berta Zuckerkandl als junges Mädchen

In dieser Stunde begann eine geistige Verbindung, die vierzig Jahre, bis zu Bahrs Tod, von großer Bedeutung für mich gewesen ist. Er strahlte geistige Energie aus und saugte alles in sich ein. Romane, Theaterstücke, Essays, Philosophisches, Tagebücher, all das entsprang der leidenschaftlichen Gier, an der Welt teilzunehmen und diese Teilnahme in Produktivität zu verwandeln. Deshalb war Bahrs Erleben, Fühlen und Denken in stetem Fluss. Man warf ihm vor, wetterwendisch zu sein, sich in Gegensätzen und Widersprüchen zu gefallen. Als er einmal gebeten wurde, sich in ein Stammbuch einzutragen, setzte er unter den von jemand anderem geschriebenen Wahlspruch: »Immer derselbe« seinen eigenen: »Niemals derselbe«.

Er durfte das, dieser Immer-Gegenwärtige. Er hat seine Wandelbarkeit selbst geschildert:

»Die ganze Fläche dieser breiten Zeit möchte ich fassen, den vollen Taumel aller Wallungen auf den Nerven und Sinnen. Das ist mein Verhängnis. Doch darf ich mich trösten, weil es immerhin ein hübscher Gedanke und schmeichelhaft ist, dass zwischen Wolga und Guadalquivir heute nichts empfunden wird, das ich nicht verstehen, teilen, gestalten könnte. Und dass die europäische Seele kein Geheimnis vor mir hat.«

ALEXANDER GIRARDI

Wien 1892

Premiere des »Zigeunerbaron« von Johann Strauß. Er dirigiert selbst, ganz besessen. Schon als er das Pult betritt und den Taktstock hebt, braust Jubel auf. Strauß, die dicht gelockten Haare rabenschwarz gefärbt, den schwarz gewichsten Schnurrbart aufgezwirbelt, fabelhaft elegant in dem wie angegossen sitzenden Frack, verbeugt sich im Zweivierteltakt.

Endlich kann die Ouvertüre beginnen. Schmelzende ungarische Melodien, unterbrochen von wiegenden Walzerrhythmen.

Girardi tritt auf, beinahe unkenntlich in der Maske eines ungarischen Schweinezüchters. Nur die herrlichen Augen kann er sich nicht verschminken. Im dritten Akt kehrt er, der sein Land tapfer verteidigt hat, aus der siegreichen Schlacht zurück. Und er beginnt seine Abenteuer zu besingen, bis ihm vor Rührung, weil er die geliebte Puszta wieder sieht, die Stimme bricht, sodass er mit einer Art Schluchzen schließt. Strauß ruft mit zitternder Stimme auf die Bühne: »Xandl, ich dank’ dir!« – Man hört ihn kaum in dem tosenden Beifall.

Im Zwischenakt hatte eine reizende, pikante, eigenartige junge Frau in einer Parterreloge Platz genommen. »Die Odilon!1«, flüsterte man sich zu. »Die Odilon« – selten gelang es einer nach Wien verpflanzten Berliner Schauspielerin, populär zu werden, gar wenn ein leiser preußischer Dialektanklang die unbezwingbare Abneigung des Wieners gegen alles Preußische noch steigerte. Aber einem so vehementen Sex-Appeal, wie ihn die Odilon besaß, konnte die Wiener Sinnlichkeit nicht widerstehen. Sie war ein Sexualwunder. Doch war die hoch talentierte Frau ihrer Kunst leidenschaftlich ergeben. Bald waren die Odilon-Premieren große Mode, wozu nicht wenig beitrug, dass die rasch wechselnden Abenteuer des neuen Stars dem Wiener Tratschbedürfnis willkommene Nahrung boten.

»Hallo! Bitt’, is die Gnädige zu sprechen? … Ah, Berta, du leihst mir dein süßes Ohr? – Du, mir is was passiert … Seit der G’schicht mit der Schratt2 hab ich so schön Ruh’ g’habt …«

»Radi, mach dich nicht lächerlich – jede Woche bist du in eine andere verliebt.«

»Verliebt – das ist etwas ganz anderes. Das waren so schlichte Sachen … Aber jetzt, seitdem ich diese Frau geküsst hab, weiß ich erst, was die von mir so oft besungene Liebe ist … Ich kann einfach ohne die Odilon nicht leben.«

»Die Odilon? O Radi …«

»Was, was? Kommst du mir am End’ mit einer Moralpredigt? Hast du denn kein gutes Wort für mich?«

»Du hast recht. Ich war nur so überrascht – weil du der Inbegriff des Wieners bist – und sie – doch etwas preußisch angehaucht.«

»Eine Frau hat keine Nationalität. Die hat nur ein liebes Gesicht und einen herzigen Mund und Augen, in denen man sich ertränken möcht’, und noch andere Sacherln, die auch nicht ohne sind. Und wenn die Odilon aus der Hölle käm’, mir ist sie das Paradies … Berta, ich heirat’ sie. Sie ist auch ganz verrückt nach mir.«

»Du hast mir immer gesagt, dass du nur die Schratt hättest heiraten können. Weil ihr so wunderbar zueinander gepasst habt.«

»Ja, die Kathi … Da waren wir noch wie die Kinder. Aber für einen Herrn Baron hat sie mich stehen lassen. Und das war ihr dann noch nicht nobel genug. A Majestät hat’s sein müssen … Aber auf einmal spür’ ich nix mehr, wenn ich von ihr red’ – ich denk’ nur an die Odilon.«

»Ich werde sie morgen besuchen.«

»Berta – ich hab’s immer gewusst. Auf dich kann ich mich verlassen.«

Wie lange war sie ihm treu? Einen Monat? Eine Woche? Einen Tag? Eine Stunde? Wer könnte es sagen? Dieses nixenartige Geschöpf lockte einen Geliebten, umfing ihn, betörte ihn. Er gefiel ihr wohl eine Zeit lang, und gefiel er ihr, so geschah das in einem Taumel von Sinnlichkeit. Girardi verfiel ihr. Aber schon in den Flitterwochen machte sie den ahnungslosen Verliebten zum Hahnrei. Bald kamen anonyme Briefe, die Girardi argwöhnisch machten. Es begann ein Auf und Ab von Eifersuchtsqualen und Versöhnungen. Sie hatte stets ein Alibi bereit. Er hatte keine Ruhe mehr. Auf der Probe stürzt er plötzlich davon, rast nach Hause. Er durchwühlt ihre Schreibtischlade und sein Blick fällt auf die offene Mappe. Auf dem Bogen Löschpapier Schriftzüge: ihre Schriftzüge, deutlich zu erkennen. Aber er vermag sie nicht zu entziffern. Da blitzt es in ihm auf: Die Buchstaben stehen verkehrt, wenn man sie auf dem Löschpapier trocknet. … ein Spiegel! Einen Spiegel her! Ja, jetzt vermag er die Worte zu lesen: »Erwarte Dich heute Abend um acht Uhr. Der Idiot spielt. Er kann mir nicht nachspüren.«

»Hallo … Verzeihen, gnädige Frau, wenn ich Sie behellige. Aber ich weiß, Sie sind mit Girardi befreundet. So wie ich. Er geht zugrund.«

»Ich erkenne Ihre Stimme. Sie sind ein Kollege von ihm. Ich weiß, was Sie sagen wollen. Er ist seelisch und körperlich gebrochen.«

»Diese Frau – Gott verzeih ihr, was sie an diesem herrlichen Menschen verbrochen hat. Umgebracht hat sie den Menschen und den Künstler. Gestern war Premiere. Er hat die Rolle kaum beherrscht. Was aber ärger ist: Er hat nicht mehr gewirkt. Sonst, wenn er nur die Bühne betreten hat, war das Publikum elektrisiert. Und gestern ist es das erste Mal geschehen, dass seine komische Szene totenstill abgelaufen ist.«

»Hat Girardi es bemerkt?«

»Er ist dann in seiner Garderobe gesessen, hat vor sich hingestarrt und hat das verdammte weiße Pulver geschnupft … ›Da vergess ich alles‹, hat er gesagt.«

»Um Himmels willen, er nimmt doch nicht …«

»Jawohl, Kokain schnupft er. Man hat es ihm einmal gegeben, als er Halsweh hatte und spielen musste. Jetzt schnupft er es, um seinen Jammer zu vergessen.«

»Da muss etwas geschehen.«

»Deshalb rufe ich Sie an.«

»Ein paar Wochen Sanatorium, und alles wird gut.«

»Hallo, hallo … Na, endlich Girardi! Warum meldest du dich nicht?«

»Weil ich dich gleich erkannt hab. Gerade mit dir will ich jetzt nicht sprechen.«

»Nicht mit mir? Warum?«

»Weil du recht behalten hast. Ich will überhaupt niemanden sehen.«

»Sag, was ist geschehen?«

»Du wirst leicht erraten, was geschehen ist … Das Spieglein an der Wand, das hat mir gezeigt, wer die größte Hur’ ist im Land …«

»Du bist krank. Hör auf mich – drei Wochen Sanatorium – dort wirst du dir das Kokain abgewöhnen …«

»In ein Sanatorium, ich? Also auch du bist im Komplott. Ins Irrenhaus will mich die Odilon stecken. Und du, du – auch.«

»Also, jetzt werd’ ich bös. Ich komme gleich zu dir.«

»Ausgeschlossen. Niemand kann in meine Wohnung. Ich hab die Klingel ausgeschaltet. Und mich noch extra in meinem Zimmer eingesperrt. Jetzt kann sie mit ihren Amanten im Bett liegen – wo es ihr passt. Aber nicht bei mir! Ich hab einen geladenen Revolver – ich schieß sie nieder mitsamt ihren Amanten!«

»Hallo … Professor Wagner-Jauregg3?«

»Sind Sie’s, liebe Freundin?«

»Ich hole mir bei Ihnen Rat. Was tut man, wenn ein Nervenkranker, ein Kokainist, sich in seinem Zimmer einsperrt und einen geladenen Revolver bei sich hat?«

»Da muss größte Vorsicht angewendet werden. List – niemals Gewalt. Um wen handelt es sich?«

»Um Girardi«

»Oh, das tut mir leid. Ich stehe ganz zur Verfügung. Aber wie gesagt: Abwarten. Halten Sie mich bitte auf dem Laufenden.«

»Hallo – hier Hotel Sacher. Ich verbinde mit Frau Odilon.«

»Frau Berta, ich wohne im Hotel Sacher. Bin zu Hause meines Lebens nicht sicher. Der Wahnsinnige hat einen geladenen Revolver.«

»Girardi ist doch der gutherzigste Mensch. Er würde niemals …«

»Möglich. Aber diese Angst ist bei mir auf einen Schock zurückzuführen.«

»Das alles hätten Sie vermeiden können.«

»Nur keine Moralpredigten!«

»Moral? Sie haben Girardi preisgegeben!«

»Hätte ich nur nie geheiratet! Ich war frei … Er maßt sich Recht an, macht Szenen. Schleppt mich ans Grab seiner Mutter, dass ich dort schwören soll, treu zu bleiben … Oh, sein sentimentales Gewäsch! Ich hasse es!«

»Jetzt geht es nur um eins: um seine Wiederherstellung. Er hat sogar gestern auf der Bühne versagt.«

»Durchgefallen ist er. Seine Wut, weil ich als Madame Sans-Gêne Triumphe gefeiert habe … Er hat immer auf mein Talent herabgesehen.«

»Lassen wir das, Frau Odilon. Ich möchte nur noch sagen, dass Girardi einige Wochen in ein Sanatorium muss.«

»Ein Sanatorium? Damit er den nächsten Tag zurückkommt und mich erschießt? Ins Irrenhaus muss er – denn da gehört er hin.«

»Um Himmels willen, das ist doch nicht Ihr Ernst?«

»Eben habe ich bei dem Polizeipräsidenten vorgesprochen und ihm erklärt, dass mein Leben bedroht ist. Er wird Girardi festnehmen lassen. Nur verlangt er ein ärztliches Parere.«

»Kein Arzt wird sich finden, der diese niederträchtige Lüge …«

»Sie irren. Beweis, dass es keine Lüge ist: mein Theaterarzt, der einigen Szenen zwischen mir und Girardi beigewohnt hat. Er bestätigt seine Unzurechnungsfähigkeit. Jetzt wartet schon ein Ambulanzwagen, um ihn abzuholen – den Irrsinnigen …«

»Ich kenne Sie nicht mehr, Frau Odilon.«

»Hallo … Kann ich Frau Schratt sprechen? Roserl … Du bist am Telefon? Es ist etwas sehr Wichtiges …«

»Ich weiß nicht, Tante, ob Frau Schratt momentan zu sprechen ist …«

»Es geht um ein Menschenleben. Sag ihr: um Girardi.«

»Hier Kathi Schratt … Die Roserl, ganz verrückt, schreit: Der Girardi stirbt … Was ist los?«

»Eine Tragödie. Girardi wird von der Odilon zum Selbstmord getrieben. Sie will ihn ins Irrenhaus bringen. Der Polizeipräsident selbst steht ihr zu Diensten. Wenn Sie nicht intervenieren …«

»Ich? Intervenieren? Recht geschieht ihm. Er hat sich an eine Dirne weggeworfen.«

»So soll man der Odilon den Triumph lassen, dass sie sogar der Polizei gebieten kann?«

»Das ist wahr. Diese freche Person! Was glaubt sie denn … Leut’ einsperren lassen, wie es ihr passt … Ja, recht haben Sie, der werden wir’s zeigen.«

»Tausend Dank!«

»Den Girardi will ich nie mehr sehen. Der soll mir nicht vor die Augen. Aber ich will das Möglichste tun.«

»Hallo … Girardi, ich beschwör dich: häng jetzt nicht auf! Es ist Gefahr. Du musst unbemerkt entkommen … Verstehst du?«

»Ich weiß schon. Vom Fenster übersehe ich die ganze Nibelungengasse. Polizei und ein Wagen warten auf mich, wie wenn man Verbrecher einbringt. Also: Irrenhaus … Du hast leicht reden. Das Haus hat nur einen einzigen Ausgang, wie soll ich entkommen?«

»Der Modesalon Madeleine, im ersten Stock – die Ateliers sind im Nebenhaus, aber sie sind mit dem Salon verbunden. So kannst du über die andere Stiege hinuntergehen.«

»Fabelhafte Idee. Der Sherlock Holmes kann sich vor dir verstecken. Aber: Die Spitzel unten, die erkennen mich doch gleich!«

»No, so mach halt Maske. Wird dir nicht schwerfallen.«

»Jesus – ich hab meine Perücke hier und den langen weißen Bart, schon für mein Grazer Gastspiel eingepackt. Vielleicht gelingt es mir noch, zu entkommen …«

Mme. Paul Clemenceau4, Paris

Wien, 1892

Liebste, es ist rührend von Dir, dass Du, die seit Jahren in Paris lebt, unsere herrlichen Mädchenjahre nicht vergisst. Und dass Dir Girardi noch immer wert ist. Deshalb habe ich Dir gleich geschrieben, was vorgeht. Auf Dein eben erhaltenes Telegramm antworte ich nun ausführlich.

Der Anschlag gegen Girardi ist der Odilon misslungen. Er konnte sich, verkleidet, zu Kathi Schratt retten. Die ist heute die Einzige in Wien, die eine Aktion des Polizeipräsidenten verhindern kann. Roserl, meine Nichte, die trotz ihres jugendlichen Alters Gesellschafterin bei der Schratt ist, hat mir genau geschildert, wie diese Tragödie sich in eine Komödie gewandelt hat. So vermag ich Dir authentische Nachrichten zu geben.

Es läutet am Gartentor der Villa Schratt in Hietzing. Diese Villa hat ihr der Kaiser geschenkt, weil seine Residenz Schönbrunn nur ein paar Schritt entfernt ist. Das Stubenmädchen meldet: »Ein alter Herr ist da, er bittet, die gnädige Frau sprechen zu dürfen.« Die Schratt ist sehr gutmütig, sie weist ungern einen Bittsteller ab. Der alte Herr tritt ein, geht auf die Schratt zu: »Kathi, ich bitt’ dich, erbarm’ dich meiner.«

»Jesus, der Xandl!«, schreit die Schratt auf. Dann beginnen beide zu weinen. Roserl hat mir erzählt, dass nach der ersten Rührung, als Girardi den langen weißen Bart und die Perücke abnahm, alle zu lachen anfingen …

Hierauf wurde getafelt, wie man nur bei der Schratt zu schmausen bekommt. Doch plötzlich sagt die Schratt zu Roserl: »Du gibst acht auf den verrückten Kerl da, dass er nicht wieder davonläuft. Ich geh zur Majestät. Denn sonst wird der Herr Polizeipräsident noch eine Hausdurchsuchung bei mir vornehmen.«

Girardi war erschöpft eingeschlafen. Die Schratt (so erzählte sie es dann Roserl) ging zum Kaiser. Sie wird immer unangemeldet vorgelassen. Auch diesmal. Aber wer das Temperament der Schratt kennt, dem muss klar sein, dass dieser Besuch nicht glatt ablaufen konnte.

»Majestät« (soll sie gesagt haben), »in Ihrem Staat geht es schön zu. Da befiehlt eine hergelaufene Komödiantin dem Polizeipräsidenten. Sie diktiert, wer in Wien verrückt ist und wer eingesperrt wird. Man muss sich ja schämen, in so einem Staat zu leben.«

Der Kaiser kennt seine Freundin und ist ihre Aufrichtigkeit gewöhnt. Gutmütig unterbricht er sie: »Was ist denn geschehen? Wenn Sie so aufgeregt sind, muss es sich wirklich um ein großes Unrecht handeln.«

»Majestät müssen den Polizeipräsidenten absetzen.« Der Kaiser ist etwas betroffen. »Erzählen Sie«, sagt er. Und Kathi, flammend vor Entrüstung, voll Hass gegen Odilon, erzählt den ganzen Skandal.

Der Kaiser ließ den Grafen Paar5 rufen und gab Befehl, dem Polizeipräsidenten sofort zu bedeuten, dass Herr Girardi unbehelligt bleiben müsse. Weiteres möge er abwarten.

»So, liebe Freundin, sind Sie jetzt beruhigt? Aber für meine Mühe bitte ich mir nun eine Recompense aus. Ich möchte doch diesen Girardi, in den ganz Wien verliebt ist und der mir von Ihnen als der amüsanteste Mensch geschildert wurde, kennenlernen. Ich lade mich bei Ihnen zu Tisch ein – zum Déjeuner – morgen, Mittwoch.«

»So eine Ehre für Girardi … Aber Majestät werden es nicht bedauern. Sie werden sich großartig unterhalten.«

Die Schratt strahlt, als sie nach Hause kommt. »Dem Luder, der Odilon, hab ich das Genick gebrochen. Und der Polizeipräsident, der kann sich freuen.« – Es wird ein besonderes Menü gemacht. Die Tafel deckt die Schratt mit ihrem berühmten Alt-Wien.6 Girardi, bleich und schrecklich aufgeregt, wartet im Salon.

An der Tür erscheint der Kaiser. Spricht Girardi freundlich an. Man geht zu Tisch. Der Kaiser konversiert mit der Schratt. Girardi spricht kein Wort. Die Schratt wirft ihm ermunternde Blicke zu und sucht seinen Humor aufzustacheln. Aber Girardi schweigt krampfhaft.

Allmählich wird die Stimmung peinlich. Der Kaiser langweilt sich. Plötzlich wendet er sich, alle Etikette beiseite lassend, an Girardi:

»Man hat mir so viel von Ihnen erzählt, von Ihrem Witz, Ihrem Humor. Ich hatte mich so darauf gefreut. Warum sind Sie so schweigsam?«

Da platzt Girardi heraus:

»Möcht’ wissen, ob Sie, Majestät, geistreich und witzig wären, wenn Sie mit dem Kaiser von Österreich bei Tisch sitzen müssten!«

Der Kaiser fing herzlich zu lachen an. Die behaglichste Stimmung stellte sich ein. Und Girardi ist jetzt »persona grata«.

Morgen fährt er auf den Semmering, ich hoffe, er wird bald von der Odilon genesen.

Es umarmt Dich

Deine Berta

JOHANN STRAUSS

1892

Auf der Wieden besaß Johann Strauß ein kleines Palais. Gemütlich, ohne Prunk, doch dem Rhythmus seines Daseins angepasst. So nahm das Speisezimmer einen besonders privilegierten Raum ein. Strauß war nicht nur Gourmand, sondern liebte langes Tafeln. »Nichts«, sagte er, »ist für die Stimmung verhängnisvoller, als wenn man den schwarzen Kaffee im Salon serviert. Gerade in dem Augenblick, wo Speis und Trank ins Blut gegangen sind, ins Hirn und ins Herz, und der Mensch gut, gescheit, beredt wird …«

Donnerstagabend vereinte uns bei Strauß eine kleine Gesellschaft. Alfred Grünfeld1, der Pianist, dessen Anschlag so berühmt war wie das hohe C von Caruso, spielte nicht nur unnachahmlich Strauß’sche Walzer, sondern vermochte auch die unleserlichsten Partituren zu entziffern. Wenn Strauß eine neue Komposition geschrieben hatte, liebte er es, Grünfeld die Notenblätter auf das Klavierpult zu legen: »So, jetzt spiel mir, was ich gekritzelt hab.« … Und Grünfeld begann die Hieroglyphen in perlende Töne aufzulösen.

»Heute werden wir später nachtmahlen, weil der Girardi nach dem Theater kommt. Wir warten nicht auf ihn, aber beim Dessert soll er uns noch finden.«

»Gott sei Dank ist er wieder der Alte. Der Odilon-Spuk ist verflogen.«

»Er ist als Künstler noch gewachsen. Wie wunderbar hat er den Valentin2 gespielt! Wer hätte gedacht, dass er je zu Raimund gelangen wird, zu unserem größten Volksdichter!«

»Ich wollte, Meister Strauß, Sie hätten einen Raimund an Ihrer Seite gehabt.«

»Gnädigste wollen andeuten, dass die Libretti, die ich komponiere, von Eseln geschrieben sind?«

»Keinesfalls sind sie Ihrer würdig. Die ›Fledermaus‹ ausgenommen, die ein französisches Lustspiel bewitzelt, und der ›Zigeunerbaron‹, der ja auf eine Novelle des ungarischen Dichters Jókai3 zurückgeht. Sonst hat man Ihnen nichts vorgesetzt als die banalste Operettenkost.«

»Wissen Sie, warum? Weil ich dumm bin … Ja … Ja – nicht protestieren. Man sagt von mir: Der Strauß ist ein Genie … Möglich! Da gibt es halt auch dumme Genies. So oft man mir Libretti zur Auswahl vorlegt, wähl’ ich immer das schlechteste aus. Es genügt, dass mir eine Szene, eine Figur gefällt, gleich fang’ ich Feuer. Bei mir ist immer der erste Einfall tyrannisch. Ich komme nicht mehr davon los. Und wenn es sich um die Operette handelt, da ist das ein Malheur. Wenn es aber nur ein Walzer ist, ist diese Tyrannei des ersten Einfalls gerade der Segen.«

»Es ist doch merkwürdig, dass Sie dem Theater so lange ausgewichen sind.«

»Ich hätte mich nie getraut, wäre ich nicht dem Offenbach4 begegnet. Auf einer meiner Konzerttourneen war ich auch in Paris.«

»Wie sind Sie Offenbach begegnet?«

»Es war ein tiefer Eindruck. Ich hab gespürt: Da ist Geist zu Musik geworden. Und weil Offenbach aus dem Geist geschaffen hat, verstand er es auch, den wunderbarsten Librettisten zu finden: Halévy!«

»Du wirst doch nicht behaupten«, unterbricht Grünfeld, »dass die Wiener Operette von der französischen abstammt? Das sind zwei Welten!«

»Behaupte ich auch nicht. Aber für mich war der Offenbach der erste Anstoß. Was bei Offenbach aus dem Geist kommt, kommt bei mir aus dem Gemüt. No – und das Gemüt ist, wenn es sich um einen echten Wiener handelt, vielfarbig: ober- und niederösterreichisch, böhmisch, ungarisch, polnisch und südlich. Bei mir kommt noch was Extras dazu. Mein Großvater, der ist aus Spanien eingewandert. Von dem hab ich mein edles Hidalgoantlitz. Er hat eine Wirtstochter in der Leopoldstadt geheiratet. Das Wirtshaus ist am Donauufer gelegen. Da sind die Schiffer herauf- und heruntergefahren und haben ihre Weisen gesungen. Mein Vater war damals ein Bub – dem ist das spanische Blut und das österreichische Gemengsel zum Wiener Musizieren geworden.«

»Und dann? Als Sie …«

»Das erzähle ich Ihnen später. Jetzt illustriere ich Österreich auf andere Weise. Ihr werdet staunen, wie das meine Frau gemacht hat.«

Die launige Menükarte überreichte mir Strauß kniend. Sie lautete:

Menu

»Risotto-Suppe auf Triestiner Art.«

»Fischpörkölt – Ungarisch«

»Braunbraten mit Zwiebeln – Polnisch«

»Serviettenknödel – Böhmisch«

»Backhendeln mit Gurkensalat – Oberösterreicherisch«

»Apfelstrudel – Wiener Idealgericht«

Weine: Tokayer, Donauperle; Sliwowitz.

Dieses kulinarische Symbol des Österreichtums wurde mit Andacht verzehrt. Der Apfelstrudel, bräunlich, knusprig, gefüllt mit fettgetränkten Bröseln und süßen Rosinen, war von so herrlicher Vollendung, dass Johann Strauß seiner Frau zutrinkend ausrief: »Adele, famos hast du das gemacht. Ich möcht’ dich noch zehnmal heiraten!«

»Schani, im Heiraten warst du immer ein Virtuos.«

Mit diesen Worten trat Girardi ein.

»Nur nicht so arrogant, mein Lieber. Ich hab halt dreimal geheiratet, aber nur einmal danebengegriffen. Aber du hast dich doch gleich das erste Mal blamiert.«

»Wer weiß, wozu es gut war. Vielleicht hätt’ ich den Raimund nicht spielen können, wenn ich nicht erst so durchgebeutelt worden wär’.«

»No, gar so edel bist du wieder nicht geworden«, unterbricht der Schauspieler Lindau seinen Freund Girardi, »eben hast du einen Bittsteller im Theater unbarmherzig abgewiesen.«

»Was? Den Falotten, der mich immer anpumpt und dann mit meinem Geld den Damen Bouquetten schickt? ›Girardi, geh’‹, sagt er, ›leih mir zehn Gulden!‹ Da hab ich ihm geantwortet: ›Sein wir lieber gleich bös’!‹«

»Na, was is, Schani«, rief er in das allgemeine Gelächter, »du hast mich hergelotst, weil du mir etwas Neues vorspielen willst?«

»Gleich. Nur kann ich’s schon wieder nicht entziffern. Aber der Grünfeld ist ja da.«

Strauß geht in sein Arbeitszimmer, kommt dann in den Salon, wo wir uns um das Klavier gruppieren. Er legt das Notenheft auf das Pult und Grünfeld sieht es sich durch. Leise beginnt er, zuerst wie suchend, dann mehr und mehr hingerissen.

»Ich will den Walzer ›Frühlingswalzer‹ nennen«, sagt Strauß. »Vor ein paar Tagen, da ist auf den Stufen der Paulanerkirche ein armes altes Weib gesessen. So elend. Der Tod hat ihr aus den Augen geschaut. Einen Korb hat sie neben sich stehen gehabt. Und mit zittrigen Händen hat sie mir ein paar Blumen gereicht. Es waren nur Veigerln und Maiglöckchen. Aber nie, noch nie haben mich Blumen so trunken gemacht … Dass da der Tod sitzt und mir Frühlingsblumen reicht – das hat in mir eine Lust zum Leben geweckt, dass ich alle Nachtigallen hab singen hören …«

Als wir gingen, gab Girardi Strauß einen Klaps auf die Schulter. »Sehr schön war’s, die Überraschung. Nur nicht für mich. Was ist dir denn eingefallen? Koloraturen und Triller und solche Turnübungen? Kann ich trillern? Mit dem Kehlkopf wackeln? … So a Gemeinheit! … Sicher hast du dabei wieder an die Madeln gedacht, du Gauner.«

ARTHUR SCHNITZLERS ANFÄNGE UND EIN ABSCHIED

Mme. Paul Clemenceau, Paris

Wien, 1894

Liebste, ich danke Dir für Deine interessanten Zeilen. Dass Du Proust1 lange gesprochen hast, rührt mich seltsam, denn auch wir besitzen plötzlich einen Dichter, der seine Umwelt, seine Zeit und vor allem die Seelenart dieser Zeit schimmernd erstehen lässt. Mit so viel Grazie, Ironie, Bitterkeit, Humor und Geist, dass es, wäre es nicht absolut wienerisch, pariserisch sein könnte.

Nun: Er heißt Arthur Schnitzler, dieser neue aufgehende Stern. Sehr jung, nahe der dreißig. Ich kenne von ihm eine Suite von Szenen, die nur lose zusammenhängen, doch geistig eine Einheit bilden. »Anatol2«, der Held, ist leichtsinnig, melancholisch, genusssüchtig, kultiviert. Du, die Gespräche zwischen ihm und seinem Freund, zwischen ihm und seinen Geliebten sind unnachahmlich in ihrem erotischen Charme, ihrem blendenden Esprit und ihrer tiefen psychologischen Einsicht.

Dabei habe ich gar keine Ursache, für diesen Schnitzler Reklame zu machen. Er hat mich nämlich unlängst miserabel behandelt. Lass Dir das erzählen.

Emil3 und ich sind bei Professor Schnitzler4, dem bekannten Laryngologen, Vater des jungen Dichters, eingeladen. Ich vergaß zu sagen, dass Arthur bereits praktizierender Arzt ist. Man geht spät zu Tisch, offenbar wartet die Hausfrau vergebens auf einen Gast. Der Platz rechts neben mir bleibt leer. Nach der Vorspeise tritt der Verspätete ein. Ein auffallend hübscher blonder Mann, sehr elegant. Eine Locke fällt ihm in die Stirn. Die Augen sehe ich nicht, denn er hat die Lider gesenkt. Eine kühle Verbeugung, dann setzt er sich zu mir. Er ist der Sohn des Hauses, Arthur Schnitzler.

Das ist alles, was ich zunächst von ihm weiß, denn nicht ein Wort, kein einziges, hat er an mich gerichtet. So was ist mir noch nie passiert. Natürlich wende ich mich nach links zu meinem anderen Nachbarn, einem friedlichen alten Professor – und langweile mich tödlich. Die Stimmung ist überhaupt gedrückt. Man atmet auf, als die Hausfrau sich erhebt.

Während des schwarzen Kaffees fällt mir auf, dass Professor Schnitzler sich mit Emil zurückzieht. Dann verabschieden wir uns. Kaum auf der Straße, fange ich zu wüten an. »Eine schöne Gesellschaft. Nicht um die Welt gehe ich noch einmal in dieses Haus. Dieser unartige, arrogante junge Mann – das ist doch ein Taubstummer … Zum Schluss habe ich ihm schon sagen wollen: ›Bitte, jetzt sprechen wir einmal von etwas anderem.‹«

Emil hat mein Toben kolossal unterhalten. Erst als ich erschöpft schwieg, sagte er: »Wir haben Pech gehabt. Eine Stunde, ehe die Belustigung bei Schnitzler begann, hat es zwischen Vater und Sohn eine stürmische Auseinandersetzung gegeben. Du hast wohl bemerkt, dass der Professor Schnitzler sich mit mir zurückzog. Er erleichterte sein gekränktes Herz. Arthur, sein Stolz, sein Liebling, sollte in der Laryngologie sein Nachfolger werden, und da, plötzlich eröffnet ihm der Sohn vor einigen Tagen, dass er die Medizin an den Nagel hängen will. Er hat Stücke und Novellen geschrieben, die ihm eine Gewähr für sein Talent scheinen. Er ist tief unglücklich, wenn er seinen ärztlichen Beruf ausübt, und himmlisch glücklich, wenn er dichtet.

Die Familie, die das Dichten als Nebenbeschäftigung gelten lässt, wie Klavierspielen oder Aquarellmalerei, ist außer sich. Da aber kein Zureden hilft, lenkt der Vater ein, bittet seinen Sohn, er möge ihn einiges lesen lassen. Arthur gibt ihm zwei Theaterstücke. Nun ist Professor Schnitzler Arzt und Freund aller Schauspieler und Sänger der kaiserlichen Theater. Du weißt, was der berühmte Sonnenthal5 im Burgtheater für eine Sonderstellung einnimmt. Für Schnitzler ist Sonnenthal so eine Art Gott. Deshalb hat er ihm, ohne Arthur davon etwas zu sagen, dessen Talentproben gebracht.

Heute kam ein Brief Sonnenthals. Er lautet ungefähr so: ›Unter Freunden ist man sich unbedingte Aufrichtigkeit schuldig. Hier ist mein unumwundenes Urteil, es stimmt mit dem eines bedeutenden Kritikers, dem ich Einblick gegeben habe, überein. Leider ist Ihr Sohn schriftstellerisch völlig unbegabt. Darüber kann kein Zweifel herrschen. Abstruse, unverständliche Gedanken und Empfindungen, in einer höchst sonderbaren Sprache … Der so sympathische Arthur bleibe bei seiner Kunst, Menschen zu kurieren.‹«

Den Effekt dieses Schreibens habe ich Dir schon geschildert. Jetzt warte ich, wer recht behalten wird. Mein Urteil wird von dem Benehmen des jungen Schnitzler mir gegenüber nicht berührt. Es lautet: Ein alter, wenn noch so berühmter Professor und ein alter, wenn noch so berühmter Schauspieler verstehen nichts von dem geheimnisvollen Wert literarischer Jugendsünden. Ich aber – ich bin jung – weiß also von der Jugend – und von Sünden … Mein taubstummer Tischnachbar wird mich nicht enttäuschen. Ich umarme Dich.

Berta

»Burckhard6 … Ich will Ihnen nur mitteilen … Sie haben mir ja unlängst die lustige Geschichte von dem häuslichen Schnitzler-Drama erzählt … Nun, Bahr hat mir ein Stück des so untalentierten Arthur Schnitzler gebracht. Ich habe es sofort angenommen.«

»Was wird Sonnenthal dazu sagen?«

»Was er sagen wird? Da ich ihm die Hauptrolle gebe, wird er im Brustton der Überzeugung tremolieren: Ich habe es ja immer gesagt … Arthur ist ein Genie.«

»Und wie heißt das von Ihnen entdeckte Stück?«

»›Liebelei‹ – darf ich Sie bei der Premiere mit dem Herrn Gemahl in meine Loge bitten?«

Mme. Paul Clemenceau, Paris

Liebste, das Leben läuft manchmal ab wie ein dilettantisch gezimmertes Theaterstück, in dem eine mathematische Gerechtigkeit alle menschlichen Beziehungen regelt: Der edle Sohn behält zum Schluss recht und wird berühmt; der Vater, dessen Machtwort das Streben des Sprösslings abzuwürgen drohte, steht beschämt beiseite und die Familie stimmt angesichts des jungen Ruhms ihres verlorenen Sohns ein Hosianna an.

Dieses Stück Leben ging soeben in der Haupt- und Residenzstadt Wien in Szene. Du erinnerst Dich gewiss eines Briefes, den ich Dir vor drei, vier Monaten schrieb. Über einen taubstummen Tischnachbarn, der mich wütend gemacht hat. Heute ist er ein großer Name in der Weltliteratur, und das Burgtheater, von seinem Direktor Burckhard geführt, hat einer neuen Ära der österreichischen Dichtung den Weg gebahnt.

Vorgestern war die Premiere. Über dem glänzend besetzten Haus lag etwas wie unbestimmte Erwartung, denn ein dem großen Publikum unbekannter Autor stand auf dem Programm.