Ostfriesenfluch - Klaus-Peter Wolf - E-Book + Hörbuch

Ostfriesenfluch Hörbuch

Klaus-Peter Wolf

4,5

Beschreibung

Spannend, raffiniert und tief verwurzelt in einer einzigartigen Landschaft: "Ostfriesenfluch" ist der neue Kriminalroman von Nummer 1 - Bestsellerautor Klaus-Peter Wolf mit Ostfrieslands berühmtester Kommissarin Ann Kathrin Klaasen Er entführt Frauen, aber er tötet sie nicht.Er stellt noch nicht einmal eine Lösegeldforderung. Er schickt nur ein Paket mit den Kleidungsstücken der Betroffenen. Das löst Panik aus, denn niemand versteht, was er will. Sind die Frauen wirklich entführt worden, oder sind sie abgehauen, weil sie ihrem Leben eine neue Richtung geben wollten? Hier zerstört einer systematisch glückliche Beziehungen, denkt sich Ann Kathrin. Sie scheint zu ahnen, worauf es der Entführer abgesehen hat. Aber wie kann sie ihn fassen? Ein psychopathischer Täter, der das Glück der anderen zerstören will: Perfide und raffiniert zeichnet Nummer Eins-Bestsellerautor Klaus-Peter Wolf das Psychogramm einer verwundeten Seele.

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Zeit:17 Std. 10 min

Sprecher:Klaus-Peter Wolf
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Klaus-Peter Wolf

Ostfriesenfluch

Der zwölfte Fall für Ann Kathrin Klaasen

Thriller

 

 

Über dieses Buch

 

 

Ein psychopathischer Täter, der das Glück der anderen zerstören will: In seinem zwölften Ostfriesenkrimi zeichnet der Nummer-1-Bestsellerautor Klaus-Peter Wolf das Psychogramm einer verwundeten Seele.

 

Ann Kathrin Klaasen und ihre Auricher Kollegen sind ratlos. Da entführt einer Frauen, stellt aber keine Lösegeldforderungen. Stattdessen schickt er nur ein Paket mit den Kleidungsstücken der Betroffenen an Freunde oder Bekannte. Sind die Frauen wirklich entführt worden, oder wollten sie ein neues Leben beginnen? Fernab von Ehemann, Küche und Kindern? Als eine der entführten Frauen in einem Rapsfeld tot aufgefunden wird, gleich neben einem toten Touristen aus dem Ruhrgebiet, stellen sich plötzlich viele Fragen.

 

»Ein nervenaufreibender Thriller, der beweist, dass diese Serie noch lange nicht auserzählt ist!« Till Stoppenhagen/Stephanie Lamprecht, Hamburger Morgenpost zu »Ostfriesentod«

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Klaus-Peter Wolf, 1954 in Gelsenkirchen geboren, lebt als freier Schriftsteller in der ostfriesischen Stadt Norden, im selben Viertel wie seine Kommissarin Ann Kathrin Klaasen. Wie sie ist er nach langen Jahren im Ruhrgebiet, im Westerwald und in Köln, an die Küste gezogen und Wahl-Ostfriese geworden. Seine Bücher und Filme wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Bislang sind seine Bücher in 24 Sprachen übersetzt und über zehn Millionen Mal verkauft worden. Mehr als 60 seiner Drehbücher wurden verfilmt, darunter viele für »Tatort« und »Polizeiruf 110«. Mit Ann Kathrin Klaasen hat der Autor eine Kultfigur für Ostfriesland erschaffen, mehrere Bände der Serie werden derzeit prominent fürs ZDF verfilmt und begeistern Millionen von Zuschauern.

Inhalt

[Motti]

Luft! Endlich wieder frische [...]

Ann Kathrin erhielt eine [...]

Rupert und Sylvia Hoppe [...]

Ann Kathrin Klaasen bestand [...]

Ann Kathrin flog mit [...]

Mitten in die Konferenz [...]

Leseprobe Ostfriesennacht

Sie hatten sich schon [...]

»Was heißt hier: Aus dem Chaos entsteht eine neue Ordnung? – So ein Quatsch! Meistens entsteht aus Chaos einfach nur noch größeres Chaos.«

Martin Büscher, neuer ostfriesischer Polizeichef

»Ann Kathrin ist egal, wer unter ihr Chef ist.«

Hauptkommissar Rupert

»O Herr, gib mir Geduld, aber bitte sofort!«

Hauptkommissarin Ann Kathrin Klaasen

Luft! Endlich wieder frische Luft!

Sie wusste nicht, wo sie war.

Sie wusste nicht, wie lange er sie schon gefangen hielt.

Aber sie wusste, dass es um ihr Leben ging. Er würde ihr diesen Fluchtversuch niemals verzeihen. Sie kannte sein Gesicht. Er musste sie töten.

Sie lief in die Dunkelheit.

Immer wieder rief er laut ihren Namen: »Angela! Angela!« Als sei sie ein Hund, der zu seinem Herrchen zurückkommen würde.

Es war, als wollte das Universum ihr eine Chance geben. Eine dunkle Wolke verdeckte den Mond.

Der Lichtkegel seiner Taschenlampe suchte das Feld nach ihr ab. Sie ließ sich flach auf den Boden fallen und robbte im Schutz der Grasbüschel vorwärts.

Sie war nackt.

Er vermutete sie offensichtlich weiter rechts. Er leuchtete in das Rapsfeld. Sein Scheinwerfer kreiste über die gelben Blüten und ließ die Pracht golden strahlen.

Mein Gott, dachte sie, der Raps blüht! Es muss Mitte, Ende Mai sein.

Der Tag, an dem er sie geholt hatte, war ein Montag in der ersten Märzwoche gewesen. Es hatte morgens noch geschneit.

Der Lichtkegel kam ihr bedenklich nahe. Seine Nervosität übertrug sich auf den zitternden Strahl der Lampe.

Seine Rufe wurden lauter. Da klang Verbitterung mit, als sei er enttäuscht von ihr.

Jetzt suchte er eine Anhöhe ab. Das musste der Deich sein.

Der Deich! Welch ein Gedanke!

Deich … Allein schon das Wort schmeckte nach Freiheit. Sicherheit. Touristen.

Sie lief auf das Rapsfeld zu. Etwas Spitzes bohrte sich in ihre Fußsohle. Eine Glasscherbe oder eine scharfkantige Muschel.

Sie unterdrückte einen verräterischen Schrei, am liebsten hätte sie laut um Hilfe gebrüllt. Sie wünschte sich das Blaulicht von Polizeifahrzeugen und Rettungswagen mindestens so sehr wie das Lachen ihrer Kinder.

Sie versuchte, sich mit dem Gedanken aufzubauen, bald schon ihre Kinder wiederzusehen. Sie stolperte weiter. Gebückt erreichte sie das Rapsfeld.

Er scheuchte mit seinem Licht ein paar Schafe auf, die blökend vor Angst auf die andere Deichseite flohen.

Der blühende Raps roch betäubend süßlich. Sie mähte mit ihrem Körper die Stängel nieder. Die Blüten entluden ihre Pollenkörner auf ihren Brüsten.

Der Lichtstrahl bewegte sich jetzt tastend in ihre Richtung.

»Angela! Angela! Willst du das wirklich?!«

Sie ließ sich fallen. Er konnte sie hier unmöglich sehen. Oder hatte sie im Rapsfeld eine zu deutliche Spur hinterlassen? Eine Schneise …

Hier in Bodennähe gab es unzählige Käfer, Spinnen und Insekten. Sie ließen sich auf sie fallen, krabbelten auf ihr herum und suchten Schutz in ihren Haaren.

Sie konnte nicht mehr sehen, wo er war. Kam er näher, oder bewegte er sich von ihr weg?

Sie lauschte. Da war ein Geräusch von großen Rotorblättern. Nicht weit von ihr mussten Windkraftanlagen stehen.

Der Gedanke, dass sich hoch über ihr Windräder drehten und Strom erzeugten, trieb ihr Tränen in die Augen.

Da war der Deich mit den Schafen. Dort die Windräder.

Sie lag im Rapsfeld. Bei Tag, ohne diesen Irren, war dies bestimmt ein ganz zauberhafter Ort. Ein beliebtes Objekt für Handyfotos: Wir am Deich!

Aber jetzt konnte genau dieses Fleckchen Erde für sie zur tödlichen Falle werden.

Sie konnte seinen rasselnden Atem hören.

Er rief: »Wenn du fliehst, hole ich mir deine kleine Tochter! Welche soll ich nehmen? Die Rosa oder die Julia? Willst du das wirklich? Willst du, dass ich mir die kleine Rosa hole?«

»Du mieses Dreckschwein!«

Sie wusste nicht, ob sie es nur gedacht oder laut gerufen hatte. Sie bereute es sofort. Hatte sie sich selbst verraten?

»Was bist du nur für eine Mutter, Angela? Du willst dein Kind opfern? Wofür? Damit du in deine Ehehölle zurückkannst?«

Kam die Stimme näher, oder wurde er nur lauter? Klang da schon Verzweiflung mit?

In Zukunft, dachte sie, werde ich nicht mehr die Gefangene sein. Wir tauschen die Rollen. Du wanderst in den Knast und ich in die Freiheit!

»Ich bin wirklich enttäuscht von dir, Angela! Sehr enttäuscht! Soll ich deiner Tochter sagen, dass ihre Mutter wollte, dass ich sie zu mir hole?«

Sie biss in Blätter, um nicht zu schreien. Sie durfte sich nicht provozieren lassen.

Er will nur, dass du dich verrätst. Er weiß nicht, wo du bist, redete sie sich ein.

Jetzt wurde seine Stimme zu einem verzerrten Singsang, als wolle er jemanden imitieren. Sie hatte keine Ahnung, wen. Wahrscheinlich wusste er es selber nicht. Vielleicht sprach eine andere Person aus ihm. Verrückt genug war er.

»Oh, liebes kleines Rosalein, dein braves Mütterchen hat lieber dich geopfert als deine Schwester. Oder was meinst du? Soll ich besser deine Schwester holen als dich? Möchtest du zurück zu deiner Mama? Was ist das für ein Gefühl, Rosa, dass deine Mutter jetzt Julia ins Bett bringt und nicht dich? Bestimmt werden sie am Wochenende einen Ausflug machen und viel Spaß haben. Aber leider ohne dich, Rosa.«

Er schnappte nach Luft. Heiser rief er: »Ja, du hast recht, Rosa. Ich glaube auch, dass sie Julia immer viel lieber hatten als dich. Du hast doch im Grunde immer nur gestört …«

Er weiß nicht, wo ich bin. Er weiß es nicht.

Da war ein Rascheln. Sie fuhr herum.

Er packte ihren Fuß und hob ihr linkes Bein an.

»Die Blutspur hat dich verraten, Angela.«

Er schleifte sie ein paar Meter weit durch das Rapsfeld. Die plattgetretenen, umgeknickten Stängel fühlten sich an ihrem Bauch an wie eine Schlange. Ja, es war, als würde sie durch eine Schlangengrube gezogen.

Als sie wieder auf der Wiese angekommen waren, ließ er sie los und sagte fast sanft: »Steh auf. Rabenmutter. Der Ausflug ist beendet.«

Sie erhob sich. Sie traute sich nicht, ihm ins Gesicht zu schauen. Sie blickte auf die Gürtelschnalle an seiner Hose, sah ihn breitbeinig dastehen.

Jetzt war doch sowieso schon alles egal. Sie nahm all ihren Mut zusammen, legte all ihren Hass und alle Verzweiflung in diesen einen Tritt zwischen seine Beine.

Sie traf seine Weichteile, und die lange Taschenlampe fiel zu Boden. Sie lag so, dass sie ihn ausleuchtete wie ein Gespenst in der Geisterbahn.

Er hatte den Mund weit offen. Es war, als würde sich in seinem Körper ein Druck aufbauen, der ausreichte, um seine Augäpfel herauszupressen. Was jetzt? Noch einmal zutreten oder zuschlagen und dann wieder weglaufen?

In der Ferne sah sie ein Auto näher kommen. Zwei gelbe Lichter. Das gab ihr Kraft.

Sie schlug ihn ins Gesicht. Sein Kopf flog in den Nacken.

Ihre Fingerknöchel schmerzten. Sie hatte das Gefühl, sich das Handgelenk gebrochen zu haben. Sie hatte noch nie im Leben jemandem einen Kinnhaken verpasst.

Sie rannte los. Sie hoffte, die Straße zu erreichen und das Auto anhalten zu können. Der Gedanke beflügelte ihre Schritte. Sie lief über die dunkle Weide. Es war nicht schlimm, dass sie die Maulwurfshügel nicht sah. Aber der Stacheldrahtzaun, der eigentlich die Kühe daran hindern sollte, überfahren zu werden, stoppte sie schmerzhaft.

Sie beugte sich vor, bekam Übergewicht und fiel.

Schon war er bei ihr.

Die Rotorblätter der Windanlagen schienen sich jetzt neben ihrem Kopf zu drehen. Da war ein lauter werdendes Brummen in ihren Ohren.

Er stand über ihr und drückte seinen Fuß in ihren Rücken. Er wollte sie auf dem Boden halten, damit sie aus dem vorbeifahrenden Auto nicht gesehen werden konnte. Sie spürte das grobe Profil seiner Outdoorschuhe.

Der Wagen hielt an. Der Fahrer stieg aus. Er war keine fünfzig Meter von ihr entfernt.

»Die Läufe meiner Schrotflinte sind auf deinen Kopf gerichtet, meine Süße. Ein Wort und ich blase dir das Gehirn weg.«

Der ostfriesische Wind pustete die Wolken zur Seite und gab den Mond frei. Es wurde heller. Die Nacht war sternenklar.

Der Fahrer stand am Straßenrand und urinierte ins Feld. Dabei stöhnte er genüsslich. Er blieb länger stehen als nötig. Es rauschte und plätscherte nicht mehr.

Von ihren Halswirbeln ging ein glühender Schmerz aus, so sehr verrenkte sie sich, um den Fahrer wenigstens sehen zu können. Er war der letzte Funken Hoffnung.

Sie stöhnte gequält auf.

Der Mann versuchte, sich eine Zigarette anzuzünden. Er stellte sich dabei nicht sehr geschickt an. Entweder war er betrunken, oder er hatte etwas bemerkt.

»Äi, Sie da!«, rief er. »Wat machen Sie denn da?«

Unverkennbar Ruhrgebietsslang. In ihren Ohren ein zauberhafter Engelsgesang. Ein Tourist. Ein mutiger Tourist!

Aber statt zu seinem Handy zu greifen und die Polizei zu rufen, spielte er lieber den Helden und versuchte, der Frau sofort zu helfen. Vielleicht gab dabei auch die Überlegung den Ausschlag, dass er in Greetsiel zwei halbe Weizen getrunken hatte und seinen Führerschein nicht verlieren wollte. Er dachte darüber nach, ob er nach der Scholle Finkenwerder Art einen Klaren genommen hatte oder zwei – zur Verdauung, versteht sich.

»Was ist denn mit der Frau? Is die nackt?«

Der Druck zwischen ihren Schulterblättern ließ nach. Er hob den Fuß an, mit dem er sie niedergedrückt hatte und stellte sich anders hin. Er ging dem Fahrer entgegen.

»Alles in Butter, Kumpel. Hast du nie Sex im Freien gehabt? Solltest du mal ausprobieren! Die Kleine da steht drauf, aber wir haben es nicht so gerne, wenn jemand zuguckt. Du bist doch kein Spanner, oder?«

Sie raffte sich auf. Sie schwankte. Ihr war schwindlig.

»Passen Sie auf!«, schrie sie. »Er hat ein Gewehr!«

Erneut lief sie einfach los. Hauptsache, weg.

Eine Weile rannte sie am Stacheldraht entlang. Hinter ihr fiel ein Schuss.

Sie blickte sich um. Der Tourist aus dem Ruhrpott brach zusammen.

»Und jetzt zu dir, Zuckerpuppe! Hier gibt es keinen Schutz. Keine Häuser. Keine Bäume. Nur den Deich, die Weide, das Rapsfeld und die Straße, die zu dieser Zeit kaum befahren ist.«

Sie versuchte noch einmal, ins Rapsfeld zu entkommen. Er folgte ihr.

Es schien ihm Spaß zu machen. Er benutzte nicht einmal seine Taschenlampe. Der Himmel war jetzt nachtblau.

Er lud in Ruhe zwei Patronen nach. Kaliber 12. Er legte an und zielte.

Diesmal hatte Weller sich für Ann Kathrins Geburtstag etwas ganz Besonderes ausgedacht. Er wollte den 7.7. – in fünf Wochen – nicht einfach in einem Lokal mit ihr feiern und mit einem Gläschen Sekt anstoßen. Er hatte auch nicht vor, Freunde einzuladen. Nein, dies sollte ein Tag wirklich ganz für sie werden. Nicht für die anderen.

Er wusste, wie viel die Holzschnitte von Horst Dieter Gölzenleuchter ihr bedeuteten. Oft hatte sie die Geschichte erzählt, wie ihr Vater sie zum ersten Mal mit in eine Ausstellung nahm. Wie Gölzenleuchter ihr seine Arbeit erklärte, sie ernst nahm. Obwohl sie noch ein Kind war, schien sie ihm wichtiger zu sein als all diese bedeutenden Erwachsenen, die Sammler und Journalisten. Er hatte sogar aus dem Stegreif Kindergedichte für sie vorgetragen.

Zunächst hatte Weller versucht, einen Gölzenleuchter-Holzschnitt zu kaufen. Ein großformatiges Bild. Aber dann war ihm klargeworden, dass dieser Gölzenleuchter ja noch lebte. Er hatte ihm einen Brief geschrieben. Keine E-Mail, einen richtigen Brief, und damit lag er genau richtig. Gölzenleuchter antwortete mit einem Malerbrief.

Für Weller sah es aus wie Wasserfarbe, wie zufällig aufs Papier getropft und dann verlaufen. Doch wenn er genauer hinsah, erkannte er Figuren.

Ann Kathrin hatte ihm gesagt: »Gölzenleuchter hat mich sehen gelehrt und genau hinzuschauen. Nicht nur die Figur zu sehen auf den Holzschnitten, sondern auch die Struktur im Holz.«

Damit hatte er sie sehr weit gebracht. Selbst heutzutage, wenn sie an einem Tatort stand, begleiteten sie diese Gedanken: genau hinsehen. Erkennen, was es in sich ist, nicht nur die Wirkung sehen, sondern auch die Ursache.

Gölzenleuchter stimmte einem Atelierbesuch zu. Er würde sich Zeit nehmen für Ann Kathrin, ihr seine Arbeit, seine Technik zeigen. An ihrem Geburtstag. Das sollte die Überraschung werden.

Um das Programm perfekt zu machen, hatte Gölzenleuchter vorgeschlagen, am Abend gebe es im Bochumer Kulturrat eine Krimilesung. Ob das nicht eine gute Idee sei. Er wolle sowieso mit seiner Frau Renate dorthin, ob die beiden sich nicht anschließen wollten?

Dafür, dachte Weller, wird sie mich lieben. Ein Besuch bei dem großen Meister und anschließend eine Autorenlesung. Konnte es ein besseres Programm für Ann Kathrin geben?

Diese gemalte Nachricht von Gölzenleuchter, diese getropften Figuren mit den handschriftlichen Bemerkungen, schienen Weller sehr wertvoll. Er wusste nicht, wie er damit umgehen sollte. Das war doch schon der erste Teil des Geschenks. Rollte man so etwas ein und verschenkte es mit einem Schleifchen drumherum, oder gehörte es hinter Glas? Aber auf der einen Seite war das Bild mit ein paar handschriftlichen Zeilen versehen, und auf der anderen Seite stand auch so etwas.

Mein Gott, dachte Weller, wie arm sind wir durch diese ständigen E-Mails geworden? Wer denkt bei einer E-Mail schon darüber nach, sie sich unter Glas an die Wand zu hängen?

Er spürte etwas von der Magie, die von der Arbeit dieses Künstlers ausging, zwischen seinen Fingern. Und er war stolz auf sich, diese Idee gehabt zu haben.

Alles lief gut im Moment. Mit Rupert verstand er sich besser denn je, und mit Ann Kathrin fühlte er sich wie frisch verliebt.

Weller beschloss, den Brief einrahmen zu lassen.

Rupert mutmaßte, dass es Marion Wolters aus der Einsatzzentrale Spaß gemacht hatte, ihn aus dem Bett zu klingeln. Ihre Stimme am frühen Morgen zu hören war ohnehin kein Vergnügen für ihn, und dieser schadenfrohe Ton, mit dem sie gesagt hatte: »Ich hoffe, ich versaue dir jetzt nicht das Wochenende«, wurmte ihn, denn genau das hatte sie getan.

Jetzt war er dafür aber als Erster am Tatort, was ihm eigentlich gefiel, denn sobald die Jungs von der Spusi kamen, gab es Stress. Denen war praktisch jeder Polizist am Tatort nur im Weg, und er konnte kaum eine Bewegung machen, die sie nicht kritisch beäugten oder kommentierten.

Sätze wie: »Du verunreinigst den Tatort« oder »Fass bloß nichts an« konnte er nicht mehr hören. Sobald diese Truppe auftauchte, steckte er seine Hände tief in die Hosentaschen, um ja nichts aus Versehen zu berühren.

Für ihn war der Fall hier eindeutig: Verbrechen aus Eifersucht.

Die nackte tote Frau trug einen Ehering, der vollständig bekleidete tote Mann nicht.

Rupert wollte ihn nicht umdrehen. Dafür würde er sich garantiert einen Anpfiff von der Spusi einhandeln, außerdem wollte er sich die frisch gewaschenen Klamotten nicht versauen. Aber er ging davon aus, dass der Hosenschlitz des Mannes offen war.

Die Tote lag wie aufgebettet da. Die Beine züchtig zusammengeklemmt, die Hände gefaltet. Zwischen den Fingern eine Rose, die fast alle Blätter verloren hatte. Um sie herum einige verstreute wilde Blumen.

An ihrem Bauch und ihren Oberschenkeln längliche Verletzungen wie von Peitschenhieben oder als sei ihr Körper irgendwo entlanggeratscht. Lange, blutunterlaufene Stellen.

Neuerdings gab es einen Schreibdienst, und er hatte ein digitales Diktiergerät bekommen. »Der moderne Kommissar rennt nicht mehr mit Bleistift und Heftchen herum, sondern diktiert seine Eindrücke«, hatte Polizeichef Martin Büscher gesagt. »So guckt ihr nicht in ein kariertes Heft, sondern auf den Tatort und schildert frei, was ihr seht.«

Rupert hatte eine Weile gebraucht, um mit dem Diktiergerät fertig zu werden. Manchmal, wenn er eine unbedachte Bewegung machte, schaltete es sich in seiner Hosentasche ein und nahm auf, was er während der Fahrt sprach. Dann wieder, wenn er es einschalten wollte, weigerte sich das Ding, auch nur einen einzigen Satz von ihm richtig aufzuzeichnen.

Er war voll konzentriert auf sein silbernes Diktiergerät. Er stand bei der Leiche im Rapsfeld und diktierte. Oben auf der Straße kamen die ersten Mitarbeiter der Spurensicherung an. Auch Ann Kathrin Klaasen und Weller stiegen aus ihrem französischen Auto.

Sie sollten ruhig hören, was er zu sagen hatte. Dabei musste er sie nicht mal angucken. Er hatte ja zum Glück dieses Gerät. Es verlieh ihm auf eine merkwürdige Weise Macht, fand er.

»Glasklare Faktenlage. Die beiden haben im Auto rumgemacht. Der Ehemann ist ihnen draufgekommen und hat sie mit vorgehaltener Flinte genötigt auszusteigen. Dann sind sie ihm krummgekommen, und er wollte sich nicht länger verarschen lassen und hat sie beide abgeknallt. Ich wette, er sitzt jetzt zu Hause, flennt und säuft sich einen an. Wir müssen nur herausfinden, wie die Tote heißt und wo sie wohnt. Genau da verhaften wir dann ihren Mann, der sicherlich rasch gestehen wird, weil ihm das alles schrecklich leidtut und er das Luder immer noch liebt.«

Ann Kathrin Klaasen räusperte sich hinter Rupert. Er drehte sich zu ihr um. Sie sah unausgeschlafen aus und auch nicht gerade gutgelaunt, fand Rupert. Er hatte keine Lust, sich jetzt irgendetwas von ihr anzuhören.

Das Diktiergerät gibt mir echt Macht, dachte er und hielt eine Hand hoch, um ihr anzudeuten, dass sie schweigen sollte. Er wollte ihr keine Gelegenheit geben, seinen Gedankenfluss zu unterbrechen.

Aber natürlich hielt Ann Kathrin sich nicht an seine Anweisung, sondern sagte schnippisch: »Gib mir Bescheid, wenn Ruperts Märchenstunde beendet ist, damit wir uns dann dem Fall hier widmen können.«

Am liebsten hätte Rupert ihr den Mund verboten. Er machte eine wegwischende Handbewegung. »Es ist eindeutig …«

Scharf unterbrach sie ihn: »Eindeutig vollkommen anders. Wenn die im Auto rumgemacht hätten, wie du es so schön ausgedrückt hast, wo ist dann die Kleidung der Frau? Sie müsste doch noch im Auto liegen, oder?«

Rupert verzog den Mund und zuckte mit den Schultern. »Die Kleidung, ja, was weiß ich!«

Ann Kathrin konnte Rupert nachdenken sehen. Er fuchtelte mit den Armen in der Luft herum. »Ja, die Kleidung, die … ich … äh… die kann zum Beispiel der Ehemann mitgenommen haben!«

Weller versuchte, den beginnenden Streit zu schlichten. »Das kann man nicht ganz ausschließen …«

»Warum sollte er das denn getan haben?«, fragte Ann Kathrin.

Rupert antwortete schnell: »Als Trophäe! Wir hatten schon mehrfach Fälle, da …«

Es nervte Rupert unendlich, dass Ann Kathrin ihn nicht ausreden ließ. Sie tat jedes Mal so, als wisse sie ohnehin, was er sagen wollte.

»Ein Ehemann als Trophäenjäger wäre allerdings neu. Der hat doch zu Hause die Schränke voll mit Wäsche von seiner Frau, oder?«

Mürrisch brummte Rupert und tischte gleich eine neue Theorie auf: »Wenn es nicht der Ehemann war, dann handelt es sich eindeutig um ein Sexualdelikt. Die haben im Auto geknutscht und gefummelt, ein Spanner hat sie beobachtet, der Mann ist aus dem Auto, um dem Typ was auf die Zwölf zu hauen, dann hat der Spanner ihn erschossen, schließlich die Frau gezwungen, aus dem Auto zu steigen. Der Mistkerl hat sich über die Frau hergemacht und sie dann erschossen, um Zeugen zu beseitigen. Dann hat er ihre Wäsche als Trophäe mitgenommen.«

Zwei Mitarbeiter der Spurensicherung, in weiße Schutzkleidung gehüllt, baten Rupert, Weller und Ann Kathrin, zur Seite zu gehen. Sie verteilten ihre nummerierten Tatort-Schildchen.

»Ich glaube nicht«, sagte Ann Kathrin, »dass es sich um eine Sexualstraftat handelt.«

Rupert grinste: »Klar. Eine nackte Frau, tot im Rapsfeld, wie kann man denn da auf ein Sexualdelikt kommen?!«

Ann Kathrin zeigte auf die weibliche Leiche. »Spanner, wie du sie nennst, Rupert, neigen selten zu Gewalttaten. Sie sind eher Augenmenschen. Brauchen die Entfernung. Sieh dir lieber mal die Leiche genau an. Der Täter hat Blumen gepflückt und auf ihrem Körper verteilt. Wilde Rosen, Klee, Margeriten, Gänseblümchen. Das deutet darauf hin, dass ihm die Tat leidtut. Er hat sich quasi entschuldigt. Ihre Hände sind wie zum Gebet gefaltet. So etwas gibt es immer wieder, wenn Täter eine Beziehung zum Opfer haben …«

»Na, bitte«, freute Rupert sich, »das spricht dann doch wieder für den Ehemann. Es ist doch meistens der Ehemann! Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Frau von ihrem Ehemann getötet wird, ist unendlich viel größer, als dass sie nachts im Park von einem Unbekannten attackiert wird.«

Weller nickte. »Da hast du leider recht.«

Ann Kathrin deutete auf den toten Mann. »Der war ihm egal. Er hat sich keine Mühe gegeben, ihn schöner hinzulegen oder mit Blumen zu bedecken.«

Aus der Hosentasche des Toten ragte ein Portemonnaie, das eigentlich für die Hose viel zu groß war. Darin vierzehn verschiedene Club-, Vorteils-, Mitglieds- und Kreditkarten. Sein Führerschein, sein Ausweis und 482 Euro 15.

Rupert folgerte: »Damit kann ein Raubüberfall ja wohl ausgeschlossen werden.«

Der Tote hieß Bekir-Dieter Yildirim-Neumann. Der Wagen war auf ihn zugelassen, die Papiere lagen im Handschuhfach neben einigen Fotos von Kindern, aber keins von einer Frau.

Eine rasche Überprüfung ergab, dass er Autoschlosser aus Wattenscheid war. Der Vorname kam von seinen beiden Großvätern, der eine war Deutscher, der andere Kurde. Er lebte in der dritten Generation in Deutschland und war vor kurzem zum zweiten Mal geschieden worden.

Vor ein paar Monaten war er bei einer Demonstration in Köln gegen Erdogan verhaftet worden, ansonsten war nichts polizeibekannt. Vorstrafen gab es nicht.

Weller wirkte nachdenklich. Immer wieder ging er gegen den Protest der Spurensicherer zu der weiblichen Leiche und schaute sie sich an.

Es war nicht die merkwürdig aufgebettete Art, in der sie da lag, wie bei einer Beerdigung, nur ohne Sarg drumherum. Nein. Weller betrachtete immer wieder ihr Gesicht.

»Ich kenne diese Frau«, behauptete er. »Verdammt, ich kenne sie, aber ich weiß nicht, woher.«

»Ja, das ist jetzt sehr hilfreich«, grinste Rupert.

Auf dem Deich sammelten sich immer mehr Touristen, die das Schauspiel beobachten wollten. Weller und Rupert halfen ihren Kollegen, rasch ein Zelt aufzubauen, um die Leichen vor Blicken und den Tatort vor Fremdeinflüssen zu schützen.

Mittendrin hielt Weller inne. »Sie hat mich mal beraten«, sagte er und wirkte dabei, als sei er sich völlig sicher. »Es war während meiner Scheidung, als Renate versucht hat, mich so richtig auszupressen. Da habe ich mir anwaltlichen Rat gesucht. Sie arbeitete in einer Kanzlei in Wittmund. Ich dachte erst, sie sei die Sekretärin, aber dann stellte sich heraus, dass sie selbst Rechtsanwältin war. Fachfrau in Scheidungsangelegenheiten. Ich wollte lieber zu ihrem Kollegen, aber die hatten das irgendwie aufgeteilt. Er machte Bau- und Strafrecht …«

Rupert spottete: »Na, das liegt ja auch nah beieinander.«

»Sie war für Scheidungen zuständig, machte hauptsächlich Familienrecht. Es war noch ein Dritter in der Kanzlei, aber an den erinnere ich mich nicht mehr, den habe ich nie gesehen.«

Ann Kathrin wippte nervös mit dem Fuß auf und ab. »Name? Adresse?«

Weller rang mit den Händen. Es kostete ihn Überwindung, im Beisein der Kollegen mit der Wahrheit herauszurücken: »Ich habe das meiste aus dieser Zeit einfach verdrängt. Ich war nur einmal bei ihr. Ich wollte damals nicht von einer Frau beraten oder vertreten werden.« Er schielte zu Ann Kathrin. »Das war mir irgendwie unangenehm. Ich will nicht direkt sagen, dass ich von Frauen die Nase voll hatte, aber …«

Ann Kathrin versuchte, ihn wieder zu den Dingen zurückzuführen, um die es jetzt vorrangig ging: »Aber du bist da gewesen. Du weißt also die Adresse. Wir können sofort herausfinden …«

Weller schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn: »Röttgen! Sie hieß Röttgen. Andrea oder Alexandra, auf jeden Fall mit A.«

Ann Kathrin atmete aus. »Dann werden wir jetzt nach Wittmund fahren und ihrer Familie die Nachricht überbringen.«

»Eine verheiratete Scheidungsanwältin ist eigentlich ein Witz«, grinste Rupert.

Ann Kathrin wies ihn zurecht: »Dies ist keine gute Situation, um Witze zu machen, Rupert.« Sie erklärte sich bereit, der Familie die traurige Nachricht persönlich zu übermitteln.

Erleichtert lächelte Rupert: »Ja, prima, darum reiße ich mich nicht. Ich kann so etwas nicht gut.«

Weller gab ihm recht: »Stimmt.«

Das Häuschen der Familie Röttgen lag an dem kleinen Flüsschen Harle, nicht weit von Carolinensiel entfernt. Die Harle floss erst noch in eine Schleuse und mündete dann kurz danach in Harlesiel in die Nordsee.

Vom Garten aus war ein kleiner Holzsteg ins Fließgewässer gebaut. Daran befestigt dümpelte ein Paddelboot.

Von der Straße aus konnten Weller und Ann Kathrin eine Hollywoodschaukel erkennen und eine Hundehütte. Darauf flatterte eine Piratenfahne.

»Ein Paradies für Kinder …«, flüsterte Ann Kathrin und hoffte, dass kein Kind ihr öffnen würde. Angela Röttgen hatte, wie sie inzwischen wussten, zwei Töchter: Rosa und Julia, neun und zwölf Jahre alt.

Peter Röttgen öffnete. Vor Ann Kathrin Klaasen und Weller stand ein Mann Anfang fünfzig. Lehrer an der Alexander-von-Humboldt-Schule in Wittmund.

Seit gut drei Wochen war das Wetter fabelhaft in Ostfriesland, doch Herr Röttgen sah aus, als hätte seine Haut keinen Sonnenstrahl abbekommen. Er hatte tiefe, schwarze Ränder unter den Augen, und seine weiße Gesichtshaut wirkte fast durchsichtig auf Ann Kathrin. Sie schimmerte leicht bläulich.

Er war für das Wetter viel zu warm angezogen. Eine Strickweste. Darunter ein Flanellhemd, nicht mal den oberen Knopf offen. Sein Kehlkopf schabte beim Sprechen an dem zu engen Kragen entlang. Sein silbergraues Haar war lange nicht geschnitten worden. Immer wieder warf er mit zuckenden Bewegungen den Kopf zurück, um die Haare aus dem Sichtfeld zu schütteln.

Er trug einen Schnauzbart, dessen Spitzen vom Nikotin gelb waren und die Oberlippe verdeckten.

Sein Blick war traurig, verwirrt.

Ann Kathrin wusste gleich, dass sie es mit einem Mann zu tun hatte, dessen Leben völlig aus dem Ruder gelaufen war. Möglicherweise stand er unter Tabletteneinfluss. Vielleicht war er depressiv. Auf jeden Fall antriebslos, mit schlurfendem Gang.

Er wusste noch nicht, dass seine Frau tot war. Seine Erschütterung war älter. Ann Kathrin war sich sicher, dass er seitdem seine Haare nicht mehr schnitt und sich auch sonst nicht besonders gut pflegte. Er roch säuerlich. Seine Kleidung trug er seit Tagen am Körper. Vielleicht hatte er darin geschlafen.

Er bat die zwei Kripobeamten nicht in die Wohnung. Ann Kathrin vermutete, dass es im Haus nicht besonders sauber und aufgeräumt war. Befürchtete er vielleicht Ärger mit dem Jugendamt?

Weller übernahm die Vorstellung: »Mein Name ist Frank Weller, Hauptkommissar im K1 Aurich-Wittmund, das ist meine Kollegin Ann Kathrin Klaasen.«

»Mordkommission?!« Es war mehr eine Feststellung als eine Frage.

Ann Kathrin gab die Idee auf, Röttgen könne sie hineinbitten, denn er stemmte seinen rechten Fuß an der Tür quer und drückte den geöffneten Spalt ein Stückchen weiter zu, als habe er vor, sie gänzlich auszusperren.

»Es tut mir leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Ihre Frau heute Morgen tot …«

Röttgen ließ sie nicht weiterreden, sondern fuhr gleich dazwischen: »Die nackte Tote im Rapsfeld?« Er gab die Türöffnung frei und hielt die Hände wie zum Gebet zur Decke: »Bitte nicht! Bitte nicht die Nackte im Rapsfeld!«

Er stolperte voran ins Wohnzimmer. Ann Kathrin und Weller folgten ihm. Er stützte sich an einem Sideboard auf und dann an einer Sessellehne, als hätte er Angst zu stürzen. Er ließ sich aufs Sofa nieder und stöhnte: »Wie soll ich das meinen Kindern beibringen? Eine Mutter, die die Familie im Stich lässt, ist doch schon schlimm genug! Die Kinder sind traumatisiert. Aber eine nackte Leiche! Geschändet … Nein, das kann ich ihnen nicht zumuten!«

»Sie wurde nicht geschändet«, betonte Ann Kathrin scharf.

Weller sah sich im Zimmer um, während Ann Kathrin mit Herrn Röttgen sprach.

»Was tut diese Frau uns nur an?«, schrie Röttgen.

»Man hat ihr etwas angetan«, stellte Ann Kathrin klar.

»Woher wissen Sie von dem Mord im Rapsfeld?«, fragte Weller.

Peter Röttgen griff sich an den Kopf. »Schalten Sie mal Radio oder Fernsehen ein. Da ist das die Meldung des Tages. Die reden über gar nichts anderes mehr.«

Ann Kathrin überlegte kurz, ob sie ihm das Foto seiner toten Ehefrau zeigen sollte. Dann entschied sie sich spontan dagegen.

»War Ihre Frau religiös? In einer Sekte oder so?«

Röttgen staunte Ann Kathrin mit offenem Mund an. Er brauchte eine Weile für seine Antwort.

»Meine Frau und ich sind evangelisch. Keine eifrigen Kirchgänger, aber auch nicht ausgetreten. Obwohl ich manchmal – besonders in der letzten Zeit – sehr mit Kirche und Gott hadere. Aber … warum fragen Sie mich das?«

Ann Kathrin hielt das Foto weiterhin zurück. »Ihre Frau wurde von hinten erschossen. Der Täter hat sie dann aber wie zu einer Beerdigung oder Leichenschau aufgebahrt. Mit gefalteten Händen, darin eine Rose.«

Röttgen stöhnte. Er schwitzte. Die abgestandene Luft im Raum schien noch stickiger zu werden.

»Ich würde das meinen Kindern gerne ersparen. Solche Bilder kriegen die doch nie wieder aus dem Kopf. Können Sie verhindern, dass solche Fotos veröffentlicht werden? Überhaupt soll das am besten gar nicht kommuniziert werden.«

»Wir werden unser Bestes tun«, versprach Weller, »aber garantieren können wir gar nichts. Die sozialen Medien lassen sich von uns nicht ernsthaft kontrollieren …«

»Die Presse auch nicht.« Räumte Ann Kathrin ein. »Aber die ostfriesischen Zeitungen halten sich an Regeln und berichten seriös. Was bei bundesweitem Interesse passiert …« Sie zuckte mit den Schultern. Sie sprach nicht weiter. Sie war froh, ihm das Foto nicht gezeigt zu haben.

Weller fragte, ob er mal ein Fenster öffnen dürfe oder ob sie das Gespräch nicht auf der Terrasse fortsetzen könnten.

Röttgen verstand sofort. Er entschuldigte sich für die Unordnung und nannte sich selbst einen Einsiedlerkrebs.

Der Weg durchs Haus zur Terrasse glich einem Hindernislauf. Die Küchentür stand halb offen. Die Spüle und die Arbeitsplatte waren voll mit benutztem Geschirr, Pizzakartons und aufgehebelten Dosen. Es roch säuerlich nach faulen Essensresten.

Auf der Terrasse mit Blick auf die Harle fühlte Weller sich gleich besser. Im Garten spendeten hohe Schmetterlingsfliedersträucher Schatten, und ein sanfter Nordwestwind erfrischte die Schwitzenden. Zwei Schwäne und eine Entengruppe umkreisten den Steg und das Paddelboot, als seien sie gewöhnt, hier sonst gefüttert zu werden.

»Die Schwäne fressen meinen Mädels aus der Hand«, sagte Röttgen. Auch er wirkte hier draußen freier, ja intelligenter als drinnen.

»Meine Frau«, sagte Röttgen, »hat uns am siebten März verlassen. Keine Erklärung. Keine Nachricht. Nichts. Sie war einfach weg. Natürlich habe ich eine Vermisstenmeldung aufgegeben. Erst haben wir an einen Unfall geglaubt. Dann an eine Kurzschlusshandlung. Niemand hat sie seitdem gesehen. Wir haben nicht ein einziges Lebenszeichen erhalten. Können Sie sich vorstellen, was das für eine Familie bedeutet? Für Kinder? Freunde? Partner? Arbeitskollegen?« Er schüttelte den Kopf.

Weller und Ann Kathrin setzten sich ungebeten in die bequemen Korbsessel. Dann nahm auch Röttgen Platz. Er bot ihnen nichts zu trinken an, sprach selbst mit trockener Zunge und schluckte immer wieder. Zwischen seinen Worten schnappte er nach Luft, als hätte er vergessen zu atmen und müsse das nun widerwillig tun.

»Die erste Zeit war die schlimmste. All diese Verdächtigungen, Schuldzuweisungen. Mein Schwiegervater, der mich noch nie leiden konnte, glaubt natürlich, ich hätte etwas mit ihrem Verschwinden zu tun und würde die Wahrheit verschweigen.«

»Dieses Haus«, fragte Ann Kathrin, »gehört Ihnen gemeinsam?«

»Nein. Meiner Frau. Sie hat es von ihren Eltern. Die haben auf einem Ehevertrag bestanden. Falls Sie es genau wissen wollen: Ja, ihre Eltern sind nicht unvermögend. Dieses Haus hier und dann noch eins auf Wangerooge.« Er zeigte in die Richtung.

»Haben Sie eine Erklärung für die Geschehnisse?«, wollte Ann Kathrin wissen. Sie fand es wichtig, den Mann reden zu lassen. Hinterher würde sie dann alles sortieren.

Er wirkte, als hätte er ein großes Redebedürfnis. Das war bei den meisten Menschen so. Sogar bei den Tätern. Das Wissen um dieses Geheimnis hatte Ann Kathrin so manchen Ermittlungserfolg beschert.

Er klatschte in die Hände. »Ja. Habe ich. Ich bin doch nicht blöd. Sie hat ein Verhältnis mit ihrem Kollegen Eissing. Das läuft schon lange. Er hat sie damals in die Kanzlei geholt. Das war ein Riesending für sie und eine große Chance für uns. Alles schien ideal. Das Haus hier. Die gutgehende Kanzlei in Wittmund. Ich hatte eine Stelle an der Humboldt-IGS. Das Glück schien komplett. Wir wollten hier nicht weg. Die Kinder waren glücklich. Der Stress begann, als Eissing sich von seiner Ehefrau getrennt hat. Dem reichte die Affäre mit Angela dann vermutlich nicht mehr. Er wollte mehr und hat sie garantiert unter Druck gesetzt, sie sollte mir alles sagen und sich von der Familie trennen.«

Röttgen winkte angewidert ab. Er sprach, als sei das alles Realität, aber Ann Kathrin war sich nicht sicher, ob er über Vermutungen sprach oder über die Wirklichkeit.

Weller hätte zu gern um ein Glas Wasser gebeten, schwieg aber und stellte sich angesiffte Gläser vor, wie er sie im Vorbeigehen in der Küche gesehen hatte.

Er bat, die Toilette benutzen zu dürfen. Es war Herrn Röttgen sichtlich unangenehm. Er erklärte fahrig den Weg dorthin, verbunden mit der Feststellung: »Ich kann im Moment nicht gut Leute um mich haben. Selbst die Putzfrau ist mir zu viel. Ich bin erst mal krankgeschrieben. Reaktive Depression. Dienstuntauglich.«

Er sah Ann Kathrin an und erklärte: »Irgendetwas muss ja auf dem gelben Zettel stehen. Meine Kinder sind die meiste Zeit bei meiner Mutter. Ist auch besser so. Da gibt’s jetzt Riesenzoff mit den Schwiegereltern. Die wollen die Kinder zu sich holen. Das wird nun garantiert eskalieren. Der Streit ums Sorgerecht beginnt sofort, wetten?«

»Sie haben als Vater zunächst das Sorgerecht«, stellte Ann Kathrin klar.

Er lachte bitter: »Da kennen Sie meine Schwiegereltern schlecht. Die haben schon mehrfach beim Jugendamt interveniert. Mit denen ist nicht zu spaßen. Die projizieren ihre ganze Wut auf mich. Dabei hat ihre Tochter sie genauso verlassen wie uns alle. Wenn sie angeblich immer so ein gutes Verhältnis zu ihren Eltern hatte, wieso hat sie sich dann nicht wenigstens bei denen gemeldet?« Er sah Ann Kathrin an, als müsse sie die Antwort auf seine rhetorische Frage geben.

Ann Kathrin spielte den Ball sofort zurück: »Was glauben Sie? Warum hat sich Ihre Frau nicht bei ihren Eltern gemeldet?«

Er schwieg eine Weile. Dann kam sein Satz, schneidend wie ein Schwerthieb: »Weil sie verrückt war vor Liebe, die dusslige Kuh!«

»Aber bitte, ich denke, Herr Eissing hat eine Kanzlei in Wittmund. Wenn Ihre Frau bei ihm gewesen wäre, hätten Sie sie doch leicht finden können.«

Röttgen schüttelte die silbernen Haare. »Von wegen! Der feine Herr hat ein Feriendomizil in der Bretagne. Da ist er in jeder freien Minute. Dahin hat er sie mitgenommen. Da haben sie sich in ihrem Liebesnest erst mal so richtig ausgetobt und uns dann völlig vergessen.« Er verstummte. Sein Blick ging ins Nirgendwo. Jetzt wirkte er auf Ann Kathrin wie ein Mann, der sich längst von der Welt verabschiedet hat und nur noch auf eine günstige Gelegenheit wartet, um endgültig zu gehen.

Im Haus betätigte Weller die Spülung.

Zwei Enten watschelten an Land und beäugten Ann Kathrins Füße. Die Schwäne hielten majestätisch Abstand. Sie wirkten irgendwie beleidigt, fand Ann Kathrin.

»Aber der Liebesurlaub kann ja nicht ewig gedauert haben …«, betonte Ann Kathrin, um Röttgen wieder zum Reden zu bringen.

Er guckte versonnen auf den Fluss. »Stimmt. Meine Angela war ja immer so hin und her. Die Ambivalenz in Person. Sie konnte sich nie gut entscheiden. Im Restaurant beim Aussuchen der Speisen, das war ein Albtraum. Bis die weiß, welche Vorspeise sie möchte und ob überhaupt, sind die anderen längst beim Dessert.

Sie hat viele gute Gelegenheiten im Leben verpasst, weil sie zu lange gezögert hat. Das war in diesem Fall garantiert nicht anders. Mal hüh, mal hott. Und aus der Bretagne wollte sie uns bestimmt jeden Tag anrufen und hat dann doch kurz vorher Schiss bekommen. Schließlich hat es zwischen den beiden Krach gegeben. Garantiert!«, rief er überzeugt. »Dann hat er sie verlassen und ist alleine zurück nach Ostfriesland gekommen, in seine schöne Anwaltspraxis. Und meine Angela stand einsam vor dem Nichts und hat Angst gekriegt. Und – das ist typisch für sie – ein schlechtes Gewissen. Sie wusste nicht, wie sie uns die letzten vierzehn Tage erklären sollte und hat dann einfach gekniffen. Ja, verdammt! Aus Angst, zu sich und ihrer idiotischen Tat zu stehen, hat sie dann versucht, irgendwo ein neues Leben ohne uns alle anzufangen. Und jetzt ist sie tot.«

Er schwieg erneut. Er wirkte sehr gefasst, beinahe erleichtert auf Ann Kathrin.

»So erklären Sie sich das alles?«, fragte sie.

»Hm. Ich grüble den ganzen Tag herum und versuche, mir einen Reim auf die Dinge zu machen.«

»Sie suchen einen Sinn?«

»Nein. Ich suche Gründe. Erklärungen. Jeder Mensch versucht doch zu verstehen, was geschieht. Sie hat uns alle im Unklaren gelassen. Das war ein gemeiner, ja bösartiger Akt. Auch wenn sie es nicht so gemeint hat. Es war passiv-aggressiv. Und nun ist die Strafe für sie auf dem Fuß gefolgt. Sie ist tot. Ob Sie es glauben oder nicht, Frau Kommissarin, ich bin fast erleichtert. Wenn wir ein Grab haben, wissen wir wenigstens, wo sie ist.«

»Sie haben also keine Ahnung, wo Ihre Frau die letzten Wochen verbracht hat?«

Röttgen hob die Hände, als würde er in der Luft einen Halt suchen, dann ließ er sie wieder fallen, um anzudeuten, dass er nichts gefunden hatte, woran er sich festhalten konnte.

Ann Kathrin versuchte es erneut: »Gibt es Kontobewegungen? Abbuchungen? Hat sie ihre Kreditkarten benutzt?«

»Nein, Frau Kommissarin. Nichts dergleichen. Keine Ahnung, wie sie an Geld gekommen ist. Vielleicht hatte sie ein Konto, von dem ich nichts weiß … Ich schließe nichts mehr aus. Alle mir bekannten Konten zeigen seit ihrem Verschwinden jedenfalls keine Bewegung mehr.«

»Ihr Handy? Was ist mit ihrem Handy?

»Tot, seit dem siebten März, 9 Uhr 31. Die letzte SMS ging an unsere Tochter Rosa.« Er zitierte aus dem Kopf: »Lust auf selbstgemachte Pizza heute Abend? Rosa kocht gerne. Daraus wurde aber nichts. Dieses Abendessen fand nicht mehr statt.«

Weller kam aus dem Haus. »Wann ist es je Ende Mai so warm gewesen?«, fragte er.

Sie fuhren an einem Baggersee vorbei, und Weller war mulmig zumute. Ann Kathrin ahnte sofort, worum es ging.

»Du musst nicht mit reingehen. Du kannst draußen bleiben, wenn du willst, und ich befrage Harm Eissing alleine.«

Weller schluckte. Er hielt beide Hände fest am Lenkrad, als müsse er sich daran festhalten. »Es ist ja nur wegen …«

Er sprach es nicht aus, und es war auch nicht nötig.

»Ich weiß«, sagte Ann Kathrin. »Der ganze Scheidungsstress kommt wieder hoch in dir. Du bist blass um die Nase, deine Lippen werden schmal, und mein sonst so gelassener, fröhlicher Frank wirkt völlig verkrampft.«

»Wenn ich mich Wittmund nähere, wird mir schon schlecht. Und diese Anwaltskanzlei wollte ich eigentlich nie wieder im Leben betreten.«

Ann Kathrin versuchte, ihn aufzuheitern: »Wittmund kann nichts dafür, Frank. Die Stadt hat eine ziemliche Lebensqualität. Sie ist dünn besiedelt. Hier hat man Platz.«

»Ich weiß, ich weiß. Aber sobald ich an Wittmund denke, denke ich auch an …«, schwer löste er die Linke vom Lenkrad, ballte sie zur Faust und schlug dann dagegen, »denke ich an meine Scheidung und diesen ganzen erbärmlichen Psychokrieg. Wenn deine Frau die ganze Zeit mit anderen rummacht, fühlst du dich wirklich wie der letzte Versager. Manchmal, wenn mich auf der Straße, oder schlimmer noch, beim Verhör einer blöd angegrinst hat, so als wisse er etwas, das ich nicht weiß, und fühlt sich mir deswegen überlegen, dann hätte ich ihm am liebsten eine reingesemmelt, weil ich dachte, der hatte bestimmt auch was mit deiner Frau, und jetzt grinst der dich frech an, weil du Blödmann mal wieder keine Ahnung hattest.«

»Einigen hast du auch eine reingesemmelt«, stellte Ann Kathrin klar.

Weller brummte. »Ja. Zu Recht …«

»Aber du hast in Wittmund auch tolle Sachen erlebt, Frank.«

»So? Was denn?«

»Weißt du noch, als wir den Skulpturengarten hier besucht haben? Ein Regenguss hatte die Leute vertrieben, und im Schutz der Kunstwerke haben wir uns geküsst und …«

Noch einmal löste Weller eine Hand vom Lenkrad und kratzte sich am Hals. »Ja, und ich hätte dir beinahe einen Heiratsantrag gemacht. Oh, ich wollte das so gerne! Ich dachte, toller geht’s doch nicht, hier, zwischen den Kunstwerken. Ich weiß doch, wie du auf so was stehst. Aber dann … dann habe ich wieder an Renate gedacht und wie schief das alles gelaufen ist und dass ich ein beziehungsunfähiger Versager bin. Ja, genau so hat sie mich genannt! Und ich hatte Angst, dass alles auch mit dir wieder in einer Katastrophe endet und dann …«

Sie legte ihre linke Hand auf seinen rechten Unterarm, um ihn zu beruhigen. Er fuhr inzwischen sechsundachtzig Stundenkilometer, fünfzig waren hier nur erlaubt. Es war, als würde er versuchen, vor etwas zu fliehen, und müsse deswegen Gas geben.

»Jetzt sind wir aber schon ein paar Jahre verheiratet, Frank.«

»Ja«, stöhnte er, »weil du mir den Heiratsantrag gemacht hast. Ich hätte es nie hingekriegt. Damals im Uplengener Moor …«

»Jedenfalls sind wir jetzt verheiratet. Und wenn vielleicht auch nicht alles so rundläuft wie in den Kitschromanen und nicht jedes Mal Geigen erklingen, wenn wir uns anschauen, so musst du dir wenigstens keine Sorgen machen, dass deine Frau ständig mit anderen Typen ins Bett steigt. Das ist echt so gar nicht mein Ding, obwohl ich es schön fände, wenn wir uns mal wieder ein bisschen mehr Zeit füreinander nehmen würden …«

Er sah sie erschrocken an und achtete überhaupt nicht mehr auf die Fahrbahn.

»Frank!«, ermahnte sie ihn. »Soll ich vielleicht besser fahren?«

»Nein, nein, schon gut. Es war nur gerade so, als hätte mich dieser Röttgen zurück in vergangene Zeiten katapultiert. Irgendwie ahne ich, wie der sich fühlt. Meine Renate war damals auch manchmal nachts verschwunden. Aber ich habe keine Vermisstenmeldungen aufgegeben. Ich habe mich nur geärgert und geniert …«

Weller parkte direkt vor der Anwaltskanzlei, zwischen einem weißen Mercedes und einem schwarzen Porsche Targa. Die Sonne ließ die Autos glänzen.

Ann Kathrin sah lieber zu den Klinkerhäusern. Viele Gebäude hatten hier dunkle rötlichbraune Klinker. In Norden, wo Ann Kathrin wohnte, waren hellere Backsteine beliebter.

Weller stand vor dem Auto, hob die Arme, reckte sich und bog seinen Rücken durch, als hätte er eine stundenlange Fahrt hinter sich.

»Ich geh alleine rein«, sagte Ann Kathrin.

Weller nickte, schüttelte dann aber den Kopf. »Ach was, ich gehe mit. Mir geht es schon wieder gut. Ich bin hier einfach nur schon zu weit vom Meer entfernt.«

Sie lachte. »Frank, wir sind hier keine zehn Kilometer vom …«

»Eben. Sag ich doch. Viel zu weit weg vom Meer. Mir wird dann immer gleich ganz eng.«

Er griff mit beiden Händen in den Kragen, als hätte er Angst, das Hemd könne sich um seinen Hals zuziehen und ihn würgen. Er reckte den Kopf nach oben. »So. Komm rein, bringen wir es hinter uns.«

Harm Eissing hatte hinter seinem Schreibtisch eine ganze Wand mit Gesetzestexten. Dicke, prachtvolle, in Leder gebundene Bücher, aber auch Ringbuchsammlungen. Er schlug nie darin nach, das alles war im Internet viel besser zugänglich. Da konnte er sich Textbausteine holen und daraus seine Briefe zusammensetzen. Aber den Klienten gegenüber eröffnete so eine Wand den Eindruck von Wissen und Seriosität. Es waren sozusagen die Insignien der Macht, wie ein Doktortitel und geprägtes Briefpapier auf Bütten, obwohl praktisch der gesamte Schriftverkehr per E-Mail abgewickelt wurde.

Ganz anders als in Peter Röttgens Haus war hier alles an seinem Platz. Fast ein bisschen zu sauber und aufgeräumt, so dass die Räume ungenutzt, ja wie Ausstellungsflächen wirkten, bevor die ersten Besucher da waren.

Trotzdem roch es nach nassem Tierfell. Den Schäferhund, der halb hinter, halb unter dem Schreibtisch lag, sah Weller zunächst nicht und erschreckte sich dann, als das Tier sich plötzlich aufrichtete.

Weller fühlte sich so unwohl, dass er in der Nähe der Tür stehen blieb, als müsse er jederzeit für Ann Kathrins Rückzugsmöglichkeit sorgen.

Dr. Harm Eissing sah aus wie das Gegenteil von Peter Röttgen. Er war sehr korrekt gekleidet, für Ann Kathrins Geschmack sogar ein bisschen too much. Blütenweißes Hemd mit gestärktem Haifischkragen, akkurat gebundene Krawatte mit doppeltem Windsor-Knoten, darauf feine goldene Ankerhaken. Ein sanfter Hinweis darauf, dass er Segler war.

Sein Boot lag in Greetsiel, wie ein großes Foto an der Wand unschwer erkennen ließ.

Kaum hatte Ann Kathrin den Grund ihres Kommens genannt, wirkte Dr. Eissing mehr erleichtert als erschrocken. Er war fünfzehn, möglicherweise zwanzig Jahre älter als Röttgen, schien ihm aber an Fitness weit überlegen zu sein. Im Gesicht und an den Händen diese typische Segelbräune, wirkte er drahtig, sportlich, durchtrainiert. Kein Gramm Fett zu viel.

Der Haarschnitt kurz. Vermutlich ging er jede Woche einmal zum Friseur. Dominantes Kinn, scharfe Gesichtskonturen. Glattrasiert.

Er trug eine goldene Rolex, die zur Hälfte unter seiner Manschette hervorlugte und, was Ann Kathrin schon lange nicht mehr gesehen hatte, ein Mann, der Manschettenknöpfe trug, farblich genau abgestimmt auf die Uhr. Und wenn die Rolex da eine Fälschung war, dann war es eine gute.

Wenn Angela Röttgen sich in diesen Mann verliebt hatte, so bekam Ann Kathrin jetzt ein Bild von ihr.

Mochte sie dieses Dominante an ihm? Oder verbarg sich hinter dieser sauberen und glatten Fassade etwas ganz anderes?

»Sie können sich nicht vorstellen«, sagte er, »was das bedeutet, wenn so ein Mensch einfach verschwindet. Von heute auf morgen. Ohne jede Erklärung und ohne dass Sie eine Ahnung haben, ob dieser Mensch jemals wiederkommen wird und wenn ja, wann.«

»Nein«, sagte Weller von der Wand aus, »das können wir in der Tat nicht. Wie war es denn für Sie?«

Dr. Eissing lehnte sich in seinem hochmodern geformten Lederchefsessel zurück. Der Sessel ging mit jeder Bewegung mit, woraus Weller folgerte, dass er vor sich einen Mann sitzen hatte, für den das Problem Rückenschmerzen trotz allen Sports kein Fremdwort war. Er versuchte, sich mit ergodynamischen Möbelstücken Erleichterung zu verschaffen.

Eissing atmete aus. Obwohl Weller gefragt hatte, sah er Ann Kathrin, die ihm gegenüber auf einem bequemen Besucherstuhl saß, bei seiner Antwort an. Er zeigte mit der Hand zur Wand. »Da nebenan hat sie ihr Büro. Sie hat Kunden. Sie gehört zu meiner Kanzlei. Die kommen. Die stellen Fragen. Gerichtliche Geschichten haben immer mit Terminen zu tun. Wenn man die nicht wahrnimmt, dann …«

Er winkte ab, als hätte er keine Lust, noch mehr zu erklären und als sei es auch nicht nötig. Dann fuhr er fort: »Wir teilen uns eine Sekretärin. Die stellt natürlich auch Fragen. Ich habe eine ganze Weile doppelt so viel gearbeitet, versucht, ihre Fälle mit zu übernehmen. Die Leute wollen aber Erklärungen, fragen sich, was das soll. Außerdem bin ich kein Fachmann für Familienrecht. Plötzlich habe ich es mit diesem ganzen Scheidungsmist zu tun, und das ist genau das, was ich nie wollte. Deswegen führe ich diese Kanzlei ja nicht alleine. Heutzutage ist alles sehr spezialisiert, und mit so viel Wut muss man erst mal umgehen können. Dauernd sitzen heulende Frauen vor mir, die von ihren Männern fertiggemacht wurden, dann kommen wieder welche, die nur voller Wut und Hass sind und von mir erwarten, dass ich einen Rachefeldzug führe. Da ist mir Baurecht lieber! Wenn Sie Ärger mit einem Architekten haben, dann können wir Gutachter bestellen und …« Wieder winkte er ab, wirkte aber, als wolle er gleich weitersprechen.

Ann Kathrin und Weller sahen ihn nur an.

»Wir hängen jetzt praktisch seit Anfang März durch. Gleichzeitig laufen ja die Kosten weiter. Jetzt kann ich wenigstens eine neue Kollegin einstellen. Oder ihr eine Partnerschaft anbieten. Jetzt kann ich Lösungen finden. Ich hätte mich das doch vorher nicht getraut.«

Seine Gesichtszüge fuhren gegeneinander. Er machte, wenn auch nur für Sekunden, einen verzweifelten Eindruck.

»Wenn ich einfach eine Vertretung hierhergeholt hätte«, er wehrte ab, »wobei das so einfach gar nicht ist, wäre ich mir vorgekommen, als hätte ich sie für tot erklären lassen, verstehen Sie? Wer will das denn tun? Irgendwann muss man doch sagen, so, jetzt ist es vorbei, wir machen ohne diesen Menschen weiter. Aber das ist ein verdammt schwerer Schritt. Keiner will den als Erster gehen. Der Ehemann hat ja im Grunde auch nichts getan, der hat sich in sein Schneckenhaus zurückgezogen und den Dingen ihren Lauf gelassen. Das ist so ein – verzeihen Sie den Ausdruck – Schluffi. Jedenfalls keine Kämpfernatur!«

Ann Kathrin fragte frei heraus: »Hatten Sie ein Verhältnis mit Angela Röttgen?«

Er sah sie mit breitem Grinsen an.

»Ihr Lächeln ist keine Antwort.«

Eissing fragte: »Hat Ihnen das ihr Mann erzählt?«

»Ich habe Sie gefragt.«

Er rollte mit den Augen. »Seit ich von meiner Frau getrennt bin – in der Scheidung hat mich übrigens Angela vertreten –, habe ich den Ruf, alle Frauen flachzulegen, die bei drei nicht auf dem Baum sind. Entschuldigen Sie den Ausdruck, Frau Kommissarin.«

Ann Kathrin ließ sich nicht ablenken. »Ich habe Ihnen eine konkrete Frage gestellt. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie sie konkret beantworten würden. Hatten Sie ein Verhältnis mit Angela Röttgen?«

»Selbst wenn dem so wäre, ist das ja kaum eine strafbare Handlung. Aber um es Ihnen ganz konkret zu sagen – nein, das hatte ich nicht. Weder mit ihr noch mit meiner Schreibkraft, die, wie Sie vielleicht schon bemerkt haben, äußerst attraktiv ist. Auch mit ihr dichtet man mir ständig etwas an. Aber ich trenne Privates und Berufliches sehr strikt. Glauben Sie mir«, jetzt sah er zu Weller und zeigte mit dem Finger auf ihn, »das ist ein kluges Prinzip. Ich genieße mein Leben als Junggeselle im Moment sehr. Ich habe ein Segelboot und …«

Weller fragte sich, ob Harm Eissing wusste, dass er und Ann Kathrin ein Paar waren und ob sich seine Anspielung darauf bezog. Weller ärgerte sich darüber, dass er im Moment so empfindlich war. Vor ihm saß doch nur ein Zeuge, möglicherweise ein Verdächtiger. Was der über ihn dachte, konnte ihm doch völlig egal sein. Es kam darauf an, was er, Frank Weller, über Harm Eissing dachte, nicht umgekehrt.

Ann Kathrin stellte die Frage wie einen Vorwurf: »Sie haben eine Ferienwohnung in der Bretagne?«

Eissings Blick veränderte sich sofort. Er bekam etwas Schwärmerisches.

»Keine Ferienwohnung. Ein Haus. Pouldu, direkt am Atlantik, bei Port Belon – daher kommen die berühmten Austern. Ein wunderschönes Gebäude aus dem 19. Jahrhundert. Ein riesiger, offener Kamin mit Blick aufs Meer. Sie können abends hinter sich das Feuer knistern hören und vor sich diese gewaltigen Wellen, diese Gischt. Das ist noch mal ganz anders als hier in Ostfriesland.«

Weller zeigte auf ein Foto, das gegenüber von dem Segelschiff hing. »Das da?«

Eissing schwellte stolz die Brust.

»Und? Hat Angela Röttgen Ihr Haus dort gefallen?«

Er grinste. »Netter Versuch. Sie wollen mich reinlegen, was? Aber mit so plumpen Tricks scheitern Sie doch bei jedem, der seinen Hauptschulabschluss nachgemacht hat, oder?«

Ann Kathrin hielt seinem Blick stand und ließ sich nicht provozieren.

»Sie ist nie dort gewesen. Ich habe sie auch nicht dorthin eingeladen. Wie gesagt, Berufliches und Privates trenne ich. Wie Sie sehen, ein cleverer Schachzug.«

Wieder zeigte er auf Weller, und es kam Weller vor, als würde dieser Mann ihm vorschlagen, er solle entweder bei der Kripo kündigen oder sich von Ann Kathrin scheiden lassen.

Weller spürte, dass er sauer auf den Mann wurde und Lust hatte, Streit mit ihm anzufangen. Ann Kathrin wäre damit sicherlich nicht einverstanden, weil es diese Befragung empfindlich stören würde. Also schwieg Weller und aaste mit den Zähnen die Innenseite seiner Wangen ab. Das hatte er als Kind manchmal gemacht, wenn er vor seinem tobenden Vater stand und gar nicht weiterwusste.

Er wollte jetzt nicht in dieses Verhalten zurückfallen. Er stoppte es sehr bewusst und glättete mit der Zunge die Stelle von innen.

Der Schäferhund beschnüffelte Ann Kathrins Knie. Sie streichelte ihn. Er ließ sich gern von ihr hinterm Ohr kraulen. Sie schaute Eissing ins Gesicht. »Wo waren Sie, als Frau Röttgen verschwand?«

Eissing antwortete, ohne nachzudenken: »Am Morgen des siebten März war ich in ebendiesem schönen Haus in der Bretagne. Ich hatte vor, bis zum Ende des Monats zu bleiben. Der März am Atlantik. Ein Traum, sage ich Ihnen!«

»Gibt es dafür Zeugen?«

Er lehnte sich zurück und lachte. »Na klar. Der Bäcker. Der Wirt in meinem Stammlokal. Der Weinhändler. Ich kann Ihnen gerne eine Liste machen. Die bestätigen Ihnen sofort, dass ich … Warten Sie … Ich bin am dritten März hingefahren …«

»Waren Sie alleine dort?«

Er verschränkte die Arme vor der Brust. »Der Gentleman genießt und schweigt.«

»Wir sind hier nicht in einem B-Movie«, giftete Ann Kathrin Klaasen.

Er stützte jetzt die Hände auf den Schreibtisch auf und beugte sich weit vor: »Gute Frau Kommissarin. Ich habe einen anstrengenden, aufreibenden Job. Ich mache den nicht aus Leidenschaft und auch nicht aus Menschenfreundlichkeit. Ich will die Welt nicht verbessern. Ich will dieses Land nicht retten. Ich will einfach nur noch eine schöne Zeit haben und mein Auskommen genießen. Verstehen Sie das? Ich bin gerne ein wenig alleine. Ich fische, schaue aufs Meer, trinke Rotwein, und ich liebe Austern. Glauben Sie mir, eine bessere Ecke, um diesen Hobbys zu frönen, gibt es kaum. Und ja, ich hatte dort weiblichen Besuch. So ein Ferienhaus ist sehr attraktiv, und ich wirke auch nicht gerade abschreckend aufs weibliche Geschlecht, wie Sie ja vermutlich schon selbst festgestellt haben.«

Weller begriff, dass er einen Typen vor sich hatte, den Rupert gerne in die Kategorie »eitler Fatzke« einordnete.

Je schöner der Pfau sein Rad schlägt, umso besser kann man sein Arschloch sehen, dachte Weller. Er registrierte, dass er den professionellen Blick verlor. Er hätte es gut gefunden, wenn sie noch heute in der Lage gewesen wären, Harm Eissing als Mörder zu überführen. Nur zu gern hätte er ihn jetzt mitgenommen und über dem Feuer gegrillt.

»Die Dame, die mich besucht hat«, fuhr Eissing großspurig fort, »ist selbstverständlich bereits volljährig, und deshalb dürfte es Sie nicht interessieren, was wir dort miteinander gemacht haben. Wer mit wem schläft, sage ich immer gern, das geht keinen etwas an. Sie ist verheiratet und hat Kinder und denkt nicht im Traum daran, ihren Mann zu verlassen.

Sehen Sie, genau das macht diese Frau für mich so attraktiv. Wir können ein bisschen Spaß miteinander haben, und das war’s. Ich muss noch nicht mal, wenn sie Geburtstag hat, mit einem Strauß Blumen erscheinen, denn dann würde ja ihr Mann Verdacht schöpfen. Ist es nicht schön, für alles in der Welt gibt es eine Lösung. Ich werde mich nie wieder auf eine tiefere Bindung einlassen. Aber ich will ein bisschen Spaß haben. Sie ist eine wunderbare Frau. Ich werde Ihnen ihren Namen nicht verraten, denn ich will ihr Glück nicht zerstören. Warum auch?

Ich bin nicht bis Ende März geblieben, wie Sie sich denken können, denn wir können es uns nicht leisten, hier gleichzeitig Urlaub zu machen. Angela war ja meine Vertretung und ich ihre, wenn Sie so wollen. Ein paar Tage geschah hier gar nichts. Sie können sich ja mal mit meiner Sekretärin unterhalten, was das für die bedeutet hat. Wie lange sie hinter Angela her telefoniert hat. Dann musste ich schließlich zurück. Es standen ein paar Terminsachen an. Scheidungsfälle, in die ich mich nicht eingearbeitet hatte. Und, glauben Sie mir, das Ganze steht mir bis hier!«

Er zeigte mit der Handfläche auf seine Unterlippe.

»Ich bin sauwütend auf Angela. Man soll ja nicht schlecht über Tote reden, aber ich habe mich wirklich von ihr hängengelassen gefühlt.«

Ann Kathrin strich ihre Kleidung glatt. In Eissings Gegenwart kam sie sich irgendwie schmuddelig angezogen vor. »Können Sie sich vorstellen, wo sie war? Haben Sie irgendeine Vermutung, was mit ihr geschehen ist? Wissen Sie, ob sie ein Verhältnis hatte? Mit einem anderen Mann? Es wäre denkbar, dass sie …«

»Wir sind ein-, zweimal privat zusammen essen gegangen. Hier in aller Öffentlichkeit. Ihr Mann ist schrecklich eifersüchtig. Wahrscheinlich steckt er voller Minderwertigkeitskomplexe. Ich weiß wenig über ihr Privatleben. Von irgendwelchen Affären weiß ich gar nichts. Ich hatte von ihr eher den Eindruck, dass sie eine ganz traditionelle Ehe führte und damit auch recht glücklich war.«

Ann Kathrin stand auf. Im Hinausgehen fragte sie: »Haben Sie das Ferienhaus mal an Frau Röttgen vermietet? War sie vielleicht mit ihrer Familie dort?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich vermiete nicht. Das ist mein Refugium. Ich muss damit kein Geld verdienen. Es ist nur für mich da. Ich würde den Gedanken nicht ertragen, dass sich andere Leute in meinen Betten wälzen, aus meinen Gläsern trinken und sich mit Weinen aus meinem Keller eine Bowle machen.«

Eissing stand nun ebenfalls auf und begleitete die beiden zur Tür. Ann Kathrin gab ihm die Hand und verabschiedete sich, Weller nicht.

Unten vor dem Wagen sagte Weller: »Ich weiß ja nicht, wie es dir geht, aber ich mag den Typen nicht.«

Ann Kathrin lächelte süffisant. »Gut, dass du es sagst. Wäre mir sonst gar nicht aufgefallen, so freundlich, wie du ihm gegenübergetreten bist …«

Im Auto fragte Weller: »Glaubst du ihm?«

»Glauben? Wir sind doch hier nicht in der Kirche. Wir werden seine Angaben überprüfen.«

»Ja, eine Dienstreise in die Bretagne, das ist genau Ruperts Ding. Der wird vor Freude quieken«, orakelte Weller.

»Das wird nicht nötig werden. Unser werter Kollege, Kommissar Georges Dupin vom Commissariat de Police Concarneau, wird uns sicherlich gern behilflich sein. Wenn Angela Röttgen nie in dem Haus war, wird es dort von ihr auch keine DNA-Spuren geben.«

Weller freute sich: »Und wenn sie doch welche finden, gerät Eissing in Erklärungsschwierigkeiten.« Er rieb sich die Hände.

Er war unzufrieden mit sich. Es war so ziemlich alles schiefgelaufen. Er hatte Angela eine Schrotladung verpasst und diesem blöden Typen aus dem Ruhrgebiet ebenfalls.

Sie hatte alles kaputtgemacht! Alles!

Wie stand er jetzt da? Er fühlte sich hereingelegt. Betrogen. Dieser Vorfall hatte seine Sammlung zerstört. Seine Planung durcheinandergebracht.

Er kam sich vor wie ein Versager. Er hatte alles so schön geplant. Und jetzt das!

Einen Moment lang war er so wütend gewesen, dass er kurz davor war, auch Maike zu erschießen, um das ganze Experiment abzubrechen. Die Versuchsanordnung war gestört worden.

Maike lebte noch. Sie fragte sogar, wo denn die andere sei. Sie sagte nie Angela. Sie sagte immer die andere.

Ich werde nicht aufgeben, dachte er. Jetzt erst recht nicht. Ich werde mir eine neue holen. Sofort.

Er hatte noch einige Kandidatinnen auf der Liste. Alleine drei aus Norden und Norddeich. Zwei aus Aurich. Eine aus Wiesmoor. Und dann eine lange Liste aus dem Ruhrgebiet. Aber das war ihm zu weit. Sie mussten schon hier hochkommen. Zu ihm. In sein Spinnennetz.

Er entschied sich, es dem Zufall zu überlassen. In Norden in der Fußgängerzone wurde heute ein Piratenfest gefeiert.

Wahrscheinlich wollt ihr Touristen anlocken, dachte er. Aber er liebte diese Feste in der Norder Innenstadt. Piraten-, Wein-, Bierfeste. Er war gern trinkfest und sangesfreudig mit dabei.

Wenn ich es dem Zufall überlasse, hat es etwas Göttliches, dachte er. Ich nehme die, die das Schicksal mir in die Hände spielt. Natürlich nur eine von der Liste. Denn sie musste alle Voraussetzungen erfüllen.

Wenn eine von denen beim Piratenfest auftaucht, so werde ich diesen Wink des Himmels verstehen. Dann ist sie auserkoren.

Er sah auf die Uhr. Zwanzig Uhr. Tagesschauzeit in Deutschland. Die Ersten würden in der Osterstraße bereits an den Würstchenbuden und Bierständen herumlungern.

Er freute sich. Er kam sich vor wie ein Wolf, der sich langsam und zielsicher einer Schafherde näherte, um eins von ihnen zu reißen.

Diese Grillwürstchen waren so gut, dass Rupert mühelos ein drittes verspeiste. Er bestellte es mit viel Senf. Wenn sich die Frau aus der Imbissbude zu ihm vorbeugte und sich ihr fettbespritzter Kittel tief auswölbte, wusste Rupert nicht mehr, wen er lieber vernascht hätte: die junge Aushilfskraft oder dieses Grillwürstchen.

Der Tag lief bis jetzt prima für ihn. Seine Beate war mit ihren esoterischen Freunden zu einem Reiki-Wochenende gefahren. Rupert nannte das »Streichelseminar«. Der gewaltige Frauenüberschuss dabei reizte ihn zwar in gewisser Weise, aber er passte besser auf ein Piratenfest als in ein Reiki-Seminar, fand er.

Er war mit dem Fahrrad gekommen, denn angeblich wurden hier heute zweiundzwanzig verschiedene Biersorten ausgeschenkt, und er hatte nicht vor, eine davon auszulassen.

Neben ihm stand der Maurer Peter Grendel und wunderte sich darüber, dass ein Biobier so gut schmeckte …