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Der dreizehnte Band der Ostfriesenkrimi-Serie von Nummer 1-Bestseller-Autor Klaus-Peter Wolf und ein ganz spezieller Fall für Ann Kathrin Klaasen Er ist lichtscheu, und er ist böse. Er hat sich Ostfriesland als neues Jagdrevier auserkoren. "Das war sein erster Fehler!", sagt Ann Kathrin Klaasen. "Wenn er jetzt noch einen begeht...." Ein Mörder geht um in Ostfriesland. Einer, der Frauen in Ferienwohnungen tötet. Genau dort, wo sie sich am sichersten fühlen. Was verbindet diese Frauen? Haben die Morde etwas damit zu tun, dass alle Frauen ein Tattoo trugen? Im dreizehnten Fall jagt Ann Kathrin Klaasen nicht nur einen psychopathischen Mörder, sondern sie versucht auch, ihren Mann Frank Weller vor einem Desaster zu bewahren. Und zu allem Überfluss mischt sich auch noch das BKA ein.
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Klaus-Peter Wolf
Kriminalroman
Der dreizehnte Band der Ostfriesenkrimi-Serie von Nummer-1-Bestseller-Autor Klaus-Peter Wolf führt Frank Weller in eine lebensgefährliche Ausnahmesituation.
Ein Mörder geht um in Ostfriesland. Einer, der Frauen in Ferienwohnungen tötet. Genau dort, wo sie sich am sichersten fühlen. Was verbindet diese Frauen? Haben die Morde etwas damit zu tun, dass alle Frauen ein Tattoo trugen?
Der neue Fall bringt Ann Kathrin Klaasen an ihre Grenze: Beruflich jagt sie einen Serienkiller, privat versucht sie, ihren Mann Frank Weller vor einem Desaster zu bewahren. Und zu allem Überfluss mischt sich auch noch das BKA ein. Nur gut, wenn man echte Freunde hat.
»Klaus-Peter Wolf kennt mittlerweile nur noch eine Richtung, mit der seine Bücher auf Bestsellerlisten einsteigen: von oben.«
Oliver Schwambach, Saarbrücker Zeitung
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Klaus-Peter Wolf, 1954 in Gelsenkirchen geboren, lebt als freier Schriftsteller in der ostfriesischen Stadt Norden, im selben Viertel wie seine Kommissarin Ann Kathrin Klaasen. Wie sie ist er nach langen Jahren im Ruhrgebiet, im Westerwald und in Köln an die Küste gezogen und Wahl-Ostfriese geworden. Seine Bücher und Filme wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Bislang sind seine Bücher in 26 Sprachen übersetzt und über zwölf Millionen Mal verkauft worden. Mehr als 60 seiner Drehbücher wurden verfilmt, darunter viele für »Tatort« und »Polizeiruf 110«. Der Autor ist Mitglied im PEN-Zentrum Deutschland. Die Romane seiner Serie mit Hauptkommissarin Ann Kathrin Klaasen stehen regelmäßig mehrere Wochen auf Platz 1 der Spiegel-Bestsellerliste, derzeit werden einige Bücher der Serie prominent fürs ZDF verfilmt und begeistern Millionen von Zuschauern.
Besuchen Sie auch die websites des Autors:
www.klauspeterwolf.de
www.ostfrieslandkrimis.de
[Motti]
Sie hatten sich schon [...]
Weller hörte Männerstimmen. Jemand [...]
Ann Kathrin hatte bereits [...]
Jule hatte sich entschieden, [...]
Rupert hatte vorsichtshalber ein [...]
Zwanzig Minuten später stand [...]
Büscher ahnte sofort, was [...]
Leseprobe Ostfriesenhölle
Am zweiten Ferientag geriet [...]
Interview mit Klaus-Peter Wolf
»Das schlechte Wetter ist immer woanders. Wir in Ostfriesland haben nur schönes Wetter. Mal regnet es schön, mal scheint schön die Sonne. Und immer ist es schön windig.«
Hauptkommissarin Ann Kathrin Klaasen, Kripo Aurich
»Solange die Pfützen nicht zufrieren, ist Sommer!«
Hauptkommissar Rupert, Kripo Aurich
Sie hatten sich schon oft gestritten, aber so heftig noch nie. Mein Gott, was hatte sie ihm alles an den Kopf geworfen?! Erschrocken über ihren eigenen Mut, staunte sie über sich selbst.
Sabine Ziegler war das Leben mit diesem Choleriker leid. Sie hatte ihn tatsächlich rausgeschmissen, und er war völlig perplex von einem Bein aufs andere hüpfend in seine Jeans geschlüpft und hatte die Ferienwohnung fluchtartig verlassen. Barfuß, in T-Shirt und Jeans. Auf dem weißen T-Shirt war in Brusthöhe ein roter Fleck von den Spaghetti mit Tomatensoße und Flusskrebsschwänzen, die sie gekocht hatte.
Jetzt lag sie frierend im Bett und rieb ihre Füße gegeneinander. Sie fragte sich, ob das alles wirklich so gewesen war – oder hatte sie es nur geträumt?
Sie tastete im Dunkeln neben sich. Da war niemand.
Sie grinste, und Stolz keimte auf. Sie war tatsächlich im Nachthemd auf den Balkon gestürmt und hatte seine Sachen nach unten geworfen. Zuerst die Schuhe, dann seinen Reisekoffer mit den Hemden drin, schließlich eine Hose und dann den Roman. Schitt häppens von Herbert Knorr. Ein Hardcover.
Sie hoffte, ihn damit am Kopf zu treffen, und sie hatte Glück gehabt. Er bückte sich nach den Schuhen, sah hoch und zack, krachte die Ruhrgebietsgroteske mit der Breitseite auf seine Nase.
Er jaulte.
Sie rief: »Schitt häppens! Du Arsch!«
Er betastete wehleidig sein Gesicht, und sie spottete: »Da bekommt das Wort Facebook doch mal eine ganz neue Bedeutung, was?!«
Sie griff den Schlüsselbund, der auf dem Tisch der Ferienwohnung lag und pfefferte ihn auch in Florians Richtung. Es tat ihr sofort leid, denn daran hing nicht nur der Autoschlüssel, sondern auch ihr Wohnungsschlüssel. Und zumindest in diesem Moment hatte sie nicht vor, ihn weiter bei sich wohnen zu lassen.
Sie hätte ihm gern noch mehr hinterhergeschleudert, es waren noch genug Sachen von ihm da. Ein Kulturbeutel im Badezimmer mit dieser brummenden Zahnbürste und dem Angeber-Rasierwasser, das angeblich irgendwelche Pheromone enthielt, die Frauen paarungswillig machen sollten, wie die Werbung suggerierte. In der Tat war es ein Wohlgeruch aus Myrrhe, Sandelholz und Kokos mit einem Hauch von Weihrauch.
Er konnte allerdings damit nicht richtig umgehen. Sie wusste immer, wann er scharf auf sie war, und das machte sie sauer. Wenn er Sex wollte, benutzte er einfach zu viel davon.
Sie mochte den Duft in einer kaum wahrnehmbaren Intensität, als eine Ahnung von etwas Angenehmem. Auch die schönsten Gerüche konnten aufdringlich werden und in ihr geradezu Fluchtreaktionen auslösen.
Er schaffte es manchmal, sein Rasierwasser mit dem Eau de Toilette zu kombinieren, das sie ihm geschenkt hatte. Die angeblich aphrodisierende Wirkung von Maninka und Passionsfrucht lösten aber in der Heftigkeit einen Brechreiz in ihr aus. So erreichte er genau das Gegenteil von dem, was er wollte. Sie zog sich zurück, statt wuschig zu werden. Das frustrierte ihn, und er benutzte noch mehr Parfüm, womit alles für sie unmöglich wurde. Sie konnte ihn dann im wahrsten Sinne des Wortes nicht mehr riechen, war aber kaum in der Lage, es ihm zu sagen.
Im Laufe der Zeit war sie vorsichtig geworden. Choleriker sollte man nicht zu oft frustrieren, wenn man einen schönen Urlaub haben wollte. Sie gestand es sich ein, jetzt, hier in der einsamen Ferienwohnung, war sie immer noch wütend auf ihn, aber gleichzeitig wünschte sie ihn auch zurück. Diese ewige Ambivalenz!
Er hatte ja auch ganz andere, gute Seiten. Konnte ein zärtlicher Liebhaber sein, ein witziger Gesprächspartner und ein loyaler Freund. Sie mochte seine Stimme, samtweich und mit einem dunklen Kratzen bei den tiefen Tönen.
Seine Wildlederjacke hing noch im Flur am Garderobenständer. Darin, immer in der rechten Tasche, sein Schlüssel für die Ferienwohnung. Ja, er war in solchen Sachen ein Gewohnheitstier. Alle Schlüssel immer in der rechten Jackentasche.
Sie suchte ständig etwas. Ihren Autoschlüssel. Ihr Handy. Das Ladekabel. Den Lippenstift. Bei ihm hatte alles einen festgelegten Platz. Schlüssel rechte Jackentasche, Handy links, Brieftasche mit Kreditkarten und Führerschein neben dem Kugelschreiber in der Brusttasche.
Da seine Jacke noch hier war, musste er wiederkommen. Sie stellte sich vor, wie er durch Norddeich lief, auf der Suche nach Blumen. Jetzt, mitten in der Nacht, hatte er schlechte Karten. Aber nach einem Streit war er immer mit Blumen zurückgekommen, manchmal mit Tulpen von der Tankstelle. Einmal mit Plastikblumen von einer Kirmes. Selbstgeschossen.
Besonders gut hatten ihr die Rosen aus Nachbars Garten gefallen. Nur blöd, dass die Nachbarin am anderen Tag zu Besuch kam und sich tierisch darüber aufregte, dass »irgend so ein Banause« ihre Rosen aus dem Garten geklaut und dabei noch die Lavendelbüsche zertrampelt hatte. Immer wieder hatte sie beim Kaffeetrinken in der Küche zu dem Strauß im Wohnzimmer hingeschielt.
»Ich will ja nichts sagen, aber kann es sein, dass da hinten meine Rosen in deiner Vase stehen?«
Sabine hatte es einfach lachend zugegeben: »Ja, Florian und ich hatten einen heftigen Streit. Er ist dann raus, ein paar Bier trinken und sich abkühlen. Er hält es nie lange aus. Er kam mit den Blumen zurück …«
»Und dann?«
»Und dann hatten wir herrlichen Versöhnungssex.«
Die Nachbarin bekam leuchtende Augen: »Du Glückliche! Wenn es zwischen meinem Tarzan und mir kracht, dann ist er danach wochenlang eingeschnappt und redet nur das Nötigste. An den Rest ist dann gar nicht zu denken …«
Er wird zurückkommen, dachte Sabine Ziegler, auch nach diesem heftigen Streit. Er ist ja immer zurückgekommen. Er bereut es hinterher, wenn er so aus der Haut gefahren ist, und dann kehrt er, von Schuldgefühlen geplagt, zu mir zurück.
Wenn er sich schämte, weil er genau wusste, dass er unhaltbare Dinge gesagt hatte und das auch noch laut, dann war er geradezu unterwürfig, sprach und guckte devot. Aber sie wollte keine Domina sein, sondern einfach nur seine Frau.
Da er den Schlüssel zur Ferienwohnung nicht bei sich hatte, würde er sie wachklingeln müssen. Sie stellte sich vor, ihm verschlafen zu öffnen. Ihr Nachthemd war mehr ein T-Shirt mit Überlänge. Darauf stand: Wenn man uns die Flügel bricht, fliegen wir auf einem Besen weiter.
So hatte sie ihn rausgeschmissen. Aber so wollte sie ihm nicht öffnen. Sie brauchte etwas Verführerisches. Sie hatte genau das Richtige im Koffer. Ein Weihnachtsgeschenk von ihm. Sie hatte es grinsend mit dem Satz kommentiert: »Da hast du wohl eher dir was geschenkt als mir.«
Sie zog sich um und kroch wieder unter die Bettdecke. Eine Kerze in einem hohen Glas spendete milchiges Licht. Das Glas war zu einem Drittel mit Sand gefüllt, darin stand die Kerze. Das Licht gab dem Raum etwas Sakrales.
Sabine schlief besser ein, wenn sie dabei auf eine Kerze sah. Ihre Sinne beruhigten sich, und ihre Augenlider wurden schwer. Sie war noch nicht ganz eingeschlafen, höchstens ein wenig weggedöst, da hörte sie Geräusche. Sie lächelte in sich hinein. Er war wieder da.
Aber wie hatte er es ohne Schlüssel geschafft? War er über den Balkon gekommen? Sie hatte die Tür nicht wieder geschlossen. Sie liebte die metallhaltige Nachtluft am Meer. Mücken gab es hier kaum.
War er wirklich an der Außenfassade hochgeklettert? Es gab links unten neben dem Balkon einen Carport. Von dort wäre es für ihn ein Leichtes gewesen …
Sie hatte ihm im Kletterzentrum Neoliet auf dem ehemaligen Gelände der Zeche Constantin beim Indoorklettern zugesehen. Für sie war das nichts. Ihr wurde schon beim Zuschauen schwindlig. Sie fuhr im Urlaub auch nicht gern in die Berge. Sie brauchte das flache Land, die Weite.
Er war an einer freistehenden Trainingswand nach ihrer Schätzung mindestens zehn Meter hoch geklettert und wollte noch weiter hinauf. Sie hatte sich die Augen zugehalten und ihn aufgefordert, wieder runterzukommen.
O ja, für ihn war diese Hauswand aus rotem Backstein mit Rosengitter und Mauervorsprung kein Hindernis, sondern eine Herausforderung.
Sie hörte ihn in der Küche. Hatte er noch Hunger?
Sie stellte sich schlafend.
Es gab eigentlich nur zwei Möglichkeiten. Entweder er war reumütig zurückgekommen und wollte gleich unter ihre Decke kriechen, als sei nichts gewesen, oder sie hatte ihn so tief verletzt, dass er nur hereingeschlichen war, um seine restlichen Sachen zu holen und dann endgültig aus ihrem Leben zu verschwinden, wie sie es ihm hinterhergebrüllt hatte.
Kinder hatten sie keine. Verheiratet waren sie nicht. Warum denn auch? Er war damals in die große Wohnung ihrer Eltern nach Dinslaken an den Rotbach gezogen.
Verdammt, was machte der da so lange in der Küche? Warum kam er nicht endlich? Wollte er sich noch Brote schmieren, bevor er endgültig verschwand?
Der Wind ließ die Balkontür klappern.
Einmal, so erinnerte sie sich, war er nach einem Streit erst morgens zurückgekommen, hatte ihr frische Brötchen, gepressten Orangensaft und ein Omelett mit Käse und Pilzen ans Bett gebracht. »Eine kleine Entschuldigung vom großen Kindskopf«, hatte er gesagt. Sie nannte ihn liebevoll »Mein Wüterich«.
Sie sah den alten, digitalen Radiowecker auf dem Sideboard. Wer benutzte heute, im Zeitalter der Handys, noch so etwas? Aber in Ferienwohnungen standen diese kleinen Monster herum. Manche Vermieter entsorgten ihren Einrichtungsmüll in ihren Ferienwohnungen, von der Matratze bis zur Kaffeemaschine, als sei es für die Gäste gerade noch gut genug.
Es war, falls das Ding richtig ging, kurz nach drei. Also zu früh für ein Frühstück.
Was hatte er vor?
Sie zwang sich, im Bett liegen zu bleiben. Sie wusste selbst nicht genau, warum. Es kam ihr richtig vor. Sie wollte nicht so, wie sie war, in die Küche gehen. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte, und ihre verführerische Nachtwäsche kam ihr plötzlich albern vor. So aufdringlich wie sein Rasierwasser.
Wieso, fragte sie sich, machte er in der Küche kein Licht? Hatte er Angst, sie zu wecken? War er neuerdings so rücksichtsvoll? Oder war das in der Küche gar nicht Florian, sondern ein Einbrecher, der nach Bargeld suchte? Der Gedanke kroch wie eine Giftschlange zu ihr ins Bett.
Sie zog die Knie an den Körper und rollte sich zusammen. Sie hielt die Bettdecke an ihrem Hals fest, als könnte jemand versuchen, sie ihr gleich wegzureißen.
Ihr Handy lag unerreichbar weit weg. Weil sie nicht ständig diese Handystrahlung in ihrer Nähe haben wollte, lud sie das Gerät nachts im Badezimmer auf.
Sie zog sich die Bettdecke bis über die Nase.
Ich könnte zum Balkon laufen, dort um Hilfe schreien und auf das Dach des Carports springen. Es sind viele Feriengäste hier. Um die Zeit grillt zwar keiner mehr draußen, aber irgendjemand wird mich schon hören.
Dann stellte sie sich den viehisch lachenden Florian vor, mit einem Käsebrot in der einen Hand und einer Flasche Bier in der anderen.
»Das ist meine Frau! Erst wirft sie meine Sachen vom Balkon, knallt mir ein Buch an den Kopf, und jetzt flieht sie übers Dach aus ihrer Ferienwohnung. Aber ich bin hier doch der Choleriker! Ich, nicht sie!«
War das seine Rache für den Rauswurf? Machte er sich über sie lustig? Es war alles so verwirrend.
Die Küchentür quietschte, und sie hörte den Holzfußboden knarren. Schritte kamen näher zum Bett. Sie spürte den Blick. Es war, als würden die Beulen der Bettdecke abgetastet und mit Röntgenaugen durchleuchtet werden.
Sie wagte es nicht, ihre Augen zu öffnen. Sie stellte sich weiter schlafend.
Wäsche raschelte. Eine Gürtelschnalle wurde geöffnet.
Sie entspannte sich. Das war kein Einbrecher. Das war Florian.
Er zog sich aus, ließ wie immer die Wäsche vor dem Bett auf dem Boden liegen und kroch dann zu ihr.
Sie seufzte. Unter der Decke suchte seine Hand nach ihr. Aber etwas irritierte sie. Er roch weder nach Alkohol noch nach Myrrhe, Sandelholz, Kokos oder Weihrauch.
Hatte er geduscht? War er in die Nordsee gesprungen, um sich abzukühlen? Aber bisher hatte er nach jedem Streit erst irgendetwas getrunken, bevor er zurückgekommen war.
Sie hob die Bettdecke ein Stückchen an und sog die Luft tief durch die Nase. Der Mann in ihrem Bett roch sauer, nach Schweiß und einem Hauch von Maiglöckchen.
Sie bäumte sich im Bett auf. Ein hoffnungsvoller Schrei entfuhr ihr: »Florian?!«
Eine kräftige Hand legte sich über ihren Mund und drückte sie ins Kissen zurück.
»Pssst …« Er zog die Bettdecke weg. »Du hast dich aber schick gemacht. Das wäre doch gar nicht nötig gewesen.«
Rupert setzte sich auf den Stuhl wie ein Cowboy auf sein Lieblingspferd. Er grinste breit. Endlich ging es mal nicht um Ann Kathrin Klaasen!
Der Chefredakteur des Ostfriesland Magazins, Holger Bloem, rührte die Sanddornkekse auf dem Tisch in der Polizeiinspektion nicht an. Stattdessen stellte er Fragen und schrieb fleißig mit.
Jessi Jaminski plauderte munter drauflos. Die Pressesprecherin der ostfriesischen Polizei, Rieke Gersema, saß pikiert daneben, weil sich niemand für sie und ihre vorbereiteten Erklärungen interessierte. Frustriert zerkrachte sie schon den vierten Keks. Sie mochte eigentlich keine Sanddornkekse, aber Schokokekse gab es heute nicht.
Sie hatte viel zur Initiative der ostfriesischen Polizei, Nachwuchskräfte zu gewinnen, zu sagen. Anwärter wurden nach ihrem Studium an der Polizeiakademie in Oldenburg eingeladen, direkt in den ermittelnden Bereich in Aurich, Wittmund und Norden einzusteigen. Das Ganze lief recht erfolgreich, aber Holger Bloem interessierte sich nicht dafür, sondern nur für Jessi. Ihre Erfahrungen als Boxerin im Boxclub Norden und ihre Teilnahme an den Niedersachsen-Meisterschaften fand Holger Bloem viel spannender als die Einstiegsmöglichkeiten in den Polizeidienst für Realschüler nach einem Jahr weiterer Fachoberschule.
Polizeichef Martin Büscher hörte zu, nickte manchmal freundlich-amüsiert und trank die dritte Tasse Tee. Er vertraute immer mehr auf sein gutes Team und ließ den Dingen ihren Lauf. Verglichen mit seinen krampfhaften Profilierungsversuchen am Anfang hatte er jetzt etwas Buddhahaftes an sich, nur dass Buddha wahrscheinlich nicht so viel schwarzen Tee getrunken hatte.
Jessi zeigte auf Rupert: »Ohne diesen Mann säße ich heute gar nicht hier! Er ist mein Held!«
Rupert flegelte sich betont lässig auf dem Stuhl herum. Er saß umgekehrt darauf, so dass er seine Arme auf die Rückenlehne stützen konnte.
»Ich war bei ihm Praktikantin. Also, nicht richtig, aber …«
Bevor das Gespräch in gefährliches Fahrwasser abgleiten konnte, bremste Rieke Jessi aus: »Also … eigentlich gibt es ja Regeln dafür …«
Holger Bloem sah sie fragend an. Er spürte, dass hier irgendetwas nicht stimmte oder verschwiegen werden sollte.
Rupert platzte mit der Erklärung raus: »Ich habe sie als Sandsack mitgenommen.«
»Als Sandsack?«, hakte Holger Bloem nach.
»So nennen wir scherzhaft eine dritte Person, die im Streifenwagen mitfährt, um in die richtige Polizeiarbeit zu schnuppern. Die jungen Leute haben nämlich oft sehr klischeehafte Vorstellungen …«, warf Martin Büscher ein und widmete sich wieder seinem Tee.
Rieke verzog den Mund.
»Rupert«, fuhr Jessi fort und strahlte ihn an, dass er ganz verlegen wurde, »hat meine Begeisterung für den Polizeidienst geweckt. Seine Leidenschaft ist einfach ansteckend.«
Holger Bloem horchte auf. Das wollte er gern konkreter haben. »Wie meinen Sie das: Seine Leidenschaft ist einfach ansteckend?«
Rupert ermahnte Jessi: »Pass auf, was du sagst. Die denken sonst noch, wir hätten was miteinander. Gerade der Bloem mit seiner …« Rupert schluckte die Worte schmutzigen Phantasie herunter.
Holger Bloem ermunterte ihn, es auszusprechen: »Ja? Mit seiner was?«
»Analytisch-journalistischen Art …« schlug Rieke diplomatisch vor. Dafür erntete sie von Büscher einen lobenden Blick.
Jessi winkte fröhlich ab und sagte zu Rupert: »Ach, das denken die Spießer doch sowieso alle. Ich meine, die sehen eine junge, hübsche Frau wie mich mit einem alten Knacker wie dir und denken gleich: Ui, ui, ui, zwischen denen, da läuft bestimmt etwas.«
Die Bezeichnung alter Knacker hatte Rupert in der Magengrube wie ein ansatzloser Tiefschlag getroffen. Er versuchte, den Schmerz wegzulächeln.
Jessi erzählte munter weiter, und Holger Bloem schrieb mit: »Also, ich meinte natürlich seine Leidenschaft für den Polizeidienst. Für den Kampf des Guten gegen das Böse. Ja. So muss man sich das vorstellen. Er hat mir viel erzählt, zum Beispiel, wie er die Russenmafia aus Aurich vertrieben hat …«
Rupert blickte auf den Boden.
»Ach, hat er das?«, fragte Bloem.
»Ja. Praktisch im Alleingang«, bestätigte Jessi. »Und wie er sich als Geisel hat austauschen lassen …«
Rupert räusperte sich und deutete Jessi an, sie solle jetzt besser schweigen.
Sie interpretierte seine Geste. »Es ist ihm unangenehm«, sagte sie. »Rupi ist doch so bescheiden. Arbeitet lieber unerkannt im Hintergrund und schafft Fakten.«
»Bescheiden«, wiederholte Rieke Gersema staunend für sich selbst.
»Der Presse gegenüber wurde das alles ja nie an die große Glocke gehängt«, behauptete Jessi und guckte geradezu verschwörerisch. »Ich finde das aber falsch.« Sie deutete damit an, dass das eigentlich Riekes Versäumnis war. »Die Welt braucht solche Heldengeschichten. Also, wenn es nach ihm hier ginge … dann wäre die Presse voll mit wahren Heldenstorys.« Jessi griff sich an den Kopf. »Wenn Polizei und Feuerwehr eine Katze vor dem Ertrinken retten oder einer Witwe den entflohenen Wellensittich zurückbringen, dann wird da in den Medien eine Meldung draus. Aber wenn internationale Drogenkartelle Ostfriesland verlassen, weil ihnen durch konsequente Ermittlungsarbeit hier der Boden zu heiß wird, dann …«
Rieke verdrehte die Augen. Kripochef Martin Büscher griff ein: »Ich denke, es ist doch besser, wenn wir uns auch in diesen Dingen in ostfriesischer Zurückhaltung üben.«
»Darf ich das zitieren?«, fragte Holger Bloem.
Martin Büscher räusperte sich: »Ich finde, Herr Bloem, das alles sollte nicht zu hoch gehängt werden. Es ist im Grunde geheim. Eine Berichterstattung könnte schwebende Ermittlungsverfahren gefährden.«
Holger Bloem verstand. Er kannte Rupert gut und ahnte, mit welchen Aufschneidereien der versucht hatte, die zweifellos attraktive Jessi zu beeindrucken.
»Ich bin ja hier, um ein Porträt zu schreiben. Die junge, in Norden aufgewachsene Frau, die sich als Boxerin lokal einen Namen gemacht hat und sich nun für den Polizeidienst entscheidet … Das ist meine Geschichte.«
Mit dieser Klarstellung beruhigte Bloem alle Beteiligten.
»Ich möchte«, strahlte Jessi, »wie mein Vorbild Rupi Ermittlerin in der Mordkommission werden.« Mit stolzgeschwellter Brust bekräftigte sie: »Ja, ich möchte Ermittlerin in der Königsdisziplin werden!«
»Haben Sie«, fragte Holger Bloem, »schon mal eine Leiche gesehen?«
Jessi schluckte schwer.
Florian Pintes hatte zunächst versucht, die Nacht im Auto zu verbringen. Aber die Liegesitze erwiesen sich als äußerst unpraktisch. Gar nicht gut für seinen Rücken. Er erinnerte sich daran, dass sein alter Klassenkamerad, Gerd Wollenweber, traditionell in den Sommerferien seinen Wohnwagen in Norddeich auf dem Parkplatz beim Ocean Wave stehen hatte.
Er weckte ihn gegen vier Uhr morgens. Gerd war vor dem Fernseher eingeschlafen. Auf dem Klapptisch standen mehrere Dosen Bier. Gerd hatte seinem alten Kumpel nicht nur gern Asyl gegeben, sondern auch noch zwei Dosen Bier mit ihm geknackt.
Gerd hatte nie wirklich Glück mit Frauen gehabt. Am Ende fühlte er sich immer ausgenommen, gegängelt und geradezu entmannt. Er hatte bei seiner Vorgeschichte viel Verständnis für Florian. Diese Sabine war einfach zu gutaussehend, um die Richtige zu sein, fand Gerd. Außerdem war sie zu Hause von ihren Eltern verwöhnt worden. Immer Papis Liebling. Dagegen kam ein Partner sowieso nicht an. Darin hatte Gerd Erfahrung. Frauen mit Heldenpapis verließen Männer immer nach einer Weile, sobald klarwurde, dass sie von ihnen nie so bedingungslos geliebt werden würden wie von ihrem Papi.
»Finger weg von Frauen mit tollen Vätern«, lautete Gerds Lebensmotto inzwischen. »Die Väter versauen die Töchter.«
Gemeinsam hatten sie über Frauen geschimpft und gelästert, bis die Sonne aufging. Eigentlich wollten sie zum Deich, um sich das Schauspiel anzusehen, aber dann waren sie doch zu träge und zu müde.
Zweimal weckte Florian Gerd, weil der so schnarchte. Es kam zu einem kurzen, aber heftigen Streit zwischen ihnen, und zum zweiten Mal seit seiner Ankunft in Norddeich flog Florian raus.
Diesmal warf ihm niemand Sachen hinterher. Er hatte, wie in weiser Voraussicht, alles im Auto gelassen. Er tigerte zunächst auf dem Parkplatz herum wie ein ausgebrochenes Raubtier, das mit seiner neuen Freiheit nichts anfangen kann und nicht weiß, wohin. Er war so unglaublich wütend!
Dann sah er den alten, roten BMW in der vierten Reihe, nahe beim Toilettenhäuschen. Er wackelte so verdächtig rhythmisch auf und ab. Florian ging hin und sah, an einen VW-Bus gelehnt, dem Pärchen zu. Sie waren laut und wild. Sie ritt ihn, und er wühlte in ihren Haaren.
Der Anblick besänftigte Florian Pintes keineswegs. Im Gegenteil. Es hätte alles so schön sein können mit Sabine, dachte er grimmig, wenn sie nicht manchmal so verdammt widerspenstig wäre. Sie konnte so dickköpfig sein! Er wusste, dass er ein Problem hatte, seine Gefühle in den Griff zu kriegen. Wenn er zu sehr geärgert wurde, konnte er schon mal ausrasten. Er war eben keiner dieser weichgespülten Typen, die sich zum Tanzbären dressieren ließen, statt Männer zu bleiben.
Nein, er hatte sie nie geschlagen. Nur manchmal niedergebrüllt. Mehr nicht.
Dabei liebte er sie sehr. Er wollte sie nicht verlieren.
Er hatte mehrfach ein Anti-Aggressionstraining mitgemacht. Nie wieder wollte er eine Frau verprügeln, wie seine letzte Ex. Er hatte sich grässlich danach gefühlt, und so etwas sollte ihm nie wieder passieren. Seit er Sabine kannte, arbeitete er ernsthaft an sich.
Er beschloss, zur Ferienwohnung zurückzulaufen. Er würde nicht mit dem Auto fahren, sondern sich die letzten Aggressionen aus dem Körper rennen.
Ja. Das ging! Er hatte es trainiert. Es half, wenn er sich über eine Schmerzgrenze hinaus belastete. Wenn die Muskeln brannten und er nach Schweiß roch, dann wurde er friedlich. Lammfromm.
Er wollte losspurten, aber noch faszinierte ihn das Pärchen im Auto. Er beneidete sie, weil sie auf so eine hemmungslose Weise frei waren.
Die Frau stieß mehrfach hintereinander mit dem Kopf gegen das Verdeck. Sie versuchten einen Positionswechsel. Dabei entdeckte die Frau Florian. Sie schrie.
Ihr wilder Hengst war sofort bereit, den Helden zu spielen und ihr zu zeigen, was für ein furchtloser Typ er war. Die Beifahrertür flog auf. Dabei krachte sie hart gegen den VW-Bus, der daneben parkte.
»Ich krieg dich, du Scheißspanner!«, drohte der Mann und kroch behände auf allen vieren aus dem Auto.
»Hat der Fotos gemacht?!«, kreischte seine Freundin. Dann, als habe sie etwas gesehen, beantwortete sie ihre Frage gleich selbst: »Ja, der hat Fotos gemacht! Der hat bestimmt Fotos gemacht! Mein Mann bringt mich um, wenn …«
Florian hob die Hände hoch und zeigte vor, dass sie leer waren. »Ich habe keine Fotos gemacht. Ich …«
Weiter kam er nicht, denn jetzt richtete sich ein Mann in grau-blau gestreiften Shorts der Marke Nur Der vor ihm auf. Die Augen zu Schlitzen verengt, fixierte er Florian.
Florian glaubte, dass es irgend so ein männlicher Wettstreit – wer guckt zuerst weg – werden würde. Aber es war nur ein Ablenkungsmanöver. Während Florian sich noch darauf konzentrierte, dem Blick standzuhalten, platzierte sein Gegner seine rechte Faust auf Florians Nase.
Der Schlag traf Florian deckungslos. Es tat höllisch weh.
Kurz hintereinander wurde er noch zweimal hart am Kopf getroffen, und schließlich riss jemand an seinen Haaren und trat gegen seinen Brustkorb.
Er wusste nicht, ob er bewusstlos geworden war. Jedenfalls lag er jetzt auf dem Boden, und der BMW war weg. Er konnte kaum noch etwas sehen. Das rechte Auge war zugeschwollen, und vor dem linken schien ein milchiger Vorhang zu wehen.
Jetzt brauchte er Sabine mehr denn je. Sie würde keine Schadenfreude empfinden, da war er sich sicher. Sie würde ihn bedauern, vielleicht sogar Schuldgefühle entwickeln, weil sie ihn weggeschickt hatte, und sie würde zu einer sanftmütigen, fürsorglichen Krankenschwester werden.
Er drehte sich aus zwei Papiertaschentüchern Tampons für die Nasenlöcher, um die Blutung zu stillen. Er ärgerte sich, dass er nicht genügend Taschentücher hatte, um sich wenigstens die schlimmsten Wunden im Gesicht zu versorgen. In den Rückspiegeln der Fahrzeuge, an denen er vorbeitaumelte, konnte er sehen, dass sein Gesicht immer weiter anschwoll, als würde sein Kopf aufgeblasen werden.
Zwei pubertierende junge Männer kamen ihm auf Fahrrädern entgegen. Der eine rief: »Guck mal! Der ist vielleicht auf die Fresse geflogen!«
Florian schimpfte nicht einmal hinter ihnen her. Er hatte sich im Griff. Von wegen Choleriker! Er war praktisch die Ruhe selbst.
Er lief bis zur Ferienwohnung. Es war nicht weit, aber jetzt kam es ihm endlos vor. Er klingelte und klopfte, aber Sabine öffnete ihm nicht.
Er stieg nicht über den Balkon ein, wie sie vermutet hatte. Dazu wäre er gar nicht mehr in der Lage gewesen. Sein Geduldsfaden riss. Er stand hier blutig, fröstelnd und zusammengeschlagen vor der Tür, während er meinte, dass Madame am Frühstückstisch saß und schmollte.
»Aber nicht mit mir«, grummelte er, »nicht mit mir.« Sie sollte ihm bloß nicht erzählen, sie hätte ihn weder klingeln noch klopfen hören, und auch seine Rufe seien ihr entgangen. Gerade sie, die Lärmempfindliche, musste genau mitbekommen haben, dass er hier draußen stand und Einlass begehrte.
Er warf sich gegen die Tür, und sie gab sofort nach. Jeder Zehnjährige hätte sie mühelos ohne Werkzeug knacken können.
Er rief laut: »Sabine?! Sabine?!«
Ja, sie sollte ihn ruhig so sehen. Damit wäre gleich alles zwischen ihnen wieder klar. Er würde ihr vergeben. Nicht sie ihm. Das von dem Pärchen würde er nicht erzählen, sondern dass er überfallen worden war, als er versucht hatte, auf einer Parkbank zu schlafen. Ja, das war zweifellos die bessere Geschichte. Damit würde ihr Schuldenkonto bei ihm erhöht werden, und er hatte durchaus vor, sie lange abzahlen zu lassen.
Plötzlich war da überall Blut. Er sah es, als würde er durch ein engmaschiges Netz gucken. Zunächst glaubte er, eine Ader in seinem zerbeulten Gesicht sei geplatzt oder seine Nase endgültig explodiert, doch dann entdeckte er ihren Leichnam.
In seinen Ohren begann ein Brausen wie von heißgelaufenen Propellern. Er hielt sich am Bett fest, weil ihm schwindlig wurde. Er brauchte eine Weile, bis er ansatzweise begriff, was geschehen war, und es schaffte, den Notruf der Polizei zu wählen.
Ann Kathrin Klaasen wusste nicht, ob es Ubbo Heides Gegenwart war oder einfach das Meer. Jedenfalls wurde sie hier ruhig. Es war, als würde das Geräusch der Wellen Worte überflüssig machen.
Einmal im Monat besuchte sie ihren alten Chef Ubbo Heide auf seiner Lieblingsinsel Wangerooge. Sie nahm sich jedes Mal vor, auf Wangerooge lange auszuschlafen, um dann doch wieder morgens zwischen vier und fünf Uhr mit ihm auf dem Balkon zu sitzen und auf den Sonnenaufgang zu warten.
Er hatte dann immer schon einen Tee neben sich stehen. Mit ihm, hier, morgens, trank sie Tee wie er, und zwar schwarz, mit einem frischen Pfefferminzblatt darin.
Die Schreie der Möwen waren ein Begrüßungskonzert. Für die Dohlen und Spatzen hatte Ubbo immer ein paar Kekskrümel übrig. Für die Möwen nie.
Jeder Sonnenaufgang war anders. Heute Morgen flimmerte das Meer zartrosa, wurde darüber glutrot und verlief dann zu lila Schlieren, die in weißen Wolken mündeten. Die Wolken sahen jetzt aus wie Rieseninsekten, die sich mit langen, dünnen Beinen spinnenartig am Himmel bewegten.
Dann zerstörte der Wind das Bild, indem er die Wolken wegwischte wie ein Maler eine störende Farbe. Der Himmel war jetzt stahlblau. Der Kondensstreifen eines Flugzeugs zog eine scharfe Linie darin. Ann Kathrin versuchte, den Gedanken zu verdrängen, dass es aussah wie ein eitriger Schnitt.
Sie hatten keine zehn Worte gesprochen. Einfach nur geschaut, geatmet und Tee getrunken.
Wenn Ann Kathrin da war, nahm Ubbo Heides Frau Carola manchmal einen freien Tag, um auf dem Festland shoppen zu gehen. Sonst kümmerte sie sich rührend um ihren Mann, der durch eine Messerattacke an den Rollstuhl gefesselt worden war.
Wenn Carola dagewesen wäre, hätte sie sicherlich ein großartiges Frühstück zubereitet, mit Krabben, Eiern und Waffeln zum Nachtisch, außerdem Berge von Obst. Aber wenn Ann Kathrin und Ubbo allein waren, frühstückten sie gern unten im Friesenjung, bei einem Wetter wie diesem natürlich draußen.
Über ihnen knatterte die Wangerooge-Fahne im Wind. Ann Kathrin trank jetzt Kaffee. Obwohl hier Selbstbedienung war, brachte die polnische Kellnerin Ubbo Heide alles, was er wollte, an den Tisch.
Er aß mit Heißhunger schon die zweite Portion Rühreier und dazu Bratwürstchen. Ann Kathrin stippte, ohne hinzusehen, ein Croissant in ihren Kaffeetopf. Sie saugte immer noch diese Naturgewalt in sich auf. Je näher sie am Meer war, umso näher kam sie sich selbst …
»Ich hatte«, sagte Ubbo Heide, »ein Nahtoderlebnis.« Es klang, als hätte er gesagt: Ich habe eine neue Pizzeria entdeckt. Die musst du unbedingt auch mal ausprobieren. Seine Stimme war überhaupt nicht dramatisch.
Ann Kathrin sah weiterhin aufs Meer und fragte: »Und?«
Er ließ sich mit der Antwort Zeit, nahm zunächst einen Schluck Tee, stellte sorgfältig die Tasse wieder ab: »Ich bin an der Hölle vorbeigeschrammt. Ich musste auch nicht ins Fegefeuer. Ich bin direkt durchgefahren ins Paradies.«
Ann Kathrin lächelte ihn an. Es war, als würden die Kiu-Kiu-Schreie einer Möwe ihm recht geben.
»Ins Paradies?! Und wie war es da?«
Ubbos Lächeln wurde zu einem breiten Grinsen: »Och«, sagte er, »ganz nett.«
»Ganz nett?«
»Ja, man kann nicht meckern. Das Paradies ist ganz in Ordnung. Aber dann habe ich denen gesagt, Jungs, seid mir nicht böse, aber jetzt möchte ich doch gerne wieder zurück nach Wangerooge.«
»Jo«, sagte Ann Kathrin, »das kann ich verstehen.«
Ann Kathrin bestrich sich einen Toast mit Honig. Der Seehund in ihrem Handy jaulte jämmerlich auf. Auf dem Display stand: Marion Wolters. Pflichtbewusst nahm Ann Kathrin das Gespräch an, stand aber auf, um Ubbo nicht damit zu belästigen. Sie ging ein paar Schritte auf der oberen Strandpromenade auf und ab.
Ubbo winkte Ann Kathrin zu, sie solle sich nur Zeit lassen, und bewegte seinen Rollstuhl in Richtung Café Pudding. Von dort kam ihm ein alter Bekannter entgegen, ein pensionierter Kripochef aus Süddeutschland, mit dem er gerne Schach spielte.
»Ich hoffe, es ist wichtig«, sagte Ann Kathrin schroff.
Marion Wolters bestätigte sofort: »O ja. Verdammt wichtig. In Norddeich ist eine junge Frau in ihrer Ferienwohnung ermordet worden. Rupert ist mit Jessi dahin, um ihr zu zeigen, wie man so einen Fall löst. Er hat ausdrücklich darum gebeten, dass ich dich nicht informiere.«
»Waas?«
»Ja, der Arsch will vor der Kleinen jetzt den großen Todesfallermittler spielen und dir am liebsten den gelösten Fall präsentieren, wenn du zurückkommst.«
»Ich chartere mir sofort einen Flieger nach Norddeich. Frank soll mich dort abholen.«
»Geht klar.«
Ann Kathrin klickte das Gespräch weg. Sie hörte ein Geräusch über sich, und etwas fiel von oben herunter. Sie sprang zur Seite und hob eine Hand schützend über ihren Kopf. Ein halber Toast mit Honig landete in ihren Haaren. Sie drehte sich um. Keine zehn Meter von ihr entfernt plünderten gerade zwei Möwen den Frühstückstisch.
»Ihr elenden Viecher!«, rief sie und rannte, mit den Händen fuchtelnd, hin. Sie wusste nicht, auf wen sie wütender war: auf die Möwen, auf Rupert oder auf sich selbst. Jedenfalls war dieser schöne Morgen für sie beendet.
Rupert konnte Journalisten sowieso nicht leiden. Aber dieser Holger Bloem war für ihn eine ganz besondere Pfeife. Bloem galt als Ann Kathrin Klaasens Vertrauter. Die beiden hatten ein geradezu freundschaftliches Verhältnis, und jeden Furz, den die Kommissarin ließ, blies Bloem in Ruperts Augen zu einem Küstensturm auf. Er hatte einen großen Anteil daran, dass sie so berühmt geworden war. Von vielen wurde sie als informelle Chefin angesehen. Das wurmte Rupert.
Nun hatte er die wunderbare Gelegenheit, der Kommissar-Anwärterin Jessi zu zeigen, was in ihm steckte. Und dieser Bloem sollte ruhig dabei zugucken, fein aufpassen und hinterher einen großen Artikel schreiben. Deshalb hatte er Bloem gegen alle Regeln mitgenommen und ihm sogar zugezwinkert, als er ihm das Angebot machte.
Holger Bloem saß hinten im Auto und überprüfte die Einsatzbereitschaft seiner Canon. Der machte doch tatsächlich noch analoge Bilder, statt mit einer Digitalkamera zu knipsen, wie alle anderen auch.
Im Auto dozierte Rupert los. So, wie Jessi ihn ansah, war sie echt beeindruckt.
»Die meisten Mordfälle sind ganz einfach. Die Ehefrau liegt erschlagen im Garten, am Spaten klebt noch Blut, an den Händen des Ehemanns genauso. Und nach einer halben Stunde gesteht er auch schon. Die meisten Menschen werden von Ehepartnern, Familienmitgliedern oder ihrem besten Freund umgebracht. Die Gefahr, nachts im Park von Junkies auf Entzug ausgeraubt, vergewaltigt und umgebracht zu werden, ist wesentlich geringer, als dass die Schwiegermutter einem Gift unters Essen mischt oder der nette Nachbar mit der Grillzange zusticht.«
»Im Ernst?«, fragte Jessi. Sie sah nervös aus und kratzte sich ständig im Gesicht. Sie wusste, dass sie gleich eine Leiche sehen würde, und hoffte, nicht ohnmächtig zu werden. Sie tat immer so, als sei sie total taff, aber an dem Tag in der Gerichtsmedizin, der eigentlich zur Ausbildung dazugehörte, hatte sie es vorgezogen, eine Magen-Darm-Grippe zu bekommen.
Rupert fuhr fort: »Die eigentlichen Massaker finden in den Familien statt. Das ist reine Statistik! Als Frau solltest du dir auch immer sehr genau überlegen, mit wem du ins Bett gehst.«
»Häh? Was? Warum?« Jessi geriet in Rechtfertigungsdruck und entschuldigte sich: »Ich hab im Moment keinen Freund.«
Rupert lächelte: »Das ist auch besser so. Neunzig Prozent aller Frauen werden von einem Mann getötet, mit dem sie vorher schon mal Geschlechtsverkehr hatten.« Er hob den Zeigefinger: »Und zwar freiwillig, oftmals über viele Jahre.«
»Mir wird ganz anders, wenn du so redest, Rupi.«
Holger Bloem hatte inzwischen sein Aufnahmegerät eingeschaltet. Er fand Ruperts Ausführungen in ihrer zugespitzten Art sehr interessant.
»Heiraten«, fuhr Rupert fort, »heiraten ist ganz schlecht. Das erhöht die Chance, umgebracht zu werden, um fünfunddreißig bis vierzig Prozent.«
»Also wäre man als Junggeselle ohne Geschlechtsverkehr statistisch gesehen auf der sicheren Seite?«, fragte Holger Bloem vom Rücksitz aus.
Rupert gab ihm recht: »Ja, falls man keinen Streit mit seinem Nachbarn hat oder seinen besten Freund verärgert. Lottogemeinschaften sind auch sehr gefährlich.«
Holger Bloem hakte nach: »Lottogemeinschaften?«
»Ja, Lottogemeinschaften«, bestätigte Rupert. »Und ich würde auf gar keinen Fall eine Lebensversicherung abschließen.«
Der Gedanke leuchtete Jessi nicht ein. Sie war jetzt schon kreidebleich, und ihre Lippen wirkten blutleer. »Warum nicht? Was ist so schlimm an Lebensversicherungen?«
»Ha«, lachte Rupert, »wenn du eine Lebensversicherung abschließt, heißt das doch, dass irgendjemand davon profitiert, wenn du abkratzt. Na, muss ich mehr sagen? Wir hatten es zum Beispiel schon mit einem Mann zu tun, der hatte eine Risiko-Lebensversicherung«, Rupert wiederholte das Wort und dehnte es lang: »Risiko-Lebensversicherung über fünfhunderttausend Euro abgeschlossen. Das ist eine halbe Million! Damit wollte er seine zwanzig Jahre jüngere Ehefrau absichern, weil er bei seinem ausschweifenden Lebenswandel vermutlich an Leberzirrhose sterben würde, bevor sie die Fünfzig auf ihrer Geburtstagstorte gesehen hätte. Er wollte sie nach seinem Tod versorgt wissen – aber dann konnte sie es gar nicht mehr abwarten und hat ihm Gift ins Essen gemischt. Glaub mir, ohne seine Lebensversicherung würde der noch leben.«
»Da kriegt das Wort Lebensversicherung eine ganz neue Bedeutung«, kommentierte Holger Bloem.
»Ja«, lachte Jessi und hielt sich dann die Hand vor den Mund, weil ihr das eigene Lachen unangemessen vorkam. Immerhin ging es hier um Mord.
Rupert passte es nicht, dass Bloem sich einmischte. Er hatte Angst, der Typ könne zu viel Eindruck auf Jessi machen. »Vielleicht war es doch keine so gute Idee, ihn mitzunehmen«, grummelte Rupert leise vor sich hin und setzte dann seinen Praxislehrgang für Jessi fort. Er fuhr wesentlich schneller als erlaubt.
»Wenn eine Leiche gefunden wird, ist das gleich immer so ein Wettrennen. Jeder versucht, als Erster da zu sein. Die Typen von der Spurensicherung verändern jedes Mal den Tatort, weil sie irgendwelche Flusen aufsammeln. Am schlimmsten aber sind die Notärzte und Rettungssanitäter. Die machen so lange an einer Leiche rum, bis nicht mehr klar ist, woran der Mensch gestorben ist.«
Verwirrt fragte Jessi: »Wieso das denn?«
Rupert klatschte sich beim Autofahren mit der linken Hand gegen die Stirn, um zu zeigen, wie bescheuert er solche Aktionen fand. »Nun, die akzeptieren erst mal nicht, dass jemand gestorben ist, sondern machen gleich Reanimationsversuche. Da werden Leichen intubiert und alle möglichen Spritzen in den Toten reingeschossen. Hinterher weißt du nicht, woher all die Nadelstiche kommen. Hat die Ehefrau ihrem Gatten eine tödliche Dosis verpasst oder nur der Rettungssanitäter versucht, seine Wundermittel auszuprobieren?« Rupert winkte ab. »Wenn ich sehe, dass einer tot ist, dann fange ich doch nicht an, an dem rumzumachen, sondern ich sammle Beweismaterial. Gucke mir an, wie er liegt, und versuche, anhand der Blutspritzer die Tat zu rekonstruieren.«
Jessi schluckte.
Rupert bemerkte, dass er einen wunden Punkt getroffen hatte, und fuhr fort: »Wir haben in Niedersachsen eine Spezialistin für Blutspuren. Bei der haben wir mal einen Lehrgang gemacht. Das war echt hilfreich. Ich kam mir vor wie ein Indianer bei der Fährtensuche. Blutspuren erzählen einem ganz viel. Welcher Angriff zuerst erfolgte, wie sich die Tat vielleicht in andere Räume verlagert hat, mit welcher Intensität zugehauen oder -gestochen wurde … Unsere Kriminaltechniker wollen nur die DNA feststellen. Völlig bescheuert! Wenn da einer mit einem Messer in der Brust am Boden liegt, finde ich doch nicht erst im Labor heraus, zu wem das Blut auf dem Teppich gehört.«
»Ich glaube«, sagte Jessi, »mir wird jetzt schon übel.«
Rupert lachte: »Ich hatte keine Ahnung, dass du so zart besaitet bist. Du boxt doch im Norder Boxverein.«
»Ja«, sagte Jessi mit brüchiger Stimme, »aber wir tragen Boxhandschuhe und gehen nicht mit Messern aufeinander los.«
Als sie ankamen, standen vor dem Ferienhaus zwei Polizeifahrzeuge und ein Rettungswagen. Es hatte sich eine Menschentraube gebildet. Einige Väter trugen ihre Kinder auf den Armen, viele hatten Brötchentüten in der Hand. Eine strubbelige Frau in blau-weißem Schlafanzug schlürfte viel zu starken Kaffee aus einem Pott, auf dem Ostfriesentee stand. Sie erzählte jedem, der es wissen wollte oder auch nicht, dass sie im Urlaub immer so ein Pech habe. Bei ihrem letzten Italienurlaub sei eine Frau im Gardasee ertrunken, und in Andalusien sei jemand direkt neben ihr aus dem Fenster gesprungen. »Jetzt wollten wir mal nach Ostfriesland fahren. Wir dachten, hier geht es anders zu. Aber mein Mann und ich scheinen solche Scheiße geradezu anzuziehen …«
»Eigentlich«, sagte Rupert zu Jessi, »müssten wir die jetzt befragen, ob jemand etwas Verdächtiges gesehen hat. Das machen wir aber nicht. Wir gehen erst mal rein, um die schlimmste Zerstörung und Verschmutzung des Tatorts zu verhindern. Dann schauen wir uns ihren Ehemann an, sofern sie einen hat. Und ich schlage vor, dass ihr eure Hände in die Tasche steckt, während wir am Tatort sind.«
Jessi verstand nicht ganz warum und verzog den Mund.
Rupert erklärte: »Wenn man die Hände in der Tasche hat, fasst man auch versehentlich nichts an. So wird der Tatort am wenigsten von uns mit fremden Spuren verunreinigt. Man berührt sonst unwillkürlich Dinge. Eine Türklinke. Ein Glas. Die Toilettenspülung. Deswegen ist meine Devise: Hände in die Hosentasche.«
Jessi nickte und fragte dann: »Soll ich vielleicht die Befragung der Leute übernehmen?« Sie hoffte schon, so um eine Besichtigung der Leiche herumzukommen.
Doch Rupert schüttelte den Kopf: »Nein, die Hälfte von denen erzählt dir jetzt irgendwas, um sich wichtig zu machen, und die anderen stellen dir blöde Fragen, weil sie neugierig sind. Wir kümmern uns jetzt erst mal um das Wesentliche.«
Er schob Jessi vor sich her ins Gebäude.
Ein Mann von beachtlicher Gestalt hielt Rupert auf. Er hatte einen Fotoapparat mit einem Riesen-Teleobjektiv bei sich. »Mein Name ist Uwe Hartmann.«
Rupert wollte den Typen nur loswerden. »Schön für Sie, Herr Hartmann.«
»Ich war heute Morgen schon auf der Vogelpirsch«, erklärte der Mann. »Ich habe einen großen Brachvogel verfolgt.«
Weil Rupert so blöd guckte, erläuterte er: »Wissen Sie, die mit dem langen, gebogenen Schnabel. Ich habe ihn zunächst gar nicht gesehen, sondern nur gehört. Die haben so einen melancholischen Ruf mit Trillern am Ende.«
Der Mann machte die Vogelstimme nach. Damit stieß er bei Rupert auf wenig Verständnis.
»Die sind etwa so groß wie ein Haushuhn. Es ist der größte europäische Wattvogel. Die brüten nur ganz selten im Wattenmeer. Hier ist aber ein Pärchen. Und dann so weit im Inland! Ich meine, bei den Möwen sind wir es ja gewöhnt, dass sie sich ihr Futter auf der Müllkippe holen, aber die großen Brachvögel …«
Er machte eine Geste, als könne nur ein Idiot so etwas von diesen Tieren glauben, und wollte Rupert zum Beweis auf dem Display seines Fotoapparats ein paar Schnappschüsse zeigen.
»Das ist ja alles sehr schön für Sie«, sagte Rupert, »aber wir sind gekommen, um einen Mord aufzuklären, nicht, um das Balzverhalten von Vögeln zu studieren.«
Rupert ließ den Mann einfach stehen.
Das Erste, was Rupert auffiel, war der Geruch. Er schnupperte wie ein Hund. Er machte das demonstrativ. Jessi sollte es mitbekommen. Das hier würde ihre Feuertaufe werden. Sie würde nie vergessen, wer sie angeleitet hatte, den ersten Mordfall zu lösen.
»Es hängt«, sagte Rupert ruhig zu ihr, »kein Verwesungsgeruch in der Luft. Hier liegt keine Leiche seit Tagen herum. Aber dieser süßlich-metallische Geruch, der sagt uns, das alles ist gerade erst passiert.«
Tatsächlich saugte Jessi jetzt Luft ein, dass sich ihre Nasenflügel nur so aufblähten.
Holger Bloem beobachtete das alles sehr interessiert. Man sagte ja über Rupert, er habe einen guten Riecher. Jetzt kapierte Bloem, dass das möglicherweise wörtlich gemeint war.
»Meine Frau«, sagte Rupert, »macht manchmal Räucherstäbchen an. Die hat Duftkerzen und all so ein esoterisches Zeug. Da riecht es bei uns auch manchmal so. Das ist Weihrauch, Myrrhe. Riechst du noch mehr?«
»Ja. Irgendwas Karibisches … Kokos«, sagte sie. »Es riecht nach Kokosnüssen oder Kokoseis.«
Rupert wollte als Erstes die Leiche sehen. Jessi bemühte sich um eine andere Blickrichtung. Während Rupert unwillkürlich einen Pfiff ausstieß und etwas von »scharfer Schnitte« murmelte, betrachtete Jessi die brennende Kerze in dem hohen Glas. Dicke Wachstropfen hatten sich an einer Seite zu einem Fluss versammelt. Der sandige Boden um die Kerze herum wurde von einem weichen See aus Wachs überlagert. Während die Frau umgebracht wurde, musste also die ganze Zeit die Kerze gebrannt haben, folgerte Jessi.
Mit Hinweis auf die Dessous sagte Rupert: »Da hat sie sich für ihren Mörder aber richtig schick gemacht. Meine Frau hat so ähnliche Klamotten, trägt sie aber schon lange nicht mehr. Ich denke mal, die Sachen passen ihr nicht mehr. Sie hat am Hintern richtig zugelegt. Das kommt vom vielen Meditieren. Das ist einfach der falsche Sport. Dabei verbraucht man keine Kalorien. Ich habe ihr neulich noch gesagt: Pass auf, dass du nicht so einen Bratarsch bekommst wie die Wolters.«
Jessi guckte Rupert nur an, und gleich war er still.
Die Frau war mit mehreren Messerstichen in den Brustkorb getötet worden. An ihrem rechten Oberschenkel sah man eine handtellergroße Fleischwunde. Nicht besonders tief. Eine oberflächliche Verletzung, als habe jemand ein Stück Haut abgeschnitten.
Rupert schob einen Kriminaltechniker zur Seite und wollte, dass Jessi sich die Wunde genau anschaute. Sie tat ihm den Gefallen.
»Vermutlich hat sie sich gewehrt. Es hat einen Kampf gegeben. Der Täter ist mit ihr aufs Bett gefallen, und die scharfe Klinge hat ihr am Bein ein Stück Haut abrasiert. Ich habe es mal mit einem Fall zu tun gehabt, da hat der Mann versucht, in die Klinge zu greifen, um den Messerstecher zu entwaffnen. Dabei wurde ihm die Hand zerschnitten. Wir haben es hier vermutlich mit einer Übertötung zu tun. Auf den ersten Blick sehe ich sechs Messerstiche. Wahrscheinlich hätten einer oder zwei gereicht. Was folgerst du daraus, Jessi?«
Sie zuckte mit den Schultern und antwortete: »Da war jemand richtig wütend?«
»Genau.«
»Andererseits«, gab Holger Bloem zu bedenken, »werden wohl meistens Leute in Wut sein, wenn sie jemanden erstechen, oder?«
Rupert warf ihm einen zornigen Blick zu. Er fand, dass Bloem solche Kommentare nicht zustanden. Er überlegte, ob er einen Satz sagen sollte, wie: Ich bin hier der Kommissar, aber er klemmte es sich. Wer so etwas klarstellen musste, hatte eigentlich schon verloren.
Stattdessen fragte Rupert: »Wo ist denn unser Pappenheimer?«
So, wie Rupert Pappenheimer aussprach, klang es nach Hauptverdächtiger, wenn nicht gar nach Mörder.
Der Kollege Schrader, der als Erster am Tatort gewesen war, spielte sich mit seinem Wissen für Ruperts Verhältnisse ein bisschen zu sehr auf, so als würde er hier die Ermittlungen leiten oder sei gar der Staatsanwalt persönlich.
»Die Tote heißt Sabine Ziegler. Sie hat die Ferienwohnung für vierzehn Tage gemietet. Sie macht nicht zum ersten Mal Urlaub hier. Schon mit ihren Eltern ist sie als Kind nach Norddeich gekommen. Die typische Touristenkarriere. Erst kommen sie mit den Eltern, später mit ihren Partnern und dann mit den eigenen Kindern. Ich habe bereits mit der Vermieterin gesprochen. Ihr Typ heißt Florian Pintes. Die beiden sind seit ein paar Jahren zusammen. Letztes Jahr waren sie schon gemeinsam hier. Er sitzt in der Küche.«
Rupert klopfte Schrader demonstrativ auf die Schulter, so dass Jessi es mitbekommen musste, und sagte: »Danke, Kollege. Gute Arbeit.«
Rupert warf einen Blick in die Küche und sah dort auf der Eckbank, hinterm Tisch eingeklemmt, Florian Pintes. Er trug nur Unterhose und Unterhemd. An seinem geschwollenen Gesicht ließ sich unschwer erkennen, dass er heftig Prügel bezogen hatte.
Rupert zog Jessi zu sich ran und flüsterte ihr, jedoch laut genug, dass auch Holger Bloem es hören konnte, ins Ohr: »Gleich wird er uns irgendeine rührselige Geschichte erzählen. Vielleicht ist er die Treppe runtergefallen, oder ein Unbekannter hat ihn verprügelt. Jedenfalls wird er nicht zugeben, dass die Ziegler sich heftig gewehrt hat. So. Und jetzt zeig ich dir, wie man so einen Typen in die Mangel nimmt.«
Die Tasse in Florian Pintes’ Hand zitterte. Es sah aus, als würde er sich daran wärmen oder festhalten, wie ein Ertrinkender an einer Boje. Er schaute Rupert nicht an und gab ihm auch nicht die Hand. Er sah stattdessen auf die Tischplatte, als sei sie ein Bildschirm und dort liefe ein Film, der seine Aufmerksamkeit vollkommen absorbierte.
»Der Mann«, gab Holger Bloem zu bedenken, »steht unter Schock.«
»Ja«, konterte Rupert hart, »das kann er ja später auch alles seiner Therapeutin und seiner Bewährungshelferin erzählen. Aber jetzt werde ich ihm erst mal auf den Zahn fühlen. Haben Sie einen Verdacht, wer das gewesen sein könnte, Herr Pintes?«, fragte er so laut, dass man ihn auch noch im Nebenzimmer verstand.
Pintes starrte weiterhin auf die Tischplatte, reagierte aber. »Nein. Keine Ahnung.«
»Sehen Sie«, sagte Rupert, »das unterscheidet uns. Ich habe da nämlich eine Idee.«
Jetzt lösten sich Pintes’ Blicke von der Tischplatte und wanderten langsam an Ruperts Körper hoch bis zu seinem Gesicht. »So?«
»Ja. Lassen Sie uns doch mal gemeinsam überlegen. Ich finde eine erstochene Frau im Schlafzimmer, ihr Typ sitzt Kaffee trinkend in der Küche und hat deutliche Blutspuren am Kopf. Was würden Sie vermuten?«
Da der Mann nicht antwortete, versuchte Jessi eine Erklärung: »Vielleicht hat er mit dem Mörder gekämpft …«
Rupert schüttelte den Kopf: »Und ihn hat der Mörder dann nicht gestochen und nicht geschnitten, sondern ihm hat er nur was aufs Maul gehauen? Das sieht mir doch nach einem sehr ungleichen Kampf aus. Der eine hatte ein Messer, der andere keins …«
Florian Pintes sprach sehr langsam: »Ich habe die Polizei gerufen. Ich.«
»Das hat auch niemand bestritten«, stellte Rupert klar. »Wo waren Sie denn, als Ihre Freundin attackiert wurde?«
»Ich hatte das Haus nur ganz kurz verlassen. Ich habe einen Freund besucht, der kann das bestimmt bestätigen. Wolli … Gerd Wollenweber. Er hat einen Wohnwagen am Ocean Wave.«
»Ja, ich habe auch ein paar Kumpels, die jederzeit bestätigen würden, dass ich nachts bei ihnen war, wenn ich ein Alibi brauche. Jeder Mann hat so etwas. Aber dann geht es doch um einen Seitensprung, eine schöne, kleine Affäre oder eine durchzechte Nacht. Nicht um Mord. Glauben Sie mir, Herr Pintes, bei Mord halten nur die wenigsten Kumpel ihre Versprechen. Da brechen die Alibis immer zusammen.«
Pintes schlug mit der Faust auf den Tisch. Kaffee schwappte aus seiner Tasse. »Verdammt, ich habe sie nicht umgebracht! Ich habe sie geliebt! Wir wollten heiraten!«
Mit einem wissenden Blick sah Rupert Jessi an. »Siehst du … Genau, wie ich es dir gesagt habe. Wenn man mit einem Typen im Bett war, steigt die Wahrscheinlichkeit, von ihm umgebracht zu werden …«
»Ich habe sie nicht umgebracht!«, brüllte Pintes. »Ich will endlich meine Klamotten wiederhaben!«
Rupert grinste breit und zwinkerte Jessi zu: »Die haben die Kollegen bereits gesichert, und die sind unterwegs zum Labor. Ich wette zwei Monatsgehälter, dass wir daran deine Blutspuren und die der schönen toten Frau dort nebenan finden.«
Holger Bloem und Jessi Jaminski hielten sich an Ruperts Anweisungen. Ihre Hände steckten tief in den Hosentaschen. Rupert selbst schien seine eigenen Worte aber völlig vergessen zu haben.
Ein Kriminaltechniker, der in weiße Schutzkleidung gehüllt war, hob zwei Plastiktüten hoch. Darin eine Jeans und ein Oberhemd.
Erst als der Verdächtige aufstand und versuchte, an Rupert vorbei die Küche zu verlassen, fiel allen auf, dass er barfuß war.
»Wohin des Weges?«, fragte Rupert und ließ Florian Pintes nicht durch.
»Ich will einen Anwalt sprechen, und zwar sofort!«
Rupert spottete: »Oooch, das kann ich verstehen. Wir wünschen uns doch alle etwas. Ich zum Beispiel hätte jetzt gerne eine Currywurst mit Pommes, doppelt Mayonnaise und ein kühles Bier.«
Pintes machte einen zweiten Versuch: »Lass mich durch, verdammt!« Er fasste Rupert an der Schulter an, um ihn wegzuschieben.
Rupert verpasste ihm einen Tiefschlag. Die Luft wich aus Florian Pintes heraus, und er sackte in den Knien ein. Aus großen Augen sah er Rupert ungläubig an. Der klopfte sich die Finger ab, als hätte er sich schmutzig gemacht.
»Sagte ich schon«, fragte Rupert, »dass ich es nicht mag, wenn man mich anfasst …?« Dann drehte er sich zu Jessi um und vervollständigte seinen Satz: »Das gilt natürlich nicht für alle Menschen.«
Sie nahm es zur Kenntnis.
Rupert wandte sich wieder Pintes zu. »So, jetzt machst du dich mal wieder gerade, und dann setzt du dich da hin. Oder soll ich dir Handschellen anlegen und dich mit ins Kommissariat nehmen? Du hast die freie Wahl. Und als Nächstes wüsste ich gerne von dir, woher die Verletzungen an deinem Kopf stammen.«
Abwehrend hob Florian Pintes die Hände, hielt sie sich schützend vors Gesicht, als würde er einen Fausthieb von Rupert befürchten, und zeterte: »Ich bin auf dem Parkplatz vor dem Ocean Wave verprügelt worden.«
»Oh, oh, oh«, sagte Rupert, »böse Sache. Der große Unbekannte?«
»Da hat ein Pärchen rumgevögelt. Sie hielten mich wohl für einen Spanner. Der Typ ist völlig ausgerastet und auf mich losgegangen …«
»Na, dann kannst du uns doch bestimmt die Autonummer geben, nicht wahr, mein Freund?«
»Nein, verdammt, das kann ich nicht! Ich hatte echt andere Sorgen.« Florian Pintes begriff, dass ihm niemand glaubte. »Und dann hat Sabine mir noch ein Buch an den Kopf geworfen.«
»Ein Buch?«, fragte Rupert. »Was für ein Buch?«
»Schitt häppens …«
»Der war gut«, grinste Holger Bloem. »Zitierfähig!«
Als Ann Kathrin Klaasen zum Flugplatz auf Wangerooge losging, herrschte noch wunderbares Badewetter. Als sie wenige Minuten später dort ankam, hatte der Nordwestwind dunkle Regenwolken herbeigepustet, und eine Nebelbank verschleierte wie ein trüber Pinselstrich den blauen Himmel.
Typisch Ostfriesland, dachte Ann Kathrin. Alle zehn Minuten wechselt das Wetter.
Die sechssitzige Islander war zwar abflugbereit, doch der Pilot winkte ab: »Nee, nee, nee. Wir haben kein Radar, wir fliegen auf Sicht. Wir müssen warten, bis sich der Nebel verzogen hat.«
»Wie lange kann das dauern?«, fragte Ann Kathrin und ärgerte sich über sich selbst, denn sie hätte die Antwort voraussagen können.
»Vielleicht fünfzehn Minuten, vielleicht zwanzig. Wenn wir Pech haben, zwei Stunden. Am besten setzen Sie sich einfach da ins Restaurant, Frau Klaasen. Die machen einen ganz guten Kaffee, und ich kann Ihnen auch den Käsekuchen empfehlen. Ich vermute mal, es wird nicht lange dauern.«
Sie hatte die erste Tasse Kaffee getrunken, und noch bevor sie sich die zweite nachgießen und den restlichen Käsekuchen verzehren konnte, war der Himmel wieder blau. Sie ließ sich direkt nach Norddeich fliegen. Sie war der einzige Fahrgast, und sie genoss diesen Dienstflug.
Unter ihnen waren riesige Vogelschwärme. Sie sah eine Sandbank mit Seehunden und einen Krabbenkutter, dem eine Hundertschaft gieriger Möwen folgte.
Dieses Land war so schön, dass ihr die Tränen kamen. Sie spürte, wie sehr sie hierhin gehörte. Ostfriesland war nicht nur ihr Sehnsuchtsort. Dieses Land an der Küste mit den sieben Inseln war wirklich zu ihrer Heimat geworden.
Hier, dachte sie, wird mich nichts mehr vertreiben. Hier werde ich bleiben. Und irgendwann will ich auch hier begraben sein. Nein, nicht begraben. Ich will im Meer bestattet werden. Ich will Teil von dieser Kraft werden, die so schön und doch so zerstörerisch sein kann.
Die Islander war laut. Die Motoren der Propeller dröhnten. Aber es machte ihr nichts aus. Der Blick nach unten strahlte Ruhe genug aus.
Sie unterhielt sich nicht mit dem Piloten. Sie hörte auf eine Stimme in sich selbst. Sie spürte, dass sie glücklich war und endlich wusste, wo sie hingehörte.
Frank Weller stand winkend unten vor dem Tower. Sie stieg aus der Maschine und lief auf ihren Ehemann zu wie eine frisch verliebte junge Frau. Sie sprang in seine Arme, und er wirbelte sie einmal um sich herum. Dann erst wurden sie dienstlich.
Er gab ihr auf dem Weg zum Auto die ersten Infos: »Sabine Ziegler aus Dinslaken wurde in ihrer Norddeicher Ferienwohnung mit mindestens sechs Messerstichen getötet. Ihr Lebensgefährte Florian Pintes hat uns verständigt. Er hat sie angeblich gefunden. Ich habe bereits Erkundigungen über ihn eingezogen. Er ist kein ganz schlimmer Finger, aber wenn ich mir vorstelle, dass eine meiner Töchter mit so einem nach Hause käme, würde ich alles dransetzen, den Typen zu vergraulen.«
»Heißt?«, fragte Ann Kathrin kurz.
»Er hat seine Aggressionen nicht so gut im Griff, wurde mehrfach gegen seine früheren Partnerinnen gewalttätig. Es ist dreimal zu Anzeigen gekommen. Zweimal wurden sie wieder zurückgezogen. Einmal war der Richter gnädig, weil Pintes sich einer Therapie unterzogen hat. Irgend so ein Anti-Aggressionstraining. Scheint aber, wenn du mich fragst, nicht allzu viel genutzt zu haben. Die beiden wollten wohl heiraten. Ihre Eltern sind nicht ganz arm. Sie haben ein kleines Häuschen in Dinslaken, dazu zwei Eigentumswohnungen. In einer davon wohnte Frau Ziegler mit ihrem Typen. Er ist Orthopädieschuhmacher, aber wohl stellungslos, und sie arbeitet in Dinslaken in der Stadtverwaltung.«
Ann Kathrin glaubte, sich verhört zu haben: »Ein arbeitsloser Orthopädieschuhmacher? Ich denke, die werden gesucht?«
»Und wie«, bestätigte Weller. »Meine Jule könnte praktisch in der ganzen Welt arbeiten.«
»Die werden also gesucht, und der findet nichts?«, fragte Ann Kathrin.
»Ann, das sag ich dir: Deutsche Orthopädieschuhmacher genießen einen ausgesprochen guten Ruf von Brüssel bis Tokio«, sagte Weller merkwürdig grimmig.
»Ist was mit dir, Frank?«
»Ach, schon gut.«
»Na komm. Sprich’s aus.«
»Nee. Alles in Ordnung.«
Ann Kathrin ahnte es. »Ist das Treffen mit deinen Töchtern schiefgelaufen?«
Zerknirscht antwortete er: »Ja. Keine von beiden ist gekommen. Sabrina hat Ärger mit ihrem Freund, und Jule hat es wohl völlig vergessen.«
»Vergessen?«
»Ich habe Sabrina seit sechs Monaten nicht gesehen, und Jule seit vier Monaten. Wir wollten eigentlich zusammen Pizza essen gehen, und dann …«
Er sprach nicht weiter. Ann Kathrin spürte seinen Schmerz. Sie berührte seinen Unterarm und strich hinauf bis zu seiner Hand. Es rührte sie, wie sehr er versuchte, ein guter Vater zu sein.
Er sprach, als würde er es sich selbst nicht verzeihen: »Früher hatte ich nie Zeit. Immer war irgendein beruflicher Scheiß, vor allen Dingen an den Wochenenden. Dieser Staat schuldet mir zig Stunden mit meiner Familie …«
»So geht es uns allen«, sagte Ann Kathrin. »Wenn die Kinder klein sind, bauen wir gerade unsere Karrieren auf, sind beruflich bis zum Zerreißen angespannt, und wenn sie groß sind, dann …«
Weller schlug aufs Lenkrad: »Ach, Scheiße, was nutzt es mir, dass es allen so geht? Ich habe erwachsene Töchter, aber ich sehe sie praktisch nie.«
»Eike ist auch nicht gerade ein Muttersöhnchen«, gab Ann Kathrin zu bedenken, um Weller ein bisschen von seinem Schmerz abzulenken. Doch das ließ er nicht gelten: »Der liebt seine Mama. Das merkt jeder. Allein, wie dein Sohn dich anschaut …«
»Trotzdem habe ich ihn an Weihnachten zum letzten Mal gesehen.«
»Aber du hast wenigstens Ubbo.«
»Und jetzt ärgerst du dich, dass du nicht mit nach Wangerooge gefahren bist.«
»Ja. Ich ärgere mich tierisch darüber. Stattdessen habe ich mich mit Pizza überfressen und dann zur Verdauung zwei Doornkaat getrunken, und wenn ich eines nicht mag, dann Doornkaat.«
Sie ersparte sich die Frage, warum er ihn getrunken hatte. Manchmal neigte Weller zu Selbstbestrafungen.
In der Ferienwohnung waren Ann Kathrin deutlich zu viele Leute. Rupert. Jessi. Drei Kriminaltechniker. Staatsanwältin Meta Jessen, die vor zwei Wochen zur Oberstaatsanwältin geworden war und die aus Ann Kathrins Sicht unpassend hohe Stöckelabsätze trug, die Klack-Klack-Geräusche verursachten. Florian Pintes, immer noch barfuß und in Unterwäsche. Schrader, der in seinen Zähnen pulte. Holger Bloem stand am Fenster und telefonierte mit seiner Redaktion. Dazu noch die Leiche …
Ann Kathrin ging in die Küche. Hier war im Moment der ruhigste Ort. Sie stand in der Mitte, ohne irgendetwas zu berühren, und drehte sich ganz langsam, Zentimeter für Zentimeter um dreihundertsechzig Grad. Dabei tastete sie mit Blicken die Kücheneinrichtung ab, als wolle sie sie einscannen.
Weller beobachtete mehr Ann Kathrin, als dass er sich in der Wohnung umsah. Er hatte sie schon oft zu Tatorten begleitet und fragte sich jedes Mal, was da gerade in ihr vorging. Sie registrierte Sachen, die andere, auch er selbst, nicht zur Kenntnis nahmen, und daraus folgerte sie später Zusammenhänge, die alle anderen übersehen hatten.
Zu gern hätte er das von ihr gelernt. Es gab dazu keine Theorie. Die hätte sie ihm längst verraten. Es war nicht wissenschaftlich überprüfbar. Für ihn war es, als würde sie einen Sinn aktivieren, den andere nicht hatten. Eine gute Ermittlerin musste vielleicht so etwas wie eine Spürnase haben. Jedenfalls hatte sie jetzt alle Sensoren ausgefahren.
Er wusste, dass sie später, wenn alle anderen den Tatort verlassen hatten, hierher zurückkehren würde, um in der Wohnung allein zu sein. Um keinen störenden Energien oder Tönen ausgesetzt zu sein.
Jetzt bewegte sie sich auf den Herd zu und sagte ruhig: »Haben die KTU-ler sich hier umgesehen?«
Weller zuckte mit den Schultern. »Sieht nicht so aus.«
Rupert, der Ann Kathrins Frage gehört hatte, rief durch die offene Tür: »Der Tatort ist da drüben, Frau Kommissarin! Frau Ziegler wurde in ihrem Bett ermordet!«
Rupert hätte gern noch mehr gesagt. Das tat er aber nicht. Er grinste in sich hinein. In der Tiefe seiner Seele war er davon überzeugt, dass Frauen eigentlich in die Küche oder ins Schlafzimmer gehörten, und er fand es ganz passend, dass Ann Kathrin sich nun in der Küche aufhielt. Das sagte er aber nicht, weil er wusste, dass er sich damit eine Menge Ärger einhandeln könnte.
»Der Täter«, sagte Ann Kathrin, »hat sich hier noch irgendetwas gebraten. Ich glaube, er hat die Pfanne berührt. Am Griff sind Blutspuren.«
Rupert versuchte, die Abkürzung zu nehmen. Statt Indizienbeweise aufzubauen, fragte er einfach den Tatverdächtigen Pintes: »Na komm, raus mit der Sprache. Hast du dir nach der Tat noch ein paar Eier in die Pfanne gehauen?«
»Nein, verdammt! Sie hat uns Spaghetti mit Flusskrebsen gemacht.«
Rupert verschränkte die Arme vor der Brust: »Ach? Das ist ja interessant. Ich denke, du hast bei deinem Kollegen Wollenweber übernachtet?«
»Ja, hab ich auch. Das war aber danach. Also, sie hat uns vorher Spaghetti gemacht …«