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"Zum Begräbnis der Wahrheit gehören viele Schaufeln" Sprichwort
Kommissarin Pia Korittki steht am Grab einer Freundin, als ein Unbekannter die Trauerfeier stört und behauptet, dass der Tod kein Unfall gewesen sei. Doch als Pia nachhaken will, ist der Mann verschwunden. Pia beginnt zu recherchieren - und findet heraus, dass sich die Freundin von jemandem verfolgt gefühlt hat. Und dann erfährt sie, dass auch auf die Ex-Frau des Witwers ein Mordanschlag verübt wurde ...
Der fünfzehnte Fall der erfolgreichen Ostseekrimi-Reihe von Bestsellerautorin Eva Almstädt.
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Seitenzahl: 473
»Zum Begräbnis der Wahrheit gehören viele Schaufeln« Sprichwort
Kommissarin Pia Korittki steht am Grab einer Freundin, als ein Unbekannter die Trauerfeier stört und behauptet, dass der Tod kein Unfall gewesen sei. Doch als Pia nachhaken will, ist der Mann verschwunden. Pia beginnt zu recherchieren – und findet heraus, dass sich die Freundin von jemandem verfolgt gefühlt hat. Und dann erfährt sie, dass auch auf die Ex-Frau des Witwers ein Mordanschlag verübt wurde …
Der fünfzehnte Fall der erfolgreichen Ostseekrimi-Reihe von Bestsellerautorin Eva Almstädt.
Eva Almstädt, 1965 in Hamburg geboren und dort auch aufgewachsen, absolvierte eine Ausbildung in den Fernsehproduktionsanstalten der Studio Hamburg GmbH und studierte Innenarchitektur in Hannover. Seit 2001 ist sie freie Autorin. Eva Almstädt lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern in Schleswig-Holstein.
EVA ALMSTÄDT
Ostseegruft
Pia Korittkis fünfzehnter Fall
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Originalausgabe
Dieses Werk wurde vermittelt durch die
Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover
Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln
Titelillustration: © Panglossian/shutterstock; Bildagentur Zoonar GmbH/shutterstock; Tomas Klema/shutterstock; Stimmungszauber/shutterstock; kosmos111/shutterstock
Umschlaggestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.de
eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7325-8599-1
www.luebbe.de
www.lesejury.de
Das Loch unter den Büschen in seinem Garten war wieder da. Der Sand, den er am Vorabend im Dunkeln hineingeschüttet hatte, war spurlos darin verschwunden. Wie konnte das sein? Jörg Thomsen blickte über seine Schulter zum Nachbargrundstück. Seit Karl-Heinz nicht mehr arbeitete, verfolgte der Nachbar ihn und die anderen Bewohner der Privatstraße mit seiner Neugierde. Er musste den seltsamen Hohlraum unter seinem Garten unauffällig zuschütten, bevor jemand etwas davon mitbekam. Die vom Amt womöglich …
Doch womit? Der Erdaushub neben den Rosen sah schon komisch genug aus. Wie eines dieser eingesunkenen Gräber, die man manchmal auf Friedhöfen sah. Doch wenn er im Baumarkt eine Ladung feinen Kies bestellte, würde Karl-Heinz ihn fragen, was er damit vorhatte.
Jörgs Mobiltelefon klingelte. Er holte es hervor und zog die Augenbrauen zusammen. »Hi, Mam. Was gibt’s?«
»Jörg? Wo bist du gerade? Im Büro?« Ihre Stimme klang seltsam brüchig.
»Nein, ich bin zu Hause. Ich arbeite im Homeoffice.« Wie oft hatte er seiner Mutter das schon erklärt?
»Du bist also nicht im Büro.« Sie atmete schwer und räusperte sich dann. »Das ist sicher gut.«
»Was ist denn los, Mam? Alles in Ordnung bei dir?« Sie klang anders als sonst. Ihn beschlich ein ungutes Gefühl.
»Nein. Nichts ist in Ordnung«, stieß sie hervor. »Es geht um Kirsten.« Ihre Stimme zitterte.
Jörgs Magen zog sich weiter zusammen. »Was ist denn mit ihr?« Normalerweise war er das Sorgenkind und schwarze Schaf der Familie, nicht seine Schwester.
»Kirsten hatte einen Unfall. Sie ist … Ich weiß nicht, wie ich es dir schonend sagen soll. Kirsten ist tot, Jörg!« Seine Mutter schluchzte nun heftig.
»Nein! Das kann doch nicht sein. Mam! Wer behauptet das?« Kirsten war ein paar Jahre jünger als er und topfit. Jedenfalls war das der Status quo gewesen, als er sie das letzte Mal gesehen hatte. Seine jüngere Schwester war ihm weitaus gesünder vorgekommen, als er sich mit seinen 39 Jahren, dem Raucherhusten und den gut fünfzehn Kilo Übergewicht fühlte.
»Die Polizei. Es waren eben zwei Leute von denen bei mir.« Nun weinte seine Mutter am Telefon.
»Aber das kann doch nicht wahr sein! Die müssen sich irren«, rief er.
»Ich glaube nicht, dass die sich irren, Jörg.«
»Was sagen die denn, was mit Kirsten passiert ist?«
»Ich weiß nur, dass es ein Unfall war, Jörg. Beim Joggen. Stephan fährt mich jetzt zu Harro. Ich wollte dir Bescheid sagen, was los ist, bevor du es von jemand anders erfährst. Ich melde mich später wieder bei dir.«
»Kann ich dir irgendwie …«
Klick. Sie hatte das Gespräch beendet. Er konnte seiner Mutter anscheinend nicht helfen. Sie traute es ihm nicht zu. Sie vertraute auf Stephan, der sich stets um alles kümmerte. Ihr Fels in der Brandung. Und sie hatte Kirsten vertraut.
Jörg starrte wieder auf das Loch vor seinen Füßen. Es hatte sich in der Zwischenzeit nicht in Luft aufgelöst. Nein, die Erde rutschte sogar weiter nach, wenn er zu dicht danebenstand.
Kirsten war tot? Die Nachricht sickerte langsam und unerbittlich in sein Bewusstsein. Richtig begreifen konnte er es nicht. Hatte er sich wirklich neulich gewünscht, seine Schwester sei nicht mehr da? Doch Gedanken allein konnten nicht töten! Er hatte ihr nichts angetan. Bei allen Unstimmigkeiten, all dem Streit und den grundverschiedenen Ansichten, die sie hatten, wollte er sie doch nicht los sein!
Jörg hatte seit gut fünfzehn Jahren keinen Alkohol mehr angerührt. Nun spürte er das altbekannte, ziehende Verlangen danach. Er könnte zum Supermarkt laufen und sich eine Flasche Wodka kaufen. Das würde helfen. Dann dachte er an Constanze, die er vor ein paar Wochen kennengelernt hatte und mit der er jetzt zusammen war. Er sah ihr hübsches Gesicht mit den grünen Augen und den extrem dunklen Brauen vor sich. Ihren festen und doch samtig weichen Körper. Er würde den halben Strand von Bodewind in das Loch in seinem Garten schütten, nur damit alles so blieb, wie es war.
Das Autothermometer zeigte um elf Uhr vormittags eine Außentemperatur von achtundzwanzig Grad, und die Sonne brannte von einem wolkenlosen Himmel. Erbarmungslos, kam es Pia Korittki in den Sinn, während sie den Anlass ihrer Fahrt bedachte. Eine Schulfreundin von ihr, Kirsten Welling, ehemals Kirsten Thomsen, war gestorben. Die Todesnachricht und die Einladung zu der Trauerfeier hatten Pia wie ein Blitz aus heiterem Himmel getroffen. Sie hatte keine Ahnung, was ihrer Freundin passiert war.
Pia fuhr die gewundene Landstraße entlang nach Ahrensbök in Ostholstein. Die Christuskirche lag etwas abseits der Hauptstraße auf einem Hügel. Der Kirchturm, der durch die dunkelgrünen Baumkronen stach, erinnerte sie an einen von Felix’ dicken Buntstiften, wenn er frisch gespitzt war.
Zur Kirche musste sie zuerst. Danach ging es weiter auf den Friedhof und dann zu einem Gasthaus im Ort. Es war vermutlich dasselbe Restaurant, derselbe Saal, wie beim letzten Mal, als sie hier gewesen war. Das war zu Kirstens und Harros Hochzeit gewesen. War das wirklich schon zwei Jahre her?
Sie bog scharf nach links auf einen Parkplatz, der jedoch bereits komplett belegt war. Zwei Autos, deren Fahrer hier wohl ebenfalls gerade vergeblich ihr Glück versucht hatten, kamen ihr entgegen. Von überall strömten dunkel gekleidete Menschen auf die Kirche zu, allein, zu zweit oder in kleinen Gruppen. Der gesamte Kreis Ostholstein schien sich auf den Weg gemacht zu haben, um ihrer Freundin Kirsten das letzte Geleit zu geben.
Die Kirchenglocken läuteten. Mist, sie hätte früher in Lübeck losfahren sollen. Doch dann hätte sie den zweiten Teil der morgendlichen Dienstbesprechung im K1 versäumt, zu der sie ihre neuen Ermittlungsergebnisse hatte beitragen müssen, da ihr Teamkollege Heinz Broders einen Arzttermin gehabt hatte. Es kam immer alles auf einmal.
Pia wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Die frisch gebügelte Bluse klebte ihr bereits am Rücken. Sie fuhr eine Straße am Friedhof entlang und fand ganz am Ende eine Lücke, die groß genug für ihren Kombi war.
Nachdem sie ausgestiegen war und überprüft hatte, ob auch keins der Gummibärchen an ihr haftete, die ihr Sohn Felix neulich im Auto verloren hatte, lief sie den steil ansteigenden Weg hinauf zur Kirche. Die Glocken läuteten immer noch. Eine Menschentraube hatte sich vor dem Eingang versammelt, doch ein Mann im schwarzen Anzug, der sich an der alten Eichentür postiert hatte, schüttelte bedauernd den Kopf. Es gab drinnen offensichtlich keine Plätze mehr.
Pia stellte sich zu den anderen Trauergästen, die nicht mehr ins Kircheninnere gelangt waren, auf den Vorplatz nahe der Tür. Von hier aus konnte sie zumindest einen Teil des Gottesdienstes verfolgen. Sie musterte unauffällig die Umstehenden, ob sie jemanden erkannte. Es war eher unwahrscheinlich, denn Kirstens Familie saß höchstwahrscheinlich in der Kirche in den ersten Bänken vor dem Altar. Mit Kirstens Mutter Susanne hatte Pia wenig zu tun gehabt, aber sie erinnerte sich noch gut an Jörg, den Bruder ihrer Freundin.
Verdammt, dachte sie. Ist es jetzt schon so weit, dass man Jugendfreunde zu Grabe tragen muss? Nicht einmal vierzig Jahre ist sie alt geworden. Und Pia fragte sich nicht zum ersten Mal, woran ihre Schulfreundin, die sie vor gar nicht allzu langer Zeit noch quietschfidel auf ihrer Hochzeit angetroffen hatte, gestorben sein mochte.
Nach einer knappen Dreiviertelstunde und dem letzten Orgelstück wurde unter Glockengeläut der Sarg aus der Kirche getragen. Die Trauergäste folgten gemessenen Schrittes. Den länglichen Kasten aus Eichenholz zu sehen, in dem ihre frühere Freundin mit dem ansteckenden Lachen und dem unbändigen Haarschopf liegen sollte, versetzte Pia einen Schlag in die Magengrube. Was vorher nur ein Gedanke, eine beunruhigende Vorstellung, gewesen war – Kirstens Tod –, war mit einem Mal erschreckend real.
Als eines der ersten bekannten Gesichter entdeckte sie Kirstens Ehemann Harro Welling mit seinen Eltern, die sie alle auf der Hochzeitsfeier kennengelernt hatte. Dann sah sie Jörg Thomsen, Kirstens Bruder. Er hatte sich in den letzten Jahren stark verändert. Er war recht dick geworden, und seine Haut sah teigig aus. Er ging an der Seite seiner Mutter, die Pia ebenfalls von früher kannte.
Pia folgte den Menschen in Richtung des Friedhofs, der direkt hinter der Kirche lag. Sie hasste Erdbestattungen und war sich nicht sicher, ob sie sich nach dem Tod ihres Freundes Lars vor zwei Jahren der Zeremonie heute bis zum Letzten stellen wollte.
Schier endlos erschien ihr die Menschenschlange, die langsam dem Sarg den von alten Linden gesäumten Weg hinunter bis zum Grab folgte. Rechts lagen zwei kleine Gebäude aus gelblichem, verwittertem Stein, eines mit Efeu berankt, die Pia als Familiengruften identifizierte. Alles blieb stehen, sah zu der neuen Grabstelle hinüber, die etwas seitlich vom Weg lag. Als der väterlich wirkende Pastor noch ein paar Worte sprach und der Sarg in die Erde hinabgelassen wurde, stand Pia noch ungefähr fünfzig Meter vom Grab entfernt, sodass sie seine Worte nicht hören konnte. Sie sah, wie weiter vorn, am Fuße des Hügels, die Leute nacheinander vortraten, noch einen kurzen Moment vor dem offenen Grab stehen blieben und dann etwas Erde auf den Sarg schaufelten. Pia hatte diesen Brauch nie so recht verstanden, aber auch nicht hinterfragt. Langsam schoben sich die dunkel gekleideten Menschen vor ihr vorwärts. Es würde noch etwa zehn Minuten dauern, bis sie an der Reihe wäre. Oder sie könnte umdrehen und direkt zum Gasthof gehen. Während sie noch unentschlossen dastand, löste sich ein Mann mit Glatze und verspiegelter Sonnenbrille aus der Menge und trat an das Grab ihrer Freundin. Zunächst verhielt er sich wie alle anderen, hielt einen Moment wie im Gedenken an die Tote inne, schaufelte etwas Sand auf den Sarg. Doch dann schien ein Ruck durch ihn hindurchzugehen. Er hob den Kopf, sodass das Sonnenlicht von den verspiegelten Gläsern der Brille reflektiert wurde. Er sah umher, wie um zu prüfen, ob alle Aufmerksamkeit auf ihm lag. Dann sagte er etwas, das die Umstehenden zurücktreten ließ.
Pia konnte auch seine Worte nicht verstehen. Doch es war offensichtlich, dass er die anderen Leute mit dem, was er sagte, brüskierte. Einige wichen zurück, andere starrten ihn an oder steckten die Köpfe zusammen. Eine Frau, die schräg hinter ihm gestanden hatte, trat vor und sprach ihn an, bedeutete ihm, den Platz vor dem Grab wieder frei zu machen, aber der Mann ignorierte sie.
So schnell es auf dem Kiesweg mit den Pumps möglich war, eilte Pia an den anderen Wartenden vorbei auf das offene Grab zu. Dort bahnte sich offensichtlich eine unangenehme Szene an, die sie, falls möglich, verhindern oder beenden wollte. So etwas hatten weder Kirsten noch ihre Angehörigen, die um sie trauerten, verdient.
Der Pastor, der sich schon ein paar Meter weit vom Grab zurückgezogen hatte, dachte wohl das Gleiche wie sie und kam ebenfalls wieder nach vorn. Pia war noch etwa zwanzig Meter entfernt, als der Pastor den Mann ansprach und ihn am Arm fasste. Der Angesprochene versuchte, sich loszumachen. Inzwischen war Pia noch etwas dichter am Ort des Geschehens.
»Gehen Sie jetzt bitte! Die anderen Trauernden möchten auch noch …«, hörte Pia den Pastor sagen. Der Mann stieß ihn von sich. Der schwarze Talar wirbelte, und der Kirchenmann stolperte und stürzte in Richtung des offenen Grabes, wo ihn zwei Trauergäste gerade noch festhalten konnten. Die Menschenmenge setzte sich in Bewegung, und zwar zum größten Teil von der Grabstelle weg in Pias Richtung. Sie lief, so schnell es möglich war, ohne jemanden zu arg zu schubsen oder gar zu verletzen, den Menschen entgegen auf den Tumult zu. Dabei knickte sie mehrmals um. Sie streifte die Schuhe von den Füßen, ließ sie auf dem schmalen Rasenstück liegen und lief barfuß weiter über den harten Kies, um den Mann einzuholen, der zwischen den Büschen und Gräbern verschwand. Um den Pastor kümmerten sich offensichtlich schon andere, während der Unruhestifter nicht mehr zu sehen war.
»Wo ist er hin?«, fragte Pia eine rothaarige Frau, die nahe am Grab stand. Die Angesprochene deutete vage in Richtung üppiger Rhododendren.
»Ist er in den Büschen verschwunden?«
Sie zuckte mit den schmalen Schultern. »Ich glaube schon.«
Pia bahnte sich ihren Weg durch die Schar der Trauergäste zu den Rhododendren. Nach einem vergeblichen Vorstoß in die dichten, mehr als mannshohen Büsche, der ihr nichts als Blätter und kleine Zweige im Haar und eine zerzauste Frisur einbrachte, umrundete sie die Rhododendren und sah sich in alle Richtungen um. Sie konnte den Mann, seine Glatze und die spiegelnden Gläser seiner Sonnenbrille nirgends entdecken. Pia lief zurück zu den anderen Trauergästen, doch wen sie auch fragte, niemand konnte ihr sagen, wohin der Unruhestifter verschwunden war. Pia hastete auf die Straße zu, wobei sie sich immer noch nach allen Seiten umschaute. Sie hoffte, zumindest ein Auto wegfahren zu sehen. Dann hätte sie ein Kennzeichen … Doch als sie durch die Friedhofspforte trat und die Straße in beide Richtungen hinuntersah, standen alle Fahrzeuge unbewegt im Sonnenlicht am Straßenrand. Es rührte sich keines. Zwischen einem blauen Toyota und einem Geländewagen nahe dem Friedhofstor klaffte jedoch eine Lücke. Dort könnte das Auto des Mannes gestanden haben. Sie war zu spät gekommen. Frustriert stoppte Pia ab. Der Unruhestifter war fort. Und sie war barfuß, mit schmutzigen, zerschundenen Füßen und sah vermutlich insgesamt ziemlich derangiert aus. Das ist mal wieder typisch, dachte sie.
Kirsten hätte ihre wilde Aktion und ihren Aufzug vielleicht sogar komisch gefunden. Doch ihre frühere Freundin war nicht mehr da. Beklemmung stieg in Pias Brust auf, die nicht von der Atemnot wegen der Verfolgungsjagd herrührte. Warum hatte sie unbedingt eingreifen und diese Person stellen wollen? Der Mann, der alle brüskiert und eine solche Show abgezogen hatte, war wahrscheinlich kein Unbekannter. Jemand würde ihr erklären können, wer er war, und vielleicht auch, warum er sich so benommen hatte. Und was genau er gesagt hatte …
Und dann? Die Situation war vorüber. Der Schaden für die Angehörigen war entstanden und durch nichts mehr rückgängig zu machen. Pia strich sich übers Haar, zupfte sich eine vertrocknete Blüte heraus, betrachtete sie und warf sie fort. Es wäre allerdings schon interessant zu erfahren, was den Mann zu dieser Szene am Grab veranlasst hatte. Pia schüttelte irritiert den Kopf. Dann ging sie leicht humpelnd zurück zu dem Rasenstück, um ihre Schuhe einzusammeln.
Der Gasthof war tatsächlich derselbe, in dem auch Kirstens und Harros Hochzeit stattgefunden hatte. Pia wusste nicht, ob sie es geschmacklos oder doch eher beruhigend und beständig finden sollte. Vielleicht gab es in Ahrensbök sowieso nur die eine geeignete Lokalität für größere Veranstaltungen dieser Art. Und wenn sie die Hochzeitsfeier schon als gut besucht empfunden hatte, so war diese Trauerfeier offenbar das Großereignis der Umgebung.
Zumindest wusste Pia von ihrem letzten Besuch in diesem Gasthof noch, dass sich die Waschräume im Keller befanden und dass die Treppe dorthin nahe am Eingang lag. Sie wollte sich wieder einigermaßen repräsentabel herrichten, bevor sie noch weiteren Bekannten begegnete.
Als Pia am Waschbecken stand, sich die Hände wusch und das zerzauste Haar ordnete, trat eine Frau aus einer der Toilettenkabinen. Es war die Rothaarige, die nahe am Grab gestanden hatte, als der Mann geflohen war.
»Ach, Sie sind es. Haben Sie ihn erwischt?« Die Frau stellte sich neben Pia und drückte ungeduldig auf den beinahe leeren Seifenspender.
»Nein, er war zu schnell weg. Leider. Wer sind Sie? Kannten Sie Kirsten gut?«
»Ich bin Anja … Anja Behrens. Harros und Kirstens Nachbarin.« Sie reichte ihr die frisch gewaschene, aber noch feuchte Hand. »Ich habe schon mit Harro im Sandkasten gespielt.«
»Mein Name ist Pia Korittki. Ich bin eine alte Schulfreundin von Kirsten.«
»Dann war es sicher ein Schock, als Sie von ihrem plötzlichen Tod gehört haben. Es war für uns alle ein Schock.«
»Ja. Das war es. Was ist denn überhaupt mit Kirsten passiert?«
»Wissen Sie es noch nicht? Sie ist an einem Wehr ins Wasser gestürzt und ertrunken. Es ist beim Joggen passiert. Man möchte es kaum glauben …«
»Ertrunken?« Pia trocknete sich die Hände ab. »Wieso ist sie da hineingestürzt? Das ist schwer vorstellbar bei einer Frau wie Kirsten. Sie war immer so sportlich und geschickt.«
»Es soll ihr etwas ins Wasser gefallen sein, und sie hat versucht, es herauszuholen. Dabei hat sie wohl den Halt verloren. Das kann jedem passieren … Der Sog im Tosbecken ist unheimlich stark.«
»Aber das muss sie doch gewusst haben.«
»Ja, das ist das Tragische daran. Doch solche Dinge passieren.« Anja fuhr sich mit den Fingern durch das dünne Haar und versuchte, es ein wenig aufzuplustern. Sie holte eine kleine Flasche aus der Tasche und sprühte sich das Haarspray auf den Haaransatz.
Pia hielt die Luft an. »War Kirsten zu dem Zeitpunkt allein?«, fragte sie, als sich der Nebel weitgehend verzogen hatte.
Anja warf ihr im Spiegel einen prüfenden Blick zu. »Warum fragen Sie? Sind Sie von der Polizei?«
»Ja«, bestätigte Pia. »Aber ich bin privat hier. Wie gesagt, Kirsten war meine Freundin, auch wenn wir uns nur noch selten gesehen haben.«
»Dann sollten Sie vorsichtig sein mit solchen Fragen. Die Leute könnten das falsch verstehen. Und Harro und seine Eltern haben schon genug zu leiden.« Sie verstaute die Sprühflasche in ihrer Tasche und zog den Reißverschluss zu.
»Das kann ich mir vorstellen.« Pia nickte unverbindlich. »Doch das sind wohl Fragen, die sich jeder hier stellt.«
»Meinen Sie?«
»Und was war mit dem Mann am Grab, der eben für solches Aufsehen gesorgt hat?«
»Wahrscheinlich ein Spinner. Beerdigungen ziehen solche Leute doch magnetisch an. Ich gehe jede Wette ein, dass hier auch noch der eine oder andere herumlungert, der gar nichts mit Kirsten zu tun hatte, nur um eine Suppe oder ein Stückchen Kuchen zu ergattern.«
»Der Mann wirkte auf mich überhaupt nicht wie ein Spinner. Haben Sie zufällig verstanden, was er gesagt hat?«
»Nein, ich stand zu weit weg«, antwortete Anja schnell. »Und ich muss dann auch mal wieder hoch. Es war nett, mit Ihnen zu plaudern. Übrigens, Sie haben da eine Laufmasche.« Anja Behrens schulterte ihre Umhängetasche und entschwand in Richtung Tür.
Pia blickte ihr nach. »Auftritt Anja Behrens, die Nachbarin«, sagte sie leise. Seltsam, dass sie den Mann nicht verstanden hatte. Pia warf einen Blick an sich hinunter. »Laufmasche« war die Untertreibung des Jahres. Pia zog die zerrissene Strumpfhose aus und warf sie in den Mülleimer. Warum hielten die Dinger bei ihr nie länger als einen halben Tag? Eine Verschwendung war das. Sie strich sich nochmals mit einem kleinen Seufzer übers Haar und folgte der Frau nach oben.
Dort angekommen, lief Pia als Erstes Kirstens Bruder Jörg in die Arme. Bei näherem Hinsehen war sein verändertes Aussehen noch auffälliger. Damals hatte er lange, von der Sonne ausgeblichene Haare gehabt und war stets braun gebrannt gewesen. Zumindest in ihrer Erinnerung. Der typische Surfer und Sonnyboy. Inzwischen hatte er etwa zwanzig Kilo zugenommen und trug das Haar kurz. Es war nachgedunkelt und lag ihm wellig am Kopf an. Jörgs Augen waren noch so hellblau wie damals, als er ein Teenager gewesen war, doch das Leuchten war daraus verschwunden. Vielleicht kein Wunder, wenn man den plötzlichen Tod seiner einzigen Schwester bedachte.
Einen Sommer lang, so mit fünfzehn Jahren, hatte Pia ihn unheimlich toll gefunden. War sie vielleicht sogar ein bisschen in ihn verliebt gewesen? Er war zwei Jahre älter als sie, hatte seine eigene Clique gehabt, und er hatte die Freundin seiner kleinen Schwester kaum beachtet. Auch das hatte sich geändert. »Pia! Wie gut, dich zu sehen!«, rief er erleichtert aus, als sie zu ihm trat. »Auch wenn der Anlass so traurig ist«, ergänzte er und zog sie ein Stück zur Seite.
»Hallo, Jörg. Wie lange ist es her, dass wir uns gesehen haben? Warst du nicht auch auf Kirstens und Harros Hochzeit?«
»Ja, ich war da. Aber es waren so viele Leute dort. Ich kann mich nicht erinnern, dass wir uns über den Weg gelaufen sind.« Jörg senkte die Stimme. »Ich kenne hier kaum jemanden und fühle mich, ehrlich gesagt, ziemlich deplatziert.«
Pia nickte. »Geht mir ähnlich. Harro habe ich natürlich auf der Hochzeit kurz kennengelernt, und eure Mutter kenne ich noch von früher.« Pia erinnerte sich nun, dass Kirstens und Jörgs Vater schon vor vielen Jahren gestorben war. Oder war er verschwunden? Kirsten und sie hatten zu diesem Zeitpunkt keinen Kontakt mehr gehabt, da ihre Freundin mit ihrer Familie damals schon aus Stockelsdorf weggezogen war. Das musste Anfang der elften Klasse gewesen sein. »Wie kommt deine Mutter damit klar?«, fragte Pia mit gedämpfter Stimme.
»Sie will es nicht zeigen, aber es geht ihr richtig schlecht. Stephan machte so eine Andeutung, dass sie im Moment irgendwelche Psychopillen schluckt wie saure Drops.«
»Wer ist Stephan?«
»Ihr Lebenspartner. Dahinten ist er.« Der Mann saß mit Kirstens Mutter an einem der Tische und trank ein Glas Wein. Sie hatte ein Mineralwasser vor sich stehen, und sie unterhielten sich mit einem anderen Paar. Kirstens Mutter hatte sich bis auf ganz wenige Fältchen im Gesicht und ein paar Kilo mehr auf den Hüften ihr Aussehen von vor ungefähr zwanzig Jahren bewahrt. Der gut aussehende blonde Mann an ihrer Seite hatte fürsorglich den Arm um Susannes Schulter gelegt.
»Sie und Stephan sind schon einige Jahre zusammen. Sie haben sich über Mutters Beruf kennengelernt.«
»Und wie geht es dir?«
»Ich glaube, ich bin noch in Schockstarre«, bekannte Jörg. »Es ist ja nicht einmal so, dass Kirsten und ich uns besonders nahestanden. Aber dass so etwas passiert! Ich kann es immer noch nicht glauben, dass sie nicht mehr da ist.«
Pia nickte. »Es soll ein Unfall gewesen sein?«, fragte sie.
Jörg schnaubte. »Das war so absolut unnötig wie nur was. Sie ist joggen gewesen und an einer Mühle in den Bach gestürzt. Der Sog soll sie unter Wasser gezogen haben. Sie soll schnell tot gewesen sein.«
»Wie furchtbar. Jemand hat gesagt, ihr sei wohl etwas ins Wasser gefallen?«
»Kann schon sein. Es nützt ja nichts mehr, ihr deswegen Vorwürfe zu machen.« Er verzog das Gesicht.
»Ich möchte es nur verstehen«, erwiderte Pia. »Sie war doch immer so sportlich.«
»Ja. Sie war im Turnverein und im Geräteturnen einmal sogar Kreismeisterin. Und sie konnte so gut klettern wie ein Äffchen. Als wir klein waren, war sie immer zuerst oben auf den Bäumen«, erinnerte sich Jörg. »Mutter hat Zustände bekommen, wenn sie bis ganz nach oben gekraxelt ist, dorthin, wo die Zweige so dünn waren, dass kaum die Vögel zu landen wagten, und dann auch noch mit einer Hand losgelassen und ihr von oben zugewunken hat.« Ein schwaches Lächeln stahl sich in seine Züge.
Pia nickte. »Sie war unheimlich geschickt. Dagegen kam ich mir vor wie ein Tollpatsch.«
»Du?« Er musterte Pia von oben bis unten. »Du konntest ziemlich schnell rennen, wenn ich es noch richtig in Erinnerung habe. Beim ›Jungs die Mädchen‹ bist du mir immer weggerannt. Und du siehst so aus, als würdest du jetzt Marathon laufen oder so. Bist du eigentlich noch bei der Polizei?«
»Im Moment komme ich kaum dazu, Sport zu machen.« Pia merkte, dass das eine schwache Ausrede war, auch vor sich selbst. »Aber bei der Polizei bin ich immer noch.«
»Und wo genau?«
»Im K1 der Lübecker Bezirkskriminalinspektion.«
»Das bedeutet …«
»Hauptkommissarin bei der Mordkommission.«
»Oha. Denkst du etwa, dass etwas mit Kirstens Tod nicht stimmt?«
»Nein. Ihr Unfall ist ja sicherlich polizeilich untersucht worden.«
»Keine Ahnung, wie gründlich.« Jörg starrte sie nachdenklich an.
»Hast du mitbekommen, was vorhin am Grab los war?«, fragte Pia.
»Ich habe nur gehört, dass sich da einer ziemlich aufgespielt hat. Aber ich war schon weg. Wollte mir nicht von hunderttausend Leuten kondolieren lassen.«
»Verstehe. Weißt du zufällig, was der Mann gesagt hat?« Pia ließ nicht locker. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass sich das nicht längst herumgesprochen hatte. »Oder wer er war?«
»Nein, und ich will es auch gar nicht wissen.« Jörg sah sich im Saal um. »Du könntest den Pastor fragen. Der war doch noch da, als es losging. Er wäre beinahe in das Grab gefallen, habe ich gehört.«
Pia hatte keinen Appetit auf das bereitstehende Essen, obwohl alles sehr gut und reichlich aussah. Sie bestellte sich nur einen Kaffee, ging damit herum und sprach mit dem einen oder anderen, immer noch darauf aus zu erfahren, was genau sich am Grab abgespielt hatte.
Kirstens Mutter, Susanne Thomsen, erinnerte sich an Pia und stellte ihr sogleich ihren Lebensgefährten Stephan Hauf vor. Pia entsann sich, ihn auch schon auf Kirstens Hochzeit gesehen zu haben. Sie traf kurz darauf auch auf Harro, Kirstens Witwer, und sprach ihm ihr Beileid aus. Er machte nicht den Eindruck, dass ihm der Sinn nach Small Talk stand, sondern wirkte leicht abwesend. Pia konnte es gut verstehen, nach dem furchtbaren und plötzlichen Verlust, den er mit Kirstens Unfalltod verarbeiten musste.
Sie entdeckte den Pastor, der gerade in ein Gespräch mit Kirstens Schwiegereltern vertieft war. Sie hatte sie ja vor der Kirche schon kurz gesehen. Franz Welling war klein und dünn, hatte aber einen runden Bauch, über dem sein weißes Hemd spannte. Seine Nase und Wangen waren gerötet. Harros Mutter sah insgesamt rundlich aus in dem weiten schwarzen Kleid. Mit dem runden, von grauen Wellen umrahmten Gesicht wirkte sie eher wie ein altes Mädchen als eine erwachsene Frau. Beide redeten auf den Pastor ein, der ihnen konzentriert zuhörte. Er machte einen empathischen und zugewandten Eindruck. Pia wollte die drei nicht stören, sondern stellte sich in Sichtweite und wartete ab, um den Pastor danach abzufangen und mit ihm zu sprechen.
Während sie den Kaffee trank, beobachtete sie Harro, der nun auf der anderen Seite der Bar stand und von immer neuen Menschen belagert wurde. Er tat ihr leid, so blass und fertig, wie er aussah. Er war sicherlich froh, wenn er diesen Tag hinter sich gebracht hatte. Eine Frau in einem schwarzen Kostüm mit weißer Bluse darunter hielt sich dicht neben Harro und schien die meisten Leute genauso gut zu kennen wie er. Oft übernahm sie die Gesprächsführung, wenn Harro nur schluckte und angestrengt auf einen Punkt in der Ferne starrte. Sie unterstützte ihn, wäre aber sicher noch eine größere Hilfe gewesen, wenn sie ihn einfach aus dem Gewühl weggeführt hätte. Sie ging sehr vertraut mit Harro um, doch Pia konnte sich nicht erinnern, sie auf der Hochzeit von Kirsten und Harro gesehen zu haben. Die Frau war nicht sehr groß, hatte eine kurvige, attraktive Figur und dunkelbraune, lange Haare. Sie trug sie glatt nach hinten gestrichen, mit einem schnurgeraden Pony. Pia war sich sicher, dass sie sich an sie erinnern würde, wenn sie ihr schon einmal begegnet wäre.
Und Pia war nicht die Einzige, die zu Harro hinübersah. Im Hintergrund, nahe am Fenster, stand Anja Behrens mit schmal zusammengekniffenen Augen, geröteten Wangen und einer weißen Nasenspitze. Ihre Hände umkrampften den Gurt ihrer Umhängetasche.
Beinahe hätte Pia den Pastor verpasst, der sich von Kirstens Eltern verabschiedet hatte und langsam durch den Raum schritt, wohl auf der Suche nach einem Schäfchen, das noch seines offenen Ohres oder eines verständnisvollen Wortes bedurfte.
Pia ging ihm entgegen. »Entschuldigen Sie bitte, Herr Pastor, dass ich Sie einfach so anspreche. Mein Name ist Pia Korittki. Ich bin eine alte Schulfreundin von Kirsten.«
Er musterte sie mit grauen Augen unter dichten weißen Brauen. »Freut mich, mein Kind«, sagte er. »Ich bin Pastor Hoffmann. Und natürlich dürfen Sie mich einfach so ansprechen. Dafür bin ich ja hier. Was haben Sie auf dem Herzen?«
Pia schluckte ihre Verwunderung über die Anrede herunter. »Ich bin völlig überrascht worden von der Nachricht, dass Kirsten tot ist. Ich würde gern wissen, was passiert ist. Damit ich es begreifen kann.«
»Ja – begreifen. Es ist schwer zu begreifen, wenn ein so junger Mensch gehen muss. Es war ein tragischer Unfall. Wir sind alle noch ganz schockiert. Aber das hat man Ihnen doch sicher schon gesagt.«
»Ja, ich habe eben mit Kirstens Bruder gesprochen«, gab Pia zu. »Ich kenne ihn von früher. Trotzdem kann ich kaum glauben, dass es so passiert ist.«
»Dazu braucht es Zeit«, sagte er. »Alle sind sehr traurig. Kirsten war so ein wunderbarer und lebensfroher Mensch und hat Harro gutgetan.«
Pia nickte. »Wissen Sie eigentlich, wer der Mann am Grab war?«, fragte sie dann.
»Also darum geht es Ihnen.« Er sagte es freundlich, aber bestimmt. »Doch da kann ich Ihnen nicht weiterhelfen. Es war ein seltsamer Zwischenfall. Ich kannte den Mann nicht. Niemand, den ich bisher gesprochen habe, weiß, wer er ist.«
»Das ist wirklich ungewöhnlich«, antwortete Pia. »Er machte den Eindruck, als kenne er Kirsten gut und wäre emotional stark betroffen. Was hat er eigentlich genau gesagt?«
»Er sagte: ›Ihr denkt doch nicht, dass Kirstens Tod ein Unfall gewesen ist?‹«
Pia stellte die Tasse ab und musterte den Pastor. »Und als Sie ihn danach angesprochen haben, hat er Sie ziemlich grob weggestoßen.«
»Er war aufgebracht. Er ist dann ja auch weggelaufen. Wahrscheinlich hat er während der Beerdigung die Nerven verloren, und sein unpassender Auftritt tat ihm im nächsten Moment schon leid.«
»Und wenn er nun recht hatte?«
»Womit? Dass es kein Unfall war? Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass sie das absichtlich getan hat.« Als Pia schwieg, fuhr er fort: »Sie denken doch nicht, dass Kirsten dort hineingestoßen wurde?«
»Ich denke noch gar nichts. Ich frage mich nur, was wirklich passiert ist.«
»Mein Kind. Sie machen auf mich den Eindruck, dass Sie auf der Suche nach etwas sind. Das ist gut.«
»Sind wir nicht alle auf der Suche nach irgendetwas?«
»Ja. Und wonach suchen Sie?«
Pia fuhr wie auf Autopilot gestellt zurück nach Lübeck. Sie musste sich mehrmals zusammenreißen, sich auch genügend auf den Verkehr zu konzentrieren und nicht zu sehr ihren Gedanken nachzuhängen. Sie hatte gehofft, auf der Trauerfeier für ihre frühere Schulfreundin zu erfahren, weshalb sie so früh gestorben war. Stattdessen taten sich immer neue Fragen auf. Wieso war Kirsten so unvorsichtig gewesen? Selbst wenn sie an dem Wehr oder der Böschung herumgeklettert war: Es war trotzdem schwer vorstellbar, dass sie den Halt verloren, ins Wasser gestürzt und ertrunken war. Eine Verkettung verhängnisvoller Umstände war natürlich immer möglich. Sie hätte zum Unfallort fahren und ihn sich ansehen sollen … Vielleicht könnte sie es sich dann vorstellen.
Doch Kirsten war so geschickt und sportlich gewesen. Einen halben Kopf kleiner als Pia, dünn und gelenkig. Im Sportunterricht hatte sie im Geräteturnen immer eine glatte Eins bekommen. Die halbe Klasse hatte mit offenem Mund danebengestanden, wenn sie mehrmals um die obere Stange des Stufenbarrens gewirbelt war, um dann abzuspringen und sicher auf beiden Füßen auf der Matte zu landen, die dünnen Arme hochgerissen, ein triumphierendes Leuchten in den Augen.
Und dann war da noch der Mann, der offensichtlich auch nicht glauben konnte, dass es sich so zugetragen hatte. Doch anstatt offen zu reden, am besten gleich zur Polizei zu gehen, hatte er am Grab mit seiner Behauptung, dass es wohl kein Unfall gewesen war, die Trauernden brüskiert und sich dann aus dem Staub gemacht. Das war beinahe noch seltsamer. Was hatte er damit bezweckt? Wie kam er zu diesem Schluss? Sie musste ihn finden. Doch wie, wenn ihn keiner erkannt haben wollte? Kirsten konnte sie nun nicht mehr fragen. Pia war sich sicher, dass ihre Freundin die Antwort auf diese Frage gewusst hätte. Und die auf die andere Frage, wie und warum sie ums Leben gekommen war, wahrscheinlich auch.
Auf der ersten Hälfte der Fahrt versuchte Pia, sich noch davon zu überzeugen, dass der Fall schon untersucht worden war und sie sich auf ihre Kollegen von der örtlichen Kripo verlassen konnte. Eutin war wahrscheinlich zuständig. Als sie sich Lübeck näherte, war Pia entschlossen, zumindest noch einmal bei den Kollegen in Eutin nachzufragen und sich ihre Version der Ereignisse anzuhören. Immerhin war der unbekannte Mann am Grab mit seiner Behauptung ein neuer Aspekt in der Angelegenheit. Und Kirsten war ihre Freundin gewesen …
Harro Welling war ganz kurz versucht, seine Eltern einfach am Straßenrand stehen zu lassen. Irgendein Nachbar würde sie schon mitnehmen. An ihren Gesichtern konnte er ablesen, dass die Rückfahrt für ihn keinesfalls angenehm verlaufen würde. Welches Recht hatten sie eigentlich, ihm diesen Tag zusätzlich schwer zu machen? Sollten sie sich nicht eher um sein Wohlergehen sorgen? Er war es schließlich, dessen Frau gestorben war, nach nur zwei Jahren Ehe. Sie hatten »nur« eine Schwiegertochter verloren, die sie, wenn er ehrlich war, wohl nicht einmal sonderlich geschätzt hatten. Während er seine Wut niederkämpfte, hielt er am Straßenrand und wartete ab, bis sein Vater vorn auf den Beifahrersitz, seine Mutter umständlich hinten eingestiegen war.
»Du kannst«, sagte sein Vater, den Blick geradeaus gerichtet.
Harro fuhr an, passierte langsam noch ein paar der Trauergäste, die auf dem Weg zu ihren Autos waren. Er nickte dem einen oder anderen zu, der ihn erkannte.
»Es sind wirklich viele Leute gekommen«, bemerkte seine Mutter. »Alle Nachbarn, beinahe der ganze Kirchenkreis. Waren die Hansens und die Schraders eigentlich auch da?«
»Ja. Ich habe sie gesehen und mich mit Ingo Schrader auch kurz unterhalten.«
»Von Kirstens Seite waren ja längst nicht so viele Leute da wie von unserer …«
»Dann wäre es auch knapp geworden«, erwiderte Harro lakonisch.
»Es ist nur wenig von der Suppe übrig geblieben, aber noch einiges vom Braten. Und zweieinhalb Bleche Butterkuchen. Sie schicken uns die Reste zu.«
»Für den Braten war es zu warm«, sagte sein Vater. »Es ist viel zu warm und zu trocken.«
»Kirsten mochte dieses Wetter«, bemerkte Harro. »Es hätte ihr so gefallen.« Er fand, dass sich dieses Gespräch, wenn man es schon führen musste, doch um die Hauptperson drehen sollte, nicht um die Menge des verzehrten Bratens.
»Sie hatte ja auch nicht besonders viel am Hut mit der Landwirtschaft«, entgegnete sein Vater.
»Das wirst du ihr doch wohl nicht über ihren Tod hinaus vorwerfen?«
»Ruhig, Junge«, beschwichtigte seine Mutter. »Niemand wirft hier irgendjemandem etwas vor. Aber die Leute werden natürlich reden.«
Im Rückspiegel sah er, wie sie die Lippen zusammenpresste und zur Seite sah. Ihre kleinen Hände lagen auf der steifen Handtasche, die quer auf ihrem Schoß stand.
»Lass mal, Marianne«, sagte sein Vater.
Das war noch unangenehmer als die Sticheleien seiner Mutter. »Was ist los?«, fragte Harro entnervt. »Was habt ihr?«
»Also, wenn du es wirklich wissen willst …«
Nein, das wollte er nicht. Aber sie würde ja eh keine Ruhe geben, bevor sie es ihm gesagt hatte.
»Es war unpassend, dass du so lange mit Birte da zusammengestanden hast.«
»Wir wissen natürlich, dass du dir nichts dabei gedacht hast. Doch auf der Beerdigung deiner Frau mit deiner Ex-Frau zu reden, was sollen denn die Leute denken?«
»Was sollen sie denken?«, erwiderte Harro. »Birte wollte mir nur mit all den Menschen helfen. Immerhin kennt sie die Leute hier genauso gut wie wir.«
»Du weißt das, und wir wissen es auch«, sagte sein Vater. »Aber es hat trotzdem schändlich ausgesehen.«
»Schändlich?«, wiederholte Harro. »Eure Probleme möchte ich haben.« Doch es tat trotzdem weh.
Anja Behrens schleppte sich mit letzter Kraft vom Carport durch den Seiteneingang ihres Hauses bis ins Schlafzimmer und ließ sich aufs Bett fallen. Der Hase aus Plüsch und das Herzkissen aus rotem Samt kullerten über ihren Kopf. Sie griff den Plüschhasen am Bein und schleuderte ihn gegen die Wand. Es war schrecklich gewesen! Noch schlimmer, als sie es sich ausgemalt hatte. Kirstens Tod änderte gar nichts.
Es hatte lange gedauert, bis sie Harro endlich mal eine Minute allein erwischt hatte. Und als sie ihn dann am Hinterausgang abgefangen hatte, wo er frische Luft schnappen wollte, hatte er auf ihr Hilfsangebot … ja, im besten Falle gleichgültig reagiert.
»Wenn ich irgendetwas für dich tun kann, sag es mir bitte!« Sie hatte ihm tief in die Augen geschaut und dabei eine Hand auf seinen Arm gelegt.
Er hatte nur abwesend genickt und sich von ihr losgemacht. »Das weiß ich doch, Anja. Ich kann mich auf dich verlassen. Entschuldige mich jetzt bitte. Es sind eine Menge Leute hier …«
Ja, und dann, wie um ihr zu zeigen, wie wenig er von ihrem Angebot Gebrauch zu machen gedachte, hatte er sich von Birte helfen lassen. Ausgerechnet von ihr. Sie hatten nebeneinandergestanden wie ein Ehepaar, während Harro die unzähligen Beileidsbekundungen entgegengenommen hatte. Einmal, als ihm die Worte fehlten und er mit den Tränen kämpfte, hatte Birte ihm die Hand gedrückt. Heimlich und verstohlen, doch Anja hatte es genau gesehen … Eine Schande war das, dachte sie und benutzte unwissentlich den gleichen Ausdruck wie Harros Vater.
Sie drückte den Kopf tief in die Kissen und schluchzte. Es tat weh. Es kostete sie so viel Kraft, immer die Starke und Fröhliche zu spielen. Den Kumpeltyp, mit dem man Pferde stehlen konnte. Ausgerechnet Pferde! Motorräder vielleicht, aber doch keine Pferde. Ihr Schluchzen ebbte erst ab, als ihr Gesicht sich heiß und verquollen anfühlte. Dann richtete sie sich auf und suchte nach Papiertaschentüchern. Dabei fiel die kleine goldfarbene Schachtel vom Nachttisch zu Boden. Sie rieb sich die Augen trocken, schnäuzte sich und hob die Schachtel auf. Anja öffnete sie, obwohl sie wusste, was darin war: eine Platinhalskette mit einem Diamantanhänger. Sie ließ sie durch die Hand gleiten. Der kleine Brillant funkelte. Es war ja nicht so, dass es keine Männer in ihrem Leben gab. Es gab da einen, der sie bewunderte und vielleicht sogar liebte. Doch sie konnte seine Gefühle nicht in demselben Maß erwidern. Sie genoss es, wenn sie sich hin und wieder trafen. Es machte das Warten auf Harro erträglicher. Doch ihr Verehrer war niemand, den sie heiraten konnte oder wollte. Das wäre ihr auch wie Verrat vorgekommen.
Seine Mutter und Stephan setzten Jörg vor seinem Haus in Bodewind ab. Er besaß zurzeit kein Auto, was es ihm beinahe unmöglich gemacht hatte, ohne die Hilfe seiner Mutter zur Beerdigung seiner Schwester zu erscheinen. Von Bodewind aus nach Kiel zu gelangen, wo seine Firma war, wo er trotz des Homeoffice ab und zu auftauchen musste, war kein Problem. Es gab eine regelmäßige Busverbindung. Doch nicht nach Arensbök oder dem kleinen Dorf, in dem Kirsten gewohnt hatte. Jedenfalls nicht dann, wenn man sie brauchte. Die Landbevölkerung war auf ihre Autos angewiesen. Er sah Stephans dunkelblauem BMW nach, wie er den Hügel hinabfuhr und hinter der Biegung außer Sichtweite geriet. Sein Nachbar war in Arbeitsmontur in seinem Carport beschäftigt. Der Motor des Nissan lief, obwohl niemand darinsaß. Karl-Heinz wurde auch immer seltsamer … Jörg, dem nicht nach einer Unterhaltung über den Gartenzaun hinweg zumute war, trottete mit gesenktem Kopf zur Haustür.
»Hallo, Jörg! Hast du einen Moment Zeit?«
Widerwillig wandte er sich dem Nachbarn zu. »Nein, eigentlich nicht. Ich komme gerade von einer Beerdigung, Karl-Heinz.«
»Oh, das tut mir leid. Jemand Nahestehendes?«
»Meine Schwester.« Wenn es nicht so grausig gewesen wäre, hätte er den erschrockenen Gesichtsausdruck, dieses Weiten der Augen, den offen stehenden Mund seines Nachbarn beinahe genossen.
»Was?! Die kleine Kirsten! Oh verdammt! Das tut mir sehr leid. War sie denn krank?«
Jörg sah das Fragezeichen, das sich in seiner Vorstellung über Karl-Heinz’ Kopf erhob. Eine Mischung aus Sensationslust, Mitleid und Grauen. Er hatte aber keine Lust, die Neugierde seines Nachbarn zu befriedigen. Nicht jetzt, wo er so fertig war.
»Was ist denn mit Kirsten passiert?«, setzte Karl-Heinz noch einmal an. »Sie war doch noch so jung.«
»Ein Unfall«, stieß Jörg hervor und drehte sich um. »Tut mir leid. Ich muss rein. Bis bald mal.«
»Ein Autounfall? Der Verkehr wird heutzutage auch immer schlimmer!«, rief Karl-Heinz ihm hinterher. »Immer mehr Raser! Lebensgefährlich ist das. Lebensgefährlich!«
Sollte er denken, was er wollte. Und um Himmels willen sein verdammtes Auto ausstellen. Warum tat er das? Bei dem Wetter ließ man wohl kaum seinen Motor warmlaufen. Und lief da nicht ein Schlauch durch den Carport? Wollte er sich etwa umbringen? Der sicher nicht! Und es war auch nicht Jörgs Bier, wenn der Nachbar seine Karre stundenlang im Carport laufen ließ … Er hatte keinen Nerv für Diskussionen und Erklärungen. Schon gar nicht heute. Die Nachbarn zur Rechten waren Ökos; sie würden Karl-Heinz bestimmt den Marsch blasen, wenn sie es mitbekamen. Apropos Bier … Er wollte dringend etwas trinken. Er lechzte förmlich danach. Aber dann sah er Constanze vor sich. Sie wollte heute Abend vielleicht noch bei ihm vorbeikommen. Nein, er war stärker als die Sucht. Wenn er jetzt etwas trank, und sei es auch nur ein Bier, dann würde er es bitter bereuen.
Nach ihrer Rückkehr in ihr Büro erreichte Pia im Kommissariat in Eutin telefonisch niemanden mehr, der für die Ermittlung zum Tod von Kirsten Welling zuständig war. Bei einem nicht natürlichen Tod musste immer die Kriminalpolizei ermitteln, um herauszufinden, ob man es mit einem Unfall oder einem Verbrechen zu tun hatte. Das war gesetzlich so geregelt und für Angehörige eines Verstorbenen oft zusätzlich schmerzhaft. Doch aus diesem Grund musste es eine polizeiliche Untersuchung und wohl auch ein Ergebnis gegeben haben. Pia würde ihre Neugierde bis Montag zügeln müssen. Erst dann sollte der betreffende Kollege wieder am Platz sein.
Obwohl sie am Samstag und Sonntag gut beschäftigt war – mit der Post war zum Beispiel ein Brief von Felix’ zukünftiger Klassenlehrerin eingetroffen, der eine Liste mit Dingen enthielt, die sie noch für seine Einschulung besorgen musste –, ließ Pia der Gedanke an ihre frühere Schulfreundin Kirsten nicht ganz los.
Am Montag nach der Dienstbesprechung versuchte Pia erneut, einen Kollegen in Eutin zu erreichen, und hatte Glück.
»Peer Suder«, meldete sich ein Mann am Telefon.
Pia nannte ihren Namen und stellte sich ihm als eine Kollegin aus Lübeck vor. »Ich bin außerdem eine Freundin von Kirsten Welling«, sagte sie dann. »Ich war am Freitag auf ihrer Beerdigung.«
»Du kanntest Kirsten Welling? Dann war das sicher ein Schock, von ihrem plötzlichen Tod zu erfahren. Das tut mir leid«, erwiderte er. Polizisten duzten sich zumeist untereinander. So wechselte auch der Kollege aus Eutin sofort zum vertraulicheren »Du«, als er hörte, mit wem er sprach.
»Auf der Beerdigung ist etwas Seltsames passiert«, sagte Pia. Sie schilderte ihm, was sie beobachtet hatte.
»Ich verstehe«, antwortete Peer Suder, nachdem er ruhig zugehört hatte. »Du überlegst nun natürlich, ob an der Behauptung etwas dran sein könnte.«
»Ich kann mir den Unfall, so wie er mir beschrieben wurde, nur schwer vorstellen. Kirsten war immer sehr sportlich.«
»Ja, das sagte man uns ebenfalls.« Er schwieg eine Weile, sodass Pia schon dachte, das Gespräch sei unterbrochen. »Kannst du vielleicht herkommen?«, fragte er.
Sie schaute auf ihren Terminkalender. »Ich kann am späten Nachmittag bei euch auf der Dienststelle sein.«
»Das passt bei mir. Ich bin heute sowieso länger hier. Melde dich einfach unten, wenn du da bist. Die geben mir dann Bescheid, und ich hol dich ab. Bis dann.« Peer Suder hängte ein.
Sie schien mit ihrem Anruf offene Türen eingerannt zu haben. Oder aber Suder wollte sie lieber in einem persönlichen Gespräch davon überzeugen, dass sie falschlag. Wie auch immer. Später würde sie mehr wissen …
»Ein heimlicher Liebhaber?«, fragte Broders, der zur Tür hereinkam, als Pia den Telefonhörer noch in der Hand hielt. Er war ihr langjähriger Teamkollege, mit dem sie sich auch das Büro im siebten Stock des Polizeihochhauses teilte.
»Wie kommst du darauf?« Pia legte auf. »Noch dazu am Polizeitelefon.«
»Du siehst so aus, als hättest du etwas aus der Speisekammer stibitzt.«
Pia lächelte. »Meinst du deinen heimlichen Vorrat an Katzenzungen in der Schublade? Keine Sorge. Die mag ich nicht.«
»Mit wem hast du denn gesprochen?« Er setzte sich und verschränkte die Arme hinter dem Kopf.
»Das war die Polizeidienststelle in Eutin. Ein Kollege namens Peer Suder. Kennst du ihn?«
»Nicht, dass ich wüsste. Was willst du von ihm?«
»Ein paar Informationen über eine Ermittlung von denen. Es geht um meine frühere Schulfreundin.«
»Lass mich raten: die, auf deren Trauerfeier du warst? Warum erkundigst du dich danach?«
Pia schilderte ihm, was sich auf der Beerdigung zugetragen hatte.
Broders nahm die Arme wieder herunter. »Na gut. Das war sicher unschön. Aber glaubst du, da ist etwas dran? Wir können doch nicht jedem Spinner hinterherjagen, der sich wichtigmachen will. Und wenn die Kollegen in Eutin die Sache untersucht haben und es ein Unfalltod gewesen sein soll …«
»Peer hat sich sofort bereit erklärt, mit mir zu reden«, sagte sie.
»Das kann tausend Gründe haben«, versetzte Broders. »Vielleicht möchte er dich nur mal kennenlernen.«
Peer Suder war ein durchtrainierter Mittdreißiger mit hellblondem Haar und grauen Augen. Sein Händedruck war fest, sein Lächeln offen und sympathisch. Er trug Jeans und ein weißes Hemd. Peer führte Pia in sein Büro, von dem man einen Blick auf hohe, dicht im Laub stehende Bäume hatte. Die Aussicht war unwahrscheinlich grün.
»Kann ich dir was anbieten? Wasser und Cola sind im Angebot.«
»Ein Wasser wäre toll«, sagte Pia. Die Zunge klebte ihr nach der Fahrt über die Autobahn am Gaumen. Sie hatte heute nichts als Kaffee getrunken. Das konnte kaum gesund sein.
Peer stellte ein Glas vor sie hin und holte sich selbst eine kleine Flasche Cola. »So lerne ich dich endlich auch mal persönlich kennen«, meinte er.
Pia sah ihn überrascht an. Sollte Broders mit seiner Vermutung gar recht behalten? »Ich verstehe nicht …«
»Du hast einen gewissen Bekanntheitsgrad in unseren Kreisen. Ist dir das nicht bewusst?«
»Nein. Wir sind so viele Leute.«
»Nun, ein paar deiner Aktionen waren recht spektakulär. Die Festnahme auf der Fehmarnsundbrücke damals. Daran waren auch Eutiner Kollegen beteiligt, die immer noch davon erzählen. Oder die nächtliche Aktion am Weißenhäuser Strand. Und der Fall, als du im Alleingang die Cannabis-Scheune am Hemmelsdorfer See gefunden hast.«
»Damit hab ich mir nicht gerade Freunde unter den Kollegen gemacht«, unterbrach Pia seine Aufzählung.
»Mag sein.« Er grinste freundlich. »Aber man muss auch nicht jedermanns Freund sein, oder?«
Pia verdrängte die Erinnerungen. »Ich bin hier, weil ich über Kirsten Welling mit dir sprechen möchte«, sagte sie schnell.
»Ja, genau. Ich habe mir die Akte deswegen schon herausgesucht. Wir sind von den Kollegen vor Ort über den Todesfall informiert worden. Der Arzt, der den Totenschein ausgestellt hat, hat ›nicht natürlicher‹ Tod angekreuzt. Die Kollegen wollten, dass wir bei der Todesermittlung mit draufschauen. Die hatten zu dem Zeitpunkt sehr viel zu tun und haben sich wohl von den besonderen Umständen dieses Falls etwas überfordert gefühlt.«
»Bist du gleich am Fundort gewesen? Hast du Kirsten Wellings Leiche noch dort gesehen?«
»Ja. Die Kollegen haben gut reagiert, uns schnell informiert und alles sehr zügig abgesperrt. Ich kam etwa zwei Stunden, nachdem ihr Tod entdeckt worden war, dort an.«
»War ein Rechtsmediziner vor Ort?«
»Nein, das nicht. Das Opfer ist erst im Institut für Rechtsmedizin in Lübeck untersucht worden.«
»Von Kinneberg?«
Er nickte.
Pia kannte Dr. Enno Kinneberg von zahllosen Todesermittlungen und hielt viel von seinem Urteil. »Schildere mir bitte erst einmal die Auffindesituation«, bat sie.
»Also, ich fange vorne an: Wir wurden zu einem Bauernhof im Rande von Düstersee gerufen. Bei dem Hof der Wellings handelt es sich um ein altes Bauernhaus mit einem neuen Stallgebäude daneben. Die Zufahrt zum Hof befindet sich neben dem Haupthaus und führt auf einen rechteckigen Hofplatz, der abgesehen vom Stall noch von anderen Wirtschaftsgebäuden umgeben ist. Das Opfer hat dort zusammen mit dem Ehemann und den Schwiegereltern gewohnt. Der Ort, an dem Kirsten Welling tot aufgefunden wurde, liegt etwa drei Kilometer vom Haus entfernt. Man kann ihn von dort erreichen, indem man zu Fuß oder mit dem Rad einen unbefestigten Feldweg nutzt, der an einem Bach entlang zu einer Mühle und einem Teich führt. Außerdem gelangt man außen herum über die Landstraße zu dieser Mühle. Für die Strecke fährt man dann aber ungefähr fünf Kilometer. Hier ist die Lageskizze, die uns ein Kollege vor Ort angefertigt hat.« Er schob Pia einen Bogen hinüber. »Auf den Luftaufnahmen ist nämlich beinahe nur Grün zu sehen. Die Skizze hilft einem beim Verständnis der örtlichen Gegebenheiten.«
Pia betrachtete die detaillierte, beschriftete Skizze. »Das Kreuz hier kennzeichnet die Stelle, wo Kirsten gefunden wurde?«, fragte sie.
»Ja. Im Bach hinter einem Wehr, direkt an der alten Mühle. Das Gebäude ist nicht mehr in Betrieb und auch unbewohnt. Möchtest du alle Fotos sehen?«
»Wenn ich wissen will, was genau dort passiert ist, führt wohl kein Weg daran vorbei«, sagte Pia.
Er schob ihr einen Stapel mit DIN-A4-großen Abzügen herüber.
Sie konzentrierte sich zunächst auf den Fundort selbst. Links befand sich ein Stausee, der über ein Wehr in den Mühlbach abfloss. Über das Wehr hinweg spannte sich ein Betonsteg ohne Geländer, der zu einem schmalen Weg führte, der weiter zwischen der Mühle und dem Ufer des Sees entlang verlief. Rechts auf dem Foto war die Außenwand der Mühle mit einer Öffnung für die Befestigung des Mühlrads zu sehen. Vom Standpunkt des Fotografen fiel die Böschung steil zum Bach hin ab. Es gab mehrere Detailaufnahmen, auch von dem Betonsteg, der mit Moos bedeckt war und rutschig aussah. Pia blätterte durch die Fotos. Das Gras an der Uferböschung war niedergetrampelt, das Wasser im Bach sah tiefschwarz aus, mit abgerissenen Grashalmen und Zweigen darin. »Das Wehr dient der Wasserregulierung?«
»Ja. Hinter dem Wehr liegt das Tosbecken. Dort entsteht eine starke Sogwirkung. Eine Wasserwalze, die alles herunterzieht, was dort hineinfällt.«
»Wie war die Auffindesituation?«
»Das Opfer lag angeblich hinter dem Wehr in dem Bach im Wasser. Kirsten Welling trieb mit dem Gesicht nach unten. Harro Welling, ihr Ehemann, hat sie seinen Angaben zufolge so aufgefunden. Er kam um zwanzig nach neun aus dem Stall ins Haus und wunderte sich, dass seine Frau nicht zur Arbeit gefahren war. Ihr Auto stand noch auf dem Hofplatz. Er hatte noch gesehen, dass sie joggen gegangen war, aber sie hatte danach wie immer ins Büro fahren wollen. Als seine Frau nirgends aufzufinden war und ihre Joggingschuhe auch nicht, ist er um kurz vor halb zehn losgegangen, um sie zu suchen. Er dachte, sie sei vielleicht umgeknickt oder etwas anderes habe sie aufgehalten. Er machte sich Sorgen um sie.«
»Hat er nicht versucht, sie anzurufen?«
»Doch. Aber das Handy seiner Frau schaltete sofort auf die Box. Wir haben den Anruf nachgeprüft. Die angegebenen Zeiten stimmen.«
»Wie und wann hat Harro Welling Kirsten dann gefunden?«
»Er hat sie im Wasser liegend entdeckt, als er an der Mühle ankam. Man braucht zu Fuß etwa zehn Minuten bis zu der Stelle. Harro Welling sagte aus, er habe seine Frau aus dem Bach gezogen, was an der steilen Böschung wohl sehr schwierig gewesen ist, bis sie nur noch bis zu den Knien im Wasser lag. Er dachte, er könne sie noch wiederbeleben. Als er merkte, dass sie tot war und er ihr nicht mehr helfen konnte, ist er ein Stück in Richtung Hofplatz gelaufen, bis zu einer Stelle, wo er mit seinem Handy wieder Empfang hatte. Von dort hat er um neun Uhr zweiundfünfzig die Einsatzleitstelle angerufen. Die haben einen Notarzt, einen Rettungswagen und die Polizei geschickt.«
»Keinen Hubschrauber?«
»Nein. Das hätte in dem Fall wohl länger gedauert.«
»Was hat Harro Welling dann unternommen?«
»Er ist zurück zur Mühle gelaufen und hat dort auf die Rettungskräfte gewartet. Die waren schon nach knapp zehn Minuten dort. Harro hatte ihnen die Stelle genau beschrieben.«
»Aber für Kirsten Welling kam jede Hilfe zu spät?«
»Ja. Der Rechtsmediziner schätzt, dass der Tod schon zwischen halb acht und halb neun eingetreten ist. Sie konnten recht schnell die Temperatur der Leiche, des Wassers und der Umgebung messen. Die Berechnung ist ziemlich genau.«
Pia betrachtete mit plötzlicher Mutlosigkeit die gesammelten Ermittlungsergebnisse und seufzte. »Wie schrecklich! Und das in ihrem Alter! Was, denkt ihr, ist da genau vorgefallen, das zu ihrem Tod geführt hat?«
»Das Opfer trug Joggingkleidung. Eine lange Laufhose, einen Sport-BH, Unterhose und ein Laufshirt. An den Füßen Söckchen und Laufschuhe, am linken Arm eine Tasche für ein Handy mit einem extra Reißverschlussfach. Ihr Mobiltelefon war noch darin, aber das Fach mit dem Reißverschluss war offen. Im Wasser haben wir einen Ring mit zwei Schlüsseln gefunden. Der eine war der zu ihrer und Harro Wellings Wohnung, die sich in dem Bauernhaus befindet. Der andere Schlüssel ist eine Art Generalschlüssel für Haustür, Schuppen, Werkstatt und Stallgebäude.«
»War das alles?« Pia dachte an ihren Schlüsselbund mit so vielen Schlüsseln daran, dass sie bei einigen nicht mehr sagen konnte, wozu sie gehörten.
»Harro Welling hat ausgesagt, dass das die Schlüssel waren, die seine Frau nur zum Joggen oder Spazierengehen mitgenommen hat. Ihr normaler Schlüsselbund mit dem Autoschlüssel befand sich am Schlüsselbrett.«
»Hat Kirsten in der Zeitspanne von frühmorgens, als Harro sie noch gesehen hat, bis zu ihrem Tod telefoniert oder etwas anderes mit ihrem Mobiltelefon gemacht? Textnachrichten geschrieben zum Beispiel?«
»Nein. Sie hatte allerdings eine App installiert, mit der sie ihre Läufe aufzeichnen konnte. Doch die hatte sie an diesem Morgen nicht aktiviert. Bei einigen Läufen zuvor hatte sie sie genutzt. Sie ist die Strecke am Wehr entlang häufiger gelaufen.«
Pia zog die Augenbrauen zusammen. »Moment! Sie zieht sich ihre Joggingsachen an, nimmt sogar ihre Armtasche und das Handy mit, doch sie aktiviert ihre Lauf-App nicht?«
»Nun ja. Ich habe selbst diverse Fitness-Apps heruntergeladen, die ich aber nicht mehr regelmäßig nutze. Man lädt sich was runter, hat beste Vorsätze, ist dann jedoch zu faul, etwas zu aktivieren, oder sieht den Sinn darin nicht mehr.«
»Ja, das ist natürlich möglich. Aber wie ist ihr Schlüssel überhaupt ins Wasser gefallen, wenn er sich mutmaßlich in der Reißverschlusstasche befand?«, fragte Pia.
»Wir vermuten, dass Kirsten Welling ihr Telefon aus der Armtasche holen wollte, als sie gerade am Wehr vorbeikam. Möglicherweise um die App doch noch zu aktivieren? Oder aber sie wollte etwas fotografieren oder jemanden anrufen oder einen Text schreiben, sich etwas notieren? Dabei fielen die beiden Schlüssel an dem Ring heraus und landeten im Bach. Kirsten könnte versucht haben, sie wieder herauszufischen. Dabei fiel sie von dem Steg ins Wasser, schlug sich den Kopf an. Sie war entweder sofort bewusstlos, oder sie ertrank wegen des starken Sogs.«
»Das würde die Auffindesituation erklären«, bestätigte Pia. Es klang beinahe zu stimmig … hätte sie Kirsten früher nicht so oft klettern sehen. Sie warf einen Blick aus dem Fenster, schaute in die Baumkrone und überlegte, wie sie weiter argumentieren könnte. Ein Eichhörnchen saß auf den Hinterbeinen in einer Astgabel. Es blickte in ihre Richtung. »Aber niemand hat Kirsten an dem Morgen draußen joggen gesehen?«
»Höchstens die Kühe auf der Weide«, bestätigte Peer. »Doch das sind ziemlich schweigsame Zeugen.«
»Was genau steht im Obduktionsbericht über die Todesursache? War es tatsächlich das Ertrinken, oder war es die Kopfverletzung?«
»Sie ist eindeutig ertrunken. Das Wasser in ihrer Lunge weist Spuren von Sedimenten und Algen auf, die mit dem Wasser im Bach übereinstimmen. Aufgrund der Kopfverletzung war sie aber höchstwahrscheinlich bewusstlos, als es passiert ist.«
»Ein Trost, immerhin«, sagte Pia. Sie starrte auf die Fotos vor sich auf dem Tisch. Wenn sie schon hier war und ihr Kollege Peer sich so viel Zeit für sie nahm, sollte sie die Aufnahmen auch bis zum Schluss durchsehen.
Sie blätterte die Bilder der Reihe nach durch. Es war wie eine langsame, ruckartige Kamerafahrt, ein Zoom, bis hin zu den Großaufnahmen von Kirstens Körper und ihrem vertrauten Gesicht, nass und zerschunden … Pia schluckte und legte die Fotos zur Seite. Sie trank einen Schluck Wasser. »Die Kopfverletzung ist natürlich von Kinneberg untersucht worden«, sagte sie. »Was hat sie verursacht?«
Peer zögerte. »Kinneberg meint, bei dem Aufprall, der die Bewusstlosigkeit verursacht hat, muss das Opfer mit dem Kopf seitlich gegen eine rechtwinklige Kante geprallt sein.«
»Rechtwinklig. Seltsam. Und gab es noch mehr Verletzungen?«
»Ja. Das Opfer ist mit der rechten Seite des Oberkörpers und der Hüfte immer wieder gegen das Gitter im Wehr gedrückt worden, vor und nach seinem Tod.«
»Wo im Wehr ist eine rechtwinklige Kante?«, wollte Pia wissen.
»Das ist ein guter Punkt«, bestätigte Peer. »Genau das haben wir uns auch gefragt. Schau hier.« Er schob eines der Fotos zu ihr herüber. »Sie ist wahrscheinlich auf die Oberkante der Einfassung aufgeschlagen, hinuntergefallen und anschließend bewusstlos von der Strömung unter Wasser gegen das Gitter gedrückt worden. Der Sog hat sie unten gehalten. Dabei ist sie ertrunken.«
»Wie tief ist das Wasser dort?«