Ostseehexe - Anke Clausen - E-Book

Ostseehexe E-Book

Anke Clausen

4,9

Beschreibung

Sommer, Sonne, Meer. Sophie Sturm, Klatschreporterin eines Hamburger Hochglanzmagazins, genießt das Fest bei ihrer Freundin Tina auf Fehmarn. Doch kaum zurück in Hamburg erhält sie von einem unbekannten Verfasser namens „Joringel“ eine verwirrende E-Mail: Tinas neue Kinderfrau soll eine Zuhälterin und Mörderin gewesen sein. Sophie glaubt an einen schlechten Scherz und ignoriert die Nachricht. Aber schnell wird klar, wie ernst die Lage wirklich ist: Der Unbekannte beginnt zu morden und er findet dabei offenbar einen grausamen Gefallen an den Märchen der Gebrüder Grimm.

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Seitenzahl: 353

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Anke Clausen

Ostseehexe

Sophie Sturms dritter Fall

Impressum

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag: Hamburg (2011), Dinnerparty (2009), Ostseegrab (2007)

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2016 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2016

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Julia Franze

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Lutz Eberle und © olly / Fotolia.com

ISBN 978-3-8392-5088-4

Widmung

Für Papa

Prolog

Dresden 1992

Es war jetzt wieder dunkel. Die Hexe brachte ihn zurück in den staubigen Keller. Wie jede Nacht. Anfangs hatte er große Angst gehabt, doch mittlerweile hatte er sich an den Ablauf gewöhnt. Seine Schwester gab ihm wie immer einen Kuss auf die Stirn und sah ihn lieb an. Sie weinte oft leise, das hatte er bemerkt, auch wenn sie ihm streng erklärte, er solle alles machen, was man von ihm verlangte. In ein paar Stunden würden sie wieder zusammen sein. Er musste sich einfach zusammenreißen, sonst würde er es noch schlimmer machen. Und er war ja nicht ganz allein. Da war die Frau, die ihn in den muffigen Keller brachte und manchmal kurz bei ihm blieb. Sie gab ihm immer das Märchenbuch. Sie war nicht nett, sie war die Hexe. Wenn er die Märchen lesen durfte, war er von seiner Schwester getrennt. Er war doch erst neun Jahre alt. Er machte sich oft Gedanken. Müsste er nicht in eine Schule gehen? Vermissten Mama und Papa sie vielleicht doch? Und warum musste seine Schwester jeden Abend weg? Warum war sie immer so traurig?

»Jetzt sei ganz still! Lies das Buch!«

Er kannte alle Märchen auswendig. Er mochte die meisten nicht. Sie waren grausam. Die Kinder in den Geschichten wurden schlecht behandelt. Man schickte sie in den Wald und ließ sie arbeiten. Es war wie die Wirklichkeit. Er kannte es nicht anders. Seine Eltern waren abends immer komisch gewesen, und sie hatten ihn oft verhauen. Er wusste meistens gar nicht warum. In seiner Welt gab es keine Prinzen und Prinzessinnen. Es gab nur ihn und seine Schwester. Und es gab nur ein Märchen, das er wirklich liebte. »Jorinde und Joringel«. Das war seine Geschichte. Eines Tages würde er seine geliebte Schwester befreien. Er würde sie aus den Fängen der bösen Hexe retten. Sie würde wie Jorinde ihren Käfig verlassen und wieder bei ihm sein. So war jede Nacht. Der dunkle Keller, die schmutzige Matratze und das alte Buch, in dem er im Schein einer Taschenlampe blätterte. Manchmal hörte er Schreie. Manchmal schlief er ein und träumte von früher. War wirklich alles so schlimm gewesen? Schlimmer als hier? Er war noch klein, aber er wusste, dass das hier nicht richtig war. Wenn seine Schwester sich Stunden später mit angezogenen Beinen an ihn kuschelte, war ihr Gesicht geschwollen. Sie wimmerte, und eines Tages sah er das Blut, das durch ihren Pyjama drang. Er streichelte vorsichtig ihr Haar zurück und küsste sie sanft.

»Ich werde hier sterben«, sagte sie leise. Es erschreckte ihn. Es klang wie eine unausweichliche Tatsache. Er hielt sie noch fester.

»Nein, ich werde auf dich aufpassen«, erklärte er bestimmt. Seine Augen füllten sich mit heißen Tränen.

»Ich liebe dich«, flüsterte sie zärtlich. »Du hast recht. Es wird sicher alles gut.«

Er fragte sich, ob es richtig gewesen war, von zu Hause wegzulaufen, und ob sie wirklich glaubte, dass alles gut werden könnte. Er wünschte sich nichts anderes, aber er hatte kaum noch Hoffnung. Er würde sie nicht retten können. Er war doch erst neun Jahre alt.

»Mein Vöglein mit dem Ringlein rot singt

Leide, Leide, Leide:

es singt dem Täubelein seinen Tod,

singt Leide, Lei – zicküth, zicküth, zicküth.«

Aus »Jorinde und Joringel« aus der Sammlung der Gebrüder Grimm.

Berlin, Dezember 2014

Er versuchte, die geschmückten Fenster und Lichterketten zu ignorieren. Weihnachten, das Fest der Liebe, deutete sich blinkend an. Ihm ging das am Arsch vorbei. Dass man noch immer den Geburtstag des kleinen Jesus feierte, kotzte ihn an. Wo war Gott denn gewesen? Wenn es einen Gott gab, dann hatte dieser ihn einfach vergessen. Ein kalter Wind zog durch die Straßen, und die kleinen eisigen Schneeflocken schmerzten wie gesplittertes Glas. Die Kappe ins Gesicht gezogen und die Fäuste tief in den Taschen seiner Daunenjacke stieg er die Stufen zur Praxis hinauf. Seit über zehn Jahren führte er hier regelmäßig Gespräche, um seine verkorkste Kindheit und seine kriminelle Jugend aufzuarbeiten. Anfangs gehörten die Sitzungen zu den Auflagen seiner Bewährungsstrafe. Er hatte sich daran gewöhnt, an das Reden und an die Pillen, die ihm gegen seine immer noch aufflammenden Angstzustände verschrieben wurden. Zumindest war er von den Drogen weg. Da er seine Vergangenheit nie vergessen würde können, sollte er sie verarbeiten. Das war zumindest die Meinung seines Therapeuten. Seit Jahren bildete sich dieser selbstverliebte Arzt ein, er würde ihm helfen können. Viel besser ging es ihm nicht, auch wenn seine Krankenkasse dem Doktor mindestens schon einen Porsche finanziert hatte. Gleich würde der Seelenklempner in seinem frischen weißen Polohemd ihm wieder die Hand schütteln und ihn auffordern, auf der teuren Ledercouch Platz zu nehmen. Am Ende würde er die Praxis wie immer mit einem Rezept verlassen und genug Tabletten aus der Apotheke holen können, um seinen Alltag zu schaffen, nicht mehr und nicht weniger. Er klingelte. Die eindrucksvolle Tür des schönen Jugendstilhauses in Charlottenburg öffnete sich mit einem Surren, und er betrat den eleganten Empfangsbereich.

»Herr Kowalski, da sind Sie ja schon«, begrüßte ihn die immer freundliche Sprechstundenhilfe. »Bitte nehmen Sie noch einen Moment Platz.«

Er nickte und betrat das großzügige Wartezimmer. Es roch angenehm nach Bergamotte. Auf pompöse Weihnachtsdekoration hatte man hier verzichtet. Nur ein paar weiße Amaryllis und Kiefernzweige standen in einer schweren Glasvase. Zum Glück war er allein. Er hasste es, wenn noch andere Patienten im Raum waren. Er hatte dann immer das Gefühl, alle beäugten einander und versuchten zu erraten, wer welchen Psychoknacks hatte. Er hängte seine Jacke auf einen Bügel, nahm auf einem der kühlen Designerledersessel Platz und griff wahllos nach einer Zeitschrift. Gelangweilt blätterte er durch die Seiten. Plötzlich war er wie elektrisiert. Sein Verstand weigerte sich zu verstehen, was er dort vor sich hatte. Wie war das möglich? Er suchte auf dem Cover nach dem Erscheinungsdatum der Illustrierten. Diese Ausgabe der »Stars & Style« war bereits vor vielen Monaten erschienen. Er hatte jetzt keine Zeit, sich darüber zu wundern, warum eine gut gehende Praxis ihre Patienten mit alten Magazinen langweilte. Er blätterte zurück zum Foto. Auf dem Bild waren im Vordergrund drei Models zu sehen, die in die Kamera lächelten. Sie stand im Hintergrund. Auch wenn sie leicht zur Seite blickte, hatte er sie sofort erkannt. Die Augen dieser Hexe würde er nie vergessen. Ohne zu atmen las er die Überschrift des Artikels. MODENSHOW FÜR DEN GUTEN ZWECK IN HAMBURG. Wie war das möglich? Sie war doch tot. Seit mehr als 20 Jahren schon. Mit zitternden Händen rollte er die Zeitschrift zusammen und steckte sie in seine Jacke. Ihm war schwindlig, als er das Wartezimmer verließ.

»Herr Kowalski? Der Doktor ist gleich für Sie da.«

Er räusperte sich. »Es tut mir leid, mir ist etwas dazwischen gekommen.« Er verließ die Praxis ohne weitere Erklärung. Jetzt spürte er den eisigen Wind nicht mehr. Wie durch einen Tunnel lief er die Straße entlang bis zu einem kleinen Park. Er setzte sich auf eine Bank und nahm zwei Tabletten ein. Er musste sich beruhigen. Die Hexe lebte, und es ging ihr anscheinend bestens. Noch. Er würde sie finden.

Sechs Monate später

Freitag

Sophie Sturm lehnte sich satt und zufrieden zurück. Sie saß auf ihrer Terrasse und genoss den wunderbaren Abend. Robert hatte eine köstliche Lachslasagne mit Spinat zubereitet. Nun war er in der Küche und kümmerte sich um das dreckige Geschirr. Es war ein heißer Tag gewesen. Nun war ein leichter Wind aufgekommen, und die Temperatur war auf angenehme 25 Grad zurückgegangen. Sophie streckte ihre braun gebrannten Beine aus und beobachtete das Geschehen in ihrem Garten. Ihre junge Podenco Ibicenco Hündin Ronja forderte den müden Königspudel Alexander zum Spiel auf. Sophie musste grinsen. Aus dem noch vor einem Jahr perfekt getrimmten Alexander war ein kleiner Hippie geworden. Sein Fell war zu lang für einen Pudel. Sie musste ihn dringend wieder trimmen lassen. Der Pudel gehörte Roberts Mutter. Da die mittlerweile im »Augustinum« lebte, einer sehr exklusiven Seniorenresidenz direkt an der Elbe, kümmerten sich Sophie und Robert um den Hund. Robert kam mit zwei Espressi zurück auf die Terrasse.

»Hier, mein Schatz«, sagte er und reichte ihr die kleine Tasse. Sophie warf ihm eine Kusshand zu und stellte lächelnd fest, dass sich nicht nur der Königspudel verändert hatte, auch Robert trug das Haar länger. Zudem war er mit Cargoshorts und T-Shirt bekleidet. Noch vor Kurzem hatte Robert höchstens zum Joggen Oberteile ohne ordentlichen Kragen an.

»Alles in Ordnung?«, fragte Robert irritiert nach. »Du guckst so komisch.«

»Ich habe nur gerade gedacht, was für einen attraktiven Freund ich doch habe.«

»Ich habe die Küche bereits aufgeräumt. Du musst mir also keinen Honig ums Maul schmieren. Oh, schau!« Robert deutete auf die Elbe. Ein Kreuzfahrtschiff zog majestätisch vorbei. Sophie liebte den Blick auf den Strom. Seit einem guten Jahr wohnte sie in der Villa in Othmarschen zur Miete. Ihre Vermieterin Misses Hamilton verbrachte ihren Lebensabend in ihrem Geburtsland, dem heutigen Malaysia. Sophie hatte die Villa für sich, auch wenn sie nur das Erdgeschoss bewohnte. Im oberen Stockwerk befanden sich noch immer die Möbel der alten Dame. Robert stellte seine leere Tasse ab und lächelte geheimnisvoll.

»Ich muss da was mit dir besprechen.«

Sophie nickte und schlug nach einer Mücke. »Was ist denn los?«

»Wir sollten den nächsten Schritt machen. Ich denke, es ist der richtige Zeitpunkt«, begann Robert. Er schenkte Wein nach und sah sie erwartungsvoll an.

»Ich verstehe kein Wort. Wovon sprichst du?« Sophie war irritiert.

»Sophie, die Umstände haben sich geändert. Mutter wird nicht wieder in ihr Haus zurückkehren. Sie fühlt sich ausgesprochen wohl in ihrer Seniorenwohnung. Es gibt Fahrstühle und keine schmalen Treppen. Ich bin froh, mir keine Sorgen mehr machen zu müssen, dass sie sich bei einem weiteren Sturz nicht nur den Oberschenkel, sondern gleich das Genick bricht.«

Sophie runzelte die Stirn. »Schatz, ich kann dir gerade nicht folgen.«

»Das ist doch ganz einfach. Es ist unlogisch, dass ich ein Appartement bewohne, dass ich nur noch als Schrank nutze. Du lebst in einer halben Villa, die zugegeben sehr charmant ist, aber für uns beide auf Dauer zu klein. Ich habe jetzt ein Traumhaus am Elbstrand zur Verfügung. Lass uns dort zusammenleben.«

Sophie frage sich, ob sie ihn richtig verstanden hatte. »Wir sollen zusammen in das Haus deiner Mutter ziehen?«

Robert nickte begeistert. »Genau. Das ist die einzig vernünftige Lösung.« Er lächelte sie breit an. »Das wird super.«

Sophie stellte ihre Tasse heftig zurück auf den Tisch »Nein!«

»Nein?« Robert sah sie ungläubig an. Das Lächeln erstarb in seinen Gesicht.

»Ich will nicht schon wieder umziehen. Ich habe hier fast ein Jahr herumgebastelt. Nun ist es genauso, wie ich es mir vorgestellt habe. Ich liebe diese Wohnung.«

»Und ich liebe dich.«

Sophie seufzte. »Das weiß ich, Robert. Aber es geht mir zu schnell. Nur weil deine Mutter dir ein hübsches Haus vererbt, bin ich nicht automatisch bereit, jetzt plötzlich mein Leben so entscheidend zu verändern. Wir sind noch viel zu kurz zusammen. Wir wissen doch gar nicht, wo die Reise hingeht.« Robert Feller strich sich das Haar zurück und schüttelte ungläubig den Kopf. Sophie bekam fast ein schlechtes Gewissen. »Robert, wir wollten es langsam angehen lassen. Ich mag es so, wie es jetzt ist. Schatz bitte, verstehe mich doch. Ich brauche mein eigenes Reich, zumindest noch eine Weile.«

Robert nickte und sah dabei sehr unzufrieden aus. Sie wusste, dass er sich eine andere Reaktion gewünscht hätte, doch sie war noch nicht bereit für einen so großen Schritt. Es gab für sie auch keinen Grund dazu. Es ging ihnen doch gut. Sie wohnten nah beieinander, und wenn sie mal nicht die Nacht zusammen verbrachten, trafen sie sich morgens mit den Hunden zum Joggen. Sie machten viel gemeinsam, trotzdem hatten sie beide die Möglichkeit, sich auch mal zurückzuziehen.

»Ich dachte, es wäre schön zusammenzuleben.«

Sophie streichelte Roberts Arm. »Natürlich wäre das schön. Du darfst mich aber nicht so überrumpeln. Jetzt mach wieder ein freundliches Gesicht. Morgen ist das Sommerfest bei Tina auf Fehmarn. Das wird bestimmt super.«

Robert rollte mit den Augen. »Ja, ich freu mich total, mit meinem Vorgesetzten Kommissar Sperber am Grill zu stehen.«

Sophie kicherte leise. »Ihr versteht euch doch eigentlich ganz gut. Was soll ich denn sagen? Wie lange wird es diesmal dauern, bis Stefan und ich uns in die Haare kriegen?«

Robert zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung, fünf Minuten?«

Sophie stöhnte auf. Es war leider eine Tatsache, dass Stefan und sie sich verstanden wie Hund und Katz. Es war zwar schon etwas besser geworden zwischen ihnen, aber es kam immer wieder zu hässlichen Auseinandersetzungen, die besonders Tina, ihrer besten Freundin und Stefans Frau, sehr zusetzten. »Ich werde versuchen, brav zu sein«, versprach sie lächelnd.

»Es wird bei dem Versuch bleiben«, entgegnete Robert trocken. »Wenn ich dir aber einen guten Tipp geben darf, misch dich einfach nicht in seine Polizeiarbeit ein. Richtig wütend wird Stefan nämlich eigentlich nur, wenn du rumschnüffelst, der Meinung bist, alles besser zu wissen, und dich am Ende selbst in tödliche Gefahr bringst.«

Olga Solowjowa stieg aus der Wanne und wickelte sich in ein Handtuch. Sie hatte sich ein heißes Bad gegönnt und gehofft, so ein wenig entspannen zu können. Als sie in den Spiegel blickte, starrte eine zarte dünne Frau sie aus dunklen Höhlen an. Ihr langes rotblondes Haar ließ ihre Haut unnatürlich blass aussehen. Ihre Schlüsselbeine standen stark hervor, und ihre Arme waren zu dünn. Sie musste aufpassen, dass sie nicht noch mehr Gewicht verlor. Zu knochige Models waren nicht mehr gefragt. Die letzten Wochen hatten ihr zugesetzt. Olga versuchte, Ruhe zu bewahren, doch mit der Dämmerung kam die Angst zurück. Erst vor ein paar Monaten war sie in die hübsche Zweizimmeraltbauwohnung in der Hamburger Schanze gezogen und hatte sich sofort zu Hause gefühlt. Jetzt war alles anders. Olga putzte sich die Zähne und schlüpfte in den Minnie-Maus-Pyjama. Bevor sie in ihr kleines Schlafzimmer ging, kontrollierte sie nochmals das Schloss an der Haustür und verriegelte alle Fenster. Sie würde jetzt einfach ins Bett gehen und schlafen. Was sollte denn geschehen? Ihre Wohnungstür hatte einen Riegel, die Fenster lagen zu hoch, als das jemand einsteigen konnte, und außerdem wohnte sie in einem Mehrfamilienhaus. Wenn jemand mit der Axt auf die Tür eindrosch, würde einer der Nachbarn doch sicher die Polizei rufen. Wahrscheinlich hatte sie einfach zu viel Fantasie. Olga seufzte. Die Situation war schrecklich und machte ihr wirklich zu schaffen. Mittlerweile geriet sie ständig in Panik. Auf der Straße drehte sie sich dauernd um. Sie fühlte sich immer verfolgt. Olga schaltete die Nachttischlampe an und kuschelte sich in ihr Bett. Sie schob noch eine CD der »Fünf Freunde« in den Player und lauschte dem Hörspiel. Dabei hatte sie schon als Kind gut einschlummern können. Olga war endlich in tiefen Schlaf gefallen, als ihr Telefon klingelte. Erschöpft setzte sie sich auf. War er es wieder? Sie musste wissen, was der Irre von ihr wollte. »Ja?«, meldetet sie sich kurz.

»Entschuldige, dass ich dich so spät noch störe, aber du siehst so süß aus in deinem Pyjama. Minnie Maus, oder?« Olga begann zu zittern. Wie konnte er wissen, was sie anhatte? »Du bist krank. Warum tust du mir das an? Ich werde die Polizei verständigen.«

Er lachte leise. »Mach das. Aber sei mir nicht böse, wenn ich dir jetzt schon sage, dass es die Bullen gar nicht interessieren wird. Die kommen doch erst, wenn etwas passiert ist. Und bis jetzt ist ja noch gar nichts passiert.«

Olga drückte das Gespräch weg und ärgerte sich sofort. Sie hätte cool bleiben und ihn weiter sprechen lassen müssen. Vielleicht hätte er sich verplappert, und sie wäre dahintergekommen, wer sie stalkte. Olga begann zu weinen. Seit Wochen ging das schon so. Ständig Anrufe, ein toter Vogel auf ihrer Fußmatte, Blumen vor der Tür, über die sie sich längst nicht mehr freute. Und anscheinend wusste er immer alles über sie. Sogar, welchen kindischen Pyjama sie gerade trug. Sie hätte gerne ihren Freund Max angerufen, aber der war nach Venedig geflogen, um einem Fotografen bei einem Modeshooting zu assistieren. Max nahm sie allerdings sowieso nicht richtig ernst, und sie konnte es ihm nicht einmal übel nehmen. Wenn Max bei ihr übernachtete, blieb es meist ruhig. Nur zwei Mal hatte nachts das Telefon geklingelt, und der Anrufer hatte sofort aufgelegt, als er seine Stimme gehört hatte. Olga putzte sich die Nase und überlegte. Sie würde ihren Kumpel Karl anrufen. Mit zitternden Fingern wählte sie die Nummer. Karl war wirklich immer für sie da. Er schien der Einzige zu sein, der sie verstand und ihre Ängste ernst nahm.

»Jorinde, wir hätten nicht von zu Hause weggehen sollen. Wenn wir der Hexe begegnen.« Er hatte Angst.

Jorinde lächelte ihn an. »Wir werden vorsichtig sein.«

Der Wald war dunkel, und er fürchtete sich. Seine Schwester lief immer weiter. Seine Beine wollten ihm nicht mehr gehorchen. Er konnte ihr nicht folgen. Sie entfernte sich immer mehr von ihm. Warum drehte sie sich nicht um? Sie konnte ihn doch nicht einfach zurücklassen.

»Jorinde, bitte warte! Warte!« Er erwachte. Hatte er geschrien? Diese Albträume machten ihn fertig. Seit er vor ein paar Monaten erfahren hatte, dass die Hexe noch am Leben war, waren seine Nächte ein echter Horrortrip. Die alten Ängste waren zurück und machten aus ihm wieder den kleinen neunjährigen Jungen aus dem Keller. Er schaute auf den Wecker. Es war drei Uhr. Wahrscheinlich würde er nicht wieder einschlafen können. Er stand auf, lief in die kleine Küche und trank gierig aus einer Wasserflasche. Er musste sich beruhigen. In Wirklichkeit war er nicht Joringel. Er war es nie gewesen. Als Kind hatte er sich in dieses Märchen geflüchtet. Seine Schwester war in der Hand dieser Hexe gewesen, und nicht nur sie. Es gab viele Nachtigallen im Käfig, und er konnte ihnen nicht helfen. Er hätte sie so gern befreit. Im Märchen fand Joringel die magische Blume, und die Geschichte endete glücklich. In der Realität hatte er keine Zauberblüte aufspüren können. In seinen Träumen hatte er sie jahrelang gesucht, und nun suchte er wieder danach. Fast jede Nacht. Manchmal fragte er sich ernsthaft, ob er im Begriff war verrückt zu werden. Dass er seine Therapie abgebrochen hatte und nach Hamburg gezogen war, hatte sicher auch damit zu tun, dass er sich wieder in einem erbärmlichen Zustand befand. Aber er hatte nun einmal eine Mission. Wenn er seiner Schwester damals nicht helfen konnte und in seinen Träumen immer versagte, dann musste er seinen neuen Weg weitergehen und die Hexe zur Strecke bringen. Und wenn es das Letzte war, das er in seinem jämmerlichen Leben zustande bringen würde.

Samstag

Tina Sperber stellte das letzte Schneidebrett in die Spülmaschine und schaltete das Gerät an. Milder Sommerwind wehte durch die geöffneten Fenster. Sie hatten wirklich Glück mit dem Wetter. Der Himmel war blau, und nur wenige kleine Wolken zogen vorbei. Tinas Blick fiel durch die offene Küche auf den Esstisch, der sich unter den zubereiteten Kuchen, Torten und diversen Salaten gebogen hätte, wäre er nicht so massiv gewesen. Sie war bereits seit sieben Uhr morgens in der Küche, um die letzten frischen Speisen für das Sommerfest zuzubereiten. Das Ergebnis konnte sich wirklich sehen lassen, dachte Tina zufrieden. Sie liebte es zu kochen und zu backen, aber mit drei kleinen Kindern blieb ihr nicht viel Zeit. Sie konnte sich gar nicht erinnern, wann sie das letzte Mal einfach alleine ein paar Stunden in der Küche gezaubert hatte. Tina wischte noch einmal über die Arbeitsflächen ihrer modernen Edelstahlküche und grinste. »Danke, Oma Hedi«, flüsterte sie leise. Oma Hedi war seit ein paar Monaten eine echte Geheimwaffe. Tina erinnerte sich. Es gab einen Punkt, an dem sie mit ihren drei Kindern überfordert gewesen war. Alle waren noch so klein, und ihr Mann Stefan blieb unter der Woche meistens in seiner Wohnung in Lübeck. Mehr oder weniger alleinerziehend hatte sie alles möglichst perfekt machen wollen. Am Ende des Tages war sie immer öfter in Tränen ausgebrochen. Es fiel ihr schwer einzugestehen, dass sie Hilfe brauchte. Durch Zufall war sie eines Tages Hedi begegnet. Sie war im April mit ihren Kindern am Strand entlang spaziert, noch immer in warmen Fleecejacken, als die ältere Dame aus dem Wasser kam.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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