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Kommissarin Pia Korittki nimmt sich eine Auszeit in einem Ostsee-Kloster. Das ruhige, beschauliche Leben mit den Mönchen und einigen wenigen Gästen soll ihr helfen, sich von einem traumatischen Erlebnis zu erholen. Doch die Ruhe wird jäh durch das Läuten der Totenglocke gestört. Ein Novize hat einen der Mönche leblos in der Kirchenbank kniend gefunden. Schnell ist klar, dass Bruder Zacharias ermordet wurde. Pia will sich aus den Ermittlungen heraushalten, doch als auch noch ein Gast spurlos verschwindet, muss sie handeln - und macht in einem Kellerraum eine schreckliche Entdeckung ...
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Seitenzahl: 471
Kommissarin Pia Korittki nimmt sich eine Auszeit in einem Ostsee-Kloster. Das ruhige, beschauliche Leben mit den Mönchen und einigen wenigen Gästen soll ihr helfen, sich von einem traumatischen Erlebnis zu erholen. Doch die Ruhe wird jäh durch das Läuten der Totenglocke gestört. Ein Novize hat einen der Mönche leblos in der Kirchenbank kniend gefunden. Schnell ist klar, dass Bruder Zacharias ermordet wurde. Pia will sich aus den Ermittlungen heraushalten, doch als auch noch ein Gast spurlos verschwindet, muss sie handeln – und macht in einem Kellerraum eine schreckliche Entdeckung …
Eva Almstädt, 1965 in Hamburg geboren und dort auch aufgewachsen, absolvierte eine Ausbildung in den Fernsehproduktionsanstalten der Studio Hamburg GmbH und studierte Innenarchitektur in Hannover. Seit 2001 ist sie freie Autorin. Die Autorin lebt in Hamburg.
EVA ALMSTÄDT
Ostseekreuz
Pia Korittkis siebzehnter Fall
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Originalausgabe
Dieses Werk wurde vermittelt durch dieThomas Schlück GmbH, 30161 Hannover
Copyright © 2022 by Bastei Lübbe AG, Köln
Titelillustration: © Tom Hogan/plainpicture; © irisphoto1/shutterstock; © Olha Rohulya/shutterstock; © kosmos111/shutterstock
Kartenillustration: © Markus Weber, Guter Punkt München
Umschlaggestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.de
eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7517-2065-6
luebbe.de
lesejury.de
»Bist du bereit?« Broders löste den Anschnallgurt. Er klang besorgt, schien aber auch auf der Hut vor ihr zu sein. Zu Recht: Pia Korittki, Kriminalhauptkommissarin bei der Lübecker Bezirkskriminalinspektion, war kurz davor, ihm den Kopf abzureißen. Seit sie nach ihrer Entführung durch einen entflohenen Straftäter wieder im Dienst war, hatten ihre Kollegen nichts Besseres zu tun, als sich fortlaufend nach ihrem Befinden zu erkundigen. Das war nicht hilfreich.
»Klar bin ich das«, antwortete sie. »Los, komm. Nicht, dass der Tote dadrinnen es eilig hätte. Aber alle anderen warten sehnsüchtig auf uns.«
Pia stieg aus und legte den Kopf in den Nacken. Sie blickte an der Fassade des Hochhauses hinauf und zählte vierzehn Stockwerke. An diesem windigen, grauen Novembervormittag waren in der näheren Umgebung kaum Menschen zu sehen. Weder auf den Fußwegen noch auf dem Parkplatz oder in dem eingezäunten Areal des Spielplatzes. Dem Schaukelgerüst fehlten die Schaukeln, dafür parkte ein Einkaufswagen mit zwei leeren Bierflaschen darin neben der Sandkiste.
Auf dem Weg zum Hauseingang passierten Pia und Broders die Zufahrt zur Tiefgarage. Die rauen Betonwände fielen hinter einer Brüstung fast vier Meter in die Tiefe. Sie waren dunkelgrün von Algen, Moos und Flechten. Unkraut klammerte sich in Ritzen, Laub verrottete auf dem Fußweg in ausgedehnten Pfützen. Wie lange es wohl dauern würde, bis sich die Natur so ein Gebäude vollständig zurückerobert hatte? Bei toten Tieren und Menschen ging es schnell. Ein Leichnam begann schon nach wenigen Minuten, sich zu zersetzen.
Pia atmete tief durch. Ihre erste Leichensache nach der »Stunde null«, wie sie ihre Befreiung aus den Händen eines rachsüchtigen Straftäters im Stillen nannte. War sie schon wieder dafür bereit? Sie musste es sein. Das war nun mal ihr Job bei der Polizei.
Sie blickte in das blasse Gesicht eines jungen Uniformierten, der unter dem Vordach des Eingangs auf sie wartete. Das dunkelblonde Haar, das unter seiner Polizeimütze hervorguckte, war trotz der niedrigen Temperaturen nass geschwitzt.
Er führte sie ins Treppenhaus und dann eine Betontreppe hinunter in den Keller. Sie liefen einen Gang entlang. Die Mauern waren weiß getüncht, unterbrochen nur von Brettertüren mit einfachen Beschlägen und Vorhängeschlössern. Auf jeder Tür prangte eine Nummer, die jemand mit Schablone und hellblauer Farbe aufgesprüht hatte. Sparsam positionierte Kellerleuchten spendeten fahles Licht.
Sie folgten dem schwachen, aber ekelhaft süßlichen Geruch, der sich dezent mit dem normalen Kellergeruch mischte. Broders hinter ihr schnaufte.
»Wir sind gleich da.« Der junge Kollege stieß eine Tür auf, die wiederum in einen ähnlichen Gang mündete. Schlagartig wurde der Geruch stärker. »Teilweise sind die Häuser unterirdisch miteinander verbunden«, sagte der Streifenpolizist.
»Das ist ja ein richtiges Labyrinth«, kommentierte Broders. Ein Stück weiter, vor einer geöffneten Brettertür, stand ein etwas älterer Kollege in Uniform. Er winkte sie zu sich, als bestünde die Möglichkeit, dass sie sich in dem Gang verpassten.
Pia nickte dem Beamten zu und betrat entschlossen den Kellerraum. Je eher sie es hinter sich brachte, desto besser. Sie blieb mitten im Raum stehen. Im ersten Moment schien noch alles in Ordnung zu sein. Es war ein normaler Kellerverschlag, beinahe leer bis auf ein paar Umzugskartons … und den leblosen Körper, der hinten in einer Ecke auf einer alten Matratze zusammengekrümmt lag. Der Geruch nach Tod und Verwesung war noch auszuhalten. Der Tote befand sich offenbar noch nicht allzu lange in diesem Verschlag. Seine Kleidung war zusammengewürfelt, zu groß für ihn und schäbig, das graue Haar strähnig. Sein Gesicht sah bereits aufgedunsen und bläulich geädert aus. Die milchigen Augen blickten starr zu der nackten Glühbirne an der Decke.
Der Anblick der Leiche war nicht angenehm, aber damit hatte Pia gerechnet. Das kannte sie. Nicht gerechnet hatte sie mit den Dimensionen, der frappierenden Ähnlichkeit des Kellerraumes mit einem anderen. Es waren die Abmessungen, die kahlen Wände, die dünne Matratze, die sie schlagartig an jenen Raum in dem Container auf dem Schiff erinnerten, in dem sie von Albrecht Lohse gefangen gehalten worden war.
»Wem gehört dieser Verschlag?«, hörte Pia Broders fragen.
Sie zwang sich, ruhig zu atmen.
»Das wissen wir noch nicht.«
»Und wo ist der Hausmeister?« Broders klang ungeduldig. Er stand jetzt direkt hinter ihr.
»Dem ist schlecht geworden, aber er kommt bald wieder runter. Er sieht gerade nach, welchem Mieter dieses Abteil gehört.«
Die Wände des schmalen Raumes bewegten sich langsam auf Pia zu.
»Und wer hat den Toten gefunden?«, hakte Broders nach.
Pia blickte sich zu ihm um. Auch die Decke schien sich auf sie herabzusenken. Gleichzeitig wichen die beiden Männer wie von unsichtbaren Seilen gezogen vor ihr zurück. Das bildete sie sich doch nur ein, oder? Sie kniff die Augen zusammen.
»Der Hausmeister hat den Raum aufgeschlossen, weil er etwas gerochen hat«, sagte der ältere Uniformierte.
»Besser spät als nie«, antwortete Broders. Die Stimmen der beiden Männer klangen wie aus weiter Ferne.
Neben der Matratze, auf der die Leiche lag, stand eine Mineralwasserflasche. Genau wie … Pia riss sich von dem Anblick los und wandte sich um. Broders schien immer noch vor ihr zurückzuweichen. Pia brach der Schweiß aus.
»Halt!« Sie konnte nicht allein in diesem Raum bleiben! »Warte doch, Broders!« Pia wollte in Richtung Tür gehen, doch es fühlte sich so an, als watete sie durch Schlamm. Das helle Rechteck, der noch offene Ausgang, verkleinerte sich. Die Männer waren schon weit weg. Sie starrten sie verblüfft an. Die niedrige Kellerdecke und der Boden bewegten sich nun wellenartig auf Pia zu. Sie gab sich einen Ruck und stolperte aus dem Verschlag und hinaus in den Gang. Nur raus hier!
Pia stützte sich an der Wand ab. Die Tür eines weiteren Kellerabteils schlug auf. Ein Mann trat heraus und starrte sie an. Er war groß und dünn, mit kantigem Gesicht und dunkelblonden Haaren. Sein Gesicht verzog sich spöttisch. Dann drehte er sich auf dem Absatz um und lief weg.
»Stopp! Bleiben Sie stehen!«
Pia rannte los. Floh sie, oder verfolgte sie ihn? Die Anspannung, die sich in ihr aufgestaut hatte, ließ sie förmlich vorwärtsfliegen. Der Boden bewegte sich unter ihr wie auf einem Schiff bei starkem Seegang.
Nach wenigen Metern hatte sie den Flüchtigen eingeholt. Pia bekam seine Kapuze zu fassen. Er strauchelte und versuchte, sich des Kleidungsstücks zu entledigen. Pia packte erneut zu, riss ihn herum. Er stieß sie von sich, doch sie hielt ihn fest. Er durfte ihr nicht entkommen, nicht ein zweites Mal! Sie kämpfte verbissen. In ihren Ohren rauschte es. Dann verlor sie das Gleichgewicht und riss den Flüchtenden mit sich. Sie landeten hart auf dem Betonboden.
Er war nah, viel zu nah. Sie roch den Atem des Mannes, spürte seine Hände auf ihren Armen, sein Gewicht auf ihrem Körper. Es schüttelte sie. Pia bekam seinen Arm zu fassen und drehte ihn herum.
»Pia! Lass ihn los!«, rief Broders nah an ihrem Ohr. Starke Hände zogen sie weg, zerrten sie hoch und drückten sie gegen die Wand.
Pia schloss kurz die Augen, riss sie wieder auf. Der Mann, den sie überwältigt hatte, hielt sich stöhnend und jammernd den Arm.
Ihre Kollegen standen bei ihr und sahen sie ratlos an. Sie schüttelte irritiert den Kopf.
Der Mann, den sie verfolgt und festgesetzt hatte, war ein ihr vollkommen Unbekannter. Er war um die zwanzig Jahre alt, ein eher schwächlicher Typ, der sicher keine sechzig Kilo wog. Aus seiner Nase flossen Rotz und Blut. Er wischte beides weg. Dann betrachtete er seinen Handrücken und sah sie anschließend von unten herauf an. »Was sollte das?« Er schien mehr verwundert als empört zu sein. Dann wandte er sich an Broders: »Ist die verrückt, oder was?«
»Du kannst froh sein, dass du keine Anzeige wegen Körperverletzung bekommst.« Pias Vorgesetzter, Manfred Rist, bedachte sie mit einem besorgten Blick. »Was ist denn da bloß in dich gefahren?«
»Ich habe einen Tatverdächtigen verfolgt, der sich in einer Leichensache einer Befragung entziehen wollte.« Sie saßen sich in Rists Büro im K1 der Lübecker Bezirkskriminalinspektion gegenüber. »Er ist vor mir weggelaufen«, ergänzte sie schwach.
»Tatverdächtig? Der Tote, wegen dem ihr dort wart, lag seit mehreren Tagen da unten. Höchstwahrscheinlich hatte er nur dort Unterschlupf gesucht und dann einen Herzinfarkt bekommen. Und als dir im Kellergang ein harmloser Mieter entgegenkommt, rennst du ihm hinterher, wirfst ihn zu Boden und kugelst ihm beinahe den Arm aus?«
»Harmloser Mieter? Er hat sich meinem Zugriff massiv widersetzt. Warum?«
»Mein Gott, Pia! Du bist ihn massiv angegangen.«
»Okay. Ich hatte mich getäuscht. Die Situation ist kurzzeitig außer Kontrolle geraten. Das wird nicht noch einmal vorkommen.« Shit! Selbst in ihren eigenen Ohren klang das nicht gut.
»Nein. Das wird es nicht.« Rist betrachtete sie mit schief gelegtem Kopf. Er hielt einen Kugelschreiber in der Rechten. Mit dem Daumen drückte er die Mine rein und raus. Das war eine nervende Angewohnheit von ihm, die Pia samt dem klickernden Geräusch wohlvertraut war. Heute jedoch kostete es sie beinahe übermenschliche Kraft, ihm den Stift nicht aus der Hand zu reißen. »Mein Gott, was ist denn da bloß in dich gefahren, Pia?«, wiederholte Rist seine Frage.
In dem Kellerverschlag war es ihr so vorgekommen, als wäre sie wieder in dem Container gefangen. Ihr Gehirn hatte ihr einen Streich gespielt. Das vollkommene Déjà-vu. Die Dimensionen des kahlen Raumes, die Matratze in der Ecke, die Flasche Wasser daneben … und dann die Leiche, die sie hätte sein können. Das alles war dem Szenario ihrer Entführung zu ähnlich gewesen. Einer Entführung aus Rache.
Pia hatte vor Jahren bei einer ihrer ersten Ermittlungen bei der BKI Lübeck einen Mann namens Mark Albrecht Lohse überführt und zu seiner Festnahme beigetragen. Schon damals wäre sie beinahe dabei umgekommen. Lohse hatte versucht, sie zu erhängen. Die Narben am Hals erinnerten sie heute noch daran. Sie hatte vor Gericht gegen ihn ausgesagt, und er war wegen mehrfachen Mordes verurteilt worden. Doch damit war es nicht vorbei gewesen. Schon aus dem Gefängnis hatte er sie mit seinen Racheplänen verfolgt.
Und vor Kurzem war es ihm dann gelungen, aus der Justizvollzugsanstalt zu entkommen. Er hatte ihre Entführung akribisch vorbereitet, und er hatte einen Helfer gehabt. Albrecht Lohse hatte sie mehrere Tage lang in einem Container auf einem Binnenschiff gefangen gehalten. Ihren Kollegen, allen voran Marten Unruh, war es schließlich gelungen, sie aufzuspüren und zu befreien.
Rein äußerlich betrachtet war ihr nicht viel passiert. Doch die Bedrohungslage hatte trotzdem Spuren hinterlassen. Lohse hatte Pia angedroht, dass er sie überall finden und seine Rache unter allen Umständen bekommen würde. Er hatte dafür alle Zeit der Welt.
In den Jahren im Gefängnis hatte er einen Plan geschmiedet, der so perfide und monströs war, dass Pia bisher niemandem davon erzählt hatte. Nicht einmal Marten. Jedes Mal, bevor sie sich trafen, nahm sie sich fest vor, ihn einzuweihen. Doch dann kam immer irgendwas dazwischen. Oder aber die Stimmung kippte, schon wegen der enormen Anspannung, unter der sie beide standen, und Pia verschob es wieder. Die Motivation, den flüchtigen Lohse aufzuspüren, die Marten und seine Leute antrieb, ließ sich sowieso nicht weiter steigern, sagte Pia sich. Und sie wollte keinesfalls riskieren, dass außer Marten noch weitere Kollegen von Lohses Plan erfuhren.
Nein, der Gedanke, dass in diesem Zusammenhang in Polizeikreisen über sie gesprochen wurde, war ihr unerträglich. Sie brauchte nur etwas Zeit, um darüber hinwegzukommen. Doch sie durfte deswegen nicht die Beherrschung verlieren und in ihrem Job Fehler machen.
»Ich habe wegen deines ›Aussetzers‹ mit Dr. Ronnemeyer gesprochen«, sagte Rist in ihre Gedanken hinein. Er mied ihren Blick, sah zum Fenster hinaus. Die Kirchtürme der Lübecker Altstadt waren in der Dämmerung kaum noch zu erkennen.
Pia drückte den Rücken gerade. »Wie kommst du dazu, mit dem Polizeipsychologen über mich zu reden?«
»Keine Sorge. Das war alles nur ganz allgemein gehalten. Nach einem Erlebnis, wie du es hattest, ist es vollkommen normal, dass du ein paar Schwierigkeiten hast, wieder in deinen Alltag zurückzufinden, sagt Ronnemeyer.«
»Schwierigkeiten?«
»Eine Entführung ist ein zutiefst traumatisches Erlebnis, Pia. Da steht man nicht auf und geht nach ein paar Tagen wieder zum Dienst, als wäre nichts gewesen.«
»Ich suche mir schon noch Hilfe. Es ist meine Entscheidung, wann und bei wem. Zu diesem Psychologen werde ich jedenfalls nicht wieder gehen. Aber du kannst sicher sein: Ich werde klarkommen.«
»Nein, Pia. So läuft es nicht. Ich trage die Verantwortung für dein Verhalten im Dienst. Lass dich krankschreiben!« Er sah ihren kalten Blick und ruderte ein Stück zurück. »Oder nimm meinethalben sofort deinen restlichen Urlaub. Ansonsten …«, er seufzte leise, »muss ich dich vom Dienst suspendieren.«
»Das tust du nicht«, sagte Pia.
»Wenn du nicht vernünftig wirst, ist das meine letzte Option. Du musst dir verdammt noch mal helfen lassen.«
»Okay.« Pia sackte ein Stück in sich zusammen. Sie fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »Du hast wahrscheinlich recht. Ich nehme mir eine Auszeit. Das gestern war nicht in Ordnung von mir. Das sehe ich ein. Und es tut mir auch sehr leid.« Sie sah ihn beinahe flehend an. »Zwei Wochen Ruhe, dann bin ich wieder fit.«
»Das wird sich dann ja zeigen.«
»Aber was soll ich denn …« Sie schüttelte abwehrend den Kopf.
»Eine Ortsveränderung wäre übrigens hilfreich. Und psychologische Beratung in irgendeiner Form. Gespräche …« Er verzog das Gesicht, als hätte er in etwas Saures gebissen. »Das zumindest schlägt Dr. Ronnemeyer vor. Selbstverständlich ganz im Allgemeinen gesprochen«, ergänzte er unbehaglich.
»Ist das ein Vorschlag oder die Bedingung?«
»Ich glaube, du weißt selbst am besten, was jetzt notwendig ist und was dir guttut. Hauptsache, du bist danach wieder voll einsatzfähig.«
Einerseits aufgebracht, andererseits beschämt und ratlos kehrte Pia in ihr Büro zurück. Sie ließ sich auf den Bürostuhl sinken und starrte auf die regennasse Scheibe zu ihrer Rechten.
»So schlimm?«, fragte Broders, der ihr gegenübersaß. Sie waren seit Jahren ein Team. Er konnte ihr den inneren Aufruhr wohl inzwischen vom Gesicht ablesen.
»Schlimmer. Dass Rist stinksauer und enttäuscht ist, hatte ich ja erwartet. Vielleicht droht mir auch eine Anzeige. Aber stell dir vor, er hatte Mitleid mit mir.«
»Das ist allerdings übel«, bestätigte Broders.
»Er hat sogar mit dem Polizeipsychologen über mich gesprochen.«
»Autsch.«
»Rist will, dass ich mich krankschreiben lasse oder Urlaub nehme. Ansonsten suspendiert er mich.« Sie sah ihn an. »Was mache ich denn jetzt?«
»Es kommt darauf an, was du machen willst, Pia.«
Sie stöhnte auf. »Ich will niemanden, der mich analysiert. Niemanden, der mir tausend Fragen stellt und dann, wenn er die Antworten hört, womöglich noch mitleidig guckt. Ich will nicht, dass jemand einen Bericht über mich schreibt. Ich brauche keine guten Ratschläge von Leuten, die keine Ahnung haben, wie es mir geht. Ich brauche nicht mal Ratschläge von Leuten, die glauben zu wissen, wie es mir geht. Das wissen sie nämlich nicht. Und vor allem brauche ich keine Fragen wie: ›Wie fühlst du dich dabei?‹ Oder: ›Wie geht es dir jetzt?‹«
Broders schüttelte sanft den Kopf. »Pia. Du sagst nur, was du nicht willst.«
»Ach ja? Und weißt du was? Ich will auch nichts. Ich will nur in Ruhe gelassen werden und die Entführung vergessen. Ich brauche vielleicht noch etwas Zeit für mich. Und dann so etwas wie einen Neustart.«
»Okay. Das ist doch schon mal ein Anfang«, sagte Broders ruhig. »Wie wäre es, wenn du irgendwohin fährst, wo dich niemand kennt? In ein schönes, ruhiges Hotel oder in ein Ferienhaus? Am besten auf einer netten Insel, wo es auch noch schön warm ist.«
»Das ist eine Möglichkeit. Aber ich kann und will nicht zu weit von Felix fort sein. Es ist schlimm genug, dass er zurzeit aus Sicherheitsgründen noch bei seinem Vater wohnt.«
»Das mit deinem Sohn verstehe ich ja. Doch in deinem gewohnten Umfeld kannst du auch nicht bleiben. Dann ändert sich nämlich nichts.«
»Nein, das weiß ich«, sagte Pia düster. »Ich kann zu Hause schon allein deswegen nicht richtig abschalten, weil mir der Personenschutz dort quasi auf dem Schoß sitzt.«
»Du könntest inkognito irgendwohin fahren«, schlug Broders vor. »Es muss ja gar nicht weit weg sein. Ein geschützter, irgendwie in sich abgeschlossener Ort, wo du deine Ruhe hast.«
»Nachts allein durch die Stadt zu spazieren ist keine gute Idee, Pia!« Marten stellte sich ihr in den Weg.
Sie wickelte sich den Schal um den Hals. »Dann komm halt mit.«
»Du wirst mich kaum davon abhalten können.«
»Die Jungs, die mich bewachen sollen, freuen sich bestimmt auch über ein bisschen Bewegung«, argumentierte Pia.
»Es ist riskant. Wir haben immer noch keinen Anhaltspunkt, wo Albrecht Lohse sich momentan aufhält. Mein Team gibt wirklich alles, aber …« Er verzog genervt das Gesicht.
Ihr ehemaliger Kollege Marten Unruh, der inzwischen im LKA Kiel arbeitete, hatte sich extra in eine andere Abteilung versetzen lassen, um sich an der Fahndung nach Albrecht Lohse zu beteiligen. Er hatte seitdem noch keinen einzigen Tag freigemacht, und Pia rechnete ihm seinen Einsatz hoch an. Trotzdem musste sie jetzt an die frische Luft.
»Marten, nur eine halbe Stunde. Das ist nicht zu viel verlangt.« Pia zog ein Paar Stiefel aus dem Schuhregal und betrachtete sie.
»Wenn du darauf bestehst … Aber wir laufen unter keinen Umständen hier um die Häuserblocks.«
»Ich dachte an meine übliche Runde, an der Trave entlang, mit Blick auf die Altstadt.« Pia lächelte ironisch, weil sie wusste, dass es illusorisch war. »Wir können auf ein Bier oder ein Glas Wein irgendwo einkehren.«
»Auf gar keinen Fall. Wir fahren aus der Stadt raus. Wenn uns bis dahin niemand folgt, ist alles gut. Was sagst du dazu?«
»Das ist besser als nichts.«
Auf dem Weg zum Auto informierten sie die beiden Beamten, die zu Pias Schutz abgestellt waren, von ihrem Vorhaben.
Sie fuhren schweigend durch die Stadt in Richtung Autobahn. Teilweise sahen sie schon Weihnachtsbeleuchtung an den Häusern und in den Geschäften. Bis zum ersten Advent war es nicht mehr lange hin.
Pia suchte einen annehmbaren Radiosender, fand einen, der leichte Popmusik spielte, und versuchte, sich zu entspannen. Sie hatte keine Ahnung, wo es hingehen sollte, und es war ihr im Grunde auch gleichgültig. Hauptsache, raus. Bewegung und frische Luft. Weg von allem.
Sie nahmen die A 1 in Richtung Norden, dann den Abzweig nach Travemünde. Marten behielt stets den Rückspiegel im Blick. In Travemünde steuerte Marten durch die Stadt direkt zum Hafen. Die kleine Autofähre in Richtung der Halbinsel Priwall war kurz davor abzulegen. Sie fuhren als Letzte auf das Schiff und rollten ein paar Minuten später, nachdem sie die Trave überquert hatten, als Erste wieder von Bord. Die Personenschützer waren mit ihrem Wagen am anderen Ufer stehen geblieben.
»Jetzt verstehe ich, warum du ausgerechnet hier hinfahren wolltest«, sagte Pia mit einem schwachen Lächeln. »Die Jungs passen auf, dass uns niemand über die Trave folgt.«
»So sind wir zumindest für eine Weile sicher und ungestört.« Martens Blick war auf die schmale Fahrbahn gerichtet. »Wenn man von hier aus außen herumfährt, also ohne die Fähre zu benutzen, braucht man mit dem Auto mindestens fünfundvierzig Minuten auf den Priwall. Die Zeit haben wir nun ganz für uns.«
»Gibt es nicht zwei Fähren in Travemünde?«
»Die andere ist nur für Fußgänger. Und die fährt heute nicht mehr. Ich hab mich erkundigt.«
Pia nickte. Der Gedanke, dass jemand anders Verantwortung für ihre Angelegenheiten übernahm, behagte ihr nicht. Sie rollten langsam durch ein dunkles Waldstück, am Gelände einer ehemaligen Klinik vorbei. Auch hierhin war sie mal zu einem Leichenfund gerufen worden und hatte an der Aufklärung eines Mordfalls mitgearbeitet. Wie lange war das nun her?
Sie hielten am Straßenrand und gingen auf einem sandigen Pfad durch eine Ferienhaussiedlung und einen Dünenstreifen zum weitläufigen Strand. Weit und breit war kein Mensch zu sehen. Dazu war es wohl schon zu dunkel; es war zu spät im Jahr und das Wetter zu schlecht. Drüben, jenseits der Trave, stach das Hochhaus des Hotels Maritim mit seinen sechsunddreißig Stockwerken in den Nachthimmel. Pia konnte auch die Lichter der Häuser in der Straße Vorderreihe glitzern sehen. Nach Osten hin lag die Küste in vollkommener Dunkelheit. Das war das immer noch kaum besiedelte Grenzgebiet der ehemaligen DDR.
Sie gingen nebeneinanderher bis zum Wassersaum. Der Sand war feucht und weich, das Gehen mühsam.
Pia breitete die Arme aus und drehte sich um die eigene Achse. »Das war eine gute Idee!« Auf bestimmt fünfzig Meter konnte sich ihnen hier niemand ungesehen nähern. »Der beste Moment des Tages!«
»Und ich hatte gehofft, es wird nachher noch besser.«
»Du planst doch nicht etwa schon wieder, mir deinen persönlichen Sicherheitsservice über Nacht angedeihen zu lassen?« Sie knuffte ihn leicht gegen die Schulter.
»Es liegt an dir, das zu entscheiden. Und selbstverständlich ist das vollkommen selbstlos von mir gedacht«, fügte er lächelnd hinzu.
»Mal sehen«, neckte sie ihn. Doch Pia war sofort wieder auf dem Boden der Tatsachen angelangt. Die Lage hatte sich im Grunde noch nicht gebessert. Daran änderte auch ein Strandspaziergang nichts. »Es gibt also wirklich gar nichts Neues über Lohses Verbleib?«, hakte sie nach.
»Noch nicht.« Martens Stimme klang nun wieder neutral. »Aber wir bleiben dran. Es wird europaweit nach ihm gefahndet. Er kann sich nicht dauerhaft in Luft auflösen.«
Pia nickte. Und dann war da noch die Frage, was Marten tun würde, wenn er ihn endlich gefunden hatte. Neulich hatte er spontan gesagt, dass er Lohse umbringen wollte. Pia hatte mehrfach versucht, mit ihm darüber zu sprechen, doch er blockte das Thema ab. Einen Menschen zu töten widersprach allem, an das Pia glaubte. Es war böse und unmenschlich! Selbstjustiz war keine Option. Andererseits wusste sie, dass Lohse, solange er lebte, eine Bedrohung für sie und vor allem für Felix darstellte.
»Woran denkst du, Pia?«, fragte Marten. »Was beschäftigt dich so sehr, dass du nicht mal merkst, wenn du nasse Füße bekommst?«
Sie sah zu Boden, ging ein paar Schritte weiter. »Die Entführung setzt mir anscheinend mehr zu, als ich dachte«, gab Pia widerstrebend zu. »Heute ist etwas passiert.«
Alarmiert drehte er sich zu ihr. »Was denn?«
»Ich bin mit Broders zu einer Leichensache gerufen worden. Im Prinzip reine Routine. Im Keller eines Hochhauses ist ein Toter entdeckt worden. Der Kriminaldauerdienst war anderweitig im Einsatz, deshalb wurden wir hingeschickt. Höchstwahrscheinlich handelte es sich um einen natürlichen Tod. Aber ich …« Sie schluckte und sah aufs Meer. »Ich weiß nicht, was plötzlich mit mir los war. Ich trat in den kleinen Kellerraum und hatte eine Art Flashback, dass ich wieder in dem Container auf dem Binnenschiff bin. Es kam ohne jede Vorwarnung. Jedenfalls habe ich vollkommen falsch reagiert.«
Sie schilderte ihm in groben Zügen, was passiert war. »Mit etwas Pech bekomme ich eine Anzeige wegen Körperverletzung. Vielleicht auch ein Disziplinarverfahren. Und selbst wenn nicht: Rist hat mir das Messer auf die Brust gesetzt. Ich soll mich krankschreiben lassen oder wenigstens einen ausgedehnten Urlaub nehmen.«
»Pia.« Marten fasste sie an den Schultern und drehte sie zu sich um. Sie wandte den Blick ab, als gäbe es auf der dunklen Ostsee etwas ungeheuer Interessantes zu sehen. »Rist hätte dich dort noch gar nicht hinschicken dürfen. An einen Leichenfundort! Hat der Kerl keinen Verstand? Er trägt die Verantwortung für seine Mitarbeiter. Du hast gerade ein traumatisches Erlebnis erster Güte hinter dir, und der schickt dich in einen Keller mit einem Toten … Was hat der Polizeipsychologe eigentlich zu deiner Situation gesagt?«
»Oh, der! Sprich mich nicht darauf an! Zu dem gehe ich bestimmt nicht noch einmal.«
»Okay. Aber mit irgendjemandem solltest du schon sprechen, Pia.«
»Ich traue dem Polizeipsychologen nicht«, fuhr sie mit fester Stimme fort. »Alles, was ich dort sage, kann später gegen mich verwendet werden. Es wird dokumentiert. Ich will nicht schwach erscheinen. Das wäre nicht gut.«
»Du bist nicht schwach.« Er drehte sanft ihren Kopf zu sich und sah ihr in die Augen. »Du bist alles andere als schwach. Niemand steckt eine Entführung, die Todesangst und die Ungewissheit so einfach weg und arbeitet dann weiter im Polizeidienst, als wäre nichts gewesen. Rists Vorschlag, dich krankschreiben zu lassen oder einige Zeit Urlaub zu nehmen, halte ich ausnahmsweise für vernünftig.«
»Du also auch!«, erwiderte sie heftiger als beabsichtigt.
»Ich will nur, dass es dir wieder gut geht«, entgegnete er ruhig. »Und du weißt, du kannst mir alles sagen, ohne fürchten zu müssen, dass es deine berufliche Laufbahn gefährdet oder dass du damit irgendeine Schwäche zeigst.«
Sie seufzte. »Ich weiß. Ich bin aber noch nicht so weit.«
»Lass dir die Zeit, die du brauchst.«
Sie war kurz versucht, ihm zu erzählen, was an Bord der Mary vorgefallen war. Dass vielleicht alle Zeit der Welt nicht reichen würde, um es auszulöschen. Die Gedanken an Lohses Plan, von dem er mit Sicherheit erst ablassen würde, wenn er tot war. Dabei war es beinahe logisch, dass es bei der Entführung um mehr als einen simplen Racheakt gegangen war.
Pia fürchtete, Marten oder sogar die Kollegen könnten mit der Zeit von selbst darauf kommen. Immerhin hatte Lohse für sie extra eine Zelle in einem Überseecontainer auf einem Binnenschiff bauen lassen. Ein einfacher Racheakt an der Polizistin, die ihn ins Gefängnis gebracht hatte, wäre weitaus weniger aufwendig zu bewerkstelligen gewesen. Diese umfangreichen Vorbereitungen hatte er für einen längeren Zeitraum getroffen. Er hätte sie in ihrer Kammer Wochen, wenn nicht Monate gefangen halten können. Wenn es nötig geworden wäre, hätte der Container per Schiff oder Lkw sogar mehrfach den Standort wechseln können.
Und das Thema gewann sogar zusätzlich an Brisanz, wenn Pia an Martens Frage dachte. Er vermutete seit Längerem, dass er der Vater ihres Sohnes Felix war. Das war theoretisch auch möglich. Doch Hinnerk hatte ihr damals, bald nach Felix’ Geburt, gesagt, er habe einen Vaterschaftstest machen lassen. Er sei Felix’ Vater.
Bis vor Kurzem hatte sie keinen Grund gehabt, an seinem Wort zu zweifeln. Und war es nicht auch gut so gewesen, für ihren Sohn und auch für sie, dass Hinnerk sich um Felix kümmerte? Dass er Verantwortung übernahm? Er war Felix in den vergangenen Jahren ein zuverlässiger und vor allem anwesender Vater gewesen.
Marten hingegen hatte als verdeckter Ermittler lange Zeit im Ausland gearbeitet und von der Existenz des Jungen nichts gewusst. Das konnte sie ihm aber nicht unbedingt zum Vorwurf machen. Hatten sie nun nicht alle das Recht, die Wahrheit zu erfahren?
Sie erreichten den Kai, wo die Viermastbark Passat vor Anker lag. Marten war hier sichtlich angespannter, weil die Lage unübersichtlicher wurde. Er telefonierte mit den Personenschützern. »Lass uns umkehren«, schlug er dann vor.
Pia nickte. Sie hatte einen Entschluss gefasst.
Als sie spätabends eng nebeneinander in Pias Bett lagen, sagte sie unvermittelt: »Ich werde den Vaterschaftstest jetzt machen lassen. Dann wissen wir, ob du Felix’ Vater bist oder nicht. Alles Weitere sehen wir später.«
Marten drückte sie fester. »Danke!«, murmelte er in ihr Haar. »Mehr will ich im Moment gar nicht. Ich möchte Felix’ Welt nicht durcheinanderbringen. Ich will nur Klarheit für uns. Und ich will dich.«
»Und ich werde mir eine Auszeit nehmen«, fuhr Pia mit fester Stimme fort. »Was heute im Job passiert ist, darf nicht wieder vorkommen.«
»Ich könnte dich begleiten …«
»Nein. Lohse zu finden ist wichtiger, Marten. Außerdem möchte ich allein sein.«
»Den Personenschutz wirst du erst einmal nicht los«, wandte er ein.
»Oh doch. Broders hat heute den fabelhaften Vorschlag gemacht, dass ich inkognito irgendwohin reise. Ich möchte in Felix’ Nähe bleiben, also soll es gar nicht so weit weg sein. Ein abgeschlossener Ort … Ruhig und von der Welt abgeschirmt. Niemand weiß dann, wo ich bin. Und ich habe Zeit, um in Ruhe über alles nachzudenken und mich zu erholen.«
Marten stützte sich auf. Sie spürte seinen Blick in der Dunkelheit. »Du solltest nicht ganz allein sein, Pia.«
»Ich habe schon eine Idee. Und ich werde dort jemanden zum Reden finden, wenn mir danach ist.«
»Ich muss aber wissen, wo du bist. Noch einmal so eine Ungewissheit ertrage ich nicht.«
»Du wirst so ziemlich der Einzige sein, der es weiß.«
»Was hast du vor, Pia?«
»Ich gehe in ein Kloster.«
Kloster Naumar lag an der Ostseeküste, nur eine halbe Stunde Autofahrt von Lübeck entfernt. Normalerweise jedenfalls. Pia hatte anderthalb Stunden benötigt, weil sie eine Reihe von komplizierten, von den Personenschützern ausgearbeiteten Umwegen gefahren war. Woher das Auto stammte, das man ihr zur Verfügung gestellt hatte, wusste sie nicht. Es war mit allen erdenklichen elektronischen Spielereien ausgestattet, fuhr sich aber wie ein nasser Schwamm. Egal. Sie würde hier sowieso keinen Wagen brauchen.
Pia kannte das Kloster bisher nur vom Vorbeifahren. Sie hatte nicht mal gewusst, dass es dort Mönche gab. Doch die Brüder des Cyprianer-Ordens nahmen in ihrer Abtei sogar regelmäßig zahlende Gäste auf. Die schlichte und trotzdem erhabene Architektur der Klosteranlage, die typisch nordische Backsteingotik, hatte Pia schon immer schön gefunden. Doch als sie auf den Parkplatz rollte und zu dem hohen Gittertor hinübersah, stieg leichte Beklemmung in ihr auf.
»Ein Kloster! Ich hoffe, das war wirklich eine gute Idee …«, murmelte sie und stellte den Motor ab.
Pia hatte im Kloster Naumar ein Retreat für zehn Tage gebucht, einschließlich Vollpension, der Möglichkeit, verschiedene Kurse zu belegen, Gespräche zu führen und Zugang zum »Stillen Bereich« zu haben.
Sie stieg aus und atmete tief durch. Der Himmel war strahlend blau. Die Sonne stand niedrig, und das Licht fiel in schrägen Strahlen durch die halb entlaubten Bäume. Die Tautropfen auf Gras und Blättern glitzerten. Eine ungewöhnliche Ruhe lag über dem ganzen Gelände. Bis auf wenige Details konnte es hier schon seit Jahrhunderten so oder so ähnlich ausgesehen haben.
Pia ging auf das schmiedeeiserne Tor neben einem alten Torhaus zu. Links vom Tor schloss sich ein Gewässer an, das das Kloster wie ein Burggraben umgab. Pia hatte sich den Lageplan bereits auf der Internetseite angeschaut. Sie lud ihr Gepäck aus und zog den Rollkoffer über den Kies bis zu einem Fenster des Pförtnerhauses.
Hinter den Scheiben erschien eine Frau und öffnete einen der Fensterflügel. »Willkommen im Kloster Naumar. Kommen Sie doch bitte zuerst zu mir herein«, sagte sie, nachdem Pia sich vorgestellt hatte. Die Angestellte betätigte einen Schalter, und das Tor glitt über den Kies schabend auf. »Sie können sich hier drinnen anmelden.«
Die Frau war schätzungsweise Mitte vierzig. Eine gut aussehende Blondine mit einem verbindlichen Lächeln, das zwei Grübchen zum Vorschein brachte. Sie trug einen flauschigen rosa Pullover und Perlenohrringe.
»Sie sind also Pia Cordes«, sagte sie, als Pia eingetreten war.
Pia nickte und unterdrückte die aufflackernde Irritation, als sie erstmals mit falschem Namen angesprochen wurde. Es war eine der Sicherheitsmaßnahmen, die getroffen worden waren. Nur der Prior des Klosters war in ihre Täuschung eingeweiht, sonst niemand.
»Ich hoffe, Sie haben eine gute Zeit bei uns.«
»Danke. Bestimmt! Ich freue mich auf ein paar ruhige und entspannte Tage.«
»Da sind Sie hier genau richtig. Ich bin Bernadette Rademann. Sie finden mich tagsüber hier im Pförtnerbereich. Und Sie können mich jederzeit ansprechen, wenn Sie Fragen oder Wünsche haben. Und ebenso Bruder Thomas, den Sie noch kennenlernen werden. Er ist der Mönch, der für die Gäste zuständig ist.«
»Das klingt gut. Danke!« Pia sah sich in dem kleinen, überheizten Büroraum um. Durch das Fenster konnte Frau Rademann bequem die gesamte Einfahrt mit dem Tor überblicken.
»Im Moment ist Bruder Thomas noch unterwegs. Falls Sie vorher schon Fragen oder Wünsche haben, können Sie sich natürlich auch an mich oder an den Novizen Noah wenden.« Sie lächelte. »Er unterstützt Bruder Thomas bei den Gästen.«
»Wo kann ich den Novizen denn finden?«
»Fragen Sie einfach, wen immer Sie antreffen. Es leben nicht sehr viele Mönche hier. Alles ist recht überschaubar.« Die Frau reichte ihr ein Formular. »Würden Sie das bitte ausfüllen? Sie können sich dort an den kleinen Tisch setzen. Damit hätten wir den bürokratischen Teil auch schon erledigt.«
Pia nahm einen Kugelschreiber aus einem bereitstehenden Becher und tat wie ihr geheißen. »Gibt es noch weitere Gäste?«, erkundigte sie sich, während sie schrieb.
»Oh, sicher! Es ist aber nicht sehr voll, weil gerade keine Gruppen da sind. Das ist ein Vorteil«, sagte Frau Rademann. »Sie sind momentan nur zu sechst. Besser geht es nicht.«
Pia gab das ausgefüllte Formular zurück. Ihr Blick fiel auf einen Kalender mit einem Bild der afrikanischen Steppe, einiger Zebras und eines Landrovers. Missions-Cyprianer Tsunonga, stand darunter zu lesen. Das Foto versetzte Pia einen Stich. Wehmut und ein Hauch schlechtes Gewissen. Sie besaß einen ähnlichen Landrover, den sie von ihrem verstorbenen Freund Lars geerbt hatte. Er stand seit Monaten ungenutzt in einer Scheune. »Ein schönes Foto«, sagte sie. »Gehören Kloster Naumar und die Missionsstation in Afrika irgendwie zusammen?«
»Unsere Mönche sind der Tsunonga-Mission in großer Freundschaft verbunden. Manchmal kommen Brüder von dort zu uns zu Gast.«
»Das klingt spannend.«
»Wenn Sie in den Genuss ihrer Erzählungen kommen wollen, müssten Sie aber länger bleiben.« Wieder ein Grübchen-Lächeln. »Ich hoffe, Sie werden sich bei uns wohlfühlen, Frau Cordes. Ich kann meinen Posten leider gerade nicht verlassen, sonst würde ich Sie natürlich zu Ihrem Zimmer begleiten. Aber Sie finden sich bestimmt zurecht. Das Tor hier ist stets geschlossen, doch die Pforte ist auch rund um die Uhr besetzt. Dies ist ein kleiner Lageplan, und das hier ist Ihr Zimmerschlüssel. In Ihrem Zimmer liegt eine Informationsmappe, wo alle Essenszeiten, Stundengebete und so weiter aufgeführt sind.«
»Das klingt perfekt.«
»Wenn Sie gleich hinausgehen, befindet sich das Gästehaus links von hier. Sie können es nicht verfehlen.«
Das Gästehaus stand abseits der alten Klostergemäuer am Ende einer Lindenallee. Es war ein zweistöckiges, grau-beige gestrichenes Gebäude, das schätzungsweise Anfang des vorletzten Jahrhunderts erbaut worden war.
Pias Zimmer lag im ersten Stock. Sie stieg die knarzende Treppe hinauf, fand die richtige Zimmernummer und schloss auf. Hinter der Tür befand sich ein kleiner Flur mit Spiegel und Garderobe, von dem eine Tür zu einem Duschbad abging. An den Flur schloss sich ein schmales, etwa zwölf Quadratmeter großes Zimmer an. Ihr Reich für die nächsten zehn Tage.
An der Wand stand ein Einzelbett, das schmal und bescheiden aussah und dem Klischee einer Mönchszelle zumindest in Ansätzen entsprach. Gegenüber befanden sich ein fest eingebauter Schreibtisch mit Stuhl und daneben ein schmaler Kleiderschrank in heller Holzoptik. Auf dem Boden lag dünner brauner Nadelfilz. Die hohen Wände waren weiß getüncht, und als einziger Farbtupfer rahmten braungrüne Vorhänge das Fenster ein. Die Wand über dem Bett zierte ein kleines quadratisches Holzstück mit eingelassenem Kreuz.
Pia trat ans Fenster. Sie konnte von hier aus die gewaltige Kirche aus rotem Backstein und ein paar ältere Nebengebäude sehen, deren Nutzung sich ihr noch nicht erschloss. An diesem sonnigen Novembertag lag eine heiter-gelassene Stimmung über dem Ensemble.
Pia blätterte durch die Informationsmappe: Tee und Kaffee gab es am Nachmittag um halb drei im Kaminzimmer. Das Abendessen würden die Gäste in Gesellschaft der Mönche im Refektorium einnehmen, das sich im Klausurbereich befand. Die übrigen Mahlzeiten wurden den Gästen in einem Speiseraum in diesem Haus serviert.
Insgesamt gab es sieben Mönche im Kloster, einen Novizen und den Prior der Abtei, las Pia. Außerdem mehr als zwanzig Angestellte, die sich um die Anlage, die Versorgung der Gäste und den allgemeinen Betrieb kümmerten.
Pia sah auf die Uhr. Bis zum Kaffee hatte sie noch eine halbe Stunde Zeit. Nach einem kurzen Abstecher ins Bad nahm sie den Lageplan, ihren Zimmerschlüssel und ihre Jacke und ging wieder hinaus.
Vor dem Haus wurde Pia von einer kräftigen Windböe überrascht. Braungelbes Laub und dünne Zweige wirbelten durch die Luft. Das Wetter würde sich wahrscheinlich bald ändern. Außerdem waren Möwenschreie zu hören. Das Meer war nicht weit entfernt.
Pia schloss den Reißverschluss ihrer Winterjacke und zog die Kapuze über das offene blonde Haar. Sie marschierte in Richtung Klosterkirche. Normalerweise erkundete sie gern historische Gebäude. Sie stellte sich vor, wie die Menschen und die Umgebung in früheren Zeiten wohl ausgesehen hatten und wie das alltägliche Leben vonstattengegangen war. Gewissermaßen selbst Teil dieser Vorstellung eines Klosters zu sein, und sei es auch nur für ein paar Tage, war spannend und auch ein wenig befremdlich.
Zwischen der Kirche und dem angrenzenden Gebäude befand sich ein mannshohes Holztor. Stiller Bereich – Zutritt nur für Befugte, stand auf einem Schild daneben. Während sie noch überlegte, ob sie befugt war oder nicht, öffnete es sich, und ein Mönch in schwarzem Habit und mit einem braun-grauen Vollbart trat heraus.
Er war Ende fünfzig, mittelgroß und blickte sie freundlich an. »Guten Tag. Suchen Sie etwas? Kann ich Ihnen helfen?«, fragte er mit angenehm sonorer Stimme.
»Nicht direkt.« Pias Blick fiel hinter ihn in den beschaulich daliegenden Kreuzgang. »Ich bin für ein paar Tage zu Gast im Kloster. Ich suche Ruhe und Zeit zum Nachdenken, glaube ich.«
»Ich bin Bruder Zacharias. Willkommen im Kloster Naumar.«
»Vielen Dank! Mein Name ist Pia Cordes.«
Sein Lächeln vertiefte sich. »Einen friedlicheren Ort als diesen werden Sie in der Umgegend kaum finden, Frau Cordes.« Er sah zum Himmel hinauf. »Auch wenn das Wetter in den nächsten Tagen zu wünschen übrig lassen wird. Das sagt wenigstens Bruder Menowin. Er ist für unseren Klosterforst und die Schafe zuständig und täuscht sich so gut wie nie.« Die braunen Augen des Mönchs ruhten wohlwollend auf Pia. »Ruhe und Zeit zum Nachdenken werden Sie hier finden. Der Rest liegt bei Ihnen, bei uns und bei Gott natürlich.«
Er nickte ihr noch einmal zu und ging mit großen Schritten seines Weges. Der Wind bewegte die Schöße seines Habits, sodass es beinahe so aussah, als schwebte er. Eine Glocke schlug blechern und laut die zweite Stunde.
Sie hatte gerade einen Mönch belogen, der sie herzlich willkommen geheißen hatte. Zumindest, was ihren Namen betraf.
Pia zog fröstelnd die Schultern hoch. In der letzten Nacht hatte sie nur drei Stunden geschlafen. Unter anderem aus Gründen, die sie nicht mal in einem Beichtstuhl schildern wollte, sollte sie jemals die Beichte ablegen. Außerdem hatte sie bisher lediglich gefrühstückt, und das auch nur, weil Marten heute Morgen alles liebevoll vorbereitet hatte, während sie im Bad gewesen war. In letzter Zeit hatte sie zwar Hunger, aber keinen nennenswerten Appetit. Würde die neue Umgebung daran etwas ändern? War sie am rechten Ort? Sie glaubte ja nicht mal richtig an Gott.
Sie war gerade mal ein paar Stunden aus ihrem Alltagsleben und ihrer vertrauten Umgebung herausgerissen. Ohne Ablenkungen und Verpflichtungen. Und schon wollte sie am liebsten zurückfahren? Pia zog ihr Smartphone aus der Tasche, wog es in der Hand und steckte es dann mit einem Seufzer wieder ein. Felix erwartete ihren Anruf erst zum Abendbrot. Das war noch ein paar Stunden hin. In ungefähr dreißig Minuten sollte sie im Kaminraum sein. Und bis dahin? Pia vergrub die Hände in den Taschen und ging einfach los.
Als sie nach ihrer Erkundungstour ins Gästehaus zurückkehrte, hörte Pia Stimmen im Erdgeschoss und steuerte darauf zu. Das Kaminzimmer war ein beinahe quadratischer Raum mit holzvertäfelten Wänden und altem, schwerem Mobiliar.
»Ein neues Gesicht, wie schön!« Ein großer, athletisch aussehender Mittvierziger in Norwegerpulli und Jeans kam Pia entgegen. »Ich bin Jürgen. Ist es okay, wenn wir uns duzen?«
»Ja klar, ich heiße Pia.« Sie reichte ihm die rechte Hand, die nach ihrem Spaziergang eiskalt war. »Ich komme gerade von draußen.«
»Ja, das Wetter ist echt abwechslungsreich«, antwortete er. »In einem Moment scheint noch die Sonne, im nächsten schüttet es. Das wird echt hart morgen früh um sechs Uhr mit ora et labora.« Er grinste verschwörerisch. »Aber das haben wir uns ja so ausgesucht.«
»Ich weiß noch nicht, was ich hier genau machen will.« Pia sah sich in dem behaglichen Raum um. Die Vorhänge waren zugezogen, und im offenen Kamin brannte ein Feuer.
»Noah, der junge Mann dort, wird dir alles erklären«, sagte Jürgen. »Er ist Novize und kümmert sich zusammen mit Bruder Thomas um die Gäste. Sie haben hier alle ihre Aufgaben und Zuständigkeitsbereiche.«
Ein bärtiger Mann Ende zwanzig, am Habit sofort als Klosterbruder zu erkennen, sah zu ihnen herüber, als hätte er seinen Namen gehört. Er sagte noch etwas zu zwei Frauen, neben denen er stand, und kam dann auf Pia zu.
»Willkommen im Kloster Naumar. Ich bin Noah, wie Sie ja gerade erfahren haben. Ich bin hier Novize.« Er lächelte herzlich. »Und Sie müssen Pia Cordes sein. Wir erwarten Sie schon. Bernadette hat Sie uns für heute angekündigt.«
»Ja, das stimmt. Danke für die nette Begrüßung.«
»Sind Sie gerade erst angekommen? Sie sehen ein bisschen durchgefroren aus. Möchten Sie Tee oder Kaffee und ein Stückchen Kuchen?« Er deutete auf einen Tisch an der Wand, auf dem Thermoskannen, weißes Hotelgeschirr und zwei Platten mit Kuchen bereitstanden. »Der Käsekuchen ist mein Favorit. Aber sie sind eigentlich alle sehr gut. Beim Kaffee ist hier Selbstbedienung, doch ich hole Ihnen gern etwas und bringe es an den Tisch am Kamin.«
»Oh, vielen Dank! Ich möchte noch nichts. Nicht sofort.«
Er nickte. »Verstehe. Kommen Sie, ich stelle Sie den anderen Gästen vor.«
Die beiden Frauen, mit denen er zuvor gesprochen hatte, hießen Julia Meyer und Christine Fichte.
Julia war schätzungsweise Anfang vierzig. Sie hatte kurze dunkelblonde Haare und trug eine Stoffhose und beige Schnürschuhe. Ihre Augen wurden von einer Brille stark vergrößert und ließen sie ein bisschen verschreckt aussehen. Sie führte die Teetasse zum Mund, nippte daran, stellte sie dann wieder klirrend auf der Untertasse ab und sah sich suchend im Raum um. Pias Anwesenheit schien sie kaum zur Kenntnis zu nehmen.
Christine Fichte, ihre Freundin, musterte Pia hingegen genau. Christine stand wie eine Eiche neben Julia und überragte sie dabei um einen halben Kopf. Die Frau war schätzungsweise Mitte fünfzig, hatte stahlgraues, glattes Haar, das exakt auf Kinnhöhe endete. Sie sei von Beruf Lehrerin gewesen, erzählte sie sofort. »So wie Jürgen Pfeffer, mit dem Sie eben gesprochen haben«, sagte sie. »Nur an einer ganz anderen Schule; inzwischen bin ich frühpensioniert.«
Pia nickte. Die beiden Frauen hätten unterschiedlicher kaum sein können. »Gefällt es Ihnen hier?«
»Gewiss, gewiss. Sonst wäre ich ja nicht hier.«
»Und was mögen Sie am meisten?«, hakte Pia nach.
»Die Natur. Und das gute Essen.«
»Der Kuchen sieht wirklich lecker aus.«
»Backen können die … Findest du nicht, Julia?«
Die Angesprochene nickte, den Blick in Richtung des Kamins gewandt.
»Na, dann werde ich mal etwas probieren.« Pia schlenderte zum Buffet und schenkte sich zunächst einen Kaffee ein. Sie gab Milch hinzu. Noah hatte sich zuvor lächelnd bei den Frauen entschuldigt und sich einem allein am Kamin stehenden Mann zugewandt. Er hatte sich seit Pias Eintreten noch nicht gerührt. Auch während Noah mit ihm redete, zeigte er wenig Reaktion. Er starrte nur in die Flammen. Noahs Job hier schien nicht gerade leicht zu sein …
»Herzlichen Glückwunsch. Sie sind Ihnen entkommen!«, sagte jemand in verschwörerischem Tonfall.
Pia fuhr herum. Die Frau war schlank, etwa Mitte vierzig, und roch nach einem für die Umgebung etwas zu schwülen Parfüm. Sie nahm sich ebenfalls eine Tasse und schenkte sich Kaffee ein. Ihre roten Fingernägel klickerten gegen das Porzellan. »Das ging aber zügig! Waren Sie sehr unhöflich?«
»Was meinen Sie?« Pia verstand sie genau, wollte sich aber nicht zu einer abwertenden Äußerung drängen lassen.
»Wie sind Sie den beiden entkommen? Waren Sie sehr unhöflich?«
»Nein, warum sollte ich?« Pia musterte ihr schmales, gekonnt geschminktes Gesicht mit den grünen Augen. »Ich bin übrigens Pia Cordes«, sagte sie, schon etwas sicherer mit ihrer neuen Identität. »Ich bin gerade erst angekommen.«
»Ich weiß. Freut mich! Ich bin Alexa Steinhagen. Aber Jürgen hat dir bestimmt schon erzählt, dass wir uns fast alle duzen. Willkommen im Kloster.«
»Wie lange bist du schon hier?«, erkundigte sich Pia im Plauderton. Alexa sah aus wie einem Katalog für Outdoor-Kleidung entsprungen. Nicht gerade Flecktarnung, aber sie trug eine olivfarbene Cargohose und eine figurbetonte Bluse aus einem atmungsaktiven Material. Ihr rötlich schimmerndes Haar war aufgesteckt, ein Tuch lässig darin verknotet.
»Bald eine Woche«, antwortete sie. »Wir sind alle schon ein paar Tage länger da. Deshalb ist ein neuer Gast eine willkommene Abwechslung.« Sie zwinkerte.
»Ich werde mir Mühe geben, zur Unterhaltung beizutragen«, erwiderte Pia lächelnd. »Und wie kommt es, dass du hier Urlaub machst?«
»Burn-out«, erklärte Alexa lapidar. »Oder kurz davor. Mein Coach hat mir das hier empfohlen.« Sie hob vielsagend die akkurat gebürsteten Augenbrauen.
»Und? Gefällt es dir hier?«
Alexa krauste gespielt nachdenklich die Stirn. Ihr Blick wanderte zu Noah, der sich nun Tee nachschenkte. Als der Novize sich abwandte, sagte sie leise zu Pia: »Es hat seine Momente. Vielleicht verführe ich mal einen Mönch.«
Hinnerk Jost fuhr seinen Passat in den Carport und schaltete den Motor aus. Maschas Mini stand auch schon da. Sie hatte heute sowohl Felix als auch Rieke aus der Betreuung abgeholt. Hoffentlich war seine Frau deswegen nicht zu gestresst. In letzter Zeit spürte er des Öfteren einen nicht ausgesprochenen Vorwurf, wenn sie sich um beide Kinder kümmerte. Eine sogenannte »Patchwork-Familie« zu haben klang ja ganz lustig, war jedoch kein einfaches Unterfangen. Felix war sein Sohn, auch wenn er sich von dessen Mutter Pia schon lange getrennt hatte. Rieke war Maschas und seine gemeinsame Tochter. Mit ihrer Geburt, die wie ein Wunder für ihn gewesen war, hatte er gedacht, nun sei alles gut.
Doch nach einem harten Arbeitstag im Krankenhaus war er noch nicht bereit, sich den Anforderungen von Frau und Kindern zu stellen. Einen Moment lang genoss er die Ruhe in seinem Wagen. Der Regen prasselte wie in weiter Ferne auf das blecherne Dach des Carports. Es war schon so dunkel, dass die Laternen auf der Straße und am Hauseingang brannten. Auf den nassen Scheiben zerstreute sich ihr Licht in Tausende Punkte.
Als er das Haus betrat, hörte er seine kleine Tochter brüllen.
»Nein, du bekommst nicht noch einen Schokoladenkeks«, antwortete Mascha. Ihre Stimme klang angestrengt.
Hinnerk trat in die Küche. »Hallo, Schatz!« Er küsste Mascha flüchtig.
»Oh, du kommst gerade recht«, sagte sie statt einer Begrüßung. »Rieke macht ein Riesentheater, wenn sie nicht alles kriegt, was sie will. Und dein Sohn Felix ist beleidigt, weil ich ihn nicht allein zu Paulinchen habe gehen lassen.«
»Warum durfte er das denn nicht? Die wohnt doch nur zwei Häuser weiter.«
»Na, was meinst du?« Mascha verdrehte die Augen. »Wegen … ihr und der Gefahr, in die sie uns gebracht hat.«
»Nun übertreibst du aber. Das sind doch reine Vorsichtsmaßnahmen.«
»Mich macht das ganz verrückt: diese Personenschützer, die unentwegt vor dem Haus herumlungern und mir ein gruseliges Gefühl geben. Ach ja, und die neue Alarmanlage, die sie uns eingebaut haben, und überhaupt der ganze Mist, dem wir ihretwegen ausgesetzt sind!«
Sicher, die Situation war nicht glücklich. Aber Pia hatte sich das ja auch nicht so ausgesucht. Er war sich sicher, dass sie lieber mit Felix zusammen wäre, anstatt ohne ihren Sohn an einem geheimen Ort festzusitzen und darauf zu warten, dass die Polizei einen entflohenen Straftäter wieder hinter Gitter brachte. Doch in der Stimmung, in der Mascha gerade war, konnte man nicht mit ihr diskutieren. »Wo ist Felix denn?«, fragte er stattdessen.
»In seinem Zimmer. Aber halt, warte! Kannst du nicht eben Rieke den Mund und die Hände waschen? Sie klebt.«
Hinnerk nahm seine Tochter aus dem Hochsitz am Küchentisch und trug sie ins Gäste-WC, wo er sie unter viel Trara und Juchhu säuberte. Rieke juchzte. Alles war nass. Er ging mit ihr hinauf und begrüßte Felix, der sehr konzentriert an seiner Eisenbahn baute.
Als er wieder herunterkam, nahm Mascha ihm die Kleine ab. »Du verwöhnst sie, wenn du sie ständig herumträgst. Und ich darf es dann ausbaden.«
»Was heißt denn ›ständig‹? Ich bin gerade fünf Minuten hier.«
»Mal was anderes«, sagte sie. »Meine Mutter möchte Rieke etwas Besonderes zum Geburtstag schenken.«
»Das ist doch schön. Was denn?« Die Sache hatte einen Haken, das sah Hinnerk daran, dass Mascha ihn nicht anschaute, sondern weiter auf der sauberen Tischplatte herumwischte.
»Alle kleinen Mädchen in meiner Familie bekommen als Babys Korallen-Ohrringe.«
»Oh nein! Das Thema hatten wir doch schon. Du kannst einem so kleinen Kind keine Ohrlöcher stechen lassen. Vielleicht will sie ja später gar keine durchstochenen Ohrläppchen haben.«
»Alle Frauen wollen das«, behauptete Mascha. »Und wenn man es so jung macht, tut es gar nicht weh.«
»Sie soll das später selbst entscheiden.«
»Aber das ist noch Jahre hin!«
»Eben.« Er wandte sich ab, weil er die Diskussion als beendet betrachtete.
»Hat Pia Ohrlöcher?«, fragte Mascha.
»Wie bitte? Was hat das damit zu tun? Rieke ist unsere Tochter.«
»Hat Pia angewachsene Ohrläppchen? Dann ginge das nicht so gut.«
»Keine Ahnung. Und es ist mir auch egal.«
»Felix hat jedenfalls angewachsene Ohrläppchen.«
Hinnerk runzelte die Stirn. »Er wird wahrscheinlich keine Korallen-Ohrstecker tragen wollen«, sagte er sarkastisch.
»Du hast keine angewachsenen Ohrläppchen. Ich habe mal gelesen, die werden dominant-rezessiv vererbt.«
»Mascha, was soll das?«
Sie spülte den Wischlappen aus. »Ich sage meiner Mutter, dass das mit den Korallenohrsteckern eine tolle Idee ist.«
Zu den Stundengebeten und zur Eucharistiefeier versammelten sich die meisten Gäste, einige Angestellte und alle Mönche in der Klosterkirche. Pia hatte überlegt, ob sie an diesem frühen Abend an der Vesper teilnehmen sollte. Sie ging sonst so gut wie nie in die Kirche. Doch dann war sie neugierig und wollte es »ganz oder gar nicht« durchziehen.
Draußen war es schon dunkel, und der Wind heulte unvermindert um die alten Gebäude. Pia fand ganz hinten im Kirchenschiff einen Platz in einer der Bänke. So saß sie in tröstlichem Dämmerlicht da. An den Wänden und auf dem Altar brannten flackernd Kerzen. Sie bekam eine Gänsehaut, als die Mönche zu der Orgelmusik in ihren schwarzen Habiten in die Kirche einzogen. Sie nahmen in jeweils zwei Reihen vorn im Altarraum Platz. Die Musik verstummte, die Mönche beteten gemeinsam und stimmten dann einen getragen klingenden Choral an.
Pia fühlte sich verzaubert und deplatziert zugleich. Sie war nicht katholisch, sondern evangelisch, zumindest auf dem Papier. Bei der Anmeldung hatte man ihr gesagt, dass das keine Rolle spiele. Doch nun kam sie sich wie ein Eindringling vor. Alles war fremd: die Gewänder der Mönche, die Liturgie, die Gesänge. Die ganze Atmosphäre erschien ihr surreal und irgendwie archaisch. Normalerweise hätte sie einen eher akademischen Standpunkt bezogen und das alles neugierig betrachtet. Doch in diesem Moment konnte sie das nicht. Sie musste es auf sich wirken lassen.
Nach einer Stunde verließen sie die Kirche. Pia folgte den anderen durch den Kreuzgang ins Refektorium. Das Abendessen wurde den Regeln des Ordens entsprechend schweigend eingenommen.
Pia saß zwischen Alexa und Christine. Sie konzentrierte sich auf das sie umgebende alte Gemäuer mit den Säulen und hohen Decken, das Kerzenlicht auf den alten Holztischen und die Mönche am anderen Ende des u-förmigen Tisches, die sie faszinierten.
Das Abendessen bestand aus einer Käsesuppe vorweg, Mangold-Lasagne als Hauptgang und frischem Obst als Nachtisch. Dazu gab es Wasser, Saft aus Äpfeln aus dem eigenen Obstgarten, Bier oder Wein nach Wahl. Nach dem Essen folgte noch eine Tischlesung.
Pia war das sehr recht. Sie rechnete früher oder später mit Fragen der anderen Gäste nach ihrem Beruf … Doch sie war ein bisschen müde und hatte keine große Lust mehr, ihrer falschen Identität konform zu antworten. An diesem Abend wollte sie keine zu detaillierten Nachfragen riskieren. Sie arbeite in der Verwaltung, sollte sie sagen. So war es abgesprochen. Das klang hoffentlich so uninteressant, dass niemand weiter nachhaken würde.
Nach dem Essen traf Pia sich mit Bruder Thomas, um Details ihres Aufenthalts im Kloster mit ihm zu besprechen. Sie hatten sich schon vor dem Abendessen dazu verabredet.
Sie setzten sich in einem kleinen Besprechungsraum im Gästehaus zusammen.
Bruder Thomas trug nun nicht mehr seine schwarze Mönchskleidung, sondern hatte sich Jeans und einen Pullover mit einem hellblauen Hemd darunter angezogen. Er war groß und von breiter Statur, beinahe massig, aber anscheinend mehr aufgrund von Muskeln als von Fett. Konnten die Mönche hier etwa irgendwo Gewichte stemmen? Bruder Thomas hatte kurzes dunkles Haar und trug eine Brille mit einem dünnen Rand. Das filigrane Brillengestell ließ ihn im Kontrast zu seinem stabilen Körperbau intellektuell wirken.
Nachdem er Pia etwas zu trinken angeboten hatte – Kräutertee oder Saft –, saßen sie sich an einem runden Tisch gegenüber. Bruder Thomas hielt die Hände auf dem Tisch verschränkt und sah sie freundlich und aufmerksam an. »Noch einmal herzlich willkommen. Ich hoffe, alles war bisher zu Ihrer Zufriedenheit?«
»Ja. Sie alle hier sind sehr freundlich, und die Klosteranlage ist wundervoll.«
»Darf ich fragen, was genau Sie von Ihrem Aufenthalt bei uns erwarten, Frau Cordes?«
»Ich weiß es noch nicht so genau«, bekannte Pia. Sie schüttelte nachdenklich den Kopf. »Die Idee hierherzukommen kam mir relativ spontan.« Nachdem ich im Dienst einen unschuldigen Mann verfolgt und zu Boden geworfen habe, ergänzte sie in Gedanken. »Aber nun fühlt es sich in gewisser Weise falsch an«, bekannte sie zu ihrem eigenen Erstaunen. Bruder Thomas’ aufmerksamer und mitfühlender Blick aus braunen Augen hat das bewirkt, dachte sie. »Ich war der Meinung, Ruhe und Zeit für mich zu brauchen. Jetzt jedoch kann ich mir nicht mehr so richtig vorstellen, wie mir das helfen soll.«
»Das passiert manchmal, wenn die Vorstellung von etwas durch die Realität ersetzt wird«, sagte er. »Sie haben sich vielleicht etwas Mystisches vorgestellt, etwas ganz Neues. Womöglich etwas, das Sie verändert, sobald Sie hier sind. Und nun sind Sie tatsächlich in diesem Kloster angekommen, doch Sie fühlen sich noch genauso wie vorher.« Er lächelte andeutungsweise. »Ihre Probleme haben sich vermutlich noch nicht in Luft aufgelöst.«
»Nein, aber das habe ich auch nicht erwartet«, erwiderte Pia und trank einen Schluck Tee.
»Wunder passieren jeden Tag, doch meistens, wenn wir sie nicht erwarten«, sagte er. »Was beschäftigt Sie denn so sehr? Wollen Sie darüber reden?«
Pia seufzte. »Nein, das wäre zu früh.«
»Das ist Ihre Entscheidung. Ich verstehe das.«
»Ich befürchte, dass ein Klosteraufenthalt und ora et labora doch nicht das Richtige für mich sind«, gestand Pia. »Es liegt nicht an diesem Ort und nicht an Ihnen allen hier. Es liegt an mir. Ich kann nicht einmal beten.«
»Sie müssen hier weder beten noch arbeiten. Es ist nur ein Angebot, etwas Neues auszuprobieren. Wenn ich es richtig verstehe, sind Sie zunächst einmal bei uns zu Gast, um Zeit für sich zu finden und zur Ruhe zu kommen.« Er musterte sie aufmerksam. »Ruhe und Zeit zum Nachdenken finden Sie hier in Hülle und Fülle. Ich zeige Ihnen gern unseren Stillen Bereich.«
»Ruhe scheint ein Teil des Problems zu sein und nicht die Lösung. Sobald ich zur Ruhe komme, kreisen meine Gedanken um ein … Erlebnis, das ich vor Kurzem hatte.«
»Es tut uns meistens nicht besonders gut, wenn unsere Gedanken nur um uns selbst kreisen. Der heilige Cyprianus, der Gründer unseres Ordens, sagt: ›Ein Mensch, der körperliche Arbeit verrichtet, verändert auch sein Herz …‹ Das Nicht-beschäftigt-Sein ist ihm zufolge der Feind der inneren Umkehr.«
»Innere Umkehr durch Beten und Beschäftigung? Also doch ora et labora.« Pia sah aus dem Fenster in die Dunkelheit hinaus. »Ich bin aber nicht sehr geübt im Schafehüten.« Sie lächelte entschuldigend.
»Wer weiß«, meinte er und schenkte ihr nun ebenfalls ein Lächeln. »Es ist eine Chance. Nicht mehr und nicht weniger. Ich mache Ihnen einen Vorschlag, Frau Cordes: Geben Sie sich achtundvierzig Stunden Zeit. Wenn Sie danach immer noch der Meinung sind, dass Sie hier fehl am Platz sind, dann verlassen Sie uns wieder. Niemand wird Ihnen deswegen einen Vorwurf machen.« Er sah sie eindringlich an. »Aber geben Sie nicht auf, ohne es überhaupt versucht zu haben.«