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Rom, 2. Februar 962 - Papst Johannes XII. erwartet den ostfränkischen König Otto I. und sein Gefolge, um ihn in der Peterskirche zum Kaiser zu krönen. Er wird die Fürsprache aller Heiligen und die Gnade und den Segen Gottes auf den Herrscher herabflehen, auf dass er weise, gerecht und siegreich die Kirche und das Reich schützen möge. Als Otto diese höchste Auszeichnung erfährt, die ein Laie im Diesseits erringen kann, herrscht er bereits seit 26 Jahren. Hinter ihm liegen schwerste Kämpfe - mit Familienangehörigen, mit Großen des Reichs und mit mächtigen Feinden außerhalb der Reichsgrenzen wie etwa im Jahr 955 mit den Ungarn in der Schlacht auf dem Lechfeld.
Matthias Becher, Ordinarius für Mittelalterliche Geschichte an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms- Universität Bonn, hat auf dem aktuellen Stand der Forschung eine spannende, faktengesättigte Biographie des ersten Kaisers aus dem sächsischen Geschlecht der Liudolfinger geschrieben, in der Herrschaft, Gesellschaft und Kultur des 10. Jahrhunderts wieder lebendig werden.
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«König Otto, der die Heiden mit großer Gewalt niedergeworfen und seligen Frieden gebracht hatte (…) Gütig, mild, voll sanfter Geduld den Guten, schonungslos den Bösen Verderben bringend. Manche Kriege wirst du zu führen haben: Daraus erhebt sich dein Name ruhmvoll zu den Sternen.»
Der Lobpreis, den der Geschichtsschreiber Liudprand von Cremona über Otto den Großen ausbringt, ist noch ausschweifender und umfassender, als diese wenigen Zeilen erkennen lassen. Er stammt von einem engen Vertrauten und Berater des Königs, dessen Interessen er auf wichtigen diplomatischen Missionen – so auch an den oströmischen Kaiserhof in Konstantinopel – vertreten hat. Auch wenn uns Heutige solch ein Vokabular irritieren mag, so hat doch Ottos Zeitgenosse Liudprand diesen als militärisch erfolgreichen Herrscher und zugleich als gerechten Friedensfürsten erlebt.
Matthias Becher versucht sich seinem Protagonisten anzunähern, indem er zunächst die gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen skizziert, unter denen die Herrschaft von den Karolingern an Heinrich, den ersten König aus dem sächsischen Geschlecht der Liudolfinger, gelangt. Er beschreibt im Weiteren, welche Konflikte die Nachfolgeregelung Heinrichs I. hervorruft und wie es Otto versteht, sich durchzusetzen, sein Erbe zu sichern und schließlich die Einheit des Reiches nach innen und außen zu stärken. Wer vor diesem Hintergrund in der vorliegenden, detailreichen und zugleich sehr lebendig geschriebenen Biographie die schweren Entscheidungen, politischen Auseinandersetzungen und die Kriegszüge nachverfolgt, die Otto im Laufe seines Lebens zu treffen und zu überstehen hatte, wird vielleicht das Hohelied der Zeitgenossen besser verstehen, mit dem jene ihren König und Kaiser rühmten.
Matthias Becher lehrt als Professor für Mittelalterliche Geschichte an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Er ist ein vielfach ausgewiesener Spezialist für die Erforschung des Frühmittelalters. Im Verlag C.H.Beck sind von demselben Autor lieferbar: Karl der Große (62014);
Matthias Becher
Otto der Große
Kaiser und Reich
Eine Biographie
C.H.Beck
Vorwort
1. Voraussetzungen: Ereignisse und Berichte
2. Herrschaft und Gesellschaft im 9. und 10. Jahrhundert
3. Vorgänger und Vorfahren: Kaiser, Könige und Adlige
4. Heinrich I. und die Begründung der liudolfingischen Königsherrschaft
Der Aufstieg Heinrichs zur Königsherrschaft
Die Königserhebung Heinrichs
Die Durchsetzung von Heinrichs Königsherrschaft
Konsolidierung nach außen und innen
Auf dem Höhepunkt der Macht
5. Die schwierigen Anfänge Ottos des Großen
6. Dominanz und Expansion: Otto der Große und seine Nachbarn
Der Machtkampf im Westfrankenreich
Slawen, Böhmen und Dänen
7. Vater gegen Sohn: Der Aufstand Liudolfs
8. Sieg über die Ungarn und Konsolidierung des Reiches
9. Otto und das Kaisertum
Kaiserkrönung und Unterwerfung Italiens
Rückkehr ins Ostfrankenreich
Dritter Italienzug und Auseinandersetzung mit Ostrom
Tod eines Kaisers
10. Otto, «der Große»?
Anhang
Karte: Reich Ottos des Großen
Stammtafel: Liudolfinger
Anmerkungen
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Bild- und Kartennachweis
Bibliographie
Abkürzungsverzeichnis
Quellen
Literatur
Personenregister
Ortsregister
Seit ich mich mit dem Thema meiner Habilitationsschrift über die Entstehung des sächsischen Herzogtums im 9. und 10. Jahrhundert beschäftigt habe, zählen Otto der Große und seine Vorfahren zu meinen wichtigsten Forschungsgebieten. Schon vor Jahren hatte ich daher den Plan gefasst, diesem Herrscher eine Biographie zu widmen, auch wenn ich nicht der Auffassung gewesen bin, das Buch meines inzwischen leider verstorbenen Freundes Johannes Laudage müsse ersetzt werden. Aber jeder Autor gewinnt dem gleichen Gegenstand neue Facetten ab, wie die mehr als zehn Biographien Karls des Großen zeigen, die in neuerer Zeit entstanden sind. Angesichts dieser ausufernden Beschäftigung mit dem ersten karolingischen Kaiser mag es durchaus berechtigt sein, dem ersten Kaiser aus der Dynastie der Liudolfinger bzw. Ottonen innerhalb von zehn Jahren eine zweite Biographie zu widmen.
Die Chance zur Realisierung dieser Pläne kam allerdings recht kurzfristig auf mich zu, so dass sich meine Mitarbeiter zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit nach der Fertigstellung des Chlodwig-Buches damit konfrontiert sahen, ein solches Projekt zu unterstützen. An erster Stelle ist Martha Wilczynski zu nennen, die den gesamten Text Korrektur gelesen und mir mancherlei weiterführende Anregung gegeben hat sowie für das Register verantwortlich zeichnet. Dr. Florian Hartmann hat den Text abschließend noch einmal gelesen, obwohl er in den letzten Wochen mit der Fertigstellung seiner Habilitationsschrift beschäftigt war. Auch ihm verdanke ich wertvolle Hinweise. Daniel Colmenero López hat erneut die Bibliographie umsichtig erstellt. Weiter möchte ich auch meinen übrigen Mitarbeitern danken, von denen ich stellvertretend für alle, die an den Arbeiten an diesem Buch beteiligt waren, Yvonne Breuer, Marion Gröne, Inga Mehlert-Garms, Katharina Gahbler und Anja-Lisa Schroll nennen möchte. Dr. Stefan von der Lahr hat den Text nicht nur sorgfältig redigiert, sondern auch wichtige Hinweise gegeben. Er und Andrea Morgan haben die Drucklegung in bewährter Weise kompetent und umsichtig betreut. Wie immer bei größeren Publikationen hat meine Frau Claudia den Text ebenfalls noch einer kritischen Durchsicht unterzogen. Ihnen allen gilt mein herzlicher Dank. Die dennoch stehengebliebenen Fehler sind allein dem Autor anzukreiden.
Leider können weder meine liebe Mutter Helga Becher noch mein verehrter Lehrer Michael Richter das Erscheinen dieses Buches erleben. Beide sind in den Wochen und Monaten vor der Fertigstellung verstorben. Ihrem Andenken sei dieses Buch gewidmet.
Bonn, im Januar 2012
Matthias Becher
Für die zweite Auflage wurden kleinere Versehen im Text verbessert, einige Umformulierungen und Ergänzungen in den Fußnoten vorgenommen, um auf die wichtigsten Ergebnisse der neueren Forschung hinzuweisen; Vollständigkeit wurde freilich nicht angestrebt. Dies gilt auch für die Bibliographie, die um einige, längst nicht alle neu erschienenen Titel ergänzt wurde. Danken möchte ich meinen Mitarbeiterinnen Christine Beyer und Dr. Katharina Gahbler sowie den wissenschaftlichen und studentischen Hilfskräften an meinem Lehrstuhl, Luise Margarete Jansen und Philipp Merkel, Nils Boost, Fabio Ginocchio, Bettina Joel, Katharina Kemper, Marko Malliouris und Lisa Opp. Ohne deren Hilfe hätte die zweite Auflage nicht so schnell zum Druck gebracht werden können.
Bonn, im Februar 2022
Matthias Becher
Rom, 2. Februar des Jahres 962 – an diesem Tag fielen zwei Kirchenfeste zusammen: der Sonntag Exsurge, der 4. Sonntag nach Epiphanias, und außerdem war Mariä Lichtmess feierlich zu begehen. Gemäß dem römischen Ritus begaben sich Klerus und Volk in feierlicher Prozession zur Kirche Sant’Adriano, einst Kurie des altrömischen Senats auf dem Forum Romanum. Dort vollzog der Papst die Kerzenweihe. Anschließend zog die Prozession weiter nach Santa Maria Maggiore, wo man die Messe zelebrierte. Dann aber verlief der Festtag anders als je zuvor. Der ostfränkische König Otto lagerte mit seinem Heer auf dem Monte Mario nordwestlich von Rom. Von dort begab er sich nun zusammen mit seiner Gemahlin Adelheid zur Petersbasilika, der vornehmsten Kirche der westlichen Christenheit. Begleitet wurde er von einer stattlichen Zahl geistlicher und weltlicher Großen mit Erzbischof Adaldag von Hamburg-Bremen und Herzog Burchard III. von Schwaben an der Spitze des Zuges. Der Herrscher, seine Gemahlin und seine Großen betraten vermutlich durch das «Hügeltor» bei der Engelsburg die «Leo-Stadt» zwischen Tiber und Vatikan. Dorthin war mittlerweile auch Papst Johannes XII. gelangt. Zusammen mit dem Klerus und den weltlichen Amtsträgern Roms begrüßte er feierlich den König. Gemeinsam zogen sie in würdevoller Prozession zur Peterskirche. Alt-St. Peter war damals mehr als 600 Jahre alt, denn bereits Konstantin der Große hatte die Basilika über dem Grab des Apostelfürsten errichten lassen. Dort empfingen die Kaiser seit Karl dem Großen aus der Hand des Papstes die Kaiserkrone– von wenigen Ausnahmen abgesehen.
Abbildung 1: Rekonstruktion von Alt-St. Peter
Mit dem Einzug in die Kirche begann der liturgische Ritus. Es ist wohl kein Zufall, dass kurz zuvor in Mainz ein Pontifikale, ein Buch mit Anleitungen für liturgische Handlungen eines Bischofs, entstanden war, das nicht nur Anleitungen für alle kirchlichen Weihen, sondern auch für Kaiserkrönungen enthielt.[1] Folgt man dieser Quelle, so gelobte Otto noch vor dem Atrium der Peterskirche feierlich, er werde die heilige römische Kirche beschützen und verteidigen. Nach diesem Gelübde führte der Papst den König ins Atrium und weiter zur Porta Argentea, «der Silbernen Pforte», dem prächtig ausgestalteten Mittelportal der Kirche. Nun begann die eigentliche Krönungsliturgie. Zunächst sprach der Kardinalbischof von Albano, der auf einer runden Steinplatte aus Porphyr stand, das erste Weihegebet: «O Gott, in dessen Hand die Herzen der Könige ruhen, neige unseren demütigen Bitten Dein barmherziges Ohr und gewähre unserem Kaiser, Deinem Diener [Otto], Deine weise Herrschaft, damit er aus dem Quell Deiner Ratschlüsse schöpfe, Dir darin wohlgefalle und alle Reiche überstrahle.» Sodann zog die Prozession zur Rota, einer weiteren Porphyrplatte im Mittelschiff der Basilika, auf der der Kardinalbischof von Porto stand und mit einem Gebet den Segen und Beistand Gottes für den künftigen Kaiser erflehte, damit dieser stets siegreich sei: «O Gott (…) gib nun diesem hier anwesenden König zusammen mit seinem Heer auf die Fürsprache aller Heiligen die Fülle reichen Segens und binde ihn in fester Beständigkeit an den Thron der Königsherrschaft. (…) Sei ihm Panzer gegen die Schlachtreihen der Feinde, Helm in Widrigkeiten, Geduld im Glück, immerwährender Schild zu Schutz und Schirm, und gib, dass ihm die Völker Treue bewahren, seine Großen Frieden halten, tätige Liebe schätzen, Habsucht meiden, Recht und Gerechtigkeit sprechen und die Wahrheit beschützen. Und so gedeihe dieses Volk unter seiner Herrschaft, fest verwachsen mit dem Segen der Ewigkeit, so dass sie stets frohlockende Sieger in Frieden bleiben.» Die nächste Station war die confessio beati Petri unmittelbar unter dem Hauptaltar. Dort warf sich Otto zu Boden, lag mit ausgebreiteten Armen in Kreuzesgestalt und betete um Gottes Erbarmen. Darauf wurde die Allerheiligenlitanei angestimmt, und der Kardinalbischof von Ostia vollzog die Weihe, indem er Otto am rechten Oberarm und zwischen den Schultern salbte. Auch dieser Akt wurde von einem Segensgebet begleitet, ebenso wie die Krönung vor dem Altar, die endlich der Papst selbst vornahm. Dann begann die Messe für den neuen Kaiser. Zusammen mit Otto wurde auch seine Gemahlin Adelheid in einer eigenen Liturgie gekrönt. Allerdings können wir nicht sagen, ob ihre Krönung als separate Zeremonie mit allen Präliminarien begangen wurde oder ob beide Akte miteinander verschränkt wurden.[2]
So wurde der neue Kaiser also schrittweise liturgisch erhoben und immer wieder daran erinnert, sein Amt in Übereinstimmung mit dem christlichen Glauben auszuüben und dabei Gerechtigkeit walten zu lassen. Dies ist auch die Aussage der heute in Wien aufbewahrten Reichskrone, die vielleicht schon für Otto angefertigt, aber später noch verändert wurde.[3] Ihr Bildprogramm veranschaulicht das christliche Herrschertum und gipfelt in der Aussage per me reges regnant, «durch mich herrschen die Könige», die auf der Platte angebracht ist, die Christus als Weltenherrscher zeigt. Bei aller Überhöhung des irdischen Kaisertums, nicht zuletzt durch die als Zeichen der (göttlichen) Herrlichkeit bezeichnete Krone, erinnerte man deren Träger doch vorrangig daran, dass all sein Trachten auch in dem neuen Amt auf das gleiche Ziel ausgerichtet bleiben müsse, das alle Christen verfolgten – auf die Krone des ewigen Lebens. Das Kaisertum blieb freilich die höchste Auszeichnung, die ein Laie im Diesseits erlangen konnte. Otto gewann dadurch zwar wenig reale Macht hinzu, denn das Kaisertum bezog sich nicht auf ein konkret umrissenes Gebiet. Aber ideell stand er nun mit dem Papst als geistlichem Pendant an der Spitze der Christenheit, zu deren Lenkung beide berufen waren, wobei dem Kaiser eben auch die Aufgabe zufiel, die römische Kirche zu schützen und die Christenheit gegen äußere Feinde zu verteidigen. Der Kaiser nahm damit eine höhere Stellung ein als alle anderen christlichen Könige. Schon Isidor von Sevilla († 636), dessen Lehrbuch über die Etymologien die Basis mittelalterlicher Gelehrsamkeit bildete, hatte bei seiner Definition der Kaiserwürde vor allem diesen Aspekt betont: Einst habe der römische Senat beschlossen, «dass Cäsar Augustus allein diesen Namen (imperator) haben solle, und dadurch wurde er von den Königen der anderen Völker abgehoben. Dies maßten sich von da an die folgenden Cäsaren an.»[4] Nach dieser Definition übte der Kaiser zwar über keinen anderen König eine definierte Oberherrschaft aus, aber er nahm unbestritten einen höheren Rang ein. In einer Gesellschaft, die stärker im Rangdenken selbst als in dessen konkreter Umsetzung in Form von genau definierten Ober- und Unterordnungsverhältnissen verhaftet war, bedeutete dies sehr viel.
Abbildung 2: Wiener Reichskrone
Der Verlauf der Feierlichkeiten im Anschluss an die Krönung lässt sich leider nicht erschließen. Auf jeden Fall zeigte Otto sich großzügig und überreichte dem Nachfolger des hl. Petrus reiche Geschenke, Edelsteine, Gold und Silber.[5] Er selbst erhielt ebenfalls die wertvollsten Geschenke, die das damalige Rom zu bieten hatte – Reliquien. Johannes XII. überließ dem neuen Kaiser etwa ein Kopfreliquiar des hl. Sebastian und zeigte ihm im Lateranpalast die Sandalen Christi. Otto erhielt noch zwei weitere wertvolle Reliquiare mit den Armen der Heiligen Felicitas und Cyriacus – beide Märtyrer. Diese Gaben des Papstes verdeutlichten neben dem Krönungsakt die sakrale Dimension des Kaisertums. Das Gleiche galt für einen Stab vom Rost des Märtyrers Laurentius, den der neue Kaiser erhielt. Doch gewöhnte ihn dieses heilige Objekt nicht nur an seine Verpflichtungen gegenüber dem Christentum, sondern erinnerte auch an eines der zentralen Verdienste des Herrschers: Am Tag des hl. Laurentius, am 10. August des Jahres 955, hatte Otto die heidnischen Ungarn geschlagen, was sein Ansehen in der gesamten westlichen Christenheit erheblich gesteigert hatte. Wie wichtig dieser Erfolg für seine Stellung war, ist in der Urkunde über die Erhebung des Moritzklosters in Magdeburg zum Erzbistum festgehalten, die Papst Johannes XII. auf Wunsch seines hohen Gastes wenige Tage nach der Kaiserkrönung ausgestellt hat: «Jetzt ist durch Gottes Gnade unser sehr geliebter und allerchristlichster Sohn, der König Otto, nachdem er die barbarischen Stämme, die Avaren (d. h. die Ungarn) und andere mehr, geschlagen hatte, an den höchsten und universalen Sitz, dem wir durch Gott vorstehen, gekommen, damit er auf dem Gipfel des Reiches die triumphale Krone des Sieges zur Verteidigung der heiligen Kirche Gottes durch uns vom heiligen Apostelfürsten Petrus erhalte. Ihn haben wir mit väterlicher Liebe empfangen und zur Verteidigung der Kirche mit dem Segen des heiligen Apostels Petrus zum Kaiser gesalbt.»[6]
Nicht nur bei den wechselseitigen Geschenken, sondern auch beim Austausch von Urkunden wollte Otto der Große seine kaiserliche Stellung als Oberhaupt der Christenheit neben dem Papst betonen. Er bestätigte die Rechte und Besitzungen der römischen Kirche; darauf wird ebenso wie auf die kirchliche Neuordnung der Gebiete östlich der Elbe noch zurückzukommen sein. Im konkreten Zusammenhang aber ist vor allem die symbolische Bedeutung dieses Aktes wichtig: Eine solche Privilegierung des Papstes konnte allein der Kaiser vornehmen, kein anderer König oder weltlicher Machthaber. Nur ein Kaiser konnte in den Augen der Zeitgenossen als Nachfolger Konstantins des Großen (306–337) Bestand und Besitz der römischen Kirche garantieren, seit dieser die Konstantinische Schenkung ausgestellt und damit zugunsten des Papstes auf die Herrschaft in Rom verzichtet und ihm darüber hinaus große Teile seines Reiches überlassen hatte – auch wenn diese sich später als Fälschung aus dem 8. Jahrhundert erweisen sollte.[7] Entsprechend aufwendig war Ottos Urkunde – Ottonianum genannt – gestaltet. Es handelt sich um einen vermutlich im Kloster Fulda angefertigten Purpurrotulus, ein purpurfarbenes Pergament in Form einer Schriftrolle, der gut einen Meter lang und 40 cm breit war. Der Text wurde dann in Rom mit goldenen Buchstaben aufgetragen.[8] Die äußere Form der Urkunde sollte an ein damals am päpstlichen Hof hergestelltes und Otto präsentiertes Scheinoriginal der Konstantinischen Schenkung erinnern.[9] Damit stellte Otto sich in die Tradition jenes Kaisers, der als erster römischer Kaiser Christ geworden war und sich etwa mit der Errichtung von Alt-St. Peter als Wohltäter der Kirche erwiesen hatte. Indem Otto seine Urkunde am Grab des hl. Petrus niederlegte, folgte er zudem dem Vorbild Karls des Großen aus dem Jahr 774, der wie er ein fränkischer König gewesen war und wegen seiner Verdienste um die Christenheit, insbesondere durch die Bekehrung der Sachsen, im Jahr 800 von Papst Leo III. zum Kaiser gekrönt worden war. Beide Seiten gaben sich also redlich Mühe, die epochale Bedeutung der Kaiserkrönung Ottos des Großen in aller Form zu zelebrieren.
Doch so aufsehenerregend die erste Kaiserkrönung seit mehr als 40 Jahren auch gewesen sein mochte und wie wichtig die Beteiligten auch immer diesen Akt nahmen, um so erstaunlicher ist, dass dieser Akt gerade bei den Geschichtsschreibern dieser Zeit nur geringe Beachtung fand – Geschichtsschreibern, die, wohlgemerkt, dem Umfeld des neuen Kaisers zugeordnet werden können.[10] In der Fortsetzung der Chronik Reginos von Prüm etwa findet sich zu diesem Vorgang nur folgende lapidare Bemerkung:
«Der König feierte Weihnachten in Pavia; von da zog er weiter, wurde in Rom günstig aufgenommen und unter dem Zuruf des ganzen römischen Volkes und der Geistlichkeit von Papst Johannes, dem Sohn Alberichs, zum Kaiser und Augustus ernannt und eingesetzt.»[11]
Überschwänglich klingen diese Worte nicht gerade. Von der Krönung ist gar nicht die Rede, sondern nur allgemein von einer Einsetzung zum Kaiser durch den Papst, der die Römer zugestimmt hätten. Man hat fast den Eindruck, als hätte der Chronist Vorbehalte gegen die Kaiserkrönung gehegt. Dies wäre umso bedeutsamer, als es sich bei ihm um Adalbert von Magdeburg († 981) handelte, der seit langem im Dienst des Kaisers stand.[12] Seit 953 war er für die Ausstellung königlicher Urkunden verantwortlich. 961 bestimmte Otto ihn zum Missionserzbischof für die Kiewer Rus. Allerdings wirkte er dort nicht erfolgreich und wäre beinahe getötet worden. Daher kehrte er schon 962 heim – also im Jahr der Kaiserkrönung – und wurde 966 zum Abt von Weißenburg ernannt. Dort verfasste er bald darauf eine Fortsetzung der Chronik des Abtes Regino von Prüm († 915). 968 erhob ihn der Kaiser zum ersten Erzbischof von Magdeburg und vertraute ihm damit eine Metropolitankirche an, die ihm als Neugründung besonders am Herzen lag. Adalbert stand dem Hof also nahe und wusste ganz sicher um die Bedeutung des Kaisertums für Ottos Herrschaftsverständnis in dessen letzten Jahren – und dennoch fiel sein Bericht über die Kaisererhebung geradezu unterkühlt aus. Das zeigt, dass selbst ein hofnaher Berichterstatter durchaus willens und in der Lage war, seine Darstellungen mit eigenen Wertungen zu versehen, wenn auch mit der gebotenen Vorsicht und Subtilität.[13]
Ein ähnlich reserviertes Urteil über die Ereignisse in Rom finden wir bei unserem wichtigsten Gewährsmann, dem Mönch Widukind von Corvey.[14] Sein Umgang mit der Kaiserkrönung scheint noch bemerkenswerter als jener Adalberts von Magdeburg. Widukind erwähnt nur kurz Ottos dritten Zug nach Italien und betont dann vor allem dessen Auseinandersetzungen mit dem Papst und den Römern nach der Kaiserkrönung; schließlich zieht er sich mit einer rhetorischen Bescheidenheitsfloskel aus der Affäre: «(…) das zu erzählen, geht über mein schwaches Vermögen.»[15] Er erwähnt also die Kaiserkrönung gar nicht einmal, sondern nimmt lediglich auf spätere Konflikte Bezug. Mehr noch: Als Otto nach Italien zog, galt er Widukind bereits als Kaiser und dies schon seit dessen Sieg über die Ungarn auf dem Lechfeld im Jahr 955. Nach der Schlacht hätten sich seine Krieger um ihn geschart: «Glorreich durch den herrlichen Sieg wurde der König von seinem Heere als Vater des Vaterlandes und Kaiser begrüßt.»[16] Es ist durchaus wahrscheinlich, dass Otto damals zugejubelt wurde und ihm dabei vielleicht auch derart akklamiert wurde, aber eine Kaisererhebung – wie sie Jahrhunderte früher gelegentlich erfolgreiche römische Feldherrn durch ihre Truppen erfahren haben – hat sicher nicht stattgefunden. Otto selbst führte in seinen Urkunden auch nach 955 bis zum Februar 962 weiterhin nur den Königstitel. Die Kaisererhebung war also nur eine Interpretation, wenn auch vielleicht eine Wunschvorstellung des Chronisten, jedoch keine Tatsache. Das Bemerkenswerte daran ist, dass Widukind seine eigene Interpretation derart ernst nahm, dass er in seinen auf die Akklamation auf dem Lechfeld folgenden Berichten Otto stets als Kaiser titulierte. Für ihn hatte Otto also seit dem Sieg über die Ungarn die höchste weltliche Würde der Christenheit inne. Ganz konsequent ließ er daher auch die Kaiserkrönung aus: Für ihn war Otto Kaiser dank seines militärischen Triumphes über heidnische Feinde, nicht weil der Papst ihn gekrönt hatte.
Die Forschung sieht daher in Widukind von Corvey den wichtigsten Vertreter einer nichtrömischen Kaiseridee.[17] Wie auch immer es um diese These bestellt sein mag, wichtig ist zunächst einmal die Beobachtung, wie souverän ein Geschichtsschreiber mit Geschehnissen seiner Zeit umgehen konnte. Geschichtsschreibung, so muss man sich vor Augen halten, ist niemals «unmittelbarer Niederschlag historischen Geschehens», sondern «immer perspektivisch, wenn nicht tendenziös».[18] Dies gilt auch für einen Zeitzeugen wie Widukind. Er wurde um 925 geboren und gehörte möglicherweise zu den Nachfahren des berühmten gleichnamigen Anführers der Sachsen in ihrem Kampf gegen Karl den Großen. Trifft dies zu, so wäre er auch zumindest weitläufig mit Mathilde, der Mutter Ottos des Großen, und damit auch mit diesem selbst verwandt gewesen. Um das Jahr 941 wurde Widukind Mönch im Kloster Corvey und erhielt eine sehr gute literarische Ausbildung. Jedenfalls waren ihm neben der Bibel und den Kirchenvätern auch antike Schriftsteller, insbesondere Sallust, vertraut. Aus seiner Feder stammen einige hagiographische Werke, die aber die Zeiten nicht überdauert haben. Um 967/68 verfasste er dann seine Rerum gestarum Saxonicarum libri tres, seine «Drei Bücher über die Taten der Sachsen», auch kurz «Sachsengeschichte» genannt. Mit diesem Titel wird auch schon Widukinds wichtigstes Anliegen – interessanter noch als seine Haltung zum Kaisertum oder zu anderen Fragen – deutlich; Widukind wollte eine Geschichte seines Volkes schreiben. Er war stolz auf seine gens, sein Volk, die Sachsen, die seit Heinrich I. den König im Ostfrankenreich stellten. Gelegentlich erweckt er sogar den Eindruck, dass dieses sich in ein sächsisches Reich verwandelt habe. Dabei handelt es sich aber ebenfalls um eine Stilisierung des Chronisten, denn nach anderen Stellen zu urteilen, war ihm der fränkische Charakter des Reiches durchaus bewusst. Doch auch wenn Widukind die Sachsen und die aus Sachsen stammenden Könige in den Mittelpunkt seines Werkes rückte, so fühlte er sich mindestens ebenso mit seinem Kloster Corvey verbunden. Es hat sogar den Anschein, dass er mit seinem Werk an die große Bedeutung seiner Abtei und ihres Patrons Vitus für die Sachsen erinnern wollte, weil das Erzbistum Magdeburg und dessen Schutzheiliger Mauritius ihnen längst den Rang abgelaufen hatten.[19] Die feinsinnige Kritik an kirchenpolitischen Entscheidungen Ottos des Großen, die bei ihm herauszuhören ist, zeigt, dass wir es auch bei Widukind – wie bei anderen Vertretern der damaligen Geschichtsschreibung – nicht einfach mit einem schlichten Lobredner zu tun haben, sondern mit einem Autor, der Lob und (versteckten) Tadel des Herrschers wohl zu formulieren wusste.[20]
In seinem ersten Buch erzählt Widukind zunächst von der sagenhaften Frühzeit der Sachsen und vor allem von ihrem Aufstieg unter Heinrich I., dem Vater Ottos des Großen, zur Königsherrschaft sowie von dessen Regierungszeit. Im zweiten Buch berichtet er über die Anfänge von Ottos Herrschaft und in diesem Zusammenhang vor allem über die Aufstände verschiedener Fürsten des Reiches gegen den König. Dieser Teil seines Werkes schließt mit dem Tod von Ottos erster Gemahlin Edgitha. Im dritten Buch schildert Widukind Ottos weitere Herrschaft und würdigt vor allem die Schlacht auf dem Lechfeld als deren Höhepunkt. Die handschriftliche Überlieferung, aber auch inhaltliche Gründe lassen vermuten, dass dieses Buch eigentlich mit dem Tod von Ottos ältestem Sohn Liudolf enden sollte, Widukind mithin ein viertes Buch geplant hat.[21] Er gab aber diese Konzeption auf und führte das dritte Buch bis 967 fort. Dabei fasste er, wie schon erwähnt, die Italien- und Kaiserpolitik Ottos nur kursorisch zusammen, womit er indirekt Kritik daran übte.
Widukind widmete das Werk der jungen Kaisertochter Mathilde, die er vermutlich mit den Verhältnissen im Reich vertraut machen wollte. 968 war die junge Prinzessin die einzige Vertreterin der Herrscherfamilie, die sich in Sachsen und sogar nördlich der Alpen aufhielt, während Otto der Große und sein Sohn nach Italien gezogen waren. Nach Ottos Tod 973 ergänzte Widukind vermutlich noch selbst die Berichte über die letzten Jahre des Kaisers. Diesem Chronisten wird man also bei aller Affinität zur herrschenden Dynastie eine eigene Meinung und Kritikfähigkeit attestieren können, die bis zur Missachtung einer wohl bekannten Tatsache – der Kaiserkrönung – reichte.
Diese Feststellung ist deshalb wichtig, weil man Widukind, aber etwa auch Adalbert von Magdeburg und den italienischen Geschichtsschreiber Liudprand von Cremona, vor einigen Jahren als unzuverlässige Gewährsleute für die erste Hälfte des 10. Jahrhunderts eingestuft hat.[22] Der Grund dafür wurde allerdings weniger bei den Chronisten selbst gesehen, als vielmehr in dem vergleichsweise großen zeitlichen Abstand, in dem sie zu den Ereignissen standen. Vor allem bei ihren Berichten über die sächsische Frühzeit und die Regierungszeit Heinrichs I. waren sie ganz oder zu einem großen Teil auf mündliche Überlieferung angewiesen. Das Ostfrankenreich des 10. Jahrhunderts sei eine orale Gesellschaft gewesen, in der die wichtigsten Informationen und vor allem das Wissen über die Vergangenheit mündlich weitergegeben worden seien. Mündliche Überlieferung aber sei ständig im Fluss und richte sich nach jeweils aktuellen Bedürfnissen. Als Erklärung wurde auf die in den 1950 er Jahren aufgezeichnete Herkunftssage eines Volkes aus dem nördlichen Ghana verwiesen.[23] Vielleicht kann solch ein Beispiel tatsächlich Einsichten in das Verhältnis oraler Gesellschaften zu ihrer Vergangenheit und Gegenwart vermitteln – aber war das Ostfrankenreich tatsächlich eine orale Gesellschaft in solch einem Sinne, und gehören Ereignisse, die rund 60 Jahre zurücklagen und für die es vielleicht sogar noch Augenzeugen gab, wirklich zum Ursprungsmythos eines Volkes? Beide Fragen wird man wohl eher verneinen dürfen.[24] Auch sei daran erinnert, dass es durchaus bereits schriftliche Überlieferung und zudem verschiedene Formen der mündlichen Überlieferung gab – eine kollektive über die Mythen eines Volkes einschließlich der Erklärung seiner Entstehung und eine eher individuelle über die subjektiven Erlebnisse einer Person.
Damit soll aber keineswegs einer unkritischen Haltung gegenüber den genannten Geschichtsschreibern das Wort geredet werden. Das «Wahrheitsproblem», wie Helmut Beumann es nannte, stellt sich bei unseren Geschichtsschreibern, zumal bei Widukind, immer wieder. Aber dessen Beispiel zeigt, dass nicht allein die Verformungen durch eine mündliche Überlieferung das Problem sind, vielmehr zeigt sein Umgang mit der Kaiserkrönung, dass ein unmittelbarer Zeitzeuge einen Sachverhalt bis zur Unkenntlichkeit verändern konnte. Es bedarf daher einer behutsamen Quellenanalyse und des Vergleichs mit anderen Quellen, um die Aussagen der Historiographen einordnen zu können. Wir haben es nicht einfach mit Berichterstattern im engeren Sinne zu tun, sondern mit Gelehrten, die die von ihnen aufgezeichneten Geschehnisse in einen Deutungszusammenhang einordneten und dabei den einen Aspekt betonten, den anderen nur am Rande abhandelten oder sogar ganz ausließen – je nach Darstellungsabsicht. Gerade dafür bieten die verschiedenen Fassungen von Widukinds Sachsengeschichte nicht wenig Anschauungsmaterial; aber er hat solche Entscheidungen aus eigenen Erwägungen getroffen, nicht weil er von mündlicher Überlieferung abhängig war. Erzählungen tradierten die Geschehnisse ihrerseits gewiss nicht fehlerfrei, aber es standen Widukind und den anderen Chronisten doch genügend Kontrollmöglichkeiten zur Verfügung – andere Erzählungen, schriftliche Quellen, darunter auch Urkunden –, um jenen nicht blind folgen zu müssen. Adalbert zeichnete recht nüchterne Berichte auf und verzichtete anders als Widukind auf detailverliebte Ausschmückungen und die Wiedergabe von natürlich «gelehrt konstruierten» Ansprachen. Aber selbst Widukind war weit weniger fabulierfreudig als sein und Adalberts gemeinsamer Zeitgenosse Liudprand von Cremona – der dritte wichtige Chronist für die Zeit Ottos des Großen.
Liudprand wurde ca. 920 in Oberitalien geboren.[25] Sein Vater stand ebenso wie sein Stiefvater im Dienst König Hugos von Italien, an dessen Hof er selbst eine sehr gute klassisch-literarische Bildung erhalten hatte. Ihm waren Schriften sowohl antiker Autoren als auch der Kirchenväter vertraut, und er hatte sogar Griechisch gelernt. 945 übernahm Markgraf Berengar von Ivrea faktisch die Macht im Königreich Italien, und der inzwischen zum Diakon geweihte Liudprand trat in dessen Dienste ein. 949 reiste er wie schon sein Vater und sein Stiefvater als Gesandter nach Konstantinopel. Aus unbekannten Gründen fiel er danach bei Berengar von Ivrea in Ungnade und flüchtete an den Hof Ottos des Großen. Dort hielt sich damals auch der spanische Bischof Reccemund von Elvira als Gesandter des Kalifen von Córdoba auf. Reccemund regte Liudprand an, ein Geschichtswerk zu schreiben, und Liudprand verfolgte damit vor allem das Ziel, sich literarisch an Berengar zu rächen. So trägt das Werk den bezeichnenden Titel Liber antapodoseos, «Buch der Vergeltung» oder kurz Antapodosis, «Vergeltung». Seine bis 949 reichende Darstellung ist allerdings breiter angelegt, denn er behandelte darin nicht nur die Geschichte Italiens ab ca. 880, sondern auch die des ostfränkischen und des Byzantinischen Reiches. Vom vierten Buch an schilderte er die Ereignisse als Zeitzeuge; dabei kamen ihm seine Erfahrungen und Kenntnisse etwa über die ottonische Hofhaltung sehr zustatten. Mitten im sechsten Buch in der Schilderung von Liudprands Gesandtschaft nach Konstantinopel bricht das Werk ab.
Liudprand war ein entschiedener Parteigänger Ottos des Großen und nahm 961 an dessen zweitem Italienzug teil. Noch im gleichen Jahr übertrug der König ihm das Bistum Cremona. Als Otto im Jahr 963 auf einer Synode in Rom Papst Johannes XII. absetzen ließ, fungierte Liudprand nicht nur als Sprachrohr des Kaisers, sondern verfasste auch einen Bericht über das Geschehen, die Historia Ottonis, «Die Geschichte Ottos». 968 reiste er, wie schon erwähnt, als Gesandter nach Konstantinopel, um den byzantinischen Herrscher zur Anerkennung Ottos als gleichberechtigten Kaiser zu bewegen. Nach dem Scheitern dieser Mission verfasste er zu seiner Rechtfertigung die Legatio ad imperatorem Constantinopolitanum Nicephorum Phocam, «Die Gesandtschaft an den Kaiser von Konstantinopel Nikephoros Phokas». Dieses Werk ist ein zwar eingehender Bericht, dem wir viele Informationen über den östlichen Kaiserhof verdanken, aber zugleich ein polemischer Angriff auf den byzantinischen Herrscher, der wohl auch die schon im 10. Jahrhundert verbreiteten Vorbehalte gegen die «Griechen» – die Byzantiner selbst nannten sich stolz Romaioi, «Römer» – bediente.
Als weitere Repräsentantin eines spezifisch sächsischen Geschichtsbildes bleibt die Dichterin Hrotsvith von Gandersheim zu erwähnen.[26] Neben Heiligenlegenden in Versform und Dramen verfasste sie zwei Geschichtswerke, die Primordia coenobii Gandeshemensis, «Die Anfänge des Klosters Gandersheim», sowie die Gesta Ottonis, «Die Taten Ottos». Hrotsvith fühlte sich ihrer Äbtissin Gerberga, einer Nichte Ottos des Großen und Tochter Heinrichs von Bayern, besonders verpflichtet. Die Situation Gandersheims ist durchaus mit der Corveys vergleichbar: Gerd Althoff zufolge verlor Gandersheim nach der Gründung Quedlinburgs, der Grablege Heinrichs I., zeitweise seine Funktion als wichtigstes ottonisches Familienstift.[27] In dieser Situation habe Hrotsvith mit ihrem Werk über die Anfänge Gandersheims dessen Bedeutung für die ottonische Familie hervorheben wollen.[28] Wie im Falle der Werke Adalberts von Weißenburg und Widukinds von Corvey haben wir es hier also nicht mit Darstellungen zu tun, die im unmittelbaren Umfeld des Hofes oder gar in dessen Auftrag entstanden sind. Da sie aber dem Ziel dienten, den Herrscher wieder stärker für das Heimatkloster des Autors bzw. der Autorin einzunehmen, enthielten diese Texte viel Lob für Otto und nur sehr subtil formulierte Kritik.
In den ersten Jahren nach dem Tod Ottos des Großen ist die ältere Vita seiner Mutter Mathilde entstanden. Der Vorrede zufolge hatte Ottos gleichnamiger Sohn und Nachfolger den Auftrag gegeben, die Geschichte seiner Vorfahren aufzuzeichnen, was den Verfasser, oder eher die Verfasserin, nicht daran hinderte, sich auf Mathilde zu konzentrieren. Die Autorin stammte aus dem Damenstift Nordhausen, der letzten geistlichen Stiftung Mathildes, hatte vermutlich aber auch Verbindungen zur ersten Gründung der Königin, zum Kloster Quedlinburg.[29] Allerdings handelt es sich nicht um eine Vita im Wortsinne, denn sie endet nicht etwa mit Mathildes Tod 968, sondern mit dem Ableben Ottos des Großen fünf Jahre später. Zudem trägt der Text Züge eines Fürstenspiegels, der dem jungen Herrscher das gute Beispiel seines Großvaters Heinrich und das schlechte Exempel seines Vaters Otto vor Augen führen sollte.[30] Gerd Althoff zufolge diente die Vita aber einem weiterführenden Ziel, und zwar Otto II. die Bedeutung des von Mathilde gegründeten Klosters Nordhausen zu demonstrieren.[31] Auch dieses sei sich der Gunst des neuen Herrschers unsicher gewesen, und so habe der Autor sein Möglichstes versucht, den jungen Kaiser für das Kloster einzunehmen. Vergleichbares gilt für die jüngere Vita der Mathilde, die nach der Thronbesteigung Heinrichs II. 1002 auf der Grundlage der älteren Lebensbeschreibung entstanden ist. Auch in diesem Falle wollte sich der Konvent beim neuen Herrscher in Erinnerung bringen, und dementsprechend fand in dieser Lebensbeschreibung auch Heinrich von Bayern, der Großvater des neuen Herrschers und Bruder Ottos des Großen, gebührende Beachtung.
Einige weitere Informationen über die Zeit Ottos des Großen verdanken wir dem Chronisten Thietmar von Merseburg (975–1018). Dieser war seit 1009 Bischof seiner Stadt und entstammte einer hochadligen sächsischen Familie. So war er auch mit anderen wichtigen Adelsfamilien verwandt, etwa den Billungern, den Grafen von Stade, und zudem mit den fränkischen Konradinern. Geschrieben hat er sein Werk für seinen Nachfolger, um diesen über die Einrichtung (968), Aufhebung (981) und Wiedererrichtung (1004) des Merseburger Bistums zu unterrichten und ihm damit Argumente gegen erneute Angriffe auf dessen Besitz oder gar dessen Bestand an die Hand zu geben. Thietmar bietet lebendige Einblicke in die Politik, aber auch die Lebensumstände und die Mentalität der ottonischen Zeit, vor allem in den Büchern und Kapiteln seines Werkes, die er als Zeitzeuge verfasst hat. Für die Zeit Ottos des Großen stützte er sich vor allem auf Widukind von Corvey; aber da und dort bietet er auch interessante Ergänzungen und weicht bisweilen sogar von seinem Gewährsmann ab, wobei jedoch nicht jede seiner Ergänzungen glaubwürdig ist. So steuert er eine Anekdote über Ottos Aufenthalt in Rom bei, die deutlich vom Wissen um die spätere Feindschaft zwischen dem Kaiser einerseits und dem Papst sowie den Römern andererseits geprägt ist. Anlässlich seines Einzugs in Rom soll Otto dementsprechend zu seinem Schwertträger Ansfried gesagt haben: «Wenn ich heute an der heiligen Schwelle der Apostel beten werde, halte du ständig das Schwert über mein Haupt! Denn ich weiß wohl um die unseren Vorgängern oft recht gefährliche römische Treue.»[32] Insgesamt zeichnet Thietmar Otto als idealen Herrscher, während er über dessen Vater Heinrich I. nicht nur Lobenswertes berichtet, sondern auch erwähnt, dieser habe aus selbstsüchtigen Motiven so manches kirchliche Gebot übertreten.
Neben den sogenannten erzählenden Quellen verdanken wir unsere Kenntnisse über die Zeit Ottos des Großen auch seinen Urkunden. Die Edition dieser Dokumente verzeichnet mehr als 430 echte Urkunden – eine stattliche Zahl, jedenfalls für eine vermutlich weitgehend schriftlose Gesellschaft. Aus den Urkunden lässt sich eine Vielzahl von Informationen gewinnen: Die genaue Datierung seines Herrschaftsantritts, der auf den 7. August 936 fällt, sein offizieller Titel bis zur Kaiserkrönung: Ottodivina favente clementia rex, «Otto, durch Gottes Gnade König», und natürlich auch sein späterer Titel: Ottodivina favente clementia imperator augustus («… erhabener Kaiser»). Der Wechsel zeigt ganz offiziell,dass Otto sich selbst seit seiner Kaiserkrönung im Jahr 962 als Kaiser sah. Die Siegel zeigen ebenfalls sein im Zuge der Kaiserkrönung gewandeltes Selbstverständnis: Bis dahin verwendete er ein Siegel, das ihn gewappnet von der Seite zeigte, also den kriegerischen Aspekt seines Amtes betonte. Als Kaiser zeigte das Siegel ihn aber hier von vorn mit einem Herrscherstab und einem Reichsapfel in der Hand – als Weltenrichter, ganz in byzantinischer Tradition.[33] Urkunden sind also jenseits ihres eigentlichen Zwecks auch wichtige Zeugnisse für das Selbstverständnis eines Herrschers.
Auch die Herrschaftspraxis Ottos spiegelt sich in seinen Urkunden. So werden darin die Großen des Reiches erwähnt, wenn sie sich für die Anliegen Dritter einsetzten. Wir erkennen daran die besonders einflussreichen Personen an Ottos Hof. Zudem geben die Urkunden besonders verlässlich Auskunft über den Weg, den Otto auf seinem Umritt durch das Reich nahm: Seit karolingischer Zeit zogen die Herrscher des Ostfrankenreiches ständig durch ihr Herrschaftsgebiet, wobei sie üblicherweise einer bestimmten Route und einem bestimmten Rhythmus folgten. Otto verbrachte die hohen Festtage gern im östlichen Sachsen und besuchte dazwischen das Rheinfranken mit der alten karolingischen Pfalz Frankfurt sowie den Niederrhein und dort insbesondere Aachen, das unter Karl dem Großen und dessen Sohn Ludwig dem Frommen einst sogar auf bestem Wege war, zu einer festen Residenz zu werden. Vor allem aber geben die Urkunden Auskunft über das Regierungshandeln des Herrschers, das nach unseren Maßstäben eher bescheiden anmutet: Landschenkungen und Besitzbestätigungen machen einen großen Teil des Inhalts seiner Diplome aus. Bevorzugte Empfänger waren Bischofskirchen und bedeutende Abteien. Allerdings spielen Überlieferungschance und Überlieferungszufall uns in diesem Zusammenhang einen doppelten Streich:[34] Weil Urkunden in kirchlichen Archiven wegen der Langlebigkeit geistlicher Institutionen eine weitaus größere Chance hatten, erhalten zu bleiben, gewinnen wir den Eindruck, gerade ihnen wären auch besonders viele Urkunden ausgestellt worden. Zudem bewahrten die Archivare vor allem solche Urkunden auf, die den Landbesitz oder die Rechte einer Kirche oder eines Klosters betrafen – so könnte man meinen, Urkunden seien vor allem in diesem Zusammenhang ausgestellt worden. Vielleicht spiegelt die Überlieferung ja auch die tatsächlichen Zahlenverhältnisse sowohl im Hinblick auf den Inhalt als auch quantitativ hinsichtlich geistlicher und weltlicher Empfänger der Herrscherurkunden wider; aber möglicherweise haben wir es mit erheblichen Verzerrungen zu tun, die so manches Urteil über diese Zeit bis heute bestimmen.
Abbildungen 3 und 4: Königssiegel und Kaisersiegel Ottos im Vergleich
Aus all diesen Quellen gewinnen wir eine Fülle an Informationen über die Epoche Ottos des Großen und insbesondere über die Auseinandersetzungen, in die er verwickelt war. Doch über ihn selbst sind nur ganz wenige Nachrichten erhalten. Allein Widukind von Corvey äußert sich zur Persönlichkeit des Kaisers:
«Er zeichnete sich in erster Linie durch Frömmigkeit aus. Bei seinen Unternehmungen war er so zähe wie kein anderer Mensch, und trotz der Furcht, die seine Majestät ausstrahlte, war er doch immer freundlich und freigebig. Er schlief wenig, und er redete immer im Schlafe, so dass man hätte glauben können, er sei immer wach. Seinen Freunden versagte er keine Bitte, und er war treuer als alle anderen Menschen. Man konnte es erleben, dass er Menschen, die eines Vergehens angeklagt und sogar überführt waren, selbst entschuldigte und verteidigte, und er wollte um keinen Preis an ihre Schuld glauben. Nachher behandelte er sie so, als ob sie sich niemals gegen ihn vergangen hätten. Sein Geist war bewundernswert; nach dem Tode der Königin Edith lernte er, was er vorher nicht gekonnt hatte, das Lesen so vollkommen, dass er ganze Bücher vollständig lesen und geistig erfassen konnte. Er sprach Romanisch und Slawisch, aber nur selten ließ er sich zum Gebrauch dieser Sprachen herab. Häufig ergab er sich dem Waidwerk und liebte das Brettspiel, und manchmal nahm er mit königlichem Anstand an den Reiterspielen teil. Er besaß einen mächtigen Körper und war ein König vom Scheitel bis zur Sohle. Sein Haupt war von grauen Haaren bedeckt, seine Augen leuchteten und konnten jählings Blitze schleudern. Sein Gesicht war rötlich, und er trug den Bart länger als es früher Mode war. Seine Brust war stark behaart wie die eines Löwen, sein Leib war angemessen stark, und sein Schritt war zuerst rasch, später wohlgemessen. Er kleidete sich einheimisch und niemals nach fremder Art. Auch soll er, wie man sagt, immer gefastet haben, bevor er die Krone trug.»[35]
Dieser Bericht gibt vielleicht eine gewisse Ahnung von Ottos Aussehen und Charakter, lebt jedoch vor allem von typischen Elementen des Herrscherbildes, so dass wir schwerlich dadurch eine differenzierte Vorstellung von der Person Otto gewinnen können. Personenbeschreibungen dieser Art finden sich immer wieder in der frühmittelalterlichen Literatur, insbesondere in Heiligenviten. Am prominentesten aber ist die Beschreibung Karls des Großen aus der Feder Einhards. Diese sowie eine dichterische Fassung vom Ende des 9. Jahrhunderts – von dem sogenannten Poeta Saxo angefertigt, wohl ebenfalls ein Angehöriger des Corveyer Konvents – waren Widukind in der Bibliothek des Weserklosters zugänglich. Vor allem an diesem Vorbild hat er sich in seiner Darstellung Ottos orientiert. Dennoch dürfte Widukind tatsächlich auch vorhandene Charakterzüge Ottos geschildert haben. Er zeichnet fraglos einen idealen Herrscher, der freundlich und freigebig war, seinen Freunden ein guter Freund, Übeltätern gegenüber nicht nur gerecht, sondern auch nachgiebig und mild. Auch soll er eine rasche Auffassungsgabe gehabt haben – doch ob er als Spätberufener wirklich noch schwierige und gar lateinische Texte vollständig lesen und verstehen konnte, darf man füglich bezweifeln. Dass er neben dem Althochdeutschen bzw. Sächsischen auch die Sprache der slawischen Völker an der Elbe beherrschte, wird man indes durchaus damit erklären können, dass er in der Nähe der Grenze aufgewachsen ist. Wann Otto Altfranzösisch erlernte, ist schwer festzulegen. Vielleicht legte bereits sein Vater Wert darauf, damit sein Nachfolger mit seinen lotharingischen Untertanen unmittelbar verkehren konnte, von denen die meisten Romanisch sprachen. Seit frühester Kindheit dürfte Otto auch im Kriegshandwerk und im Waidwerk unterwiesen worden sein. Das Wichtigste an seinem guten Charakter aber war seine Frömmigkeit, die Widukind mit dem schlichten Satz über Ottos Vorbereitung für das Tragen der Krone betont – die Krone trug ein Herrscher dieser Zeit vor allem anlässlich kirchlicher Hochfeste. Doch zeigten sich die Eigenschaften eines Herrschers natürlich vorrangig in seinen Taten, die ihrerseits wiederum nur vor dem Hintergrund der politischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten ihrer Epoche zu verstehen sind.
Abbildung 5: Otto der Große in der anonymen Kaiserchronik (12. Jh.)
Als Otto zum Kaiser gekrönt wurde, beherrschte er seit fast 26 Jahren das Ostfrankenreich, das aus sogenannten Stammesprovinzen bestand – seiner Heimat Sachsen, Franken, Bayern, Schwaben und Lotharingien. Damit reichte seine Macht von der Maas im Westen bis an die Elbe im Osten und von der Nordsee bis in die Alpen hinein. Allerdings waren diese Gebiete äußerst dünn besiedelt. Nach vorsichtigen Schätzungen lebten etwa vier Millionen Menschen in den Grenzen seines Reiches, die sich darin aber nicht gleichmäßig verteilten.[1] Am Rhein war die Bevölkerungsdichte sicher größer als in den Mittelgebirgslandschaften, wo noch große Gebiete von Wald bedeckt und damit weitgehend unbewohnbar waren. Dort konzentrierte sich die Bevölkerung in sogenannten Siedlungsinseln und nur wenige, zumeist unbefestigte Straßen und Wege verbanden die besiedelten Gebiete miteinander. Allein der Westen, das sogenannte Lotharingien, war besser erschlossen und wirtschaftlich auch weiter entwickelt. Aber insgesamt handelte es sich beim Ostfrankenreich im Vergleich zu den anderen Regionen Europas und der Mittelmeerwelt – etwa zu Italien, Byzanz oder dem islamischen Spanien – um ein sehr rückständiges Gebiet. Vor diesem Hintergrund beeindruckt die Leistung Ottos umso mehr, da er dieses fragile Reich nicht nur zusammengehalten, sondern Italien hinzugewonnen und in Rom die Kaiserwürde erlangt hat.
Die meisten Bewohner seines Reiches dürften den Ereignissen, die sich Anfang Februar des Jahres 962 in Rom zutrugen, nur wenig Interesse entgegengebracht haben. Gut 95 Prozent von ihnen waren Bauern und vollauf mit der Sicherung ihres Lebensunterhalts beschäftigt. In rechtlicher Hinsicht waren viele von ihnen frei, aber stets in Gefahr, auf den Status von Unfreien abzusinken. Die Mehrheit der Bauern aber war damals wohl bereits unfrei und von einem Grundherrn abhängig. Über ihnen stand der Adel, der ebenfalls keine einheitliche Schicht bildete, sondern in sich nach Rang und Ansehen vielfach abgestuft war. Er stellte in politischer sowie militärischer Hinsicht die entscheidende Schicht innerhalb der Gesellschaft dar. Auf ihn stützte der König sich, wenn es um seine konkrete Herrschaftsausübung ging. Schließlich gehörten alle Amtsträger dem Adel an, und auch die meisten Angehörigen der hohen Geistlichkeit. Sie alle lebten von der Arbeit der Bauern, was bei der Darstellung mittelalterlicher Geschichte oft in den Hintergrund rückt, zumal unsere Quellen uns nur sehr allgemeine Einblicke in das Leben der einfachen Leute gewähren.
Die Arbeit der Bauern war außerordentlich anstrengend und bestand jahraus, jahrein aus den gleichen Tätigkeiten: Pflügen, Säen, Ernten. Insbesondere das Pflügen war eine kraftraubende und überaus mühselige Tätigkeit.[2] Oft musste der Boden zuvor noch mit dem Spaten vorbereitet werden, wozu viele Leute gebraucht wurden. Zum eigentlichen Pflügen wurde nach wie vor der schon bei den Römern bekannte Hakenpflug verwendet – der die Erdschollen wendende Pflug mit Streichbrett war zwar schon bekannt, aber nur wenig verbreitet. Der Hakenpflug ritzte den Boden aber nur auf, was zwar für die leichten Böden im Mittelmeerraum ausreichte, bei den schwereren Böden nördlich der Alpen aber zu wenig befriedigenden Anbauergebnissen führte. Was das Pflügen zu einer solch anstrengenden Arbeit machte, war die Tatsache, dass der Pflug allein mit der Körperkraft ins Erdreich gedrückt werden musste, während die Zugtiere ihn schleppten. Da war es schon eine große Hilfe für den Bauern, wenn eine zweite Person, oft die Frau oder auch heranwachsende Kinder, die Zugtiere führten. Auf das Pflügen folgte das Säen: Das Saatgut wurde in einem Korb oder im umgeschlagenen Obergewand mitgeführt und mit der Hand auf die Krume ausgeworfen. Danach wurde der Boden zunächst mit Strauchwerk, später mit der hölzernen Egge weiterbearbeitet und geebnet. Die weitere Ackerpflege während der Vegetationsperiode bestand nicht zuletzt darin, das Feld von Unkraut freizuhalten.
Abbildung 6: Schwerer Kehrpflug mit Radvorgestell aus einem angelsächsischen Kalendarium des 11. Jh.s, Vorlage vermutlich aus dem 9. Jh.
Der Ertrag war häufig gering. Man schätzt, dass das Verhältnis von Saatgut zur Ernte lediglich ungefähr eins zu drei betrug. Das bedeutet, dass die Menschen größte Sorgfalt auf die Pflege ihrer Felder legen mussten, und selbst dann waren sie den Unbilden der Witterung – lange Trockenheit, Starkregen mit Hagelschlag oder lange Regenperioden – fast hilflos ausgeliefert. So drohte ständig der Verlust der Ernte, von der ja ein Drittel wieder für die Aussaat benötigt wurde. Die Ernte wurde ebenfalls von Hand eingebracht, und zwar mit der kurzen Sichel auf halbem Halm – ein mühsames Verfahren, das aber immerhin wenig Verluste brachte. Erst seit dem hohen Mittelalter fand die schon früher bekannte Sense größere Verbreitung, welche eine Ernte auf dem ganzen Halm erlaubte. Dann banden meist die Frauen die Halme zu Garben, und die Männer brachten diese zur Scheune. Nach der Ernte wurde das Getreide gedroschen, gereinigt und gemahlen. Das besorgten entweder die Bauern selbst mit Hilfe einfacher Handmühlen, oder sie trugen es zu Wassermühlen, die aber in Regie des Grundherrn betrieben wurden, der Abgaben für diese Dienstleistung verlangte. Das Brot schließlich wurde dann entweder auf den einzelnen Hofstellen gebacken oder in herrschaftlichen Backstuben. Übrigens wurde nicht alles Getreide zu Brot verarbeitet – Bier war ein weiteres wichtiges landwirtschaftliches Produkt.
Erforderte also der Getreideanbau besonders großen Arbeitseinsatz, so wurde viel Land anders genutzt und dem Vieh überlassen. Insgesamt kam der Viehzucht in der frühmittelalterlichen Wirtschaft hohe Bedeutung zu. Nicht nur zur Erzeugung von Fleisch und Milch, sondern auch von Fellen und Wolle waren Tiere wichtig. Rinder wurden darüber hinaus, wie schon erwähnt, als Zugtiere verwandt. Pferde wurden dagegen lange Zeit kaum für die Arbeit in der Landwirtschaft eingesetzt. Sie waren für solch triviale Nutzungsformen im Unterhalt zu teuer und repräsentierten vor allem als Reittiere den Status des Eigentümers.
Mist war der wichtigste Dünger, wurde aber auch als Brennstoff gebraucht. Da im Winter die Möglichkeiten beschränkt waren, Tiere unterzustellen und durchzufüttern, kam mit dem Herbst und dem Ende der Weidefütterung der Schlachttermin. Die wichtigsten Lieferanten von Fleisch aber waren nicht Rinder, sondern Schweine. Sie boten den Vorteil, dass sie nur wenig Pflege benötigten. Zur Mast trieb man sie besonders im Herbst einfach in die zahlreichen Buchen- und Eichenwälder. Weitere Nutztiere auf einer Bauernstelle waren Schafe, Hühner und Gänse, aber auch Bienen, die Wachs (für Kerzen) und Honig lieferten, den einzigen Süßstoff des in geschmacklicher Hinsicht insgesamt eher eintönigen Mittelalters. Die Größenordnungen der Tierhaltung sind eher gering zu veranschlagen: Für Burgund etwa errechnete man für jeden Hof durchschnittlich ein halbes Pferd, zwei bis vier Rinder, zehn Schweine und Schafe. So konnte auch bereits der Ausfall eines einzigen Tieres die Existenz einer bäuerlichen Familie bedrohen.
Wie bereits angedeutet, verbesserte sich die landwirtschaftliche Produktion nur langsam. Anfangs wurde die sogenannte Feldgraswirtschaft betrieben, bei der ein Bauer den Boden so lange bearbeitete, wie er Früchte trug, und, sobald er erschöpft war, auf unbestimmte Zeit brachliegen ließ. Schon relativ früh im Mittelalter entdeckte man jedoch die Vorteile einer Fruchtwechselwirtschaft: Bei der Zweifelderwirtschaft teilte man den Acker in zwei Teile – der eine Teil wurde bebaut, den anderen ließ man brachliegen, damit der Boden sich erholen konnte; im nächsten Jahr wechselten Anbaufläche und Brache. Den entscheidenden Fortschritt aber brachte die Dreifelderwirtschaft, wobei sich Herbstaussaat mit Weizen, Roggen, Dinkel oder Gerste, Brache vom Herbst bis zum Frühjahr und Sommersaat mit Gerste, Hafer oder Hülsenfrüchten und eine erneute, längere Brache bis zur nächsten Herbstaussaat ablösten. Die Vorteile waren eine ausgewogenere Verteilung der landwirtschaftlichen Arbeiten über das Jahr und damit ein effektiverer Einsatz der menschlichen Arbeitskraft. Zudem wurden die Felder vor der Wintersaat intensiver mit Nährstoffen versorgt, weil sie während der vorangehenden langen Brache als Viehweide dienten und dabei automatisch gedüngt wurden. Der Naturdung reichte allerdings nicht aus und wurde durch Stallmist, Mergel, Kalk oder Torf ergänzt. Immerhin lagen die Felder 20 von 36 Monaten brach und konnten sich in diesem Zeitraum erholen, was sich in erster Linie positiv auf den Nährstoffgehalt des Bodens auswirkte. Mit der Dreifelderwirtschaft verringerte sich auch die Gefahr von Hungersnöten, denn der Verlust einer Wintersaat konnte durch die Sommerfrucht wenigstens teilweise ausgeglichen werden. Die vergleichsweise starke Zunahme der Bevölkerung seit dem 11. Jahrhundert – mancherorts schon seit dem 10. Jahrhundert – ist folglich auf diese fortschrittlichere Bodennutzung zurückzuführen.
Aus alldem ergab sich aber auch ein Zwang zur Flächenorganisation, denn ein einzelner Bauer konnte seine kleinen Parzellen nicht auch noch aufteilen; stattdessen musste die Dorfflur für die Dreifelderwirtschaft in mindestens drei sogenannte Zelgen geteilt werden, an denen jeder Bauer seinen Anteil erhielt. Diese Vorgehensweise setzte eine Flurordnung mit Festlegung des Fruchtwechsels voraus, was im 10. Jahrhundert noch am ehesten in größeren Grundherrschaften durchzusetzen war und später von der Dorfgemeinschaft geregelt wurde.
Auch in anderer Hinsicht erforderte Großgrundbesitz ein gewisses Maß an Organisation. In der Regel war eine Grundherrschaft zweigeteilt.[3] Zunächst gab es einen Herrenhof, auf dem oft recht viele Knechte und Mägde arbeiteten. Seine Leitung oblag bei kleineren Grundherrschaften dem Grundherrn selbst, bei größeren Grundherrschaften mit verschiedenen Gütern aber einem Amtsträger, dem Meier – lateinisch maior oder villicus. Vom Herrenhof aus wurde auch ein Teil des dazugehörenden Landes bewirtschaftet, während der Rest der Nutzflächen an unfreie oder freie Bauern ausgegeben wurde. Diese mussten nicht nur ihre eigene Hofstelle – huba oder auch mansus – bewirtschaften, sondern waren zudem verpflichtet, auf dem Herrenhof Frondienste zu leisten.
Diese Dienstpflicht griff vor allem in den Zeiten, in denen das Arbeitsaufkommen besonders groß war. So konnten die Bauern sich ausgerechnet zu Zeiten der Feldbestellung oder der Ernte – insgesamt mehrere Wochen im Jahr an jeweils bis zu drei oder sogar fünf Tagen in Folge – nicht sehr intensiv um die Bewirtschaftung des eigenen Landes kümmern. Mit einer Hufe (huba) war eigentlich ein Stück (kultiviertes) Land gemeint; der Begriff bezeichnet aber vor allem einen bäuerlichen Einfamilienbetrieb mit dem zugehörigen Land, dessen Größe nicht näher definiert war. In aller Regel sollte das Land ausreichen, um eine Familie zu ernähren und dem Herrn auch Abgaben leisten zu können, die ihm zusätzlich zu den Frondiensten zustanden. Diese Abgaben waren an bestimmten Tagen im Jahr fällig; noch heute bekannt ist die Martins-Gans, die am Martinstag (11. November) abzuliefern war. Der Legende nach hatten die Gänse mit ihrem Geschnatter den Heiligen verraten, als er sich in ihrem Stall vor der Gemeinde versteckte, die ihn zum Bischof machen wollte; dafür müssen Gänse bis heute am Tag des hl. Martin ihr Leben lassen. Besonders Unfreie hatten noch weitere Abgaben zu leisten. Ursprünglich hatte der Herr auch Anspruch auf den gesamten Nachlass seiner verstorbenen Unfreien. Schon in karolingischer Zeit wurde aber dieser Anspruch auf Leistung des besten Stücks Vieh (Besthaupt) und des besten Kleidungsstückes (Bestkleid) reduziert – immer noch eine ruinöse Belastung für die betroffene Familie. Diese Verpflichtungen differierten allerdings von Grundherr zu Grundherr und von Hufenbauer zu Hufenbauer. Trotz dieser Bürde dürften die Hufenbauern in der sozialen Schichtung einer Grundherrschaft noch immer zu den Bessergestellten gehört haben. Oft verfügten sie sogar ihrerseits über unfreie Knechte.
Größere Grundbesitzer hatten oft mehrere oder sogar viele Herrenhöfe, die sich über verschiedene Regionen verteilten, wie das Beispiel Eberhards von Friaul († 866) zeigt; der Schwiegersohn Ludwigs des Frommen besaß Güter in Oberitalien, in Schwaben und in Flandern.[4] Noch besser bezeugt sind die geistlichen Grundherrschaften, etwa die des Klosters Prüm in der Eifel.[5] Die Abtei hatte Besitzungen in der Gegend von Worms, im Rheinland, in Friesland, an der oberen Mosel bis hin zur Maas und sogar im Westfrankenreich. Das machte die Ertrags- und Versorgungslage des Klosters unabhängig von regionalen Wetterbedingungen und sorgte überhaupt für eine größere Produktpalette. So lieferten etwa die friesischen Güter Meeresfisch, jene vom Rhein und der Mosel Wein. In den anderen Zentren wurden Eisen oder Wolle und Textilien produziert. Im Rahmen einer Grundherrschaft wurde also nicht nur Landwirtschaft betrieben, sondern auch Güter durch die Weiterverarbeitung von Rohstoffen geschaffen. Besondere Bedeutung in der Produktion kam der Salzgewinnung zu, da Kochsalz zur Konservierung von Fleisch und Fisch (Einpökeln und -salzen) unentbehrlich war. Große Höfe verfügten zudem über geniciae, über Frauenarbeitshäuser, in denen Tuche hergestellt wurden.
Solch große Zentren erforderten eine große Zahl von Menschen und Tieren zur Bearbeitung der Rohprodukte und stellten erhebliche Anforderungen an die Organisationskraft, denn die verschiedenen, zu Diensten und Abgaben verpflichteten Gruppen einer sogenannten Villikation mussten überwacht werden. Der Meier wurde bereits erwähnt, doch er war nicht immer der einzige Amtsträger, der mit der Verwaltung des Grundbesitzes betraut war. Außer ihm gab es etwa die cellerarii, die Kellermeister, außerdem den Schulten oder Schulzen (im Norden), im Süden Schultheißen, der darauf achtete, dass jeder, der zu solch einem Gut gehörte, seinen Pflichten gegenüber dem Grundherrn nachkam. Die Zuständigkeitsbereiche der Amtsträger waren dabei nicht genau voneinander abgegrenzt: Es gab Grundherrschaften, für die entweder ein Meier oder ein cellerarius bezeugt sind, die in etwa die gleichen Kompetenzen wahrnahmen, und solche, in denen der eine dem anderen untergeordnet war. In größeren Grundherrschaften rangierten unter ihnen auch die Aufseher über einzelne Wirtschaftszweige, die also etwa für die Mühlen, Handwerksbetriebe oder die Forsten zuständig waren. Die Verwalter der Hofämter an Adelshöfen, wie Truchsesse und Marschälle, entstammten ebenfalls der familia des Grundherrn – der Großfamilie, zu der alle Mitglieder eines Haushalts gehörten. Zusammen mit den Hörigen, die zum Kriegsdienst abgestellt waren, bildeten sie seit dem 10. Jahrhundert die Schicht der Ministerialen, die sich im Laufe von Generationen von ihren Herren lösen und später den niederen Adel, insbesondere den Ritterstand, formieren sollte.