Our Beautiful Nightmares - Nina S. Moineau - E-Book
NEUHEIT

Our Beautiful Nightmares E-Book

Nina S. Moineau

0,0

Beschreibung

Du bist nicht sicher, solange du schläfst. Denn wie eine Motte dem Licht, folge ich den Spuren deiner Angst. Wenn du zitternd aus einem Albtraum erwachst, mit dem Gefühl, beobachtet zu werden, bin ich dir ganz nah. In den Schatten deines Zimmers warte ich darauf, dass sich deine Augen schließen. Ich bin es, der dich nachts plagt und dir den Schweiß auf die Stirn treibt. Ich bin es, der deine Ängste findet, um sie gegen dich zu verwenden. Meine Pinselstriche bilden Narben auf deiner Seele, die nie wieder verblassen werden. Tauche ein in die Abgründe seiner Kunst und folge dem Traumwächter durch die Köpfe sechs verschiedener Menschen, hinein in die Welt unserer wunderschönen Albträume.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 313

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Für alle, deren Albträume mit dem Aufwachen nicht verschwinden …

Wir sehen euch.

Playlist

Sweet Dreams – Marilyn Manson

Numb – Linking Park

Look What You made Me Do –Taylor Swift

The Ghost – Niviro

Me and the Devil – Soap & Skin

The Kids Aren’t Alright – The Offspring

Guns for Hire – Woodkid

O Children – Nick Cave & The Bad Seeds

At the Bottom of Everything – Bright Eyes

Hand of Doom – Black Sabbath

Jealousy – Siiickbrain

911 – Ellise

Blood // Water – Grandson

Devil Saint – Luma, Yuppycul

The Secret History – The Chamber Orchestra of London, Kerry Muzzey, Andrew Skeet

Forgotten Odes – Eternal Eclipse

Royalty – Neoni, Egzod, Maestro Chives

Hayloft II – Mother Mother

The Day I Tried To Live – Soundgarden

The Day The World Went Away – Nine Inch Nails

Bones – Rachel Sermanni

I Appear Missing – Queens of the Stone Age

Sleep Paralysis Demon – Ethan Bortnick

Schlaflied – Die Ärzte

Inhaltsverzeichnis

1. Vorwort

2. Prolog

3. Teil 1: Das Portal

4. Teil 2: Salz und Metall

5. Teil 3: Find me if you dare

6. Teil 4: Fremdkörper

7. Teil 5: Love, Asmodei

8. Teil 6: Heimkehr

9. Epilog

10. Danksagung

11. Content Notes

12. Über Uns

Vorwort

Liebe*r Leser*in,

vielen Dank, dass du dich für unser Buch entschieden hast. Bevor es losgeht ein Hinweis von uns:

Our Beautiful Nightmares ist ein fiktionaler Horror-/Dark-Fantasy-Mosaik-Roman, der sensible Themen behandelt. Du findest die Content Notes sowie eine Möglichkeit, uns bei Fragen vor dem Lesen zu kontaktieren, auf Seite →.

Des Weiteren möchten wir darauf aufmerksam machen, dass wir weder die gewaltvollen Darstellungen in diesem Buch, noch die teils aggressiven sowie sadistischen Einstellungen und Taten der Buchcharaktere unterstützen. Gewalt jeglicher Form und Ausmaße ist nie eine Lösung.

Solltest du dich in einer schwierigen Situation befinden und nicht weiter wissen, kann dir die Telefonseelsorge weiterhelfen (Tel.: 0800/1110111).

Viel Spaß und pass auf dich auf!

Chris, Jace, Jo, Nadine, Nina und Tom

“Und so öffnet sich eine Tür in das Wesen eines Menschen. Was hindurch kommt, bin ich. Vor mir, der Geist, so roh und unangetastet wie eine leere Leinwand.”

~ Der Traumwächter

Prolog

Ein Traum ist die Kunst des menschlichen Gehirns, selbst im Schlaf ungeahnte Tiefen zu ergründen und Abenteuer zu erleben. Kreativität abseits von bewussten Vorgängen und Grenzen, außerhalb der Kontrolle der Schlafenden. In diesem Stadium des Geistes entstehen Geschichten, die im Moment des Aufwachens jeden Sinn zu verlieren scheinen. Dabei sind es nicht die Träume, denen es an Logik fehlt. Es ist der menschliche Verstand, der meine Kunst nicht greifen kann. Dieser Zustand absoluter Vulnerabilität legt frei, was ein Individuum im Alltag beschäftigt, beschäftigt hat und noch beschäftigen wird. In dieser Zwischenwelt gibt es keine Regeln – keine Grenzen.

Wie von selbst öffnet sich eine Tür in das Wesen der Menschen. Was hindurch kommt, bin ich, und was ich vor mir sehe, ist der Geist, so roh und unangetastet wie eine leere Leinwand. Mein Pinsel ist in Blut, Angst und Tod getränkt. Meine Pinselstriche bilden Kontraste, Schattierungen und immer neue Konstellationen. Mit einem Lächeln auf den Lippen beobachte ich, wie meine Leinwand jede Nacht eine neue Form annimmt. Weinrot, tiefschwarz und dunkelviolett. Wunderschön, und doch so vergänglich. Am Morgen wird sie sich aufgelöst haben. Zersetzt von den ersten Sonnenstrahlen, als wären sie Gift.

Doch etwas klingt nach dem Wachwerden noch nach. Selbst, wenn die Schrecken der Nacht sich längst verflüchtigt haben, steht den Träumenden der kalte Schweiß auf der Stirn. Ihre Augen zucken hin und her und ihre Brust hebt und senkt sich viel zu schnell.

Die Angst, dass das Gesehene Wirklichkeit wird.

Warum? Fragt ihr euch in diesem Moment, wieso erfindet mein Unterbewusstsein so schrecklich absurde Dinge?

Die Antwort ist: Weil ich es will.

Es ist meine Bestimmung, Teil der natürlichen Ordnung und muss irreversibel geschehen. Eure Albträume sind meine Berufung! Wenn ihr das Ausmaß meiner Handlungen verstehen wollt, müsst ihr mir folgen …

Lasst mich euch in meine Welt entführen.

Die Welt eurer wunderschönen Albträume.

Teil 1

Das Portal

Nadine Koch

Für mich ist das Konstruieren von Albträumen eine Meisterdisziplin. Ich muss sie auf die jeweilige Person und ihr Leben zuschneiden. Das Wichtigste dabei ist die nahtlose Verbindung zur realen Welt. Ein Traum, in dem der Träumende erkennt, dass er schläft, verliert augenblicklich seine Wirkung. Im Regelfall schaffe ich eine Kulisse, die einer realen Vorlage gleicht.

Einen Ort den die Zielperson besonders häufig besucht, beispielsweise das eigene Zuhause oder der Arbeitsplatz, lassen sich perfekt für einen gelungenen Start verwenden. Ich gestalte ihn nach meinen eigenen Regeln um, forme aus dem Vertrauten eine persönliche Hölle.

Ich bin gewissermaßen Architekt, Drehbuchautor und Künstler.

Ich bediene mich an eurer Gedanken und Ängste, triggere sie bis zum Äußersten und setze dann noch eins drauf.

Wenn du dann immer noch nicht schweißgebadet vor mir liegst, mein Verlangen nicht gestillt ist, dann greife ich auf etwas zurück, was selbst ich grausam finde. Die uralten Wesen aus der Zwischenwelt. Ein Ort, an dem das lebt, was ihr so fürchtet. Eine Welt, in der selbst ich nicht immer kontrollieren kann, was geschieht. Damit herumzuspielen ist töricht und doch kann ich dem nicht widerstehen. Seht selbst:

Kommissar Regnar

In seiner ganzen Karriere hatte Kriminalhauptkommissar Regnar kein solches Massaker gesehen. Der gesamte Boden war in Blut getränkt, als hätte ein Künstler eine Leinwand mit Wasserfarben bespritzt und hier und da einen ganzen Eimer verkippt. Die Fenster waren teilweise eingeschlagen, die Türen mit Kratzspuren versehen. Tische und Stühle mussten mit viel Kraft verschoben oder umgeworfen worden sein, denn tiefe Furchen zeichneten sich auf dem Fliesenboden ab. Die Opfer lagen, genauso wie ihre Gliedmaßen, verstreut im Raum. Ein beißend-süßlicher Geruch hing über dem Schauplatz und hatte die meisten seiner Kollegen dazu gebracht, eine Maske aufzusetzen. Selbst in einem Schlachthaus wäre er gerade lieber gewesen, als in diesem Starbucks. »Was um Himmelswillen ist hier nur geschehen?«, fragte er seinen Assistenten, der mit weit aufgerissenen Augen die zerfetzten Körper betrachtete.

»Es gleicht einem Albtraum«, brachte er tonlos hervor und tippte auf sein Klemmbrett. »Laut Bericht waren neun Personen anwesend.« Der junge Polizist zeigte mit dem Stift auf die Leichenteile. »Ich möchte wetten, dass wir nur acht davon identifizieren können.« Der Hauptkommissar nickte langsam. Das würde das schlimmste Puzzle seines Lebens werden.

10 Stunden zuvor
Holly

Wo kommen diese verdammten Kopfschmerzen her, fragte sich Holly und zog die Bettdecke noch etwas höher über ihr Gesicht. Sie fühlte sich, als hätte sie einen ordentlichen Kater, ohne am Vorabend auch nur einen Tropfen Alkohol getrunken zu haben. Schnaubend blickte sie auf ihr Handy. Es war halb sieben. Das stetig drückende Gefühl auf ihrer Schädeldecke wurde stärker und zerfraß ihre restliche Motivation. Ich kann mich heute nicht schon wieder krankmelden. Kathrin schmeißt mich sonst definitiv raus. Unbarmherzig dröhnte der Ersatz-Wecker aus der Dunkelheit und zwang Holly, sich in Bewegung zu setzen. Mürrisch streckte sie ihren Arm aus, um den schrillen Ton mit einem Schlag zum Verstummen zu bringen. Du wirst den Tag überstehen, wie jeden anderen auch. Du kannst nicht kündigen, solange du deine Studiengebühren nicht bezahlt hast. Also los! Die innerliche Motivationsrede half nur bedingt, zu gern hätte sie sich zurück in die weichen Kissen fallen lassen, um den Samstagmorgen zu überspringen. Doch kein Jammern dieser Welt würde ihr die Last abnehmen, also drückte sie sich nach oben, stand auf und begutachtete ihren winzigen Kleiderschrank.

Die Miete für das kleine Zimmer war viel zu teuer, doch etwas Besseres hatte sie in München nicht gefunden. Gefühlt jede zweite preiswerte WG-Anzeige wurde von lüsternen Junggesellen auf der Suche nach einer Freundschaft Plus inseriert und fiel damit raus. Die seriösen Angebote waren dafür verflucht teuer, doch mit der Annonce von Louisa, Patrick und Kilian hatte sie einen echten Glückstreffer gelandet. Kleines Zimmer hin oder her, die drei waren zu ihrer Familie geworden. Louisa, die immer müde und vor Ehrgeiz strotzende Medizinstudentin, Patrick, der angehende Doktor für Nanotechnologie und Kilian, der eher verschlossene Chemiker. Alle drei saßen oft bis in die Morgenstunden vor ihren Laptops und quälten sich durch hunderte Seiten Lernstoff. Holly schüttelte innerlich den Kopf. Niemals könnte sie sich solch eine Fülle an Informationen merken, ihr eigenes Lehramtsstudium forderte bereits die Grenzen ihres Gedächtnisses heraus.

Im Halbdunkel tastete sie nach der Tür und öffnete sie gerade in dem Moment, als Kilian wie ein Schatten vorbeihuschte. Ohne eine Begrüßung verschwand er in sein Zimmer. Holly bemerkte die tiefen Augenringe in seinem bleichen Gesicht. Er ist definitiv kein Morgenmensch. Sie schmunzelte und stapfte den kleinen Gang hinunter zum Badezimmer. Ein Blick in den Spiegel reichte, um festzustellen, dass auch sie tiefe Krater unter ihren Augen trug. Die letzte Nacht war definitiv zu kurz gewesen. Im ersten Semester hatte sie noch gedacht, dass unter der Woche studieren und am Wochenende arbeiten, locker funktionieren würde. Die anfängliche Naivität war schnell der harten Realität gewichen. Inzwischen sah sie sich wöchentlich mit ihrer persönlichen Hölle konfrontiert: Unzufriedene Kunden im Starbucks.

»Ist da auch wirklich Sojamilch drin?«

»Ihr Service ist eine Katastrophe! Ich warte schon mindestens zehn Minuten.«

»Wissen Sie eigentlich, wie man eine Kaffeemaschine bedient?«

Sie war der seelische Boxsack für die Choleriker unter den Konsumenten. Nur selten ging ein Dienst vorbei, ohne dass sie mindestens einmal als dumme Starbucks Tante beschimpft wurde.

Resigniert klatschte Holly etwas kaltes Wasser in ihr Gesicht und griff nach ihrer Zahnbürste.

Zwanzig Minuten später war ihre morgendliche Müdigkeit überschminkt, das braune lange Haar frisiert und ein ordentliches Outfit angezogen. Wenn ich untergehe, dann elegant. Holly grinste ihr Spiegelbild an, doch erneut zuckte ein stechender Schmerz durch ihren Hinterkopf. Sie stöhnte auf und legte eine Hand in ihren Nacken. Ist das eine Beule? Mit zusammengepressten Lippen strich sie über die schmerzende Stelle. Der Handspiegel verriet ihr, dass ein kleiner rosa Strich ihren Nacken zierte. Genervt griff sie nach einer Schmerztablette und würgte sie mit Wasser herunter.

»Pah. Widerlich«, stellte sie mit gerümpfter Nase fest und trat in den Hausflur. Gerade als sie die Wohnungstür öffnen wollte, ertönte hinter ihr ein anerkennender Pfiff.

»Oh, là, là, willst du eine Gehaltserhöhung?« Gespielt verärgert drehte Holly sich um und warf Patrick einen vernichtenden Blick zu. »Das sagt Mr. Jogginghose. Du weißt einfach nichts über Mode!«

»Und ich will auch nichts darüber wissen«, feixte er und legte sich theatralisch eine Handfläche auf die Stirn. »Mein schlimmster Albtraum sind Krawatten. Mögen sie niemals um meinen Hals baumeln.« Mit einem übertriebenen Seufzer hob er seine Kaffeetasse an die Lippen und verschwand im Wohnzimmer. Lächelnd wandte Holly sich ab und trat in den Flur. Patrick war einer ihrer Lieblingsmenschen. Herrlich sarkastisch und humorvoll, eben ein echtes Unikat. Genau das Gegenteil von dem, was man sich unter einem Doktoranden in Nanotechnologie vorstellte.

Zehn Minuten später stand Holly vor dem Eingang des grünen Kaffeeladens. »Dann wollen wir mal …« Schweren Herzens schleppte sie sich am Tresen vorbei in den Mitarbeiterbereich. »Morgen«, begrüßte sie emotionslos ihre Chefin.

»Hmm«, murrte Kathrin aus ihrem Büro und hob müde eine Hand zum Gruß. Sie war meistens unter Dauerstress, da nahm Holly diese wenig herzliche Begrüßung nicht persönlich. Ein Scheppern verriet ihr, dass auch Rieke schon vor Ort sein musste.

»Kaffee?«, fragte Holly so laut, dass es ihre Kollegin hören musste und zog zwei Tassen aus dem Schrank.

»Sehr gern!«, trällerte Rieke, die gerade mit einer Kiste voller Becher aus dem Lager kam. Selbst mit ihrem grünen Starbucks Kittel sah sie noch aus wie das deutsche Double von Halle Bailey. Schnaufend stellte sie die Ware unter den Tresen und strich ihre schwarzen Locken aus der Stirn. »Heute bitte, was Süßes!«, sagte sie und schenkte ihr ein müdes Lächeln.

»Kommt sofort.« Mit geübtem Griff bediente Holly die riesige Kaffeemaschine, bis das heiße Wundermittel gegen Müdigkeit sich dampfend in die Tasse ergoss. Wortlos mischte sie einige Zutaten hinzu und streckte Rieke einen Caramel Macchiato entgegen. Lächelnd nippte diese genüsslich daran und schleckte den Schaum von ihren vollen Lippen. »Hmmm, perfekt. Bei dir wie immer?«

»Ja, danke!« Sie tauschten wortlos die Plätze. Vor über einem Jahr hatten sie dieses Ritual eingeführt und waren mehr als glücklich damit. Zwei Leidensgenossinnen mit ihrer Henkersmahlzeit, dachte Holly sarkastisch und ihr Blick wanderte durch den noch leeren Verkaufsraum. Noch zwei Minuten, bis die Ruhe von der ersten Horde griesgrämiger Menschen zerstört wird.

»Einen schönen guten Morgen, Ihre Bestellung bitte.« Der Kunde an der Theke ignorierte ihre freundliche Begrüßung und erwiderte in einem unnötig schroffen Tonfall: »Ich weiß ja nicht, wie sie darauf kommen, dass mein Morgen schön war!« Holly blieb stumm. Sie hatte bereits in der ersten Stunde ein Dutzend Kunden bedient und die Hälfte davon hatte mit voller Kraft an ihrem Geduldsfaden gezogen.

Von Sonderwünschen, schreienden Kleinkindern, bis hin zu dem täglichen »Scherznamen« für die Beschriftung der Becher war alles dabei gewesen. Nun folgte jedoch ihr absoluter Endgegner: der Besserwisser. Alles, was man machte, machte man natürlich falsch. Sein Glas war immer halb leer und daran waren alle anderen schuld. Mental nicht bereit für eine endlose Diskussion, schloss Holly für einen Moment die Augen, atmete tief durch und setzte ein professionelles Lächeln auf. Mit gespieltem Interesse fragte sie: »Oh, das ist natürlich schade. Was hätten Sie denn gern für einen Kaffee?« Du Vollidiot.

Der Kunde lachte. »Also, wenn Sie mich so fragen … gar keinen!«

Angestrengt, nicht vor Wut das Gesicht zu verziehen, fuhr sie fort: »Wie kann ich dann weiterhelfen?«

»Ich will ein Frühstück.«

»Welches genau?«

»Ja, habt ihr kein ganz normales Frühstück?«

Holly ballte ihre Hände zu Fäusten. Schweißtropfen hatten sich auf ihrer Stirn gebildet und ein grauer Schleier des Schmerzes lag über ihren Schläfen. War das eine Migräne?

»Was ist für Sie denn ein normales Frühstück?« Der Kunde verschränkte die Arme vor der Brust.

»Ja, das müssten Sie doch wissen! Bin ich die Bedienung oder was?«

Die Unnötigkeit des Gesprächs löste in Hollys Brust eine warme, wabernde Wolke aus Wut aus. Sie presste die Lippen zusammen und ein dunkles Funkeln trat in ihre karamellfarbenen Augen. Ruckartig zeigte sie auf die Auslage in der Theke. »Hier! Suchen Sie sich was aus oder lesen Sie hinter mir die Tafel!« Oder sind Sie dafür zu dumm?, fügte sie in Gedanken hinzu.

Mit einem Gesichtsausdruck, als wollte er Holly mit seinem Blick skalpieren, trat er an das Glas und tippte mit seinem Zeigefinger dagegen. »Das da!«, murrte er und hinterließ einen Fettfleck über dem belegten Bagel.

»Sonst noch etwas?«

»Ja, Kaffee!«

Mit diesen Worten zerriss Hollys Geduldsfaden und sie blaffte über den Tresen: »Sehe ich so aus, als könnte ich Ihre Gedanken lesen? Wir haben dutzende Sorten in unterschiedlichen Größen. Drücken Sie sich gefälligst präziser aus!« Kaum war der Satz ausgesprochen, verklang die Wut in Hollys Körper und das Gefühl der Reue trat ein. War ich das gerade? Die anwesenden Gäste an den Tischen und hinter dem Mann in der Schlange starrten sie völlig perplex an. Eine Stille des Unbehagens legte sich über den Laden wie ein Nebelschleier. Der Mann vor ihr mit seinem schütteren Haar und den tiefen Augenringen war ebenfalls für einen Moment wie zu Eis erstarrt. Doch einen Wimpernschlag später plusterte er sich mit hochrotem Kopf vor der Theke auf und fuchtelte mit seinen Pranken umher. »So reden Sie nicht mit mir! Wo ist Ihr Vorgesetzter? Ich lasse mich doch nicht beleidigen!«

Durch einen inneren Drang, der nicht zu bremsen war, griff Holly nach einem Becher Iced Coffee, den Rieke bereits abgefüllt hatte, und holte aus. Die hellbraune Flüssigkeit klatschte dem Gast mitten ins Gesicht.

»Sind Sie wahnsinnig?!«, kreischte er und stolperte rückwärts gegen den Kunden hinter ihm.

Angewidert wischte er sich den Milchschaum aus seinem Bart und tastete nach den Servietten auf dem Nachbartisch. Die Gäste, die in Spritzrichtung standen, stoben hektisch auseinander. Wütende Blicke aus jeder Ecke des Raumes lagen auf Holly.

»Also sowas!«, eine Kundin verließ kopfschüttelnd den Laden und zwei weitere folgten ihr. Ein junger Mann mit Anzug fuchtelte mit seiner Krawatte umher und schimpfte: »Ich kann so doch nicht zu meinem Vorstellungsgespräch!« Zwischenzeitlich hatte der unfreundliche Mann vor der Theke seinen Schock überwunden und setzte zum Brüllen an. In einer Lautstärke, die Holly fast das Trommelfell zerriss, verkündete er: »Ich werde Sie verklagen! Sie und diesen Laden! Das ist Körperverletzung! Oder wissen Sie was?! Ich rufe gleich die Polizei!« Zitternd vor Wut zog er aus seiner nassen Hosentasche ein Smartphone und begann zu tippen. Panisch blickte Holly zu Rieke, die stocksteif hinter ihr an der Kaffeemaschine stand. Unverständnis lag in ihren Augen und sie formte stumm ein: »Was war das denn?«

Innerlich völlig leer starrte Holly zurück. Irgendetwas tief in ihr war anders als sonst. Sie fühlte sich wie ferngesteuert und hilflos ihren Emotionen ausgesetzt, sodass jeder ihrer Gedanken unwirklich schien. Ist das real? Der pochende Schmerz in ihrem Hinterkopf war mit der Wucht einer Explosion zurückgekehrt und forderte ihre gesamte Aufmerksamkeit. Sie sah den schimpfenden Mann vor sich, wie durch eine milchige Scheibe. Immer wieder verschwamm der Raum und dunkle Schatten tanzten vor ihren Augen. Seine Worte drangen nur dumpf an ihr Ohr. Ein Stummfilm, der erst stoppte, als Rieke sie an den Schultern packte und herumriss. »Hast du einen Schlaganfall?« Das Gesicht und die dunklen Augen ihrer liebsten Kollegin waren voller Sorge. »Willst du dich hinlegen?«

Holly schüttelte den Kopf. Angestrengt schloss sie die Augen und taumelte rückwärts. Instinktiv griff Rieke nach ihr und stützte sie mit beiden Armen. Doch Hollys Beine gaben trotzdem nach. Rasend schnell breitete sich der Schmerz von ihrem Kopf in ihrem ganzen Körper aus und übertönte alles andere. Sie wollte schreien, doch irgendetwas hielt sie innerlich zurück. Ein unsichtbares Gummiband, das ihre Lippen geschlossen hielt. Was zum Teufel passiert mit mir? Plötzlich gesellte sich zu dem Schlag ihres Herzens ein weiterer Takt. Tick Tack Tick Tack. Das Ticken einer weit entfernten Uhr. Drehe ich jetzt durch? Ein kaltes Lachen verlor sich in ihrer Kehle und eine Stimme, die nicht ihre eigene war, flüsterte durch ihren Mund: »Deine Zeit läuft ab.«

»Bitte was?«, fragte Rieke mit weit aufgerissenen Augen. »Soll das ein Scherz sein? Du machst mir Angst!«

Aber Holly konnte ihr nicht mehr antworten, zu groß war das wellenartige Stechen in ihrem Körper. Ihr Herz raste und ein quälendes Gefühl der Angst schnürte ihre Brust zu. Ich will, dass es aufhört, egal wie! Dunkle Gedanken vernebelten ihren Verstand. Mit verschwommener Sicht tastete sie nach Riekes Kragen und zog sie näher an ihre Lippen. Kurz vor der Ohnmacht stehend, hauchte sie: »Etwas Schlimmes wird passieren!« Danach wurde es dunkel um sie herum. Ganz weit entfernt, in den Untiefen ihres Hinterkopfes, erklang die Uhr erneut: Tick Tack. Tick Tack.

Kathrin

Genervt riss Kathrin den Kopfhörer ihres Headsets herunter und klatschte ihn mit voller Wucht auf den Tisch. Was treiben die da draußen? Mit gespitzten Ohren schob sie ihren Drehstuhl so weit wie möglich von ihrem Arbeitsplatz fort und atmete tief durch. Der Tumult im Verkaufsraum wurde lauter. Kathrin schloss die Augen und schüttelte ihren Kopf, als würde das Problem in ihrem Haar hängen. »Kann man nicht einmal ohne Unterbrechungen arbeiten?« Schnaubend stand sie auf und lauschte mit hochgezogener Augenbraue an ihrer Türe. Sie konnte nicht herausfiltern, um was es ging, nur, dass mehrere Personen lautstark involviert waren. Gequält atmete sie aus. Als Filialleiterin verdiente man eindeutig nicht genug Geld, bei dieser neuen Generation an Arbeitnehmern. Immer war irgendetwas. Vor zwanzig Jahren war sie selbst in ihrem Alter gewesen, aber mit der Arbeitseinstellung: Was der Chef sagt, wird gemacht und nicht: Ich arbeite nur so, wie es meiner inneren Work-Life-Balance passt, also am besten gar nicht. Gedankenverloren legte sie ihre Hand auf den leicht gewölbten Bauch. Man sah es noch nicht, wenn man es nicht wusste, aber bald würde wegen ihrer abenteuerlichen Internetbekanntschaft ein neues Leben entstehen. Mr. Ich-steh'-auf-ältere-Frauen wusste noch nichts von seinem Glück und sie war sich unsicher, ob er mental überhaupt in der Lage war, die Neuigkeiten zu verarbeiten, ohne dabei aus den Latschen zu kippen. Bei dem Gedanken daran musste sie schmunzeln.

»Du machst mir hoffentlich mal weniger Kummer«, sagte sie liebevoll zu ihrem Bauch und richtete sich auf. Wie lange sie es wohl noch verstecken könnte? Irgendwann musste sie zwangsläufig allen Bescheid sagen und sich um eine Nachfolge kümmern, aber das war eine Angelegenheit, um die sich ihr Zukunfts-Ich sorgen sollte. Ein Problem nach dem anderen. Sie öffnete ihre Bürotür und vernahm als erstes Riekes panische Stimme: »Rufen Sie einen Krankenwagen!«

Kathrin stockte mitten in der Bewegung. Für eine Millisekunde brachte sie der Hilferuf aus dem Konzept, doch sie wäre nicht sie selbst, wenn sie nicht bei jeder Situation einen klaren Kopf behalten würde. Routiniert öffnete sie den kleinen weißen Schrank im Mitarbeiterbereich, zog einen Erste-Hilfe-Kasten hervor und ging langen Schrittes in den Verkaufsraum. Der Anblick war erschreckend. Holly lag regungslos hinter dem Tresen, mit geschlossenen Augen und von sich gestreckten Gliedmaßen. Davor kniete Rieke und bemühte sich, die Vitalfunktionen ihrer Kollegin zu kontrollieren.

»Atmet sie?«, fragte Kathrin völlig rational und begab sich auf Augenhöhe mit ihrer Mitarbeiterin. Tränen traten aus Riekes geweiteten Augen, aber sie nickte langsam. »Ees ging alles so schnell!«

»Ist der Krankenwagen unterwegs?«, fragte sie und beugte sich prüfend über Hollys schlaffen Körper. Der Brustkorb hebt und senkt sich. Gut.

»Habt ihr einen Arzt gerufen?«, wiederholte Kathrin die Frage etwas schärfer und legte eine Hand unter den Kopf ihrer Mitarbeiterin. Sanft hob sie ihn an und prüfte, ob beim Aufschlag eine Wunde entstanden war. Keine äußeren Verletzungen. Sehr gut! Wie in ihrem letzten Auffrischungsseminar zog sie die Bewusstlose langsam in eine stabile Seitenlage.

»Ich habe hier kein Netz!«, erklärte ein Gast mittleren Alters mit schütterem Haar und Kaffeeflecken auf dem Hemd.

»Dann gehen Sie vor die Tür!«, blaffte Kathrin ihn an und verdrehte die Augen. Waren manche Menschen wirklich so schwer von Begriff? Der Mann riss die Augen auf, als wäre ihm diese Möglichkeit bislang nicht in den Sinn gekommen und verließ fluchtartig den Laden. Kopfschüttelnd überprüfte sie noch einmal, ob Holly atmete und wandte sich dann an Rieke, die immer noch stocksteif neben ihr kniete.

»Was ist passiert?«

»I-ich weiß es nicht.« Die gesamte Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen. »Sie hatte einen Wutanfall und ist danach umgekippt.«

»Wir müssen sie warm halten, bis die Sanitäter kommen!« Geschickt zog sie die goldene Decke aus dem Erste-Hilfe-Kasten und stopfte sie über und unter Hollys eiskalten Körper. Prüfend tastete sie an ihren Rippen nach der Atmung. Nur langsam hob und senkte sich ihr Brustkorb. Auf. Eins, zwei, drei. Ab. Eins, zwei, …

Danach war er still. Fuck.

»Hol den Defi«, brüllte Kathrin ihre Mitarbeiterin an. Wie vom Blitz getroffen, riss es Rieke aus ihrer Schockstarre. Wackelig stolperte sie durch die Tür in den Mitarbeiterbereich und kam Sekunden später mit dem Gerät zurück.

»Öffnen!«

Rieke kniete sich stumm neben Hollys reglosen Körper. Ihre Lippen bebten. Unter Schluchzen öffnete sie den Deckel des Defibrillators.

»I-ich weiß nicht, wie der funktioniert!« Dicke Tränen rannen über ihre Wangen am Kinn hinab.

»Du musst ihn einschalten.« Gestresst drückte Kathrin selbst auf den Startknopf und riss Hollys Bluse entzwei, um die Pads anzubringen. »Ist jemand hier Arzt?«, brüllte sie durch den Raum, ohne die Gäste dabei anzusehen, und erntete eine bedrückende Stille. Hätte ja sein können. Mit einem letzten prüfenden Blick auf die nicht vorhandene Atmung stützte sie ihre Arme auf Hollys Brust und begann zu drücken. 1,2,3 … Schweiß trat auf ihre Stirn. »Ist der Notruf schon abgesetzt?« 10,11,12 … »Wo ist der Gast, der den Krankenwagen rufen sollte?« Keine Antwort. Verdammter Mist, ist der Kunde wirklich abgehauen? 18,19,20 … »Rieke, ruf du den Notruf an!« Mechanisch nickend, griff ihre sonst so lebensfrohe Mitarbeiterin nach dem Handy und entsperrte mit zitternden Fingern das Display. Ihre Augenbrauen zogen sich sorgenvoll zusammen. »I-ich kann nicht -« Panisch wischte sie mit dem Finger hin und her. »D-da ist eine Fehlermeldung.«

»Was?«, fragte Kathrin völlig irritiert. »Der Notruf geht immer!« 28,29,30! Vorsichtig legte sie Hollys Kopf in den Nacken und drückte ihre Lippen auf ihre. Zweimal beatmen, dreißigmal drücken. 1,2,3 … »Sie da!« Völlig außer Atem rief Kathrin den jungen Mann im Anzug zu sich. »Notruf, jetzt!« Mehr Worte brachte sie im stetigen Takt der Wiederbelebung nicht zustande. Doch auch der eher protzig wirkende Gast sah verwirrt auf sein sündhaft teures iPhone. »Bei mir geht auch nichts. Hier steht -« Er runzelte die Stirn. »Bitte warten, das Portal wird aufgebaut.«

Das kann nur ein Albtraum sein. »Hat denn niemand hier Empfang?!« 14,15,16 … Kathrins Arme brannten und ein Knoten der Hilflosigkeit legte sich auf ihr Herz. Sie darf nicht sterben. 22,23,24 … »Bitte -« Ein Schluchzen kam über ihre rot geschminkten Lippen. »Ruft bitte Hilfe.«

In diesem Moment ertönte ein ohrenbetäubendes Heulen, das die Wände des Ladens zum Vibrieren brachte.

»S-sind das die Sanitäter?«, fragte Rieke mit brüchiger Stimme und starrte Kathrin mit rot unterlaufenen Augen an.

»Das ist ein Katastrophenalarm!«, schrie sie und riss ihre Arme zurück, um sich beide Hände gegen die Ohrmuscheln zu drücken. Ein unerträglicher Schmerz war mit Einsetzen der Sirene durch ihre Gehirnwindungen geschossen. Angestrengt versuchte sie, nicht zu schreien und biss sich krampfhaft auf die Unterlippe. Etwas Anderes, das ihr eine Heidenangst bereitete, hallte durch ihren Kopf – wie ein tödliches Versprechen.

Tick Tack Tick Tack.

10 Minuten zuvor
Kilian

Roland konnte es nicht fassen. Wie hatte er sich nur so täuschen können? Er hätte seine neue Bohrmaschine darauf verwettet, ach was, seine ganze Werkstatt, dass seine Jungs heute Erfolg hatten. Aber nein, nichts als pure Enttäuschung. Der Sicherheitschef des BBK grunzte genervt und starrte auf den kleinen Bildschirm neben seinen Hauptmonitoren. » Jah, wie jeht? Noch drei Minuten, das ist noch machbar!«, feuerte er die kleinen Personen auf dem alten Röhrenbildschirm an, den er vor ein paar Wochen durch den Sicherheitsbereich geschmuggelt hatte. Die rot gekleideten Männer liefen wie wild gewordene Tiere über das grüne Spielfeld, verloren jedoch den Ball nur wenige Meter vor dem Tor. »Selke du Pfeife, watt war dat denn? Dat kann ja meine Oma besser!?« Verzweifelt schlug er die Hände über dem Kopf zusammen. »So wird dat nix, Jungs! .. Legt ma’ ’ne Schippe drauf, hier.« Euphorisch, immer dem Ballwechsel seiner Lieblingsmannschaft folgend, bemerkte er nicht, dass die dicke Stahltür hinter ihm eine Handbreit offen stand und der Geruch von Verwesung hindurch waberte. Auch sah er den Schatten nicht, der sich langsam hinter ihm aufbaute und etwas metallisch Glänzendes in die Höhe hob.

»Tooooor! Tooooor!« Triumphierend sprang Roland aus seinem alten Bürostuhl, riss die Faust in die Luft und drehte sich freudestrahlend zur Seite. Sein Lachen gefror in der Sekunde, als der Abzug gedrückt wurde. Mit einem Ploppen, nicht lauter als das Öffnen einer Weinflasche, schoss eine Kugel aus dem Lauf und bohrte sich direkt in die Stirn des Sicherheitschefs. Wie ein nasser Sack fiel er zu Boden, auf seinen Gesichtszügen die Spuren seines letzten Lächelns.

»Was für ein Schuss!«, brüllte der Kommentator im Fernsehen und Kilian musste ihm zustimmen. Ein glatter Durchschuss. Vorsichtig darauf bedacht, seine Stiefel nicht in das austretende Blut zu setzen, zog er eine MicroSD-Karte aus seinem Ärmel und trat an den Schreibtisch. Wie ausgemacht, platzierte er sie anstelle der eigentlichen Speicherkarte am Hauptrechner und schob das Original ein.

»Gut gemacht. Komm jetzt zurück zur Basis, falls das Zielobjekt nicht wie gewünscht reagiert«, erklang die Stimme seiner Partnerin in seinem Ohr und er nickte. »Zu Befehl.« Leise wie ein Windhauch, bewegte er sich durch den Raum zurück in den Flur des BBK. Man sollte doch meinen, dass ein Hochsicherheitsbereich bessere Schutzvorrichtungen hat. Es war fast zu leicht gewesen, sie alle auszuschalten, um in den Kontrollraum zu gelangen. Doch sein Hochmut verblasste, als ein ohrenbetäubendes Heulen durch die Gänge hallte und das Licht im Gebäude durch den Notstrom ersetzt wurde. »Konntest du nicht warten, bis ich draußen bin?!«, blaffte er die Frau in seinem Kopfhörer an und huschte durch die dicken Stahltüren, in einen weniger geschützten Bereich. Sein Blick fiel auf das halbe Dutzend Wachmänner, das in ihren Blutlachen am Boden lag. »Der Alarm wird die Verstärkung alarmieren«, fluchte er und rannte zu dem Luftschacht, durch den er gekommen war. »Na dann beeil dich!«, sagte die Stimme in seinem rechten Ohr emotionslos, bevor es still wurde. Auf mich allein gestellt, wie immer. Wütend sprang er hoch und klammerte sich an den steilen Wänden des Schachtes fest. Wenn ich diesen Auftrag hinter mir habe, werde ich umschulen. Schornsteinfeger wäre vielleicht etwas, dachte er sarkastisch und erklomm das Rohr in die Freiheit.

Kathrin

Der Katastrophenalarm dröhnte aus allen Lautsprechern der Stadt und das Ticken in ihrem Kopf wurde stetig lauter.

»Hört ihr das auch?«, brüllte sie gegen die Sirenen an und starrte auf Rieke, die völlig passiv da saß und auf Holly blickte.

»Wie kann man das nicht hören?!«, brüllte ein Gast zurück und drückte seine Finger ebenfalls auf die Ohrmuscheln

»Holly?«, piepste Rieke und erinnerte Kathrin daran, dass sie keine Zeit für Kopfschmerzen hatte. Sofort stützte sie sich wieder auf den leblosen Körper. 1,2,3…

»Die Tür ist versperrt!«, rief eine dunkelhaarige Frau in Jeans und Tanktop und rüttelte an dem Knauf. »Was soll das hier?« Panik lag in ihrer Stimme und die anderen Gäste drängten sofort zur Tür. Einige griffen nach dem Knauf und zogen daran.

»Wir sind eingesperrt?!« Der Umgangston wurde schlagartig aggressiv. »Sie öffnen jetzt sofort die Tür!«, brüllte der iPhone-Besitzer über die Theke. »Einer von euch muss doch einen Schlüssel haben, oder?!«

Kathrins Gedanken kreisten. Es war völlig unmöglich, dass sie eingesperrt waren. Der Generalschlüssel lag sicher in ihrem Büro. 18,19,20 …

»Hol. Meine. Tasche«, befahl sie kurzatmig und nickte in Richtung ihres Büros. Rieke sprang sofort auf, stolperte fast über ihre eigenen Beine und eilte dann nach hinten. »Tauschen!«, gab Kathrin eine weitere Anweisung, diesmal an den jungen Mann im Anzug gewandt.

»Ich?« Ungläubigkeit lag in seiner Stimme. »Ich weiß nicht, wie das geht.«

»Ja, Sie. Jetzt!« Kathrins Ton ließ keine Widerrede zu. »Hinknien. Hände zusammen! Wir tauschen nach der Beatmung.« Nach zwei kräftigen Luftstößen rutschte sie zur Seite und der nun nicht mehr so selbstsichere Gast beugte sich mit seinem Oberkörper über Holly.

»Genau so und jetzt drücken!«, erklärte Kathrin mit fester Stimme und korrigierte seine Körperhaltung. »Ich bin Kathrin und wie heißt du?«, fragte sie, um ihm ein wenig Sicherheit zu schenken.

»Noell.«

»Gut, Noell, du schaffst das. Dreißigmal drücken! Ich schau’ nach der Tür.« Auf wackeligen Beinen richtete sie sich auf und nahm der heraneilenden Rieke die Tasche aus der Hand. Wie vermutet, lag der Schlüssel unberührt in dem Seitenfach. »Rieke, du beatmest! Und Finger weg, wenn der Defi ausschlägt!« Hektisch lief sie an ihr und dem Verkaufstresen vorbei zur Glastür. Mit einer unguten Vorahnung steckte sie den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn nach rechts. Es klickte. Jetzt war die Tür offiziell zugesperrt. Sie schluckte schwer und drehte nach links. Das wäre offen. Doch ein beherztes Ziehen machte das Drama komplett: Es gab keinen Weg hinaus. Was zur Hölle geht hier vor sich?

Holly

Hollys Welt war schwarz und undurchdringlich. Eine angenehme Wärme hatte sich wie eine Decke um ihren Geist gelegt, der aus dem Tal der Schmerzen in die Unendlichkeit flog. Fühlt sich so sterben an oder ist das nur ein Traum? Kaum war der Gedanke manifestiert, griff etwas Kaltes nach ihr. Lange Finger gruben sich tief in sie hinein und zogen mit aller Kraft an ihrer Seele. Holly wollte schreien, doch ohne ihren Körper entfuhr ihr kein Laut. Ich bin gefangen. Das weit entfernte Lachen einer Frau ertönte und vertrieb die letzte Wärme aus ihrer Existenz. Das Schwarz um sie herum veränderte sich zu Schattierungen unterschiedlicher Dunkelheiten. Formen wurden sichtbar und eine verschwommene Gestalt erhob sich aus dem Nichts.

»Du wirst mir gute Dienste leisss-ten!« Kalte, weiße Augen öffneten sich nur wenige Zentimeter vor Hollys Wahrnehmung. »Dein Körper isss-t mein!« Ein helles Lachen zerschnitt die Kälte und plötzlich spürte Holly wieder eine Verbindung zu ihren Gliedmaßen. Schmerz durchzuckte ihren Kopf. Nein, nein, nein! Nicht noch einmal!

»Sss-obald eine weitere Sss-eele mit mir den Platz tauscht, werde ich frei sein! Es ist bald sss-oweit, das kann ich spüren. Hörst du das Portal zwischen unseren Welten?«, zischte die formlose Gestalt und wirbelte um Holly herum. »E-sss ist fa-ssst da.« Tick Tack. Tick Tack.

Kathrin

Kathrins Blick wanderte von der verriegelten Tür über die panischen Gäste hin zu Rieke und Noell, die neben Hollys leblosem Körper knieten. Ist das real? Aus einem inneren Drang heraus schlug sie ihre flache Hand mit voller Wucht gegen ihre Wange. Klatsch. Eine kurze Welle des Schmerzes breitete sich auf ihrer Haut aus. Sollte die Filmmethode zum Testen von Albträumen wirken, dann war sie definitiv wach. Zitternd atmete sie tief ein und schloss für einen Moment die Augen, um sich auf das Wichtigste zu konzentrieren. Fast automatisch zuckte ihre Hand zu ihrem Bauch und strich über die winzige Kugel. So viel Stress ist nicht gut für das Baby, übertönte die innere Stimme ihrer Mutter die immer noch dröhnende Sirene. »Okay, okay!«, sagte sie, um sich Gehör zu verschaffen. »Wir müssen jetzt Ruhe bewahren!«

»Ruhe?«, blaffte sie eine ältere Dame mit lila Lidschatten an. »Sie öffnen jetzt diese verdammte Tür, sonst zeige ich Ihnen mal, wie ruhig ich bin!« Wütend schwang sie ihre farblich passende Krokodil-Optik-Handtasche in Kathrins Richtung.

»Ich muss zu meiner Familie!«, brüllte ein Gast mit starkem Akzent und Vollbart über die Köpfe der anderen hinweg. »Meine Frau hat gerade erst entbunden!«

»Sie dürfen uns hier nicht festhalten.« Ein Mädchen mit glattem schwarzem Haar zeigte vorwurfsvoll auf Kathrin. »Das hatten wir im Unterricht! Das ist Freiheitsentzug!«

Beschwichtigend hob Kathrin die Hände. »Ich halte niemanden fest!« Zum Beweis ließ sie den Schlüssel stecken und trat zur Seite. »Probiert es halt selbst. Die Tür ist nicht abgeschlossen!« Prompt griff die Krokodil-Taschen-Lady nach dem Schlüssel, drehte ihn hin und her und rüttelte an der Tür. »Sie klemmt!«

»Dann müssen wir sie eintreten!« Mit ausgestreckten Armen kämpfte sich der Mann mit Bart nach vorn und trat gegen das Glas. Es vibrierte nicht mal.

»Ein Stuhl!«, brüllte er und gestikulierte in der Luft herum.

Ein hagerer Mann mit rotem Haar und Brille schnappte sich einen der runden Tische. »Der hat Eisenbeine. Das ist besser!«

»Geht ihm aus dem Weg!« Kathrin zog die schimpfende Frau zur Seite und auch die anderen Kunden bildeten eine Gasse. Dann passierten mehrere Dinge gleichzeitig: Der hagere junge Mann rannte mit der Tischplatte vor der Brust auf die verschlossene Türe zu, traf das Glas und wurde unerwartet heftig zurückgeworfen. Die Luft im Raum knisterte, die Deckenlampen flimmerten und alle Smartphones begannen denselben Signalton zu spielen. Und hinter dem Tresen ertönte ein überraschter Aufschrei, als der Defibrillator ohne Ankündigung auslöste und 750 Volt durch Riekes Körper schossen.

»NEIN!« Mehr konnte Kathrin nicht rufen, denn ein ohrenbetäubender Knall, wie von einer gezündeten Handgranate, übertönte alles Weitere. Ohne Vorwarnung wurden alle im Raum von einer Druckwelle erfasst und von den Füßen gerissen. Wie eine leblose Puppe flog Kathrin durch die Luft und landete unsanft auf den grauen Bodenfliesen. Der dumpfe Aufschlag ließ sie aufkeuchen. Ihre Beine schmerzten augenblicklich und das Pochen in ihrem Kopf wurde immer stärker. Der Grund für ihren Sturz war ein waberndes Portal, das vor dem Ausgang schwebte. »Das ist unmöglich«, murmelte sie und rappelte sich auf. Adrenalin schoss durch ihre Adern, als sie den Countdown in der Luft schweben sah – 4:49 min. Tick Tack.Tick Tack.

Kathrin rappelte sich auf, hustete und begann leise zu weinen, als sie das Ausmaß der Explosion sah. Der gesamte Raum war völlig zerstört. Glas und Holzsplitter lagen kreuz und quer auf dem Boden verteilt. Trümmerteile von Tischen und Wänden begruben einige Gäste, die sich mühsam zu befreien versuchten. Dicker Staub wirbelte durch den Raum, der jetzt nur noch einem Schlachtfeld glich. Ausgeleuchtet wurde das Grauen durch das türkisfarbene Portal, welches sich vor dem Ausgang aufgebaut hatte. Darüber leuchtete in giftig gelber Farbe der unheilvolle Countdown: 4:13 min.

»Rieke?«, flüsterte Kathrin und schniefte. Mit dem Gefühl einer grauenvollen Vorahnung blickte sie hinter die Überreste der Theke. Zwei Füße lagen unter einem Berg voll Schutt. Kathrins Herz setzte für eine Sekunde aus, dann stürzte sie auf die Unfallstelle zu und begann zu graben. Stein um Stein legte sie den verschütteten Körper frei. »Nein, nein, nein!« Ihre übriggebliebene Selbstbeherrschung zersprang und Panik breitete sich in jeder Zelle ihres Körpers aus. Heiße Tränen liefen ihr Gesicht entlang, als sie das blutverschmierte Gesicht von Rieke freilegte. Ihre Augen waren leicht geöffnet, ihre schwarzen Locken umrahmten das bronzefarbene Gesicht, das völlig ausdruckslos zur Decke starrte. Ein Schrei, der tief in ihrer Kehle gesessen hatte, löste sich und erschütterte die Wände. Schluchzend beugte sie sich über die Leiche ihrer Mitarbeiterin. »Das hast du nicht verdient.« Zitternd strich sie eine Locke aus ihrem noch warmen Gesicht. Eine zweite Welle an Furcht überkam sie bei dem Gedanken, wie viele Leben die Explosion genommen hatte. Suchend blickte Kathrin sich um. Ein wenig abseits, geschützt durch eine Säule, saß Noell mit dem Rücken zur Wand und hielt Holly krampfhaft wie eine Puppe im Arm. Auf allen Vieren kroch Kathrin zu ihnen hinüber. Der junge Mann bebte am ganzen Körper und starrte mit weit aufgerissenen Augen ins Leere. »L-Lass sie los. Du kannst ihr nicht mehr helfen«, flüsterte Kathrin, so sanft sie nur konnte und griff unter Hollys Arme, um sie aus seinem Griff zu ziehen. Doch Noell drückte sie fester an seine Brust, als wäre sie das einzige auf der Welt, das ihn noch hielt. »Ich kann nicht.«

»Lass los«, hauchte Kathrin unter Tränen und legte eine Hand unter Hollys Kopf. Das weiche Haar auf ihrer Haut ließ sie fast den Verstand verlieren. Zwei junge Frauen, zwei Töchter, deren Mütter nun alleine alt werden müssen.