Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Als nach fast 25 Jahren Berufsleben aus Spaß Stress und aus Herausforderung Belastung wird, krempeln Petra und Klaus Vierkotten ihr Leben komplett um. Sie verzichten auf Karriere, Konventionen und Konsum und wagen mit 43 Jahren das große Abenteuer. Der Job wird gekündigt, die Wohnungseinrichtung aufgelöst, das Haus geräumt. Mit einem Allrad-Wohnmobil starten sie zu einer Abenteuertour entlang der Panamericana von Mexiko nach Feuerland, der berühmtesten Fernstraße der Welt. Eine echte, 100.000 Kilometer lange und drei Jahre dauernde Herausforderung für Auto, Material und Insassen, immer auf Tuchfühlung mit dem Leben und Treiben neben den Straßen und Pisten. In Mexiko besuchen sie den ausgelassenen Straßenkarneval und in Guatemala steht plötzlich ein ganzes Dorf in ihrem Auto. In Nicaragua schwitzen sie bei einem Hilfsprojekt in der Gluthitze der Tropen und in Kolumbien treffen sie auf die neugierigsten Menschen. Dann geht es monatelang durch die südamerikanischen Anden über waghalsige und einsame Bergpisten. Am 1000. Reisetag erreichen sie im sturmumheulten Feuerland die südlichste Stadt der Welt, Ushuaia, und schließlich verlockt zum Tourabschluss Rio de Janeiro mit Samba und Copacabana. Die Panamericana ist mehr als nur eine Straßenverbindung zwischen den USA im Norden und Feuerland im Süden ? sie ist eine Traumroute für Fernwehsüchtige. Unterhaltsam verknüpft der Autor die Abenteuer des Reisealltags mit fremden Kulturen und mit der faszinierenden Geografie und bewegten Geschichte Zentral- und Südamerikas. Begleiten Sie Petra und Klaus auf ihrer Reise entlang paradiesisch anmutender Strände, durch hitzeflirrende Wüsten, abgelegene Dörfer und dichte Regenwälder. Lassen Sie sich einfangen von der länderverkettenden Traumstraße der Welt, der Panamericana.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 497
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Klaus Vierkotten
Auf Abenteuertourdurch Lateinamerika
IMPRESSUM
Klaus Vierkotten
PANAMERICANA SÜDWÄRTS
Eine Abenteuertour durch Lateinamerika
erschienen imREISE KNOW-HOW Verlag
eBook ISBN 978-3-89662-621-91. Auflage 2014
Alle Rechte vorbehalten
– Printed in Germany –
© Helmut HermannUntere Mühle, D-71706 Markgrö[email protected] von REISE KNOW-HOW:www.reise-know-how.de
Umschlag- und Inhaltskonzept: Carsten BlindRealisierung: Carsten BlindLektorat: Malena AldereteFotos: Petra Vierkotten, Klaus VierkottenKarten: Helmut HermannDruck u. Bindung: Pustet, Regensburg
Dieses Buch ist außerdem als Printausgabe (ISBN 978-3-89662-523-6) in jeder Buchhandlung in Deutschland, Österreich, Schweiz, Niederlande und Belgien erhältlich. Bitte informieren Sie Ihren Buchhändler über folgende Bezugsadressen:
D:
PROLIT GmbH, Postfach 9, 35461 Fernwaldwww.prolit.de (sowie alle Barsortimente)
CH:
AVA Verlagsauslieferung AG, Postfach 27, 8910 Affoltern
A:
Mohr Morawa Buchvertrieb GmbH, Sulzengasse 2, 1230 Wien
NL, B:
Willems Adventure, www.willemsadventure.nl
Wer im Buchhandel trotzdem kein Glück hat, bekommtunsere Bücher auch über unsere Büchershops im Internet (s.o.)
Für Petra
Someday, many years from now,we’ll look back on this crazy timein our life togetherand wonder how we did it all …and then, those ordinary, everyday momentsthat we often take for grantedwill shimmer like stars as we recount them …I’ll sit close beside you,you’ll take my hand in yours.We’ll look at each other and say:„I’d do it all again …and I wouldn’t change a thing.“
(Hallmark)
Klaus Vierkotten, Jahrgang 1966, arbeitete 23 Jahre für den Bayer-Konzern. Zuletzt leitete er die Kommunikation und Werbung für Bayer Business Services in Pittsburgh/USA.
Petra Vierkotten, Jahrgang 1967, betrieb ein kleines IT-Unternehmen bevor sie 2009 ihren Mann Klaus in die USA begleitete und bei Bayer in der EDV arbeitete.
Seine erste Langzeitreise führte Klaus 1991 in einem alten Fiat-Ducato Campingbus für drei Monate durch Skandinavien. Gemeinsam mit Petra fuhr er 2004 zwei Monate in einem VW-Bus durch Spanien und Portugal, danach sechs Monate durch die USA. 2010 kündigten beide ihre Jobs in den USA und bereisten über drei Jahre die Panamericana.
Vorwort
Reiseroute Mexiko – Belize – Guatemala
1. Kapitel: „Mexiko? Das ist viel zu gefährlich!“
2. Kapitel: In den heißen Grotten von Tolantongo
3. Kapitel: Faultier Sid verbindet die Kulturen
4. Kapitel: Farbenfrohes Land
5. Kapitel: Alle Zeit der Welt
6. Kapitel: Zu Gast bei einer Fischerfamilie
7. Kapitel: Die Hochkultur der Maya
8. Kapitel: Mit allen Sinnen genießen
9. Kapitel: Zur Regenzeit im Regenwald von Chiapas
10. Kapitel: Grenzerfahrungen in Guatemala
11. Kapitel: Wir opfern einem Maya-Gott
12. Kapitel: Abseits der Touristenströme
13. Kapitel: Das spanische Erbe
14. Kapitel: Wintermärchen auf der Baja California
15. Kapitel: Offroad-Paradies und Offroad-Hölle
16. Kapitel: Gerade noch einmal gut gegangen
17. Kapitel: Weihnachten und Neujahr fern der Heimat
18. Kapitel: Belize überrascht uns
19. Kapitel: Keine Emanzipation ohne Waschmaschine
20. Kapitel: Der Selfmademan vom Karibikstrand
21. Kapitel: Entwicklungshilfe in Nicaragua
22. Kapitel: Costa Rica ist einfach nur „Pura Vida“
23. Kapitel: Das Land der Vulkane
24. Kapitel: Auge in Auge mit dem Göttervogel
25. Kapitel: Reiches Panama – armes Panama
26. Kapitel: Willkommen in Kolumbien
27. Kapitel: Nett und neugierig
28. Kapitel: „Sehr schlecht?“ – „Nein, schlimmer!“
29. Kapitel: Der Feuerwehrmann von Villa de Leyva
30. Kapitel: Kaffee – vom Strauch in die Tasse
31. Kapitel: Regenwald statt Erdöl
32. Kapitel: Phänomene am Äquator
33. Kapitel: Die Giganten der Meere
34. Kapitel: Die Straße der Vulkane
35. Kapitel: Vergänglicher Lehm – ewiges Eis
36. Kapitel: Ein bisschen Staatsgast in Lima
37. Kapitel: Der Leuchtende Pfad
38. Kapitel: Unberechenbares Bolivien
39. Kapitel: Die berühmteste Hochlandstraße der Welt
40. Kapitel: Sommerzeit zur Weihnachtszeit
41. Kapitel: Marxisten, Folterknechte und der CIA
42. Kapitel: Kaffee und Kuchen
43. Kapitel: 1000 Tage bis ans Ende der Welt
44. Kapitel: Der Kindergarten der Pinguine
45. Kapitel: Man spricht Deutsch
46. Kapitel: Ein Highlight folgt dem nächsten
47. Kapitel: Einwanderer und Heimkehrer
Anhang Reisetipps zur Panamericana
Müssen wir wirklich arbeiten bis zum Burnout?
Brauchen wir später mal ein großes Haus, damit andere sehen, wie erfolgreich wir sind? Gibt es ein Gesetz, dass wir tatsächlich bis 67 arbeiten müssen?
Jeder hat sein Leben und das, was er damit macht, selbst in der Hand. Irgendwann habe ich für mich entschieden, 86 Jahre alt zu werden. Die ersten 43 Jahre waren dabei die Investition in die zweite Lebenshälfte. In 24 Jahren habe ich mich vom Azubi in die Führungsebene eines großen Konzerns hochgedient. Die letzten Jahre lebten und arbeiteten meine Frau Petra und ich in den USA. Ich genoss die Privilegien eines Managerlebens und war in der ganzen Welt unterwegs.
Doch Petra und ich kommen beide aus einfachen Verhältnissen. Wir hatten nie den Drang, den Konsum unseren finanziellen Möglichkeiten anzupassen. Wir hatten eine wunderschöne Wohnung mit tollen Nachbarn. Wir brauchten keine Rolex am Arm und keine Kleidung von Armani. Doch eines, das hatten wir immer zu wenig: Zeit! Zeit für uns und Zeit für einander!
Warum also nicht die zweiten 43 Jahre unseres Lebens nutzen, um etwas ganz anderes zu machen? Einfach aussteigen aus dem bisherigen Leben und die Welt bereisen.
Es gab genug Stimmen, die gesagt haben: „Das macht man nicht!“ Viele, die gewarnt haben: „Ihr könnt doch nicht einfach eure Sicherheiten aufgeben!“ Etliche, die uns mitteilten: „Ich würde das ja auch gerne machen, kann aber nicht wegen …“
Im Juni 2010 zogen wir von den hundert Quadratmetern Wohnfläche eines Hauses in die neun Quadratmeter unseres Allrad-Wohnmobils. Von Pittsburgh reisten wir sieben Monate durch die USA und durchquerten auf 24.000 Kilometern 24 Bundesstaaten. Danach lockte uns das große Abenteuer Lateinamerika: Ab Januar 2011 ging es mit dem Auto über Mexiko und Zentralamerika bis zum Ende der Panamericana in Feuerland. Nach mehr als drei Jahren, 100.000 Kilometern und siebzehn Ländern endete unsere Reise im August 2013 in Uruguay.
Viel zu spät begreifen viele die versäumten Lebensziele:
Freude, Schönheit der Natur, Gesundheit, Reisen und Kultur,
Darum, Mensch, sei zeitig weise!
Höchste Zeit ist’s! Reise, reise!
(Wilhelm Busch)
Weitere Details zumReiseverlauf, viele Fotos,Karten, Tipps und Infos aufwww.abenteuertour.de
„Warum klappt es denn schon wieder nicht?“, fragt mich Petra entnervt, als ich aus der Werkstatt kommend den Kopf schüttle und mich in den Fahrersitz fallen lasse.
„Frag mich lieber, warum die USA bald ihre Stellung als führende Wirtschaftsmacht verlieren: weil sie keinen Ölwechsel hinbekommen!“
Die Amerikaner haben es in den letzten Jahren meisterlich verstanden, im Wirtschaftsleben kontinuierlich Prozesse zu verbessern und die Effizienz zu steigern. Kein Prozessschritt, der nicht definiert ist. Kein Mitarbeiter, der nicht darauf gedrillt ist, diese Schritte ohne jegliche Abweichung zu befolgen. Prozessorientierung und militärischer Gehorsam bestimmen das Arbeitsleben des Amerikaners.
So war der größte Tabubruch in dem Unternehmen, für das ich in den USA gearbeitet habe, wenn ein Mitarbeiter sich nicht an die Vorgabe seines Managers und die exakt definierten Prozesse gehalten hat. Holte man sich in der Mittagspause einen Coffee-to-go im Café nebenan, dann hatte die Mitarbeiterin ein laminiertes Schaubild vor sich liegen, auf dem mit Bildern beschrieben war, wie in vier Schritten ein Kaffee zubereitet wird.
Und dann gibt es noch so wahnsinnig komplizierte Prozesse, wie der Ölwechsel beim Auto: Ölablassschraube aufdrehen, alten Ölfilter entfernen, warten bis das Öl abgelaufen ist, Ablassschraube wieder schließen, neuen Filter einsetzen, Öl auffüllen – fertig. Sechs Prozessschritte! Eigentlich alles klar, oder? Leider nicht für die Amerikaner.
Wie oft haben wir schon versucht, bei einer großen Supermarktkette einen Ölwechsel machen zu lassen. Erst werden zehn Minuten lang alle persönlichen Daten von mir erfasst: Name, Telefonnummer, Adresse; Kfz-Baujahr, Meilenstand, Fahrzeugnummer – am liebsten noch meinen Geburtstag, sowie Größe und Gewicht. Ja, wollen die mich denn heiraten? Ich brauche doch nur einen Ölwechsel! Doch dann passiert das Unfassbare – die Fahrzeugnummer wird nicht im Computer gefunden und damit auch nicht der passende Ölfilter. Entsetzt weicht der Servicemitarbeiter vor mir zurück. Bin ich vielleicht ein Terrorist?
„Nein, für dieses Auto haben wir leider keinen Ölfilter. Und ohne Ölfilter dürfen wir Ihr Öl nicht wechseln.“
„Kein Problem“, sage ich und ziehe den passenden Ölfilter aus der Tasche.
„Nein, nein – das geht trotzdem nicht. Ihr Auto existiert gar nicht. Wir haben keine Dokumentation. Wir wissen nicht, wie wir das bei Ihrem Auto machen sollen.“
In Gedanken fügt er wohl noch hinzu: Weiche von mir! Lass mich in Ruhe! Ich kann das nicht, ich will das nicht, und wenn du nicht sofort verschwindest, rufe ich Homeland Security, die Border Patrol, die NSA, die Antiterrorabwehr oder gleich den Präsidenten an.
Das ist dann regelmäßig der Moment, in dem wir resigniert aufgeben und im Rückspiegel beobachten, wie sich der Angestellte erleichtert den Schweiß von der Stirn wischt.
Wir fahren um die Ecke zu einer kleinen Werkstatt, in der fünf lachende Mexikaner arbeiten, die irgendwann in die USA eingewandert sind. Sie machen nicht nur ganz locker den Ölwechsel, sondern schmieren nebenbei noch den Wagen ab, putzen die Scheiben, prüfen den Luftdruck und saugen den Innenraum.
Nach über zwei Jahren wird es für uns endlich Zeit, die USA zu verlassen und sich die Welt jenseits der südlichen Landesgrenzen anzuschauen. Anderthalb Jahre haben wir in den Staaten gelebt und gearbeitet, weitere sieben Monate haben wir sie bereist. Und das nicht zum ersten Mal. Bereits 2004 sind wir mit dem VW-Bus ein halbes Jahr durch die USA gefahren, waren begeistert von den Naturhighlights, von den netten Menschen und den perfekten Campingmöglichkeiten.
„Aber nach Mexiko dürft ihr nicht reisen!“
„Warum denn nicht?“
„Ja habt ihr es denn noch nicht gehört? Dort herrscht Krieg! Ein Drogenkrieg, in dem jährlich Tausende Menschen umgebracht werden.“
Je näher wir der mexikanischen Grenze bei Brownsville/Matamoros kommen, desto eindringlicher warnen uns die Amerikaner. Mir ist ganz mulmig im Magen. Vielleicht bin ich ja doch kein Abenteurer? Neue Länder sehen, das ist in Ordnung. Aber sollen wir dafür wirklich unser Leben aufs Spiel setzen?
„Wenn ihr Glück habt, dann werdet ihr nur entführt und gefoltert. Wahrscheinlicher ist aber, dass ihr direkt hinter der Grenze abgeknallt werdet!“
Mein Gott! Was ist denn in Mexiko los? Es fehlt nur noch, dass die Amerikaner, denen wir von unserem Vorhaben erzählen, flehend vor uns auf die Knie fallen und uns anbetteln, es bleiben zu lassen. Fast fesselt man uns mit Handschellen an das nächste Straßenschild. Also eines muss man ihnen lassen. Sie haben vielleicht Probleme mit unserem Ölwechsel, aber um unser Wohlbefinden sind sie tatsächlich in ernster Sorge. Soll unser großes Vorhaben, mit dem eigenen Auto von Nord- nach Südamerika zu reisen, schon an der mexikanischen Grenze scheitern? Ich schlage mir einige schlaflose Nächte um die Ohren und wäge Vorteile und Risiken gegeneinander ab.
„Wir fahren lieber nicht!“, verkünde ich am nächsten Morgen. „Wir können doch durch Europa reisen. Soll auch schön sein.“
„Ja, wenn man alt ist“, entgegnet Petra.
Es sind schließlich Andrea und Gunnar, ein deutsches Paar, das wir in Arizona im Statepark treffen. Sie sprechen so begeistert von ihrem Vorhaben, nach Feuerland zu reisen – und zwar mit einem Opel-Astra und Igluzelt – dass ich mich mitreißen lasse und doch wieder zur ursprünglichen Reiseplanung zurückkehre.
Eine letzte Warnung kommt von Trevor, den wir in einem Trailerpark nahe der mexikanischen Grenze kennenlernen. Seinen Lebensunterhalt verdient er als Kopfgeldjäger. Nachts durchkreuzt er mit seinem ATV, einem geländegängigen Motorrad auf vier Rädern, den schmalen Streifen zwischen den USA und Mexiko. Er jagt illegal über die Grenze kommende Mexikaner und liefert sie für eine Prämie an die amerikanische Grenzpolizei.
Der Grenzübertritt nach Mexiko verläuft dann – ja, wie soll ich sagen: mexikanisch! Der Beamte an der migración ist sehr freundlich und bewilligt uns einen Aufenthalt von 180 Tagen. Danach schickt er uns weiter zum nächsten Fenster, dort müssen die für die Einfuhr des Autos benötigten Unterlagen kopiert werden. Das Fenster ist zu, das Licht aus. Hmm! Wir warten. Eine Minute, zwei Minuten, fünf Minuten. Fenster zu, Licht aus. Der Mann vom banjercito, wo die Einfuhr des Autos bewilligt wird, winkt uns herüber. Er schaut durch unsere Unterlagen und kann mit dem internationalen Fahrzeugschein nichts anfangen. Nein, mit so einem lustigen Heftchen können wir nicht über die Grenze. Die deutsche Zulassungsbescheinigung gefällt ihm schon besser. Sie sieht wesentlich offizieller aus. Verstehen kann er aber nichts. Wo steht das Baujahr? Das Gewicht? Die Fahrzeug-ID? Ah ja – er trägt alles in seinen Computer ein. Na, da hätten wir uns auch fantasievolle Papiere selber basteln können. Es wird viel gelacht – ein zweiter Beamter kommt dazu. Sie begleiten uns zum Auto, finden alles ganz toll. Und schicken uns dann zurück zum Kopierfenster, damit wir von den Papieren Duplikate machen lassen.
Doch: Fenster zu, Licht aus. Wir warten: eine Minute, zwei Minuten, fünf Minuten. Fenster zu, Licht aus. Der Beamte von der Migración schaut zu uns rüber: „Haha, der schläft noch.“ Ja, ja Siesta um halb neun in der Früh. Der Kollege vom Banjercito hat Mitleid, winkt uns zu sich herüber und macht schnell die fünf notwendigen Kopien. Für die nächsten zehn Jahre darf unser Auto in Mexiko bleiben.
Der Kollege am Kopierfenster ist nun auch endlich auf der Arbeit erschienen. Gut so, denn er macht nicht nur Kopien, sondern verkauft auch Autoversicherungen. Drei Monate kosten genauso viel wie zwölf. Na, wir werden sehen, wie lange wir nun wirklich in Mexiko bleiben. Drei Monate sind unsere Planung, aber wenn es mehr werden, ist das auch nicht schlimm.
„Bienvenidos a Mexico – Willkommen in Mexiko“, ruft uns der Soldat noch hinterher, nachdem wir durch die erste Militärkontrolle hinter der Grenze gefahren sind. Gerade noch hat sich ein vermummter Soldat in unserer Kabine auf der Suche nach Waffen und Drogen durch die Schränke getastet. Wir passieren die Grenzregion. Hier soll er toben, der Krieg zwischen den Drogenbaronen und dem Militär. Bereits nach einigen Kilometern kommen uns schwere Militärfahrzeuge entgegen mit Soldaten hinter schussbereiten Maschinengewehren auf dem Dach. Kurze Zeit später durchqueren wir ein Dorf, an dessen Straßenrand wieder Soldaten stehen – in voller Kampfausstattung mit Gewehren im Anschlag. Leichter Nieselregen und sehr diesiges Wetter geben der Kulisse ein bedrohliches Aussehen.
Wir stehen auf unserem ersten Campingplatz in Mexiko. Aus den ursprünglich geplanten zwei Übernachtungen ist eine Woche geworden. Was soll’s – wir haben unendlich Zeit. Es ist der 27. Januar, wir haben 27 Grad, die Sonne scheint, wir stehen in einem schönen, kleinen, tropischen Garten mit Blick auf die Berge.
Wir treffen hier in Ciudad Victoria auf Arthur aus der Schweiz. Eine Woche verbringen wir gemeinsam und lauschen immer wieder voll Begeisterung Arthurs Geschichten: über die grüne Grenze von Peru nach Bolivien, Raubüberfall in Venezuela, mit einem Schmuggler über unpassierbare Dschungelpfade von Venezuela nach Brasilien, mit der streng riechenden Bäuerin auf Überlandfahrt zum Markt. Und das alles so lebhaft erzählt, dass ich denke, ich bin dabei: zerberstende Blattfedern, platte Reifen, kippende Autos.
Es sind Begegnungen wie diese, die ein ums andere Mal Abwechslung in unsere Zweisamkeit bringen. Immer wieder treffen wir auf Leute, mit denen wir uns austauschen und unsere Geschichten und Erfahrungen teilen können: Richard und Maureen kommen aus Kanada und sind auf dem Weg nach Guatemala. Sie fahren und leben für ein halbes Jahr in einem 22 Jahre alten Schulbus. Tanja und Marc sind aus Wisconsin und kehren nach zwei Monaten heim von einem Trip aus Guatemala. Dort haben sie ihre Mutter besucht, die Missionsarbeit für die Zeugen Jehovas leistet. Und dann ist da noch Rosa, die fast 80-jährige Eigentümerin des Campingplatzes. Sie ist schon durch die ganze Welt gereist, wurde Lehrerin, weil ihre Eltern ihr nicht erlaubten, Ärztin zu werden und freut sich, bei uns im Schatten zu sitzen und aus ihrem langen Leben zu plaudern.
Wir haben die erste Woche in Mexiko überlebt. Wir wurden weder entführt noch gefoltert. Niemand hat uns beraubt und trotz genauer Kontrolle entdecke ich keine Einschusslöcher an unserem Wagen. Ist Mexiko vielleicht doch nicht so gefährlich?
„Kannst du eigentlich noch irgend etwas sehen?“ „Nein.“
So einen Nebel habe ich noch nie erlebt. Alles, was zehn Meter vor mir ist, kann ich nicht mehr erkennen. Ich orientiere mich nur noch am gelben Mittelstreifen und den schemenhaften Rücklichtern meines Vordermanns. Scheinwerfer, Nebelschlussleuchte und auch die Warnblinker habe ich eingeschaltet. Wir schrauben uns immer höher die Berge hinauf.
„Sollen wir nicht irgendwo rechts ran fahren? Lass uns warten, bis der Nebel vorüberzieht.“
„Das würde ich ja gerne“, antworte ich. „Aber ich kann noch nicht einmal erahnen, wo es eine Möglichkeit dafür gibt. Das Einzige, was ich erkenne, sind die Schlussleuchten meines Vordermannes und im Rückspiegel die Scheinwerfer des Autos hinter mir.“
Häuser und kleine Dörfer gleiten wie Geistererscheinungen an uns vorbei. Ich bin dicht in unsere kleine Autokarawane eingeschlossen. Jeder Fahrer versucht, den Abstand so gering wie möglich zu halten, damit man sich nur ja nicht aus den Augen verliert. Es ist unglaublich! Endlich überqueren wir nach 53 Kilometern den Bergkamm. Auf einen Schlag umfangen uns strahlend blauer Himmel und Sonnenschein. Wie ein Wasserfall fließt der Nebel hinter uns ins Tal.
Wir verbringen die Nacht ganz einsam an einem kleinen Thermalbad direkt neben Bananenstauden. Statt der Dusche ist ein Bad im schwefligen Dschungelbecken angesagt.
An einem bunten Wochenmarkt machen wir Rast. Auch hier gibt es wieder ganz neue Eindrücke. Wie sehr sich doch der Markt von dem unterscheidet, was wir von zu Hause kennen. In der carnicería, der Metzgerei, wird das frische Fleisch direkt neben den vorbeilaufenden Kunden zertrennt. Wir versuchen, den blutigen Rinderstücken auszuweichen, die an Haken von der Decke hängen. Daneben liegen acht gerupfte Hühner – noch mit Kopf und Krallen. Staunend schauen wir auf bunte Berge mit getrockneten tiefroten und frischen grünen Chilischoten. Rechts davon liegen auf einer am Boden ausgebreiteten bunten Decke duftende Kräuter, Tomaten und Zwiebeln. Einen Stand weiter gibt es gebrauchte und neue Elektroartikel genauso wie neue und getragene Schuhe.
Und dazwischen immer wieder kleine Garküchen. Wir kaufen uns eine Tüte Churros frisch aus dem siedenden Fett, die in einer Zimt-Zucker-Mischung gewälzt werden. Den Preis verstehen wir nicht. Ich halte der alten Frau eine Hand voll Kleingeld hin und sie pickt sich die passenden Stücke heraus. Sie lacht und lässt die metallene Einfassung ihrer falschen Zähne aufblitzen. Am nächsten Stand kaufen wir zwei Tortillas: Erst wird der Teig geknetet, mit einer Form geplättet und dann auf heißen Stahlplatten gebacken. Die Füllung besteht aus Rindfleisch, Zwiebeln und einer scharfen Soße. Lecker!
„Macht zehn Peso“, so die Verkäuferin. Das sind gerade einmal 0,60 Euro.
Autofahren in Mexiko unterscheidet sich vom Fahren in Deutschland. Nicht etwa wegen ungewohnter Verkehrsregeln, sondern wegen der topes. Da wird Autofahren schnell zu einer Sommeralternative des Skispringen. Topes sind rund zwanzig Zentimeter hohe Bodenschwellen, die sehr effektiv für Geschwindigkeitsbegrenzung sorgen. Meist werden sie durch Schilder angekündigt. Jedoch häufig nur die erste und nicht die kurz darauf folgende Schwelle. Einige sind farbig markiert, andere verschwimmen mit dem Grau des Asphalts. Doch die schlimmsten sind die, die im langen Schatten eines Baumes verschwinden. Topes sollten auf keinen Fall übersehen werden, ansonsten lernt man seine Lektion sehr schnell.
„Oh, schau doch mal, das bunte Haus mit dem Schwein im Vorgarten.“
Ich bin kurz abgelenkt, es gibt zu viel Interessantes neben der Straße.
„Vorsicht, Topes!“, schallt es zeitgleich vom Beifahrersitz.
Zu spät! Mit rund fünfzig Stundenkilometern schlägt unser 3,5 Tonnen schwerer Wagen gegen das tückische Hindernis, hebt kurz mit der Vorderachse ab und fällt krachend in die Federn. Den Bruchteil einer Sekunde später passiert das gleiche mit den Hinterreifen und drückt den Wagen tief in jede einzelne unserer elf Blattfedern.
„Ist unsere Achse gebrochen?“
Ich fahre rechts ran, springe aus dem Auto und erwarte schon, dass unser Wagen wegen gebrochener Federn und Achsen schräg zur Seite hängt. Doch es ist noch einmal gut gegangen. Aber der Schrecken sitzt in den Gliedern.
„Was hältst du davon, wenn wir uns in Mexiko so aufteilen, dass der Fahrer sich auf die Straße konzentriert und der Beifahrer sich die Gegend anschaut?“
Wir entdecken ein kleines Naturwunder. Über eine enge, staubige Schotterstraße tasten wir uns etliche hundert Höhenmeter hinab in den Barranco de Tolantongo. Links und rechts der Piste ragen die Kakteen steil wie Orgelpfeifen in den Himmel. Als Lohn erwartet uns im Tal ein türkisfarbener Fluss, der sich über Jahrmillionen eine tiefe Schlucht in den Felsen gegraben hat.
Doch das ist nicht das Einzige, was uns erwartet. Hunderte von Zelten reihen sich aneinander, lateinamerikanische Rhythmen liegen in der Luft. Auf vielen kleinen Holzfeuern werden Tortillas gebacken. Ganze Familien und große Gruppen sitzen beieinander und feiern gemeinsam ein verlängertes Wochenende. Wir sind die einzigen Ausländer.
Bei einer Wanderung zum Ende des Tals schauen wir auf viele kleine Wasserfälle, die sich von weit oben ihren Weg ins Flussbett suchen. Dies alleine ist schon ein imposanter Anblick. Das eigentliche Geheimnis versteckt sich jedoch hinter einem Wasserfall, im Inneren des Berges: die Grutas Tolantongo. Heißes Wasser stürzt über versteckte Höhlen hinunter in eine riesige Grotte. Im Laufe der Zeit haben sich große Säulen aus Kalk gebildet – feingeschmirgelt von den Wassermassen, die seit Tausenden Jahren von der Decke fallen. Wir liegen im warmen Wasser, schauen aus dem Dunkel der Höhle hinaus in den sonnendurchfluteten Canyon.
In der folgenden Woche bleibt dies nicht unsere einzige Freizeitbeschäftigung. Wir spazieren vorbei an meterhohen, rot blühenden Christsternen sowie Früchte tragenden Bananenstauden. Überqueren kleine, warme Flüsse und gelangen nach einigen Kilometern bergauf zu den pozas. Das sind rund vierzig kleine Becken, die aus einer sprudelnden Thermalquelle kontinuierlich mit warmem Wasser befüllt werden. Wie kleine Whirlpools liegen sie neben- und untereinander am Berghang, werden von allen Seiten von kleinen Wasserfällen und Bächen umspült und bieten einen atemberaubenden Blick in den Canyon.
Verteilt auf dem riesigen Gelände finden wir cocinas económicas. Preiswerte Garküchen, die aus nicht mehr als einem kleinen Bretterverschlag, einer mit Holz befeuerten Kochstelle und einigen Tischen und Bänken bestehen. Hier kann carne asada, hauchdünne gegrillte Scheiben vom Rind, oder mole de olla, kräftig sämige Soßen mit Gemüse und Fleischstückchen, bestellt werden. Dazu gibt es bergeweise frisch zubereitete Tortillas.
Wir lieben es, auf den wackligen Bänken zu sitzen, unbekannte Speisen auszuprobieren und dem Treiben auf dem Platz zuzuschauen. Jetzt noch ein schönes kaltes Bier.
„Bier oder michelada?“, fragt mich die Frau hinter dem Verkaufstresen.
„Michaela? Wer ist das denn?“
„Miche-la-da. Etwas typisch Mexikanisches.“
„Klar. Das probieren wir!“
Sie greift nach einem riesigen Pappbecher, bestreicht den Rand mit einer Limette und taucht ihn in Chilipulver. Dann nimmt sie eine Literflasche Bier aus dem Kühlschrank.
„Ich glaube, das gefällt mir“, flüstere ich Petra zu, als ich beobachte, wie sie die ganze Flasche in den Becher entleert.
Doch erst jetzt kommt das typisch Mexikanische: Einige Limetten werden ins Bier gepresst und reichlich Maggi und scharfe rote Salsa hinzugefügt.
Mit einem „Salud“ reicht mir die Verkäuferin den Becher, in dem nun eine bräunliche Flüssigkeit schwappt. Ich bin erstaunt. Der mexikanische Energydrink schmeckt viel besser, als er aussieht.
Freiluft-Cocinas económicas: Einfach, aber lecker
Schon mehrfach haben wir während unserer Tour die Erfahrung gemacht, dass sich die Temperaturen nicht an den Jahreszeiten, sondern vor allem an der Höhenlage orientieren.
Das Thermometer steht um sieben Uhr in der Früh bei minus fünf Grad, obwohl bereits die Sonne aufgegangen ist.
Steile Straßen und enge Serpentinen führten uns am gestrigen Abend von rund 1200 Höhenmetern in den dreitausend Meter hoch gelegenen Nationalpark El Chico.
„Vorsicht!“, ruft Petra noch.
Doch leider zu spät. Dichter Nebel erschwert schon wieder die Orientierung und bei dem Versuch, ein Straßenschild zu erkennen, übersehe ich den Topes und bringe unser Auto zum zweiten Mal in dieser Woche kurzfristig zum Abheben. Eine kleine Unachtsamkeiten, die in unseren Stauräumen für erneutes Chaos sorgt.
Bei dem Nebel sind wir froh, irgendwo einen Übernachtungsplatz zu finden. Wir fahren eine Schotterstraße mit tiefen Schlaglöchern entlang, die mit groben Felssteinen gepflastert zu sein scheint.
„Ob wir uns da vorne hinstellen können?“
„Nein, das sieht eher wie ein Fußballplatz aus.“
„Vielleicht da?“
„Ich weiß nicht, das scheint mir kein Stellplatz zu sein.“
Dann schimmern rechts neben dem Auto eine kleine Bank und eine Feuerstelle durch den Nebel.
„Na, das wäre doch was.“
Wir manövrieren unseren Wagen die Böschung hinauf und parken. Wir hoffen, dass wir nicht direkt neben dem Zelt eines anderen Campers stehen.
Erst am nächsten Morgen erkennen wir beim Blick aus dem Fenster die Schönheit unseres Stellplatzes. Die frostigen Temperaturen der Nacht haben den Nebel in viele kleine Eiskristalle verwandelt, die sich auf Grashalme, Bäume und die Fensterscheiben unseres Autos gelegt haben und das Licht der aufgehenden Sonne millionenfach spiegeln.
Doch etwas stört die Romantik. Die morgendlichen Sonnenstrahlen und die steigenden Temperaturen tauen das Kondenswasser auf, welches im Laufe der Nacht zu kleinen Eiszapfen an der Dachluke gefroren ist. Nun tropft es in unsere Gesichter. Es ist nicht gerade die angenehmste Art, aus seinem kuscheligen Bett gejagt zu werden.
Es ist unglaublich, wie sich dreitausend Höhenmeter auf unsere Kondition auswirken. Spätestens, als wir zu einer kleinen Wanderung im Nationalpark aufbrechen, bekommen unsere roten Blutkörperchen die dünne Luft und den fehlenden Sauerstoff deutlich zu spüren. Schon die kleinste Steigung, und von denen gibt es auf der Wanderung viele, wird mit Atemnot bestraft. Dabei ist der Gegend die Höhe überhaupt nicht anzusehen. Wir haben der Eindruck, im Voralpenland zu wandern. Hohe Tannen, dunkler, fruchtbarer Waldboden, leuchtend blühende Bodendecker wachsen hier.
Wenn einem die Bedienung im Restaurant den Karton zum Sammeln des Leerguts neben den Stuhl stellt, ist das ein Zeichen, etwas langsamer zu trinken. Doch das Pärchen an unserem Tisch ordert schon wieder vier neue Bier und nun wird auch noch die Musikbox nach Tanzmusik durchsucht. Das wird ja immer doller!
Heute morgen, als wir uns durch die engen, stickigen Innenstadtgassen von Pachuca quälten, hätte ich mir diesen Tagesabschluss noch nicht träumen lassen. Auf der Karte hatten wir eine entspannte Umgehungsstraße herausgesucht, finden diese aber mal wieder nicht. Ergänzend ist die Beschilderung in der Stadt eine Katastrophe. Gerade noch ist unser Ziel ausgeschildert, zwei Kreuzungen weiter fehlen die Wegweiser. Links oder rechts wird zum Glücksspiel. Nur eins ist wohl auch diesmal sicher: Wir landen wieder einmal mitten im Zentrum! Die Häuser rücken immer näher zusammen, wir werden links von Taxen, rechts von colectivos – kleinen Sammelbussen – überholt, verlieren irgendwann den Überblick, ob es sich um eine Einbahnstraße oder eine mit Gegenverkehr handelt. Gleichzeitig müssen wir auf überhängende Häuserdächer oder Stromleitungen aufpassen, streunenden Hunden, Fußgängern oder Schlaglöchern ausweichen.
Um wie viel entspannter sind da doch Überlandfahrten. Immer wieder geben sie uns einen interessanten Einblick in die Arbeitswelt der mexikanischen Landbevölkerung. Wir zählen, wie viele Reifenreparatur- und Autowerkstätten wir sehen und wie viele Garküchen. Jeder männliche Mexikaner scheint eine Autowerkstatt zu betreiben, jede Mexikanerin eine kleine Küche. Und so reihen sich in den Dörfern Autowerkstatt an Autowerkstatt und Küche an Küche. Und wenn die Kinder groß sind, dann betreiben sie wahrscheinlich entweder eine Autowerkstatt oder eine Küche. Bis dahin verkaufen sie nach der Schule Süßigkeiten an die vorbeifahrenden Autofahrer, putzen an den Ampeln die Scheiben oder verkaufen an kleinen Ständen frisch gepressten Orangensaft. Ein halber Liter für nur acht Peso, fünfzig Eurocent.
Preiswert soll auch das heutige Abendessen sein. Wir kampieren auf dem Parkplatz des edelsten Hotels in Poza Rica, lümmeln uns auf den Liegen am Pool, genießen den Blick auf die Palmen und erfreuen uns nach zwei Wochen endlich mal wieder an einer heißen Dusche.
Schon der Blick ins Restaurant macht klar, hier gehen wir nicht essen. Alles sieht edel und sehr teuer aus. Dafür gibt es doch in Mexiko an jeder Ecke die Cocinas Económicas, in denen lecker landestypische Spezialitäten wie Tortillas, Enchiladas oder Tamales angeboten werden und für zwei Personen inklusive der Getränke selten mehr als zehn Euro auszugeben sind.
So begeben wir uns in den Straßen neben unserem Hotel auf die Suche. Der Blick hinter ein halb geöffnetes Gartentor offenbart einige Plastikstühle und Tische.
„Lass es uns da versuchen.“
„Hallo, wie geht’s Euch?“, werden wir direkt freundlich von Carmen und Estéban am Nachbartisch begrüßt.
Zu diesem Zeitpunkt haben wir uns zwar noch nicht bekannt gemacht, aber das wird sich in Kürze ändern. Schnell stehen zwei Corona auf dem Tisch.
„Nein, hier gibt es nichts zu essen, nur Getränke. Aber ich kann Ihnen eine Kleinigkeit zusammenstellen.“
Gesagt, getan. Die Bedienung verschwindet und kommt ein paar Minuten später mit einem Kinderteller zurück. Hier wörtlich zu verstehen als ein dreigeteilter Plastikteller mit Aufdruck von Bugs Bunny und Daffy Duck. Er ist gefüllt mit Mozzarellawürfeln, klein geschnittenen, kalten Brühwürstchen aus der Dose und scharfen, in Chili eingelegten Möhrenscheiben. Während wir mit halbherzigem Appetit zugreifen, wird vom Nachbartisch kommentiert.
„Die sind hier wirklich immer flexibel, Carmen, oder?“
„Und es sieht auch recht lecker aus“, antwortet seine Frau.
Sie prosten uns zu und schieben ihre Stühle vom Nachbartisch in unsere Richtung. Höllisch schnell und natürlich auf Spanisch beginnen sie eine begeisterte Unterhaltung. Ich verstehe zwar kein Wort, beteilige mich aber mit Feuereifer an der Diskussion. Ein Bier folgt auf das nächste. Um den Überblick zu behalten, sammelt die Bedienung unsere leeren Flaschen im Karton direkt neben dem Tisch.
Gemeinsamer Alkoholkonsum verbindet. Ich erfahre, dass Estéban 61 Jahre alt ist und bei der staatlich mexikanischen Mineralölgesellschaft Pemex arbeitet. Diese hat in Mexiko das Monopol, andere Tankstellenbetreiber gibt es nicht und damit auch keinen Wettbewerb. Doch bei einem Dieselpreis, der um mehr als die Hälfte günstiger ist als in Deutschland, vermissen wir den Wettbewerb nicht.
Carmen steckt schon nach kurzer Zeit Petra ihre Telefonnummer zu und lädt uns für den nächsten Tag zum Tortillaessen ein. Nach weiteren vier Bier zeigt mir Estéban, wo die Toiletten sind. Es ist ein kleines Räumchen, nur durch einen bunt gemusterten Duschvorhang vom Gästebereich abgetrennt. Hier können zwei Männer nebeneinander stehen und sich in die gekachelte Rinne erleichtern. Das Waschbecken befindet sich im Gastraum vor dem Vorhang. Der Hahn funktioniert nicht.
„Gibt es hier kein Wasser?“, wende ich mich hilfesuchend an Estéban.
Der lacht nur und weißt auf ein großes, rotes Fass neben dem Waschbecken. Nein, Wasser schöpft man mit einer kleinen Plastikschüssel aus dem Fass, wäscht sich die Finger und entsorgt dann das gebrauchte Wasser über den Abfluss des Beckens.
Unterdessen wurde schon wieder neues Bier gebracht.
„Lass uns jetzt tanzen“, meint Carmen.
Die Bedienung bekommt zehn Peso und sucht drei Lieder aus der Musikbox. Tja, was soll ich sagen, da sehen die Mexikaner aber arm neben uns Hüfte schwingenden Deutschen aus. Vielleicht ist diese unnachahmlich Grazie aber auch eine Konsequenz des hohen Alkoholkonsums. In den Karton neben unserem Tisch passt auf jeden Fall keine leere Flasche mehr!
Liegt es am Restalkohol? Ich komme mir gerade vor wie in einem Videospiel. Eins von diesen Autorennspielen. Nur dass in diesem Fall der Monitor unsere Windschutzscheibe ist und ich statt eines Joysticks mein Lenkrad umklammere. Eigentlich war die Idee ganz einfach. Am nächsten Topes, wenn der Lkw abbremst, nutze ich die Gelegenheit, um mich links neben ihn zu setzen und mit Tempo zu überholen. Mittlerweile hatte ich genug davon, hinter dem quälend langsamen, schwarz qualmenden und hoch mit Apfelsinen beladenen Laster zu kriechen.
Doch in dem Moment, in dem ich meinen Entschluss in die Tat umsetze und in der Pole Position links neben dem Lkw am Topes stehe, tut sich vor mir eine Kraterlandschaft in der sowieso schon nicht guten Straße auf. Riesige Schlaglöcher verteilen sich über die nächsten hundert Meter auf der Straße. Jedes einzelne davon so groß und tief, dass man locker mit Kürbissen Murmeln spielen könnte. Der Lkw gibt Gas, ich ebenfalls. Wir liegen gleichauf. Leider habe ich das Problem, auf der Seite des Gegenverkehrs zu sein, muss also zwangsläufig erheblich mehr Gas geben und gleichzeitig versuchen, den Schlaglöchern auszuweichen.
Ich reiße das Lenkrad noch weiter nach links, drücke aufs Gas, abruptes Abbremsen und leichtes Ausweichen nach rechts. Aber Vorsicht, der Laster fährt direkt neben mir. Erneutes Gas geben, am ersten Schlagloch rechts vorbei, das nächste zwischen die Reifen nehmen, bevor ich mich mit einem abrupten Rumreißen des Lenkrades vor den Lkw setze. Gerade noch rechtzeitig! Schon passiert mich der Gegenverkehr. Die Straßenverhältnisse unterscheiden sich stark von dem, was wir aus Europa gewohnt sind. Insbesondere der plötzliche Wechsel zwischen perfektem Asphalt und einer wie Schweizer Käse durchlöcherten Straße ist für uns noch gewöhnungsbedürftig.
Die Nischenpyramide von El Tajín
Unser heutiges Ziel heißt El Tajín, eine von vielen Ruinenstätten, die wir uns in den nächsten Monaten anschauen werden.
„El Tajín ist ein präkolumbisches Zeremonial- und Handelszentrum der Totonaken, das von 200 vor Christus bis 1200 nach Christus besiedelt war“, lese ich aus unserem Reiseführer vor.
„So alt sieht es noch gar nicht aus. Nach einer so langen Zeit sollte man doch meinen, dass alles verfallen ist.“
„Das ist richtig. El Tajín geriet für achthundert Jahre völlig in Vergessenheit und wurde vollkommen vom Dschungel überwuchert. 1785 wurde es erst wiederentdeckt und seit 1934 ausgegraben und restauriert. Was wir hier sehen, sind also Rekonstruktionen der ehemaligen Gebäude.“
„Und was macht es so besonders?“
„Das architektonische Highlight ist die sogenannte Nischenpyramide: 364 fensterähnliche Nischen, die sich über eine sechsstufige, 25 Meter hohe Pyramide verteilen und zusammen mit dem Tempel auf der Spitze die 365 Tage des Jahres symbolisieren.“
Diese interessante Verbindung zwischen Architektur und Astronomie werden wir in der nächsten Zeit noch häufig erleben. Besonders die Maya, auf deren Spuren wir in Yucatán wandeln, haben es meisterlich verstanden, ihre Gebäude nach astronomischen Erkenntnissen auszurichten.
Ausgiebig nutzen wir die prädestinierte Situation, kein zeitliches Limit für unsere Reise zu haben. Wir schauen uns viele Gegenden vom Auto aus an, nehmen uns aber auch immer wieder die Zeit, das Land zu Fuß zu erkunden und seine Bewohner besser kennenzulernen. Erneut haben wir uns für eine Woche auf einem Campingplatz an der Costa Esmeralda – der Smaragdküste – eingenistet.
Pausenlos rollen die schäumenden Wellen an die Küste, die ihren Namen dem türkisfarbenen Wasser verdankt. Hunderte Krebse flitzen vor unseren Füßen über den Strand. Fingernagelgroße, bunte Muscheln buddeln sich blitzschnell in den Sand, als würden sie sich vor dem Wasser verstecken. Entlang der ganzen Küste wiegen sich die Kokospalmen im Wind. Unser Stellplatz liegt traumhaft! Nur fünf Meter trennen uns vom Strand, ein großer Swimmingpool lädt direkt neben unserem Auto zum Baden ein. Haben wir Hunger, dann müssen wir uns nur nach einer der vielen Kokosnüsse bücken. Bei solch paradiesischen Zuständen ist es schon fast traurig, dass wir schon wieder die einzigen Gäste auf dem Platz sind.
An dieser wunderschönen Küste liegt ein Campingplatz neben dem anderen und überall bietet sich das gleiche Bild: gähnende Leere.
„Früher waren diese Plätze von den amerikanischen Snowbirds, den überwinternden Rentnern, bevölkert“, erklärt uns die Frau des Verwalters, „aber seitdem die Medien in den USA kontinuierlich vor Reisen nach Mexiko warnen, ist der Reisestrom abrupt versiegt.“
Mit katastrophalen Folgen für die Tourismusindustrie Mexikos, vor allen Dingen für die betroffenen Menschen.
Eine Woche lang leben wir Tür an Tür mit der Verwalterfamilie: Vater, Mutter, zwei Söhne von zehn und fünfzehn Jahren sowie eine zwölfjährige Tochter. Liebenswerte Menschen, die einmal am Tag für einen kurzen Plausch bei uns vorbeischauen. Sie wohnen im Rezeptionsgebäude des Platzes. Zwei winzige Zimmer mit grau verputzten Wänden, keines größer als acht Quadratmeter. Die Matratzen liegen nebeneinander auf dem blanken Betonboden. Es gibt keinen Schrank für die Kleidung, keine Bücher, kein Radio. Nur ein kleiner Schwarzweiß-Fernseher bringt eine mexikanische Seifenoper. Der Herd steht im Nebenraum mit einem Boden aus gestampfter Erde. Die Kleidung ist ärmlich, das Spielzeug lässt sich in einem Schuhkarton sammeln und beim Essen wird auf das zurückgegriffen, was das Meer zur Verfügung stellt.
Diese Form der Armut, oder besser gesagt, das Fehlen materiellen Komforts, haben wir in den letzten Wochen häufig erlebt. Was auf uns bedrückend wirkt, weil wir aus Deutschland andere soziale Verhältnisse kennen, ist für viele Alltag. Und wir nehmen uns die Situation der Menschen vielleicht mehr zu Herzen als diese selber. Können wir etwas daran ändern? An der Gesamtsituation sicher nichts, aber vielleicht im Kleinen. So überlegen wir uns, wie wir der Familie auf dem Campingplatz eine Freude bereiten können, ohne den Anschein zu erwecken, den Wohltäter zu spielen. Und dann kommt Petra das lispelnde, tollpatschige, doch großherzige Faultier Sid in den Sinn!
Wir besitzen einen kleinen DVD-Player mit eingebautem Bildschirm. Dieser hat eine Bildschirmdiagonale von 22 Zentimeter, also kleiner als ein DIN-A4-Blatt. Wir beschließen, die beiden Jüngsten der Familie zu „Ice Age“ einzuladen – den Erlebnissen von Mammut Manni, Säbelzahntiger Diego und Faultier Sid in der Eiszeit – einem Zeichentrickfilm auf Spanisch. Dazu besorgen wir ein paar Tüten Chips und Getränke, alles für einen gemütlichen Kinoabend.
Doch statt den beiden Kleinen, steht um 18 Uhr die ganze Familien vor unserer Tür: Vater, Mutter, Söhne und Tochter. Alle begrüßen uns höflich mit Handschlag. Eilig suchen wir Stühle und Höckerchen zusammen. Sieben Personen sitzen neben- und hintereinander, schauen auf den winzigen Bildschirm, knabbern Chips, unterhalten sich, lachen gemeinsam und haben für zwei Stunden Spaß zusammen. Als der Film vorbei, die Sonne untergegangen und es schon längst dunkel ist, zeigen wir Fotos aus Deutschland: unsere Familie, unsere Wohnung, Schloss Neuschwanstein, wir verkleidet im Karneval. Nicht besser als in Mexiko, sondern einfach nur anders.
Am Morgen werden wir unter Tränen verabschiedet.
„Kommen Sie doch wieder vorbei, wenn Sie in der Nähe sind“.
Sie sitzen überall: zu Hunderten, zu Tausenden. Die ganze Decke und auch die Wände in unserer Kabine sind bedeckt mit kleinen schwarzen und noch viel kleineren, fast durchsichtigen Fliegen. So winzig, dass sie kein Problem haben, durch die feinen Moskitonetze vor unseren Fenstern zu krabbeln. Um zu vermeiden, dass sie nachts das Bett mit uns teilen und in Nasen- und Ohrlöchern herumschwirren, jagen wir abends mit der Fliegenklatsche durchs Auto und wischen alle Wände feucht ab.
Dabei sind das noch die harmlosen Vertreter ihrer Gattung. In Tolantongo sind wir morgens aufgewacht und fanden unsere Beine mit blutigen Einstichen bedeckt. Was am ersten Tag vielleicht nur unschön aussah, entpuppte sich an den Folgetagen als eine juckende Folter, unter der wir uns die Beine blutig kratzten. Nie konnten wir irgendwelche Insekten sehen, die uns diese Stiche zugefügt haben. Entweder waren sie ganz dicht am Boden, denn wir wurden nur unterhalb der Knie zerstochen, oder im Sand des Flusses, in dem wir täglich gebadet haben.
Leider bleiben wir auf unserer Tour vor solchen Plagen nicht verschont.
„Wie halten es nur die Menschen aus, die hier leben?“
Doch meist zeigt sich uns das Land von seiner schönsten Seite oder – besser gesagt – von seiner farbenprächtigen Seite.
Veracruz ist die älteste Stadt Mexikos. Ihre Gründung wird auf die Ankunft von Hernán Cortés im Jahr 1519 zurückgeführt. Auf dem zócalo, dem Hauptplatz, schauen wir uns eine folkloristische Tanzvorführung mit Teilnehmern aus ganz Mexiko an. Die Frauen der ersten Gruppe tragen weit schwingende Kleider, die unmittelbar der Farbpatrone eines Druckers entsprungen zu sein scheinen. Die einzelnen Stoffe zeigen ein leuchtendes Cyan, Magenta, Gelb oder Schwarz sowie ein strahlendes Grün oder knalliges Orange. Bunt gemusterte Bordüren an Saum und Ärmeln, passende Tücher um die Taille und knallige Haarbänder sorgen für farbliche Kontraste. Und wenn beim Klang der Marimbas die Frauen den Saum ihrer Kleider zu beiden Seiten fächerförmig nach oben führen, sieht es aus, als würde ein farbenprächtiger Pfau auf der Bühne sein prachtvolles Rad schlagen.
In welchem Gegensatz stehen dazu die Trachten von Veracruz: Schlichte weiße Anzüge und rote Halstücher für die Männer, luftige, spitzenbesetzte weiße Kleider für die Frauen. Dazu tragen sie ein feuerrotes Haarband und einen langen roten Schal, den sie mal um die Taille knoten, mal mit beiden Händen um ihre Schultern legen.
Auch die Architektur zeigt sich von ihrer bunten Seite. Tlacotalpan, seit 1999 UNESCO-Weltkulturerbe, erreichen wir entlang des sich lagunenartig verzweigenden Río Papaloapan. Am Straßenrand werden uns von Kindern lebende, neongrüne Eidechsen und Schildkröten angeboten, ob als Haustier oder als Abendessen erschließt sich uns nicht.
Das zehntausend Einwohner zählende Städtchen erwartet uns mit seinen zahllosen Säulengängen. Entlang der Straße reiht sich ein Haus an das nächste mit weit überhängenden Dächern, die sich auf steinerne Säulen zur Straße hin abstützen. Jedes Haus erstrahlt in einer anderen leuchtenden Farbe, die dazugehörigen Säulen weichen in ihrer Form ein bisschen von denen des Nachbargebäudes ab. Dadurch entsteht ein Hunderte Meter langer Säulengang, der vor der tropischen Sonne schützt und zum Schlendern durch Tlacotalpan einlädt.
Am Zócalo machen wir Rast unter dem Schatten einer Palme. Es ist Ende Februar und schon unglaublich heiß: das Thermometer zeigt dreißig Grad. Ich kann zuschauen, wie mein Eis in der Mittagssonne zerfließt.
Der Zócalo ist der zentrale Platz jeder Stadt. An der Ostseite steht die Kirche, über Eck liegt das Rathaus und an den verbleibenden Seiten sind die Markthalle sowie Cafés und Restaurants zu finden. Er ist Treffpunkt und Veranstaltungsort zugleich. Reichlich Bänke und schattenspendende Bäume laden zum Verweilen in den kühlen Abendstunden ein. Auf einer überdachten Bühne finden an den Wochenenden Tanz- oder Musikdarbietungen statt.
Darbietungen ganz anderer Art erwarten uns in den folgenden Tagen an der Laguna de Catemaco. Wir verbringen einige Tage in einem Dschungelcamp am Ufer des Sees. Schon die Anfahrt gestaltet sich abenteuerlich. Über einen Kilometer fahren wir durch dichten Urwald. Die Fahrspur ist gerade breit genug für unser Auto und häufig offenbart sich erst auf den zweiten Blick die Fortsetzung des Weges durch das tunnelartige Blätterdach. Dicke Wurzeln und ausgefahrene Spuren sowie tiefhängende Äste und Lianen erfordern die ganze Konzentration.
„Gibt es hier wirklich Brüllaffen?“, fragen wir den Platzbesitzer.
„Haltet einfach eure Augen und vor allen Dingen Ohren offen. Manchmal kommen sie sogar bis an den Pool.“
Der Pool, das ist ein wunderschönes Naturschwimmbecken, welches schattig unter weit ausladenden Laubbäumen liegt und kontinuierlich aus einer natürlichen Quelle mit kaltem Wasser gespeist wird.
„Ob das wohl Brüllaffen sind?“
Gekrächze und Geschnatter kommen aus dem Wald.
„Ich hab’ keine Ahnung, was für ein Geräusch Brüllaffen machen. Könnte aber sein.“
Bei jedem neuen Geräusch schrecken wir hoch.
„Das vielleicht?“
Am frühen Morgen, wir liegen noch im Bett, hören wir aus dem Dschungel wilde, markerschütternde Schreie.
Sofort ist uns klar, das sind Brüllaffen. Obwohl es sich eher anhört, als würde eine Herde fleischfressender Dinosaurier hundert Meter neben unserem Auto ihr Unwesen treiben. Es ist das erste Mal, dass ich wild lebende Affen zu Gesicht bekomme. Weit über uns in den Spitzen der Bäume turnen sie von Ast zu Ast. Einer baumelt nur an der Hinterpfote, um nach den schmackhaften Blättern unter sich zu greifen. Ein ganz Junger wandert einen dünnen Zweig entlang, während ein dritter gemütlich in der Astgabel sitzt und auf uns hinabblickt.
Direkt um unser Auto herum fliegen exotische Vögel. Einer ist pechschwarz und hat einen rot-weißen Schnabel. Immer wieder stößt er seine unnachahmliche Lockrufe aus. Als er davonfliegt, enthüllen sich unter seinem schwarzen Gefieder leuchtend gelbe Schwanzfedern, die er fächerförmig entfaltet.
Und dann kann ich Petra, die vielleicht dreißig Meter von mir entfernt steht, nur noch zurufen:
„Tukan, Tukan.“
Direkt neben mir sind zwei der prächtigsten Vögel in den Baum geflogen: Regenbogen-Tukane, deren Kopf und der lange, gebogene Schnabel tatsächlich in allen Farben des Regenbogens leuchten.
Die Menschen, die Gebäude, die Blumen und die Tierwelt: Als hätte man sie wahllos in den Farbtopf geworfen, um sich später an dem farbenfrohen Ergebnis zu erfreuen.
Während die älteren Damen, festlich gekleidet und vergnügt miteinander schnatternd, auf den Bänken neben der noch leeren Tanzfläche sitzen, stehen die Männer im großen Kreis um sie herum. Auch wenn normalerweise der Begriff „cool“ nicht auf Männer zwischen sechzig und achtzig passt, hier trifft er zu. Weiße Panamahüte, weiße Stoffhosen, und dazu entweder bunte Hawaiihemden, Seidenhemden im Tigerdesign oder gar ein türkisfarbenes Paillettenhemd – die Mode ist der Hammer!
Wir befinden uns wieder in Veracruz. Auf der Plazuela de la Campana, einem kleinen Platz, der an allen vier Seiten von zwei- bis dreistöckigen – ehemals leuchtend gelb gestrichenen, doch jetzt verwitterten – Gebäuden, eingeschlossen wird. Auf einer kleinen Bühne vor uns macht sich eine zehnköpfige Band bereit. Es ist Karneval. Laut unserem Reiseführer der verrückteste zwischen Rio de Janeiro und New Orleans.
Mit den ersten Sambatakten wird das Tanzspektakel eröffnet. Ein wenig fühle ich mich an meine Teenagerzeit erinnert. Nur dass sich hier nicht junge Leute zum Takt der Musik bewegen, sondern die Großelterngeneration. So schnell es die Konstitution zulässt, eilen die Männer zu den Bänken, um die Dame ihres Herzens aufzufordern. Elegant werden die Hüften im Takt von Samba, Salsa oder Merengue geschwungen. Drehungen folgen auf Promenaden und das nicht im langsamen Schiebertakt, sondern mit ordentlich Schwung. Da droht bei der Dame schon mal das Strickmützchen vom Kopf zu fliegen.
Und wenn das Lied zu Ende ist, werden die Frauen stilvoll zu ihren Sitzplätzen zurück geführt. Dort tuscheln sie mit ihren Freundinnen, während die Männer wieder Stellung am äußeren Rand des Platzes beziehen. Versteckt wird ein Tuch aus der Tasche gezogen, sich ein bisschen Luft zugefächert und der Schweiß abgetupft. Kurze Verschnaufpause bis das nächste Lied angespielt wird. Und dann wiederholt sich exakt das gleiche Muster. Und zwar den ganzen Abend, bei jedem einzelnen Lied. Als sich gegen zehn Uhr der öffentliche Tanz dem Ende nähert, sieht man die älteren Paare, die den Abend miteinander getanzt haben, gemeinsam nach Hause gehen. Sicherlich seit vierzig Jahren verheiratet, aber heute Abend noch einmal umschwärmt wie zu Teenagerzeiten.
In Veracruz wird der Karneval ausgelassen gefeiert
Genauso farbenfroh gestaltet sich am Rosenmontag die große Karnevalsparade. Wir sitzen auf einer extra für den Umzug erbauten Tribüne. Trotz der späten Abendstunden sind es noch rund zwanzig Grad und es ist der erste Karnevalszug meines Lebens, den ich im kurzärmligen Hemd verfolge. In unserem Rücken brandet der Golf von Mexiko, vor uns wehen die Palmen im Wind. Wir hatten im Vorfeld keine Ahnung, was die Tribünenkarten wohl kosten würden. Vorsichtshalber habe ich mir 75 Euro in Peso eingesteckt. Wir sind ja mit den Preisen im Kölner Karneval vertraut. Doch Mexiko ist nicht Deutschland: Noch nicht einmal einen Euro müssen wir pro Person für einen Sitzplatz mit bester Aussicht auf den Umzug bezahlen.
Veracruz bietet einen der prächtigsten Karnevalszüge in ganz Mexiko und aus dem ganzen Land strömen die Menschen herbei, um ihn zu erleben. Jeder Teilnehmergruppe fährt ein Lkw voran, von dessen Ladefläche meterhohe Lautsprechertürme, Lichtorgeln, Stroboskopblitze und Scheinwerfer auf die hinter ihm folgenden Fußgruppen ausgerichtet sind. Unter den kräftigen Bässen der Sambarhythmen wird getanzt und marschiert. Zuletzt folgt ein von bunten Lichtschläuchen eingefasster, festlich geschmückter Paradewagen, auf dem mehr oder weniger bekleidete Mädels und Jungs die Hüften kreisen. Ein wahnsinniges Spektakel, das sich in der Hauptsache über die Lautstärke, den Tanz und die Farbenpracht definiert.
Bei dem Lärm fällt es niemandem auf, dass von einem unverzagten Paar aus Deutschland immer wieder ein lautes „Alaaf“ durch die Nacht von Veracruz schallt.
„Zwei Monate sind schon um und wir hängen immer noch an der Ostküste. Wenn wir uns wirklich alles anschauen wollen, was wir uns vorgenommen haben, dann schaffen wir das nie in dem verbleibenden Monat.“
„Und wenn wir noch zwei oder drei Monate anhängen?“
„Bekommen wir Probleme mit der Regenzeit in den anderen Ländern Zentralamerikas.“
„Haben wir denn außer der Regenzeit irgendwelche Termine, die wir beachten müssen?“
„Nein, eigentlich haben wir alle Zeit der Welt.“
Das ist sicherlich der Vorteil, den wir gegenüber vielen anderen Reisenden haben. Wir sind mit der Zeitplanung völlig offen: kein Arbeitgeber, der uns erwartet, keine Verpflichtungen in der Heimat.
„Warum bleiben wir dann nicht ein ganzes Jahr in Mexiko?“
„Ja, warum eigentlich nicht! Die Menschen sind so gastfreundlich, der Straßenverkehr rücksichtsvoll, die Campingplatzsituation hervorragend und die Lebenshaltungskosten gering.“
Mexiko ist mit knapp zwei Millionen Quadratkilometern fünfeinhalb mal so groß wie Deutschland. Es liegt in vergleichbaren Breiten wie die afrikanische Sahara. Die Hauptstadt Mexiko City ist auf der Höhe von Mekka in Saudi-Arabien, die Halbinsel Yucatán auf einem Breitengrad mit dem nördlichen Thailand. Die Geografie umfasst heiße, trockene Wüsten, tropische Wälder und Gebirgszüge mit Vulkanen von über fünftausend Metern. Archäologische Stätten der Maya, Totonaken, Olmeken und Azteken reihen sich genauso aneinander wie die kolonialen Städte der spanischen Eroberer. Vieles spricht für unsere Entscheidung, länger zu bleiben.
Mit diesem neuen Zeitbudget gesegnet, quartieren wir uns für einen ganzen Monat in der Stadt Catemaco am drittgrößten See Mexikos ein. Statt mit dem Auto durch das Land zu reisen und uns ausschließlich auf die bekannten Sehenswürdigkeiten zu konzentrieren, wollen wir hier mitten unter der mexikanischen Bevölkerung den Alltag erleben.
Das fängt schon beim Einkaufen an. Normalerweise kommen wir unterwegs häufig an großen Supermärkten vorbei. Manche Produkte sind für uns zwar ungewohnt, doch der Vorgang des Einkaufens unterscheidet sich nicht von Deutschland oder den USA. In Catemaco dagegen gibt es keinen großen Supermarkt. Wir werden also in den nächsten Wochen unseren täglichen Bedarf genauso decken wie die hier lebenden Mexikaner.
Es gibt vier Arten von Einkaufsmöglichkeiten. Das sind zum einen die kleine Supermärkte, in denen hauptsächlich Konserven, Teigwaren, getrocknete Bohnen, Getränke, Reinigungsprodukte und Artikel für die Körperhygiene zu kaufen sind. Dann gibt es spezialisierte, kleine Lebensmittelläden für Fleisch, Fisch, Gemüse, Back- und Süßwaren. Stände in der großen Markthalle am Zócalo, wo frische Produkte am Vormittag angeboten werden, ergänzen das Angebot. Für uns besonders spannend und sehr preiswert sind die kleinen Verkaufsstände am Straßenrand, die mal ein bisschen Mais, ein paar Säckchen Erdnüsse, einige Bündel Kräuter oder zehn frische Ananas auf der Bordsteinkante anbieten. Was am Morgen noch im Garten wächst, wird zwei Stunden später bereits am Straßenrand verkauft.
Wir entdecken Orte in der näheren Umgebung, in die sich kein ausländischer Tourist verirrt. Wir fahren die Straße am Seeufer entlang. Der Asphalt wird immer löchriger, bis er schließlich in eine Schotterpiste übergeht. Mit unserem Auto durchqueren wir einen kleinen Fluss und fahren über Brücken, die gerade breit genug für uns sind. Wann immer wir Fußgänger am Straßenrand passieren, werden wir mit erstaunten Mienen gemustert.
Benito Juárez ist der vorletzte Ort am See, kurz bevor die Straße im tropischen Dschungel endet. Ein kleines, handgemaltes Schild vor einer Bretterbude wirbt mit dem Schriftzug „Información turística“.
„Was soll das denn? Wer kommt denn hier entlang?“
Petra steigt aus und informiert sich bei den zwei Damen, die auf weißen Plastikstühlen vor dem Bretterverschlag sitzen.
„Die beiden kommen mit uns. Da vorne ist ein Naturreservat und sie sind die offiziellen Führer.“
Laura steigt mit mir vorne in die Fahrerkabine, die andere Dame mit Petra hinten in die Kabine ein. Erst geht es eine Schotterstrecke entlang. Dann besteht die Straße nur noch aus zwei Fahrspuren, die in der Mitte mit hohem Gras, Unkraut und kleinen Büschen bewachsen ist. Laura weist den Weg: rechts, links, geradeaus. Sie scheint keine Probleme damit zu haben, dass unser Auto drei Meter hoch ist. Während wir von rechts nach links schaukeln, es teilweise 25% steil nach unten geht, kratzen die tief hängenden Zweige nur so gegen Dach und Seitenwände.
Was erwartet uns wohl in diesem Naturreservat? Gibt es einen Wasserfall, den wir vom Parkplatz aus beobachten können? Einen Ausblick auf die Berge? Oder spazieren wir zu einem See? Wir wissen es nicht und lassen uns überraschen.
Endlich erreichen wir den Eingang und parken auf einer Kuhweide. Eine Führerin vor uns, eine hinter uns, durchqueren wir eine kleine Eingangspforte und bekommen Wanderstöcke ausgehändigt. Hmm, dies wird wohl eine längere Tour.
Wir wandern vorbei an wunderbar duftenden, in weißen Dolden blühenden Kaffeepflanzen und an wild wachsenden Bananenstauden und Palmen. Wir durchqueren ein zweites Holztor und stehen mit einem Mal im Dschungel. Laura bittet uns, immer auf dem Weg zu bleiben. Wir sollen acht geben, nicht von Tieren gebissen zu werden. Wie zum Beweis zeigt sie ein paar Meter vor uns auf eine pergamentene Haut, die sich eine Schlange vor nicht allzu langer Zeit abgestreift haben muss. Petra und ich blicken auf unsere Sandalen. Unsere festen Wanderschuhe stehen derweil im Auto.
„Wäre vielleicht nicht schlecht gewesen, wir hätten im Vorfeld gewusst, was uns erwartet.“
Fast zwei Stunden wandern wir entlang eines kleinen Weges. Das dichte Blätterdach über unseren Köpfen dimmt das Sonnenlicht. Baumriesen mit langen Lianen laden regelrecht dazu ein, sich wie Tarzan durch den Dschungel zu schwingen. Immer wieder kommen wir an kleinen Wasserfällen vorbei. Die Felsen sind mit dichtem Moos bewachsen. Wir überqueren schwankende Hängebrücken, wandern unterhalb steiler, feuchter Felswände und machen Rast an einem kleinen, im strahlenden Sonnenschein liegenden Pool. Kontinuierlich wird er von einem Wasserfall befüllt. Laura erklärt uns unermüdlich die Pflanzenwelt. Welche Heilpflanzen hier wachsen und die Namen der einzelnen Bäume.
Welch ein unvergesslicher Ausflug, den wir nie gemacht hätten, wären wir nicht für längere Zeit hier in der Gegend.
Hauptsache laut, Hauptsache tanzen, Hauptsache Spaß! Diesen Eindruck bekommen wir am Wochenende. Von überall erklingt Musik. Schon auf unserem Campingplatz werden wir aus mehreren Richtungen beschallt. Auf der anderen Straßenseite übt den ganzen Tag eine Band im Hinterhof. Vom Nachbargrundstück hören wir Latino Pop vom Band. Ab und zu fahren Autos vorbei und reizen die Belastungsgrenze ihrer Anlage gnadenlos aus.
Mehr Unterhaltung gefällig? Die gibt es auf dem Zócalo, dem zentralen Platz von Catemaco. Groß und Klein sind auf den Beinen. Stände verkaufen elotes und esquites. Das sind gedünstete Maiskolben auf einem Holzspieß, bestrichen mit Mayonnaise und geraspeltem Käse. Das andere sind gedünstete und in Butter geschwenkte Maiskörner, die in kleinen Plastikbechern serviert werden.
In den Straßen versammelt sich eine Sambaband und heizt das Publikum mit Trommelrhythmen à la „Carnaval de Paris“ ein. Auf der Bühne läuft ein Ausscheidungswettbewerb für den Karnevalsprinzen der kommenden Saison. Nach dem Karneval ist vor dem Karneval. Statt „Stippeföttche“ ist Salsa angesagt, statt Mariechenkostüm der Glitzerbikini. Mir gefällt es! Nach der Vorführung auf der Bühne darf das Publikum ran. Der öffentliche Tanz ist eröffnet.
In Mexiko gibt es immer einen Grund zum Feiern
Am nächsten Tag bekommen wir das Kontrastprogramm geboten. Wer kennt sie nicht, die Legende vom ursprünglichen Fischerdorf? Jeder Reiseveranstalter bietet Ausflüge in ein solches Kleinod an. Hier soll die Zeit stehen geblieben sein. Die Fischer legen ihre Netze am Strand zum Trocknen aus und halten anschließend gemütlich mit der Pfeife im Mund ein Schwätzchen. In keinem Reiseführer fehlt der Hinweis auf dieses kleine Fischerdorf, das angeblich kaum ein Tourist zu Gesicht bekommt. Wo der Fisch im Restaurant nicht nur fangfrisch, sondern auch noch preiswert ist. Denn das Wort „Kommerz“ ist hier noch unbekannt. Diesen Hinweisen haftet immer etwas von Geheimtipp an.
Und kommt man dort an, sind schon Parkplätze für Busse und Pkw ausgewiesen. Die fälligen Parkgebühren werden zügig kassiert. Kaum dem Auto entstiegen, werden einem Speisekarten unter die Nase gehalten. Die angebotene Handwerkskunst trägt den Hinweis „Made in China“. Boote dienen nicht dem Fischfang, sondern bieten Rundfahrten an. Und fünf ältere Männer legen den ganzen Tag am Strand die Netze zum Trocknen aus, unterhalten sich gemütlich mit dem Pfeifchen im Mund und lächeln freundlich in die Objektive der Kameras.
Doch wir haben es entdeckt, ein ursprüngliches Fischerdorf in dieser Region. Wir folgen auf einem unserer Ausflüge einfach einer dieser kleinen Schotterstraßen, die uns nach einigen Kilometern zu einem winzigen Dorf bringt. Es liegt in einer großen Bucht, die ringsum von hohen Bergen eingeschlossen ist. Satt grüne Wiesen wechseln sich mit tropischer Vegetation ab. Ein feinkörniger Sandstrand liegt zwischen dem Festland und den vom offenen Meer heranrollenden Wellen. Bei der Fahrt durch das Dorf wird uns freundlich zugewunken. Wir parken völlig unbehelligt direkt am Strand und essen in einem kleinen Restaurant mit drei Plastiktischen auf der kleinen Veranda. Auf die Frage nach Fleisch erntet Petra nur ein Kopfschütteln.
„Nein, hier gibt es nur Fisch.“
Er wird frisch zubereitet, während das Baby im Laufstall liegt, hinter uns die Waschmaschine überschäumt und fünf Meter weiter die Wäsche zum Trocknen im Wind weht.
Wir beobachten, wie ein Fischerboot auf den Strand gezogen wird. Vier Männer laden eine Kiste nach der anderen aus. Ein Pickup kommt vorgefahren und fährt zehn Minuten später an uns vorbei. Die Ladefläche ist bis zum Anschlag mit riesigen, fangfrischen Fischen befüllt.
Kurz darauf bricht im Dorf Unruhe aus. Frauen, Männer und auch Kinder machen sich auf den Weg zum Boot und kehren kurz darauf mit jeweils drei dieser Riesenfische zurück. Dreißig Leute ziehen an unserem Tisch vorbei, alle ihre drei Fische an der Schwanzflosse im Griff. Verdammt schwer müssen sie sein, denn immer wieder werden die Fische auf der Straße abgelegt, damit man umgreifen und das Gewicht verlagern kann. Der vielleicht zehnjährige Knirps der Restaurantbesitzerin trägt seinen Fisch wie ein Baby in den Armen vor sich her. Was für ein Anblick! Als wäre der Anteil des Fangs gerecht auf das gesamte Dorf verteilt worden. Wir können uns ein Grinsen nicht verkneifen. Wir sitzen tatsächlich in einem ursprünglichen Fischerdorf!
Gerade wollen wir aufbrechen, als sich die folgende Szene vor unseren Augen abspielt und uns zu einer kleinen Wette herausfordert. Eine mexikanische Familie macht ein Picknick am Strand: Vater, Mutter, Großeltern, vier Kinder, dazu Strandlaken, Kühltasche und Spielzeug. Das Picknick ist zu Ende, alles wird zusammengepackt und geht Richtung eines alten VW-Käfers.
Petra: „Die steigen da jetzt alle ein.“
Klaus: „Quatsch, das passt nicht.“
Petra: „Wetten doch?“
Das Gepäck wird vorne unter die Haube gepackt, Mutter, Opa, drei Kinder hinten, Vater, Oma und das vierte Kind vorne. Türen zu und weg sind sie. Wette verloren!
Unser Auto hat eine Besonderheit, die es von herkömmlichen Expeditionsmobilen unterscheidet. Um das Raumgefühl in der Kabine und vor allen Dingen im Alkoven zu verbessern, haben wir ein riesiges Aufstelldach über die halbe Fläche der Decke montiert. In ausgeklapptem Zustand sieht es von außen wie ein großes Dachzelt aus. Dadurch bekommen wir mehr Platz beim Schlafen und haben eine gute Luftzirkulation.
Nur bei stürmischem Wetter wird es bei aufgestelltem Dach zu laut, weil der Stoff im Wind schlägt. So auch in dieser Nacht. Böe nach Böe trifft das Dach. Um halb vier in der Früh geben wir schließlich entnervt nach und klappen trotz der Hitze das Dach herunter, um in Ruhe schlafen zu können.
Und genau um diese Uhrzeit muss es gewesen sein, dass zwei dunkle Gestalten über die Mauer des Campingplatzes geklettert sind. Diese ist zwar über drei Meter hoch und auf dem Sims noch durch Stacheldraht gesichert, doch können diese Ausmaße nicht mit einem amerikanischen Wohnmobil konkurrieren. So groß wie ein Reisebus parkt es mit dem Heck neben uns direkt an der Mauer und bildet mit 3,50 Meter Höhe einen Brückenkopf zum Nachbargrundstück. Es lädt regelrecht zu einem nächtlichen Ausflug ein. So geschehen in dieser Nacht. Über das Dach unseres Nachbarn und über dessen Heckleiter gehen sie, unbemerkt vom Nachtwächter, auf Entdeckungstour. Greifen sich hier ein Fahrrad, dort einen Grill und verschwinden mit ihrer Beute unerkannt in der Nacht.
Wir bekommen von all dem, wohl weil wir so beschäftigt mit unserem Dach sind, gar nichts mit. Am nächsten Morgen fragt unsere Nachbarin, was uns denn alles abhanden gekommen wäre. Uns? Gar nichts. Wir haben uns schon zu Beginn unserer Tour angewöhnt, abends, bevor wir zu Bett gehen, alles einzuräumen, Türen und Stauklappen abzuschließen und die Treppe zur Kabine einzufahren. Man kann uns höchstens ein paar Wäscheklammern von der Leine klauen.
Das meinten wir auf jeden Fall noch zu diesem Zeitpunkt. Es ist ja ein erhebendes Gefühl, wenn man sich für intelligenter und vorsichtiger hält als andere. Dabei wurden wir genau in dieser und in der folgenden Nacht viel dreister ausgeraubt als unsere Nachbarn.
Der Blick aufs Online-Banking am Montag enthüllt Überraschendes: Wir waren mit dem Taxi in New York City unterwegs. Haben teure Karten für eine Dinnershow gekauft. Waren ausführlich shoppen und hervorragend essen. Knapp 1500 US-Dollar haben wir so an einem Wochenende auf den Kopf gehauen. Na ja, das Leben in New York ist wohl doch etwas teurer als in Catemaco. Schade eigentlich nur, dass wir uns gar nicht an diesen Ausflug erinnern können. Da war unsere Kreditkarte wohl allein auf Vergnügungstour. Obwohl ich mir recht sicher bin, dass sie die ganze Zeit in meinem Portemonnaie steckte.
Tja, wo von unserer Kreditkarte eine Dublette angefertigt wurde, werden wir wohl nie erfahren. In Mexiko haben wir sie nur ein einziges Mal am Bankautomaten genutzt, in den USA im letzten Jahr mehrmals täglich. Einen Vormittag kostet es uns, alles mit der Bank zu regeln, um den Schaden erstattet zu bekommen.
Und die Moral von der Geschichte? Man kann sich vor herkömmlichen Überfällen gut schützen. Doch im Zeitalter von Internet und Online-Banking kämpft man gegen einen unsichtbaren Gegner, der sich leider nicht mit Kleingeld zufrieden gibt.