Papa hat sich erschossen - Saskia Jungnikl - E-Book

Papa hat sich erschossen E-Book

Saskia Jungnikl

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Beschreibung

SEIN TOD TEILT MEIN LEBEN IN EIN VORHER UND NACHHER »Am 6. Juli 2008 kritzelt mein Vater etwas auf einen mintgrünen Post-it-Zettel. Er steigt die Wendeltreppe hinunter in die Bibliothek und holt seinen Revolver. Dann geht er durch den schmalen Gang hinaus aus unserem Haus in den Hof. Dort legt er sich unter unseren alten großen Nussbaum. Ich weiß nicht, ob er dabei irgendwann gezögert hat. Ich glaube, er wird noch einmal tief eingeatmet haben, als er da lag. Vielleicht hat er sich noch kurz die Sterne angesehen und der Stille gelauscht. Dann schießt er sich in den Hinterkopf. Sein Tod teilt mein Leben in ein Vorher und Nachher.« Hautnah und unsentimental erzählt Saskia Jungnikl über den Freitod ihres Vaters. Sie schreibt über die Ohnmacht, die ein solch gewaltvoller Tod hinterlässt und wie ihre Familie es schafft, damit umzugehen, über Schuldgefühle, Wut und das Entsetzen, das nachlässt, aber nie verschwindet.

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Seitenzahl: 269

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Saskia Jungnikl

Papa hat sich erschossen

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Inhalt

[Widmung][Motto]1 Tod2 SAMMELN3 GLÜCK4 LANDLEBEN5 GRÜN6 HEIMREISE7 TILLS TOD8 ZUHAUSE9 WAFFEN10 GEWITTER11 ARZT12 TILL13 SOHN14 LEICHE15 BURGSPIELE16 POPE-STAR17 GLAUBE18 PLATZ19 MUSIK20 ARVID21 ARVID ÜBERLEBT22 SARG23 LUSTIGES24 WARUM25 SUIZID26 SCHULD27 SPRACHE28 ERHARD29 TOCHTER30 FREMDE31 FAMILIE32 BEZIEHUNG33 SCHLAFEN34 MAMA35 WEISE36 BANALES37 ABSCHIEDDANKHILFEDeutschland:Bundesweite Beratungsangebote für Suizidgefährdete:Informationen über Selbsthilfegruppen:Eine Auswahl regionaler Beratungsangebote für Suizidgefährdete:Selbsthilfe für Hinterbliebene nach Suizid eines Angehörigen:Österreich:Beratungsangebote für Suizidgefährdete:Selbsthilfe für Hinterbliebene nach Suizid eines Angehörigen:Schweiz:Beratungsangebote für Suizidgefährdete:Informationen über Selbsthilfegruppen:Selbsthilfe für Hinterbliebene nach Suizid eines Angehörigen:

Für Arvid

Wir gebären rittlings über dem Grabe. Der Tag erglänzt einen Augenblick und dann von neuem die Nacht.

Samuel Beckett, frei aus »Warten auf Godot«

 

Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie und sie folgen mir; und ich gebe ihnen das ewige Leben, und sie werden nimmermehr umkommen, und niemand wird sie aus meiner Hand reißen. Mein Vater, der sie mir gegeben hat, ist größer als alles, und niemand kann sie aus des Vaters Hand reißen. Ich und der Vater sind eins.

Johannes 10, 27–30

1Tod

Ich weiß nicht, wieso es heißt, der Suizid eines geliebten Menschen lasse alles andere banal erscheinen, wenn es doch der Suizid ist, der selbst das Banale in eine Hölle verwandelt.

Vor sechs Jahren stehe ich in einem Coffeeshop. In der Hand halte ich einen Becher mit einem doppelten Espresso und einem Schuss Milch.

Mein Handy läutet.

Meine Mama ruft an.

»Papa ist tot. Er hat sich erschossen.«

Ihre Stimme klingt ein bisschen zittrig und unglaublich erschöpft. Für ein paar Sekunden bleibt alles stehen, bis es mir den Hals zuschnürt.

Ich drehe mich im Zeitlupentempo. Rechts neben mir ist eine Tafel. Darauf steht mit weißer Kreide das Tagesangebot geschrieben, jemand hat in hellblau eine Kaffeetasse und kleine Blümchen dazugemalt. Links von mir sitzt ein Paar in Ohrensesseln. Sie halten beide eine Zeitung in der Hand. Er liest, sie redet. Ich sehe, wie sich ihre Lippen bewegen. Neben ihnen sitzt ein junger Mann. Er hat eine Schiebermütze auf, eine Tasse in der Hand und blickt aus dem Fenster.

Alle machen weiter wie bisher.

In meinen Ohren rauscht es. Ich schaue nach vorne. Dann starre ich auf meinen Becher.

Als ich klein bin, renne ich meinem Vater beim Einkaufen immer weg und warte dann hinter der Kasse auf ihn, dort, wo die Mahlmaschinen stehen und die Luft voll ist mit dem köstlichen Geruch nach feingemahlenem Kaffee.

Ich muss tief einatmen. Fast schnappe ich nach Luft.

Während meine Mama mit mir schwanger ist, hat sie ständig Lust auf türkischen Kaffee. Nachdem sie ihn getrunken hat, löffelt sie den süßen Kaffeesud oft aus dem Kännchen. Neun Monate kriegt sie nicht genug von dieser körnigen Substanz.

Ich spüre, wie eine große Angst in mir aufsteigt. Der Becher wird schwer.

Als ich endlich selbst alt genug bin, um Kaffee zu trinken, bin ich glücklich. Ich trinke ihn, aber ich esse auch Kaffeeeis, lutsche Kaffeezuckerln und löffle Kaffeejoghurt. Manchmal friere ich Kaffee zu Eiswürfeln ein und freue mich, wie sie auf der Zunge zergehen, und als ich älter bin, gebe ich sie mir in Gläser mit Rum oder Wodka.

Der Anruf an diesem sonnigen Vormittag im Juli 2008 zerstört nicht nur eine Lebensliebe.

Der Suizid meines Vaters verändert meine Welt völlig. Sie wird ruiniert, und in den kommenden Jahren werde ich versuchen aufzubauen, was er eingerissen hat. Ich liebe und bewundere meinen Vater sehr, und an diesem Tag wird er zu meinem schlimmsten Feind.

Der Weg zur Versöhnung ist lang.

Ich stelle den Kaffeebecher weg.

Seit diesem Tag trinke ich schwarzen Tee mit Milch.

2SAMMELN

Mein Vater war ein Freund von doppelseitigem Klebeband. Ich weiß das, weil ich nach seinem Tod Tage damit verbringe, in seinen Zimmern Dinge von der Wand zu kratzen. Alles, was es ihm nur halbwegs wert ist, doppelseitig und ewigkeitssicher aufbewahrt. Ich arbeite mich durch Zeitungsartikel über Bücher und Musikalben, durch eigene und fremde Zeichnungen, durch verwitterte Filmplakate, durch Ausdrucke von Nacktmodellen, Totenmasken aus Ton und kunstvoll geschnitzte Dolche. Ich stocke, wenn ich Fotos von mir sehe, Fotos von meinen Brüdern. Noch heute kleben an den Fenstern Reste, irgendwann habe ich einfach aufgegeben.

Mein Vater ist ein Sammler. Er sammelt nicht auf Messie-Art, aber alles, was seine Interessen bedient oder auf irgendeine Art brauchbar sein könnte. Zwei Räume in unserem Haus hat er für sich und nach seinen Vorstellungen ausgebaut. Sie liegen übereinander und sind mit einer Wendeltreppe verbunden. Gemeinsam haben sie eine Größe von über siebzig Quadratmetern, und ich muss ihm beim Ausräumen unwillkürlich Respekt dafür zollen, mit welcher Kunstfertigkeit er es geschafft hat, sie bis ins letzte Eck vollzustopfen und dabei doch den Eindruck zu erwecken, man könne sich frei darin bewegen. Dutzende leere Erdnuss-Dosen, halbvolle Druckerpatronen, hundertsiebzehn Vorratspackungen Streichhölzer, drei Schreibtische.

Das Erste, was einem auffällt, wenn man den unteren Raum betritt, sind die Wände. Sie waren früher einmal weiß, aber über die Jahre und durch den Rauch unzähliger Zigaretten, Zigarren und Pfeifen sind sie in ein dunkles Ocker verfärbt. Es riecht ein wenig nach Staub und nach Räucherstäbchen und Kerzen, vor allem nach Sandelholz. Für mich riecht es nach Zuhause, und in den ersten Jahren nach seinem Tod kommen mir immer unwillkürlich Tränen, wenn es irgendwo nach Sandelholz oder Lavendel riecht.

Das Zweite, was man sieht, sind Bücher, Tausende Bücher. Sie sind neben- und aufeinanderliegend in Regalen geschichtet, gestapelt in jedem Eck, aufgereiht an den Seiten der Treppe. Als wir sie einmal zählen, kommen wir auf über 7000 Stück. Er hat sie im Laufe seines Lebens angehäuft. Und alle gelesen. Er besitzt die gesammelten Werke seiner Lieblingsautoren Arno Schmidt, James Joyce, Kurt Vonnegut, T.C. Boyle und Erich Kästner bis hin zu dem deutschen Schriftsteller Herbert Rosendorfer und dem Science-Fiction-Autor Stanisław Lem.

Manchmal benennt er unsere Katzen nach ihnen, wir haben im Laufe der Jahre etwa einen Lem, einen Boyle und einen Sam(uel Beckett). Außerdem sammelt er Literatur über Filme und Musik, genauso wie Biographien über Politiker und Künstler, pädagogische Standardwerke, Bücher über die Psychologie des Menschen und erotische Literatur. Links neben der Tür steht ein riesiger schwarzer Schrank mit Glastür, darin befindet sich eine Sammlung religiöser Werke. Es gibt alleine von der Bibel sieben Ausgaben, jede in einer anderen Übersetzung und mit unterschiedlichen Anmerkungen versehen. In den Büchern stecken oft dazu passende Zeitungsartikel oder Ausdrucke, in vielen hat er am Rand der Seiten mit Bleistift seine Gedanken notiert. Er liest Bücher sehr selten einfach nur so nebenher, meistens studiert er sie, wieder und wieder.

Kurz vor seinem Tod wünscht er sich von mir die Gesamtausgabe des Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel und ist sehr glücklich, als ich sie ihm schicke. Er schreibt mir deshalb eine Textnachricht, und ich habe sie auf einem der zwei alten Handys gespeichert, die ich schon lange nicht mehr benutze, die ich aber auch nicht wegwerfen kann.

Daran muss ich denken, als ich da oben stehe und Dinge von der Wand schabe. Seit er tot ist, habe ich die Handys weder eingeschaltet noch mir die Nachrichten von ihm angehört, die darauf gespeichert sind. Ich traue mich nicht, ich kann einfach nicht. Aber ich weiß, dass sie da sind. Wenn ich daran denke, dann kann ich seine ernste, tiefe, schöne Stimme hören und wie er sagt: »Saskia.« (Pause) »Hier ist dein Vater Erhard.« (Pause) Als würde ich seine Stimme nicht sofort erkennen und überhaupt, was glaubt er denn eigentlich, wie viele Väter ich habe?

Seine Telefonnummer lösche ich erst vier Jahre nach seinem Tod aus meiner Kontaktliste. Ein paarmal will ich anrufen und den Menschen hören, der jetzt seinen Anschluss hat. Aber das traue ich mich auch nicht. Ich kann die Nummer noch heute auswendig, und das ist eine jener Sachen, von denen ich so sehr hoffe, dass ich sie einmal vergessen werde.

Bei den Hegel-Bänden ist er nur bis Band drei gekommen. Dann hören die Notizen an den Seitenrändern auf. Vierzehn verschiedene Teeservice, Weingläser in jeder Fasson, eine Sammlung alter Fotoapparate, zwei Schreibtischladen voller Batterien. In diesem Antiquariat stehen Wertgegenstände aus Silber neben Tonschalen aus China, Holzspeere aus Madagaskar lehnen an der Wand und Plastikschund vom Kirtag aus dem Dorf liegt in den Regalen.

Als mein Vater in den siebziger Jahren aus der Bundeshauptstadt Wien in ein kleines Dorf in dieser abgelegenen Gegend Österreichs zieht, hat er in seinem Haus noch nicht einmal Strom. Jahre später wird es das erste mit einem Computer sein. Als er stirbt, stehen in seinen Räumen drei Standcomputer, ein Laptop, zwei Faxgeräte und vier Drucker.

Den unteren Raum nutzt er für Bücher, den oberen für Technik. Wenn man die Wendeltreppe hinaufsteigt, ist auf der rechten Seite ein kleines Studio mit Mischpult, Plattenspieler, Tonbandgerät und Mikrophonen. Mein Vater hat sich eine Soundanlage gekauft, mit Boxen an den Seiten und neben dem Bildschirm, ein Subwoofer hinter der Couch, und er hört immer in einer unglaublichen Lautstärke.

Mein Zimmer liegt gleich daneben, und ich kann oft nicht einschlafen, weil der Bass so durchdringend ist, dass ich das Gefühl habe, sogar mein Bett vibriert. Meistens warte ich eine Zeitlang, bevor ich dann mitten in der Nacht hinüberrenne und ihn bitte, den Ton leiser zu drehen. Ich kann ihn heute noch vor dem Mischpult sitzen sehen, eine Gitarre in der Hand, die anderen lehnen an der Wand.

Mein Vater ist schlank und groß, und die 1,90 Meter werden durch seine aufrechte Körperhaltung unterstützt. Er hat generell eine gute Körperbeherrschung, seine Bewegungen sind raumgreifend und lassen ihn sehr selbstbewusst und präsent wirken. Seine Augen haben etwas Pfiffiges und leicht Schelmisches, sie sind blaugrün und haben goldgelbe Sprenkel darin, und meistens schaut er damit freundlich und interessiert, außer er ist wütend, dann verengen sich diese Augen und erinnern mich an harte, böse, kleine Hai-Augen, die niemals blinzeln und bei denen man lieber wegsieht. In der Regel trägt er Jeans und T-Shirts mit Aufschriften wie »Gibson« oder »Fender« oder seiner musikalischen Idole Chuck Berry und B.B. King.

Mein Vater steht auf Blues und Rock’n’Roll. Dementsprechend auch seine Plattensammlung, wobei auch hier, breit gefächert, AC/DC neben Beethoven steht. Ein Banjo, ein Akustikbass und fünf Gitarren. Auf der anderen Seite ein fünfzig Zoll Fernsehapparat-Ungetüm mit DVD-Player und Videorecorder und einer schwarzen Couch davor. Kartons voller Fotos, alle Ausgaben des Wochenmagazins »Spiegel« vom Jahr 1974 bis 2008, drei Humidore, Dutzende alte Uhren.

Mein Vater ist 1940 geboren, mitten im Zweiten Weltkrieg. Meine Mama hat einmal gesagt, das ist der Grund dafür, warum er alles hortet: die tiefsitzende Kindheitsangst, dass alles schnell wieder weg sein könnte. Ich weiß nicht, woran es liegt. Ich weiß, als ich klein bin, haben wir viel Spaß mit dem liebevollen Spötteln über meinen Vater und sein »Schatzkästlein«, aus dem er alles zaubern konnte, was man gerade braucht. Heftklammern, ein Abschleppseil, ein Notstromaggregat.

Trennungen sind irgendwie nicht seine Stärke. Er hat ein paar Briefe angefangen, Liebe Saskia, steht da auf einem sonst leeren Blatt Papier. Er hat nicht weitergeschrieben. Ich bin etwa drei Jahre lang gekränkt und traurig, dass er, der Mann der vielen Worte, mir nicht einmal einen lächerlichen Abschiedsbrief hinterlassen hat. Dann bin ich dankbar darüber. Ich hätte den Brief, emotional schwer wie ein Pflasterstein, mit mir herumgeschleppt, sicher verpackt. Bei jedem Umzug wäre er dabei gewesen, in jeder verzagten betrunkenen Stunde hätte ich ihn gelesen, hätte geheult, geflucht und ihn zu deuten versucht. Ich bin froh, dass er mir nicht auch noch ein haptisches Zeichen seines Todes hinterlassen hat. Es ist so schon genug.

Am 6. Juli 2008 kritzelt mein Vater eine dürre Nachricht auf einen mintgrünen Post-it-Zettel. Dann steigt er die Wendeltreppe hinunter und holt seinen Revolver. Er geht nach draußen, dort legt er sich unter unseren alten großen Nussbaum. Seine Hausschuhe lässt er an. Ein kleines Detail neben vielen anderen, über das ich mich noch oft wundere. Ich weiß nicht, ob er irgendwann gezögert hat. Ich glaube, er wird noch einmal tief eingeatmet haben, als er da lag. Vielleicht hat er sich noch kurz die Sterne angesehen und der Stille gelauscht. Dann schießt er sich in den Hinterkopf.

Sein Tod teilt mein Leben in ein Vorher und ein Nachher.

3GLÜCK

Willst du ein Eis? Saskia?« Ich starre auf das kreischende Baby neben mir und dann auf Oskar, der mich fragend ansieht. »Willst du eins? Wir können eins mitnehmen.« Die Mutter trabt mit ihrem Kind weg, ein wenig geistesabwesend schüttle ich den Kopf und sehe zu Oskar. »Nein, danke.« Er nickt und geht weiter, ich ihm hinterher.

Es ist Sonntag, der 6. Juli 2008. Der Tag, an dem mein Vater stirbt.

Oskar ist mein damaliger Freund, und wir wollen schwimmen, im Donaubad in Kritzendorf in der Nähe von Wien. Wir fahren fast immer in dieses Bad. Es wurde Anfang des 19. Jahrhunderts gebaut. Seine Hochblüte hatte es in der Zwischenkriegszeit, und noch immer stehen überall die bunt lackierten Holzhäuser der dreißiger Jahre und sorgen schon beim Eingang für eine eigene Stimmung.

Früher war das Bad dafür bekannt, dass Menschen aus allen sozialen Schichten hierherkamen, Künstler und Geschäftsleute hatten ihre Häuschen neben den Kabinen gewöhnlicher Arbeiter. Manche nennen Kritzendorf immer noch die »Riviera an der Donau«.

Die Sonne scheint, der Wind weht nur ein wenig, es riecht nach Sonnenöl und frisch gemähter Wiese. An der Donau liegen ein paar Jungfamilien auf Decken und Senioren auf Liegestühlen, und ihr Hautton lässt erahnen, dass sie ihre Plätze nur sehr selten verlassen. Oskar und ich schlagen uns an der Donau entlang durch die Büsche, wir suchen eine der kleinen Buchten, in denen nie jemand liegt. Das Schöne an diesem Bad ist auch, dass es so weitläufig ist. Die Menschen verteilen sich, man muss nicht eng nebeneinander sitzen.

Oskar hat einen blauen Rucksack über der Schulter hängen, er geht den schmalen Weg vor mir entlang. Wir sind zusammen seit ich vierundzwanzig bin, also seit etwa drei Jahren. Er ist mein zweiter Freund nach Martin, den ich in der Schule kennengelernt habe und zu dem die Beziehung neun Jahre hält und der heute noch ein Freund von mir ist. Ich bin sehr glücklich mit Oskar, vor allem in dieser schwierigen Woche. Am nächsten Tag wäre mein Bruder dreißig Jahre alt geworden. Er ist seit vier Jahren tot. Die ganze Woche vor seinem Todestag ist meine Familie immer sehr angespannt. Ein Jahr nach Tills Tod lerne ich Oskar kennen, und diese neue Liebe hilft mir, den Schrecken besser zu verarbeiten.

An diesem sonnigen und ruhigen Sonntag kommt mir das alles ohnehin nur noch wie ein entfernter Schock vor. Im Übermut remple ich Oskar spielerisch an, wir verlieren das Gleichgewicht und fallen mit unseren Sachen ins Wasser. Ich muss lachen, dann merke ich, dass er das gar nicht so lustig findet. Um es wieder hinzubiegen, laufe ich zurück und hole am Stand beim Eingang einen doppelten Espresso und bringe ihm den. Er grinst.

Damals, als wir einander kennenlernen, fällt mir als erstes sein Lausbubengesicht mit dem verschmitzten Lächeln auf. Ich mag, dass er Locken hat, in der griechischen Antike wäre er vermutlich ein beliebter Lustknabe gewesen. Wir treffen einander bei meinem ersten Job als Journalistin. Er arbeitet auch in der Redaktion, und gleich an meinem ersten Tag gehen wir nach der Produktion alle etwas trinken, und als wäre es Zufall sitzen wir nebeneinander. Der Rest des Abends gehört uns, und dann treffen wir einander noch ein paar Mal, bevor wir uns eingestehen, dass wir verliebt sind. Etwa ein halbes Jahr sehen wir einander vor allem abends, wir haben eine Stammkneipe, in der wir viele Nächte trinkend verbringen. Wir reden viel und gut, und wir haben viel und guten Sex.

Als ich ihn nach einem Jahr das erste Mal mit nach Hause nehme, um ihn meinen Eltern vorzustellen, ist es schon Abend. Der Weg zu unserem Haus im Burgenland ist schwer zu finden, er führt über holprige Straßen durch Wälder und vorbei an abgelegenen Wiesen. Als wir das letzte Stück Zivilisation verlassen und auf einen Waldweg abbiegen, fängt Oskar an zu lachen. »Ich weiß, du hast erzählt, ihr wohnt einsam: Aber ehrlich? Das könnte der Drehort für eine Horrorszene sein.« Ich lache auch. Ich mag die Gegend, ich mag das Abgeschiedene.

Das letzte Stück zum Haus führt über einen etwa zweihundert Meter langen Waldweg. Nach einer kleinen Biegung sieht man das Licht aus den vorderen Fenstern, drei unten, zwei oben. Das Haus ist weiß gestrichen, die Fensterrahmen und Klappläden sind aus Holz. Früher waren sie dunkelgrün, aber nach dem Tod meines Vaters streichen wir alles Holz in einem kräftigen griechischen Dunkelblau. Eigentlich ist Grün die Farbe der Hoffnung, für uns wird es das Blau.

Ich stelle das Auto auf dem vorderen Parkplatz ab und laufe dann vor ins Haus. Meine Eltern sind im Studio und sehen fern. Ich bleibe unten an der Wendeltreppe stehen und rufe hinauf. »Wir sind da. Kommt ihr herunter?« Mein Vater seufzt und sagt: »Na, sehen wir uns den Burschen mal an.« Er nimmt eine Flasche Wein, und wir setzen uns in die Küche.

Wir Kinder sind zu viert, ich bin das einzige Mädchen, ein Wunschkind. Mein ältester Bruder Christoph ist mein Halbbruder, er hat einen anderen Vater und ist elf Jahre älter als ich. Als sich meine Eltern verlieben, ist er gerade fünf Jahre alt. Nach ihm kommt Till, er ist drei Jahre älter als ich und sieht genauso aus wie mein Vater, mit den gleichen dichten flachsblonden Haaren bis zum vierzehnten Lebensjahr, bevor sie anfangen zu dunkeln und fast schwarz werden. Noch einmal drei Jahre nach mir bekommt meine Mama noch einen Buben, Arvid. Mein Vater erzieht mich nicht anders als meine Brüder. Ich habe nur eine Puppe, ich spiele kaum mit ihr. Als ich anfange, mich für Jungs zu interessieren, sieht er das – wie viele Väter bei ihren Töchtern – nicht gerne.

Er holt noch eine Flasche Wein. Mein Vater prüft meine Freunde genau. Er ist ein guter Zuhörer. Er ist intelligent, also kann er mit seinem Gegenüber über fast jedes Thema reden, Musik, Film, Literatur. Außerdem ist er interessiert, er stellt Fragen und will sie auch wirklich beantwortet wissen. Als Tochter kann einem das auf die Nerven gehen, als Gast ist man geschmeichelt. Ich erinnere mich daran, wie begeistert meine Freundinnen immer waren, wenn sie meinen Vater kennengelernt haben, weil er so charmant und interessiert war.

Oskar und er tun sich leicht miteinander. Beide sind Musiker, beide sind Schreiber, beide sind Phantasten. Ich rede mit meiner Mama, ab und zu lausche ich hinüber. Oskar sagt heute, der Moment, wo klar war, dass sie einander mögen, war der, als ihn mein Vater fragt, wer für ihn denn der Vorreiter der heutigen Popmusik war. Kein Zweifel, dass sie sich auf Johann Sebastian Bach einigen.

Sie haben den Draht gefunden, sie lachen und schenken nach. Es wird ein langer Abend. Ich freue mich. Es funktioniert.

Kurz bevor mein Vater stirbt, verbringen wir ein Wochenende gemeinsam im Burgenland. Oskar und ich sitzen im Hof und sind verliebt und flüstern miteinander. Mein Vater kommt. Er sieht zuerst uns beide an, dann lange mich, und er sagt: »Ich sehe, du bist gut aufgehoben.«

Damals habe ich gehört: »Schön, dass du jemanden hast, den du liebst und mit dem du Spaß hast.« Heute höre ich: »Gut, du bist versorgt, jemand kümmert sich um dich, mich braucht hier niemand mehr.« Ich weiß nicht, ob das stimmt. Aber ich habe gelernt, dass das egal ist. Was zählt ist, wie man mit der Situation fertig wird. Wenn ein Elternteil sich tötet, wird alles, was vorher war, neu gedeutet. Ich versuche mich an alles zu erinnern, was er zu mir gesagt hat. Ich zermartere mir das Hirn: Was war ein Hilferuf? Was war unwichtig? Was war ein Zeichen?

In Kritzendorf habe ich an diesem Sonntag im Juli nach drei Stunden schwimmen genug. Ich halte es nie besonders lange an einem Ort aus. Ich gehe ein paar Mal ins Wasser, lese ein bisschen und dann wird mir langweilig. Ich stoße Oskar an: »Komm, fahren wir.« Er sieht auf und unzufrieden drein. »Wir können noch einen Abstecher machen«, ich zwinkere ihm zu. Er grinst. Manchmal fahren wir mit dem Auto einen Schleichweg entlang, etwa zehn Minuten Fahrt entfernt kommt man oben auf einem Hügel an. Links und rechts stehen Weinreben, es gibt dort keine Häuser und man sieht weit. Niemand ist da. Wir kippen die Autositze zurück und öffnen eine Flasche Wein. Wir hören Musik und reden miteinander. Manchmal schlafen wir miteinander. Es ist unser Platz, und es macht Spaß dort.

Auf dem Rückweg in die Stadt ist mein Autofenster offen, ich hänge meinen Arm nach draußen. Ich erinnere mich heute noch an die Sonne und die Wärme. Und an die Sicherheit und das Glück, das ich spüre. Später besteht mein Innenleben lange Zeit nur aus Schmerz, Angst und Trauer. Ich bin darauf ausgerichtet zu funktionieren. Manchmal versuche ich mich dann an diesen Moment zu erinnern, als alles in mir pure Harmonie war. Viele Jahre wird es solche Momente nicht mehr geben. Ich weiß, dass ich Oskar glücklich anschaue und sage, jetzt wird alles gut, oder? Er lächelt mich an.

Als wir nach Wien kommen, denke ich kurz daran, meinen Vater anzurufen. Ich weiß, dass meine Mama beschäftigt und nicht zu Hause ist und er also alleine, aber dann denke ich, ach, ich rufe ihn morgen an, und gehe mit Oskar in ein Pub.

Es ist schummrig im Lokal, Kerzen stehen auf den Tischen, im Hintergrund läuft Johnny Cash. Oskar und ich wollen im August nach Paris fahren, ich war noch nie in Frankreich. Wir planen den Urlaub, wann und wie lange wir fahren werden, was wir uns ansehen werden. Vor uns stehen Bier und Tequila, wir haben viel Spaß und kommen spät nach Hause.

An diesem Abend schalte ich das Handy zum ersten Mal seit vier Jahren aus, seit damals mein Bruder gestorben ist. Ich habe immer das Gefühl, erreichbar sein zu müssen, falls etwas passiert. Aber an diesem Abend nicht, ich habe das Gefühl, als hätte ich den Schrecken überwunden.

4LANDLEBEN

Meine Eltern lächeln sich mit einer verschwörerischen und spöttischen Überheblichkeit an, als sie die junge Frau hinter dem Gatter beobachten, die verzweifelt versucht, drei Schafe und ein Lämmchen einzufangen. Sie hat sie meinen Eltern verkauft, und die sehen ihr bei den vergeblichen Versuchen belustigt zu. Das kann doch nicht so schwierig sein, denken sie. Sie sind extra in die Steiermark gefahren, um ihre ersten Tiere abzuholen. Wie schön sie sich das ausgemalt, wie sorgfältig sie den Stall vorbereitet haben.

Mein Vater hat sich zuvor wochenlang informiert, er will nicht die Schafe, die in der Gegend üblich sind, er will die Schafe, die am besten sind. Er entscheidet sich für Texelschafe, die so heißen, weil sie ursprünglich von der niederländischen Insel Texel stammen. Sie sind Woll- und Fleischschafe, und normalerweise sind die Schafe in unserer Umgebung entweder das eine oder das andere. Allerdings kriegen sie entgegen den meisten anderen Schafen nur einmal im Jahr Nachwuchs, und sie sind beim Annehmen der Lämmer viel empfindlicher als andere Rassen.

Meine Mama wird über die Jahre zur Expertin für Schafgeburten. Anfangs kommt immer der Tierarzt, aber irgendwann bringt er es meiner Mutter bei. Eine Zeitlang denkt sie sogar daran, mit ihm mitzufahren, wenn wir Kinder erwachsen sind, aber der Plan wird irgendwann begraben. Wir ziehen mehr als ein Lämmchen mit Flasche auf oder haben sie in einer warmen Kiste in der Küche stehen, bis sie alt genug sind, um draußen zu überleben.

Diese ersten Tiere aus der Steiermark holen meine Eltern mit einem Kastenwagen, den meine Mutter von einem Freund geliehen hat. Es dauert, bis die junge Frau die Schafe mühsam eingefangen hat, dann machen sich meine Eltern auf den Weg nach Hause. Als sie bei uns in den Hof rollen, fragt meine Mama noch: »Und wie bringen wir die Tiere in den Stall?« »Wir machen sie los, und dann werden sie schon den Weg finden«, gibt sich mein Vater zuversichtlich.

Doch die durch die Fahrt desorientierten Tiere haben natürlich keine Ahnung, wo der Stall ist. »Die Überheblichkeit ist uns schnell vergangen«, sagt meine Mama heute lachend. Die Schafe rennen davon. Meine Eltern hinterher. Sie einzufangen dauert fast drei Stunden, sie hetzen durch das halbe Dorf, vorbei an den staunenden Bauern, die sich herrlich über die ungeschickten Wiener amüsieren. Städter, die Bauern sein wollen! Als die Tiere endlich im Stall sind, ist meinen Eltern das Lachen vergangen. Nicht nur sie sind außer Atem. Das Mutterschaf kann sich vor Erschöpfung kaum noch auf den Beinen halten.

Als mein Vater dreißig wird, will er hinaus aus der Stadt. Er ist Musiker, er hat es satt, Rücksicht auf Nachbarn nehmen zu müssen und in einem Betonblock zu leben, mit Menschen unter, über und neben sich. Aber er weiß nicht, wohin er ziehen soll. Also fährt er mit seinem Auto durch ganz Österreich. Er schaut sich Bergdörfer in Tirol an, Straßendörfer in Niederösterreich oder der Steiermark. Im Burgenland fährt er bis ganz in den Süden. Ein Bekannter erzählt ihm von einem kleinen Dorf. Er fährt bis in die abgelegenen Hügelausläufer. Die schmale Straße wird erst in den neunziger Jahren asphaltiert werden und Straßenlaternen bekommen. Ein kleiner Weg führt weg von der Straße, an seinem Ende steht ein heruntergekommenes kleines Haus, ohne Strom, ohne Wasseranschluss und ohne Kanal. Mein Vater ist zu Hause.

Er kauft das Gebäude und das Land rundherum und beginnt es in den kommenden Jahren zu renovieren und bewohnbar zu machen. Er ist damals Regisseur, er dreht Dokumentationen über Länder und andere Kulturen, und wenn er zurückkommt aus Indonesien oder Madagaskar, hat er wieder ein wenig Geld und baut weiter am Haus.

Es ist ein Bauernhaus, errichtet im Jahr 1915. Die Grundmauern sind fast einen Meter dick, aus doppelt gebrannten roten Ziegelsteinen, weswegen es im Sommer fast immer kühl ist und im Winter kaum Wärme nach außen dringt. Es ist ihm wichtig, dass es ein altes Haus von Bestand ist, und das färbt auf mich ab. Wenn ich mir heute ein Haus bauen würde, wäre es kein Fertigteilhaus, weil ich glaube, was mir mein Vater sagt, auch wenn ich weiß, dass es nicht stimmt: Wenn ein Haus in drei Tagen steht, kann es auch in drei Tagen in sich zusammenfallen.

Das Hauptgebäude steht mit der Front zu dem Weg, von dem man kommt, rechts davon ist der Hof, und wo er abschüssig wird, stehen der alte große Nussbaum und dahinter ein paar Holunderbäume. Früher standen da zwei Nussbäume, aber der eine vertrocknet, als wir um das Haus eine Trockenlegung machen und ihm dadurch irrtümlich das Wasser abgraben. Aber der andere wächst, er ist riesig, und im Sommer sitzen wir immer unter seinen Ästen, weil es in seinem Schatten angenehm kühl ist und weil Nussbäume so gut riechen. Mein Vater sammelt eine Zeitlang seine grünen Nüsse, legt sie in Alkohol ein und benutzt sie als Mittel zum Einreiben gegen Rheumaschmerzen. Meine Mama benutzt sie, um damit die Schafwolle zu färben. Nach dem Tod meines Vaters hängt meine Mama einen Traumfänger in den Baum. Der hängt da immer noch.

Hinter dem Hof schließen in L-Form Stall und Schuppen an das Haus an. Es steht an einem Hügel. Keine anderen Häuser weit und breit, nur Wald und Wiesen. Wir wohnen nicht direkt im Dorf, sondern in den sogenannten Bergen, etwa zwei Kilometer außerhalb. Unser Hof ist immer vollgeräumt, eine Art kreatives Chaos. Da steht eine Staffelei neben einem Bergmäher, eine kaputte verrostete Scheibtruhe neben einem Kinderschlitten. Das Gras ist mal gemäht, dann wieder nicht. Mein Vater achtet im Detail auf seine Sachen, das Gesamtbild ist ihm egal. Es interessiert ihn nicht, ob alle Rechen an ihrem Platz hängen oder nicht.

Vorne an dem Haus befindet sich ein zwei mal zwei Meter großes Mosaik, das die Mutter meines Vaters aus Tonscherben gefertigt hat, die sie nach dem Zweiten Weltkrieg im zerbombten Wien gefunden hat. Neben der Tür hängt ein schönes, großes Bild, das mein Onkel gemacht hat: Er benutzt eine spezielle Rosttechnik, mit der er auf der Metalloberfläche arbeitet.

An der Front vor dem Haus ist ein kleiner Kräutergarten, mitten drinnen liegt ein überlebensgroßer Kopf aus Stein – als mein Vater als Jugendlicher mal durch Wien spaziert, wird gerade ein Haus abgetragen. Die riesigen Köpfe, die die Fassade geschmückt haben, werden weggeschmissen. Er fragt, ob er einen davon mitnehmen darf. Er darf. Es dauert Stunden, bis er dieses massive Steinstück nach Hause geschleppt hat, aber irgendwann hat er ihn dann im Burgenland, und heute noch liegt der Kopf, mittlerweile moosbewachsen, vor unserem Haus.

Meine Brüder und ich malen mit Kreiden die fünf Steinstufen an, die zum Haus führen, irgendwann bemalen wir auch die Wand. Meine Eltern unterstützen uns immer, wenn wir uns kreativ austoben wollen. Ich wünsche mir als Kind oft mehr Ordnung, ein wenig mehr von dieser spießigen Reinlichkeit, wie ich sie aus den Häusern meiner Mitschüler kenne. Eine Zeitlang wohne ich mit meinen Brüdern in einem großen Raum, wir schlafen in einem Dreier-Stockbett, alle übereinander. Im Zimmer besteht der Boden aus dunklen Holzdielen; darunter sind Lehm und Erde, und nach einigen Jahren ist der Boden an einigen Stellen kaputt, die Erde kommt durch. Es dauert noch ein paar weitere Jahre, bis das repariert wird – meinen Vater interessieren derlei praktische Dinge wenig.

Außer unserem Haus gibt es in den Bergen noch etwa zehn Höfe, keiner davon ist in Sichtweite. Als mein Vater ins Burgenland zieht, hat nur einer davon einen Telefonanschluss, wenn mein Vater angerufen wird, dauert es zwanzig Minuten, bis er geholt und am Apparat ist.

Seine Nachbarn sind etwa zwanzig Jahre älter als er, erfahrene Bauern. Er lernt viel von ihnen, sie werden gute Freunde und für mich und meine Brüder so etwas wie Ersatz-Großeltern. Wir haben in der Umgebung keine Verwandten, die nächsten leben in Wien. Als ich aufwachse, ist das ein wenig schwierig für mich, kein Familiengefüge zu haben wie alle anderen in der Schule.

Mein Vater baut das Haus für sich. Er denkt damals nicht daran, sich an eine Frau zu binden, und Kinder will er auch keine. Am Abend ist er oft in den Gasthäusern der Umgebung, er schließt schnell Freundschaften, und er ist bei Frauen beliebt. Ein junger, selbstbewusster, schneidiger Wiener, der die altbekannte Runde einer abgeschiedenen Gemeinde sprengt, ist in den siebziger Jahren ein Thema.

Aber er lernt eine Frau kennen, mit der sich alles ändert. Zu dieser Zeit arbeitet er gemeinsam mit Karl Bednarik, einem Wiener Autor und Maler. Sie wollen einen Film über die Türkei drehen. Zu einer der Besprechungen kommt mein Vater in das Haus der Bednariks. Meine Mama war damals schon einmal kurz verheiratet und hat einen kleinen Sohn, und an diesem Tag ist sie zu Besuch bei ihren Eltern. Das Kind reißt sich los, rennt hinauf in das Arbeitszimmer, meine Mutter ihm nach. Oben sitzt mein Vater. Die beiden können einander auf Anhieb nicht leiden. Meine Mutter denkt: Was für ein arroganter Arsch. Mein Vater denkt: Was für eine Zicke.

Ein paar Monate später fragt Bednarik seine Tochter, ob sie mit ihm aufs Land fährt, ein Freund von ihm habe sich dort ein Haus gekauft. Meine Mama fährt mit, sie steigt aus dem Auto aus, mein Vater gibt ihr die Hand, beide sehen einander wie zum ersten Mal. Sie verlieben sich ineinander. Es ist eine große Liebe, und ich weiß das, weil das Aufwachsen in meiner Familie mitunter sehr schwierig ist, aber wir Kinder diese Liebe zwischen unseren Eltern spüren können. Ich erinnere mich an den zärtlichen Umgang zwischen den beiden, bei dem es normal ist, dass sie sich immer wieder umarmen, einander liebe Dinge sagen und einander küssen. Immer, wenn jemand das Haus verlässt, liegt da ein Zettel mit Nettigkeiten auf dem Küchentisch.