12,99 €
***Von einer, die auszog, vom Sterben das Leben zu lernen*** Wie viele von uns hat Saskia Jungnikl Angst vor dem Tod. Vor allem seit ihr Vater gestorben ist. Doch anstatt sich weiter zu fürchten, sucht sie den Tod auf: im Leichenschauhaus, bei Bestattern, in einem Hospiz. Sie begibt sich auf Spurensuche, lernt, wie Religionen mit dem Tod und der Frage, was danach kommt, umgehen. Sie findet heraus, was Philosophen über das Sterben denken, und spricht auf ihrem Weg mit den unterschiedlichsten Menschen – vom Rechtsmediziner bis zum evangelischen Bischof –, um mehr über den Tod zu erfahren. Und erfährt doch immer mehr über das Leben.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 245
Saskia Jungnikl
Eine Reise ins Leben oder wie ich lernte, die Angst vor dem Tod zu überwinden
FISCHER E-Books
Für Florian
Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das weiß, dass es sterben wird.
Die Verdrängung dieses Wissens ist das einzige Drama des Menschen.
Friedrich Dürrenmatt
There is no end, there’s no beginning
we’re right here in the middle
in the middle of this heat
Naked Lunch
Do not go gentle into that good night.
Rage, rage against the dying of the light.
Dylan Thomas
»Wo ist das Klebeband?«
»Keine Ahnung.«
»Herrje, wo ist dieses verdammte Klebeband?«
»Ganz ruhig, ich weiß es nicht. Wir finden es schon.« Florian taucht hinter einem Berg Kartons auf und grinst mich an.
»Entschuldige. Ich hasse umziehen.«
»Sag bloß.«
Florian ist mein Mann. Mein bester Freund. Wir lernen einander im Büro kennen, vier Jahre nach dem Tod meines Vaters, wir schreiben einander Nachrichten, gehen ein paarmal miteinander aus, werden erst Freunde und später dann mehr. Er war nach dem Suizid meines Vaters der erste Mann, bei dem ich mich wieder völlig sicher gefühlt habe. Als er einen neuen Job in Hamburg angenommen und mich gefragt hat, ob ich mit ihm kommen würde, konnte ich völlig frei und ohne Angst sagen: ja, klar. Im Jahr zuvor hatte ich ein Buch über den Tod meines Vaters geschrieben. Ich wollte zeigen, wie es ist, wenn jemand, den man liebt, sich tötet. Wie schwer es ist, sich in der Stille um dieses Tabu zu behaupten. Ich wollte diese Stille durchbrechen, und das ist mir gelungen. Ich habe einen schweren Teil meines Lebens aufgearbeitet, es war wie eine Befreiung. Es schien nur richtig, danach auch alles andere hinter mir zu lassen.
Florian und ich haben also unsere Sachen gepackt, und im Herbst sind wir umgezogen. Der Umzug war anstrengend, wie Umzüge das eben sind, aber er ging vorbei, und alles an Hamburg war aufregend und neu und spannend, und ich hatte das Gefühl, endlich, endlich kann ich mich um mich selbst kümmern.
Und das ließ sich auch gut an. Ich verbrachte viel Zeit damit, Pflanzen umzutopfen, Serien zu schauen, neue Cocktail-Rezepte auszuprobieren, und Artikel für Zeitschriften zu schreiben. Ich habe Interviews zu meinem ersten Buch über den Tod meines Vaters gegeben, war bei Lesungen und habe Seminare abgehalten. Das Leben lief gut. Einige Wochen lang.
Und dann konnte ich nicht mehr einschlafen.
Im Grunde war das nichts Neues. Die Angst vor dem Tod wurde mir angelernt. Vier Jahre vor meinem Vater starb mein Bruder, plötzlich, im Schlaf, an einem geplatzten Blutgerinnsel im Kopf. Dann starb mein Vater, und nach jedem Todesfall hat Adrenalin meinen Körper wochenlang überschwemmt. War das Adrenalin weg, war die Angst wieder größer.
Doch diesmal war das anders. Mir ging es eigentlich gut. Der Schmerz meiner Vergangenheit war verblasst und ich wollte genießen und weitermachen. Früher kam in ruhigen Momenten in jenen, die man sich schafft, um sich wohl zu fühlen, in denen man sich auf das Leben richtig einlässt, wo es nichts Großes braucht, um sich abzulenken, in diesen Momenten kam immer eine Stimme. Eine Stimme, die mir sagte, fühl dich bloß nicht zu wohl. Sei dir bloß nicht zu sicher. Alles kann wieder weg sein, von einem Moment auf den anderen. Alles wird wieder weg sein.
Der Tod, er hinterlässt vor allem Unsicherheit. Er kommt, wann er will. Er gibt nicht Bescheid, und die Welt, die er zurücklässt, ist eine andere. Wenn die Stimme da war, war ich vom Sofa schon wieder herunter. Angst ist ein unglaublich guter Antreiber. Mein Vater hat sich in den Hinterkopf geschossen, sein Gesicht bleibt unverletzt, und ich werde mich für immer an diesen Moment in der Leichenhalle erinnern, als ich sein Gesicht anstarre, das so friedlich wirkt, und ich mich von ihm verabschiede und ihn dann Minute um Minute anstarre in der Hoffnung, er würde mir noch eine Antwort geben. Eine letzte. Ich kriege sie nie. Ich muss sie mir selbst geben und es selbst in die Hand nehmen, und diese Kontrolle gebe ich anschließend nie wieder ab. Seither habe ich schreckliche Angst vor dem Tod.
Dem größten Kontrollverlust überhaupt.
Aber mit den Jahren wurde diese Angst weniger und die Stimme leiser, und als ich dann einige Zeit mit Florian zusammen war, da war mein Leben wieder ruhiger und die Stimme weg. Ich war bereit für Neues.
Und dann kam die Angst mit Wucht zurück. Angst um mich. Panische Angst vor dem Tod. Davor, dass ich nicht mehr aufwachen werde, wenn ich abends einschlafe. Davor, dass ich auf der Autobahn fahre und mich jemand rammt und ich bin tot. Einfach so. Dass so etwas überhaupt möglich sein soll, dass ich überhaupt sterben muss, scheint mir wie ein schlechter Scherz. Ein Affront.
Ich will nicht tot sein. Niemals. Es gibt mir ein entsetzliches Gefühl, dass ich auf einmal nicht mehr da sein könnte. Mein Da-Sein, mein Bewusstsein zu verlieren und nicht mehr zu existieren.
Ich weiß schon, kaum ein anderes Thema ist so beladen und so aufgeladen wie die Angst vor dem Tod. Die Menschen fürchten ihn aus unterschiedlichen Gründen. Manche haben Angst, dass die Menschen sterben, die sie lieben. Manche haben Angst vor Alter und Krankheit. Manche haben Angst vor dem Sterben, einem möglichen Dahinsiechen. Manche finden die Vorstellung verstörend, in alle Ewigkeit zu verwesen. Das alles ist mir egal.
Nein, mir ist nicht egal, ob jemand stirbt, den ich liebe. Das macht mir auch Angst. Mehr Angst macht mir aber, dass ich diejenige sein könnte, die stirbt. Vermutlich ist das ein Zeichen von Narzissmus. Vielleicht eines von übersteigertem Egoismus. Auch das ist mir egal. Ich nehme mich im Leben nicht übermäßig wichtig, ich glaube nicht, dass ich irgendetwas herausragend gut kann oder dass die Welt mir etwas schuldet. Ich will nur eines, und zwar nicht sterben. Ich will übrig bleiben. Nach meinem Tod ist nichts mehr, mein Tod macht mein Leben sinnlos. Er setzt den Schlusspunkt. Er ist das Einzige, das niemals passieren darf.
All meine Lebensjahre hindurch habe ich gelernt, mir Dinge angeeignet, mich weitergebildet, ich habe mich aufgerappelt, nach jedem Schicksalsschlag und jedem Schmerz, immer wieder, und das soll das Ergebnis sein? Der Tod? Nein, damit finde ich mich nicht ab. Ich kann nicht. Und das ist ein Problem.
Ich kann nämlich nicht mehr schlafen.
Ich kann mich nicht entspannen. Ich kann nicht loslassen. Ich weiß nicht, wann ich sterben werde, wie viel Zeit mir noch bleibt, was ich noch tun kann und sollte, und ob es nicht vielleicht ohnehin egal ist. Also trinke ich Wein und Tee und rauche Joints, und alles hilft mir kurzzeitig, aber dann wache ich eben mitten in der Nacht auf und kann anschließend nicht mehr einschlafen.
Und wenn ich dann wach liege, denke ich darüber nach, was ich alles verpassen werde! Nachdem mein Vater tot war, wurde Barack Obama Präsident der USA, und ich konnte nur noch daran denken, dass mein Vater, dieser interessierte, aufgeklärte Mensch nie erleben konnte, dass ein Schwarzer Präsident der Vereinigten Staaten wurde. Wie konnte er das nicht erleben wollen? Wie kann ich auch nur im Ansatz akzeptieren, dass ich so etwas einmal nicht mehr erleben könnte?
Die Welt verändert sich stetig, und ich will das alles wissen! So oft kann man Ereignisse erst rückblickend einordnen und deuten, und ich will unbedingt dabei sein, wenn das passiert. Ich will eine Welt sehen, wie sie in hundert Jahren ist, wie sie im Jahr 3000 ist, ich will erleben, wie die Technik unser Leben revolutioniert, ich will wissen, wie lange es noch Zeitungen gibt, ich will sehen, wie die Kontinente sich verändern und wann es endlich eine Zugverbindung in meinen Heimatort gibt. Ich will wissen, wann die erste Frau Präsidentin der USA wird, wann überhaupt in jedem Land der Erde endlich einmal eine Frau Präsidentin wird.
Diese stete Angst vor dem Tod bringt mich also in ein ziemliches Dilemma. Sosehr ich es liebe zu leben, so sehr verfluche ich es, am Leben zu sein. Einmal hineingeboren, gibt es nur einen Weg wieder hinaus. Ich kann nicht nie sterben. Ich kann die Angst vor dem Tod vermutlich nur verlieren, indem ich sterbe, es also hinter mich bringen, um dann ohne Angst weiterleben zu können. Ja, ich erkenne die Ironie.
Ich kann den Tod nicht ablenken, und ich kann ihn nicht selbst in die Hand nehmen. Würde ich mich selbst töten, wäre ich ja schließlich auch tot. Es ist ausweglos. Und in meinen schlaflosen Nächten quält mich diese Ausweglosigkeit besonders, diese eine, aus der man niemals fliehen kann.
Manchmal überlege ich, ob ich mich einfrieren lassen soll. Ich weiß ziemlich viel über Kryokonservierung, also die Kältekonservierung von Organen oder ganzen Organismen, weil ich in manchen Nächten darüber nachlese.
Der Körper wird dabei statt mit Blut mit einer Kühlflüssigkeit gefüllt, manche glauben, so gefroren gelagert könne man Jahrhunderte schlafen und dann wieder aufgeweckt werden. Zugegeben, die Erfolgschancen sind fragwürdig, es fehlt das geeignete Mittel, das die körpereigenen Flüssigkeiten perfekt zu ersetzen vermag. Interessanterweise wird diese Form der Lebenserhaltung in Deutschland bisher nur für Haustiere angeboten. Als würde ich meine Katzen tieffrieren und mich nicht. Andererseits kommt mir das Prinzip ohnehin nicht entgegen, denn eingefroren und ohne jedes Bewusstsein oder Kontrolle über jedes weitere Vorgehen existiere ich ja auch nicht mehr. So ist es also außer teuer wahrscheinlich nichts.
Ein erstaunliches Detail: Es ist in den USA möglich, nur den Kopf einfrieren zu lassen, das ist dann die kostengünstigere Variante. Jedenfalls, so oder so, ich verwerfe den Gedanken regelmäßig.
Also ist vielleicht das Einzige, was ich tun kann, um die dunkle, dumpfe Furcht, die in mir lauert, zu besiegen: mich so ausführlich wie nur möglich mit dem Tod zu beschäftigen und mich meiner Angst zu stellen.
Reden wir über den Tod!
Ich glaube, dass ich die Dinge erst verstehe, wenn ich sie mir erklären kann. Und wenn ich sie verstehe, machen sie mir keine Angst mehr. Wenn ich also lerne, den Tod zu verstehen, dann kann ich vielleicht gut mit der Gewissheit leben, dass ich sterben muss.
Der dänische Philosoph SØren Kierkegaard sagte, die Kunst des rechten Sterbens bestehe nicht in einer Verharmlosung des Todes, sondern darin, sich mit dem eigenen Sterben zusammenzudenken. Also gut, denke ich mich zusammen. Vielleicht schafft das Bewusstsein um mein Ende ein größeres Bewusstsein meines Lebens und mir dadurch ein lebenswerteres und erfüllteres Leben. Aber vielleicht ist das auch einfach nur eine idiotische Idee.
Ich weiß ja, dass ich lebe. Das macht mir ja solche Angst. Wäre ich nie geboren worden, wäre ich nicht in einer solch ausweglosen Situation.
Ich beschließe, die Angst vor dem Tod mit etwas zu kompensieren, das der Auslöschung entgegensteht, lasse den Computer stehen und hole eine Flasche Wein, nehme meinem Mann die Zeitung weg und ziehe ihn ins Schlafzimmer. Das Leben ist kein Spiel und Verdrängung eine der wenigen guten Fähigkeiten des menschlichen Geistes.
»Vielleicht lasse ich diese philosophische Seite einfach mal sein und konzentriere mich auf die praktische. Hm?«, sage ich ein paar Abende später zu meiner Freundin Giuli, die gerade Pistazienschalen in einen Aschenbecher schnippt. Sie ist Journalistin so wie ich, und sie denkt ähnlich wie ich: Wo ich nichts weiß, weil ich es nicht wissen kann, muss ich eben dort beginnen, wo es Wissen gibt. Der Mensch weiß nicht, was nach seinem Tod mit seinem Geist passiert und ob überhaupt etwas damit passiert, aber er hat erforscht, was mit seinem Körper passiert. Giuli sieht mich an und grinst.
»Na, dann ab ins Leichenschauhaus«, sagt sie.
When the clock strikes two, three and four
If the band slows down we’ll yell for more
Bill Haley
In Hamburg gibt es einen, den nennen sie Professor Tod. Klaus Püschel ist einer der profiliertesten deutschen Rechtsmediziner, Direktor des Instituts für Rechtsmedizin der Hamburger Universität, stellvertretender Direktor des Zentrums für Interdisziplinäre Suchtforschung. Er arbeitet in der Welt der Toten. Er hat Tausende Tote gesehen, an manchen Tagen sind es 150.
Auf Wikipedia lese ich, er habe bei verschiedenen archäologischen Funden die Toten untersucht, etwa die Moorleichen der Frau von Peiting, des Jungen von Kayhausen, des Kindes aus der Esterweger Dose, des Mädchens aus dem Uchter Moor oder auch den sogenannten Hamburger Störtebekerschädel. Ich weiß nicht, was das heißt, aber ich hoffe, er erklärt es mir. Jedenfalls hat er versprochen, mich zu treffen.
In Hamburg gibt es europaweit das einzige öffentliche Leichenschauhaus, das heißt, hier werden sämtliche Leichen von nicht natürlichen und ungelösten Todesfällen untersucht. Püschel, groß, schlank, geht mit mir vom ersten Stock in den Keller, dann muss ich einen grünen Kittel anziehen, ähnlich, wie ihn Chirurgen tragen. Wir gehen durch die Tür, und Püschel bleibt kurz stehen. Ab jetzt können hier Tote herumliegen, sagt er.
»In Ordnung?«
Ich nicke.
Ja, in Ordnung. Im selben Moment denke ich mir, keine Ahnung, ob das in Ordnung ist. Ich war noch nie an einem Ort, an dem fremde Tote sichtbar herumliegen konnten. Ich weiß nicht, wie ich das finde. Wie das mein Körper findet.
Wir gehen weiter, und tatsächlich, da liegt ein Toter. Ein alter Mann, wächsern, nackt, Brusthaare. »Geht’s?«, der Professor sieht mich aufmerksam an. »Können Sie an dem vorbeigehen?« Ich überlege kurz.
Ich fühle mich gut. Der Mann sieht ein wenig aus wie eine Puppe, und er ist nur tot, daran ist nichts Gruseliges. Oder? Ich nicke.
Wir gehen an dem Mann vorbei und nach rechts, hinein in einen kargen länglichen Raum. Auf der linken Seite sind nebeneinander metallene Türen, alle mit Nummern versehen. Die Nummern der Toten. Hinter jeder Tür drei Tote. Püschel sucht einen bestimmten Toten, er braucht einen, bei dem man eine neue Möglichkeit der Hüftoperation testen kann. Er öffnet eine der Türen, und da wird mir anders. Zunächst ist da ein süßlicher Geruch, der stärker wird. In Schieberegalen liegen drei Leichen übereinander, man sieht nur ihre Füße, der Rest ist bedeckt. Manche Füße sind ganz wächsern, manche rosig, manche bläulich. Das kommt darauf an, wie viel Blut sie bisher verloren haben und wie lange sie bereits hier drinnen liegen.
Ich drehe mich weg, mit wenig Erfolg, denn durch einen Durchgang auf der rechten Seite sehe ich im Nebenzimmer Operationstische, und auf einem steht der Rumpf eines Mannes. Nur der Rumpf. Ich bin ein wenig verstört. Püschel unterdessen steckt ungehemmt seine Nase zwischen die Regale.
»Für Sie sind Leichen nichts Besonderes, ja?«, frage ich ihn. Er sieht mich überrascht und dann leicht amüsiert an. »Das sind nur tote Menschen. Die Lebenden sind für mich besonders.« Ich überlege. Da hat er natürlich recht. »Haben Sie denn schon einmal eine Leiche gesehen?«, fragt er mich. Ich nicke.
Ja, zweimal schon. Meinen Bruder, meinen Vater. Das erste Mal im Jahr 2004. Am Tag nach dem Tod meines Bruders bin ich mit dem Auto ins Burgenland gerast, und dann saß ich eine halbe Stunde auf dem feuchten und kalten Betonboden vor der Prosektur in Güssing, weil ich auf den Leichenwagen gewartet habe, der meinen Bruder bringt.
Ich weiß noch, dass es in der Früh geregnet hat, und danach roch es. Nach den Bäumen, die hinter dem Haus stehen, nach nasser Erde und abgefallenen Blättern. Auf der Bahre im Leichenwagen lag dann mein Bruder. Sein Gesicht hatte eine bläuliche Blässe, es war ein wenig gefleckt. Ich weiß, dass ich sehr erschrocken war. Er sah aus wie immer und irgendwie auch überhaupt nicht wie er.
Woher dieses komische Gefühl, wenn man Tote sieht? Wieso ist es für uns so ungemütlich, eine Leiche zu sehen? Weil ich Angst davor habe, dass ich es einmal sein könnte? Weil es den Tod so erschreckend real macht?
»Mein Bruder ist vor elf Jahren gestorben. Können Sie mir sagen, wie seine Leiche jetzt aussieht?« Püschel sieht mich an. Netter Blick. Offen. »Je nachdem, wie stabil der Sarg war, ist der jetzt wahrscheinlich eingebrochen. Es wird noch ein bisschen Fleisch auf den Knochen sein, vielleicht noch ein wenig Kleidungsreste. Sonst nur Knochen.« Mein Bruder. Nur Knochen.
Ist mir das wichtig? Wo fängt der Tod an? Mein Bruder fehlt mir, aber ist es von Bedeutung, was mit seinem toten Körper ist? Ich kann nicht sagen, dass ich mich besonders unwohl gefühlt habe unter den Toten im Keller. Ich habe mich aber auch nicht wohl gefühlt. Ich hätte die Toten nicht anfassen wollen, aber vielleicht ist das Gewöhnungssache. Erst nachher, als ich wieder in Püschels Büro sitze, fällt mir auf, dass ich ständig flach geatmet habe. Mir ist etwas flau im Magen.
In Püschels Büro herrscht ein kontrolliertes Durcheinander, es türmen sich Ordner, Notizen, Akten, Bücher, einige mit seinem Namen darauf. In den Regalen: Köpfe, Skelette, Knochenreste. Manche echt, manche nicht. Das Skelett seines eigenen Kopfes als Plastik gegossen.
Püschel lebt unter den Toten und auch wieder nicht. Der Professor ist seit vier Jahrzehnten verheiratet, er hat drei Kinder und fünf Enkel. Der Tod, er ist für ihn nur die logische Konsequenz. Das Ende eines erfüllten Lebens.
Nach dem Treffen mit Püschel gehe ich mit Florian in seiner Mittagspause essen. Weil ich nicht darüber nachdenke, bestelle ich mir ein Grillhähnchen. Haut, weißes Fleisch. Ich esse einen Bissen, dann muss ich es wegschieben. Leider habe ich mir damit Hähnchen auf ewig verdorben.
Für den Moment habe ich genug von echten Leichen und entscheide mich für nüchterne Recherche. Es gibt auf der ganzen Welt vier Body-Farmen. Nur vier. Body-Farmen sind Gelände, auf denen getestet und wissenschaftlich untersucht wird, wie sich Umwelt, Zeit, Stoffe und anderes auf den menschlichen Körper nach dessen Tod auswirken. Da liegen Körper im Freien unter der Sonne, manche in Glaskästen, manche sind voller Würmer, bei manchen existieren nur noch bloße Knochen mit ledergegerbten Überresten von Haut. Auf den ersten Blick mag das gruselig klingen, aber eigentlich ist es das nicht. Es ist wichtig, dass der Mensch weiß und sehen kann, was mit dem Körper nach dem Tod passiert. Es ist wichtig, um Mordfälle aufklären zu können, es ist aber auch wichtig, um zu verstehen, was ein Körper aushält, woraus er besteht und was ihm wie sehr und in welchem Zeitraum zusetzt. Wir können nur leben, wenn unser Körper funktioniert, und warum er das wann nicht tut, ist wichtig zu wissen.
Alle vier Body-Farmen liegen in den USA, und sie gehören alle zu Universitäten. Da ist eine in Tennessee, eine in North Carolina, eine im Südosten und eine im Osten von Texas. Zwei in Texas? Ja, weil die durchschnittliche Jahrestemperatur in beiden Regionen verschieden ist und das einen erheblichen Einfluss auf die Verwesung hat. In Indien wird momentan über die Gründung einer eigenen Body-Farm nachgedacht, aber in ganz Europa, in ganz Afrika oder Asien gibt es keinen Ort, an dem eigenständige Forschung betrieben wird. Das finde ich erstaunlich.
In Anbetracht dessen, dass jeder Mensch sterben wird und der Tod nicht nur eine Faszination auf den lebenden Menschen ausübt, sondern auch eines der wenigen Dinge ist, die seit Jahrhunderten als letzte Mysterien gelten, ist es doch verwunderlich, dass nur so wenige ihn auch tatsächlich am realen toten Objekt untersuchen wollen.
Die weltweit erste und lange Zeit auch einzige BodyFarm, sozusagen die Mutter aller Body-Farmen, ist jene in Tennessee. Dort wird untersucht, welchen Einfluss Todesart, Alter, Geschlecht, Witterung oder Leichenlagerung auf die Verwesungsgeschwindigkeit hat. Der Verwesungsprozess wird dokumentiert, alle sechs Stunden werden die Leichen fotografiert, es werden Geruchsproben entnommen, und Entomologen untersuchen die Leichen auf Insekten. Außerdem wird das Gelände für die Forensik-Ausbildung von Special Agents des FBI genutzt.
Es gibt im Internet eine Menge Videos über die Body-Farm in Tennessee, also denke ich, da kann ich doch mal reinsehen. Bei meinem ersten Versuch komme ich bis Minute 15, und dann sieht man, wie Würmer aus den Eiern geschlüpft sind und sich aus Augen und Nase winden, und ich muss ganz schnell abdrehen. Am liebsten würde ich noch meinen Browserverlauf löschen, aus einer unwillkürlichen Angst heraus, die Würmer könnten sich materialisieren und aus meinem Bildschirm kriechen. Zu eklig. So abgebrüht bin ich nicht, dass ich mir so etwas ansehen kann. Und so abgebrüht bin ich nicht, dass ich mir denke, es wäre mir egal, würden sie aus meinem eigenen toten Schädel kriechen.
Im Grunde also eine Angst mehr als eine weniger.
Dann gehe ich es pragmatisch an: Würmer sind okay. Ich habe nichts gegen Würmer, ich ekle mich auch nicht vor ihnen. Ich würde sie nicht essen, und ich mag sie nicht auf meinem Körper haben, aber ich verstehe, dass unser Ökosystem sie braucht und dass sie an sich nicht widerlich sind. Ich googele also Würmer und Tod, und wer das tut, der kommt schnell zu jemandem, der sich Herr der Maden nennt: Mark Benecke, Kriminalbiologe und Spezialist für forensische Entomologie.
Oder verständlicher: Benecke untersucht Insekten auf Leichen, um Todeszeitpunkt, Todesart und Todesumstände zu bestimmen. Ich suche forensische Entomologie, und ich würde jedem davon abraten, insbesondere davor, sich die dazugehörigen Fotos anzusehen. Also jedem, der da so empfindlich ist wie ich.
Jedenfalls hält Benecke einen Vortrag in Hamburg, und ich denke mir, den höre ich mir an. Die Veranstaltung ist in der Fabrik im Stadtteil Altona, einem der bekanntesten Kultur- und Kommunikationszentren Hamburgs. Schon als ich dort ankomme, bin ich verwundert. Es ist ein Klub, eine Konzerthalle, mit Graffiti besprayte Wände, dröhnende Musik. Hier spielten einmal AC/DC, Chuck Berry, Nina Simone, Blumfeld – und heute also der Herr der Maden.
Die paar hundert Sitzplätze sind bereits besetzt, und ich bin überrascht von dem sehr unterschiedlichen Publikum. Da sitzen Hausfrauen mit Topfhaarschnitt neben Punks mit langen, grünen Haaren und Rockerpärchen in Lederhosen neben Professoren mit randloser Brille und grauem Dreitagebart. Hamburger Bildungsbürger und ihre alternativen Nachkommen, erstaunlich, was sie alle vereint.
Leider hat der Vortrag an diesem Abend keinen Titel, denn Benecke lässt sein Publikum selbst wählen. Und da setzen sich die Hamburger Bildungsbürger dann gleich einmal durch: Sie wählen das mir am langweiligsten scheinende Thema, nämlich »Mord im Museum«.
In den folgenden Stunden untersucht nun der Herr der Maden, ein freundlicher und sarkastischer Mann mit abrasiertem Haar und Steve-Jobs-Brille, Dias von mittelalterlichen Gemälden. Er erklärt, woher die abgebildeten Verletzungen wohl gekommen sind, welche Insekten welche Todesmale hinterlassen, wie Kreuzigungen tatsächlich funktionieren, was beim Erhängen passiert und ja, er zeigt dazugehörige Fotos. Ich sehe mich um. Die meisten Menschen werden munter, wenn Benecke Fotos von echten Toten zeigt.
Fotos von Tatorten. Fotos mit Blut. Es ist wie eine Folge der Serie »Criminal Minds«, nur in echt. Benecke macht das gut. Er lässt nie zu viel Realität zu, und er redet und redet und redet, er ist nicht zu stoppen. Alle paar Minuten macht er einen Witz, und das Publikum lacht erleichtert.
Dann wieder ein Foto einer Toten und eine Geschichte.
Der Tod als Event.
Die Verwesung als Entertainment.
Ich bin erstaunt, dass so viele Menschen gekommen sind, um sich das anzusehen. Benecke ist unglaublich bekannt, und sein Geschäft scheint einträglich zu sein. Hinten im Saal wird ein meterlanger Tisch aufgebaut, es werden seine Bücher verkauft, Gesellschaftsspiele, Plastikwürmer, Gimmicks rund um Tod und Verwesung. In der Pause drängen sich die Menschen daran vorbei. Nach dem Vortrag werden sie nach Hause gehen und haben sich einen Abend lang gegruselt. Als ich sie frage, warum sie hier sind, habe ich das Gefühl, sie wissen es selbst nicht recht. Sie antworten, sie hätten eben das Plakat gesehen. Oder es sei einmal etwas anderes. Oder sie hatten von Benecke gehört, der in der Satirepartei »Die Partei« aktiv ist, und wollten ihn einmal live sehen. Kabarett zum Thema Tod.
Keiner, den ich frage, bringt das Gezeigte mit seinem eigenen Tod in Zusammenhang. Oder mit dem eines bekannten Menschen. Dieser Tod hier, es ist der von anderen. Der eigene, der einen berührt, ist privat und intim. Die Spaltung kann ich nachvollziehen, trotzdem kommt sie mir komisch vor. Wo mache ich den Unterschied?
Benecke zeigt das Dia einer Frau, die im Rollstuhl saß. Ihr Alkoholikerehemann hat sie in dem winzigen, vielleicht 15 Quadratmeter großen Wohnwagen, in dem sie gelebt haben, erstochen. Er erklärt, wie er das beweisen konnte, wo doch Stichverletzungen eigentlich nicht stark bluten. Sie hatte sich vorne übergelehnt, um die Wunde im Spiegel besser betrachten zu können. Durch das Überbeugen hätte es angefangen zu bluten, und letztendlich sei sie daran gestorben. Nicken im Publikum.
In der Pause gehe ich. Ich, die ich so oft sarkastische Witze über den Tod mit Freundinnen reiße, finde das hier zu makaber. Wie kann das sein? Diese Toten, wie sie da so völlig ungeschützt auf Dias gezeigt werden, während Hunderte Menschen sie betrachten und dabei auf den nächsten saloppen Satz ihres Redners warten – es kommt mir komisch vor. Es ist nichts Falsches daran, und gleichzeitig kommt es mir falsch vor.
Eine gesunde Respektlosigkeit vor dem Tod finde ich schon wichtig. Aber dann sollte sie ehrlich sein. Es ist, als würden einem diese Veranstaltungen den Kitzel geben, den das Mysterium Tod noch hat. Ohne dass man riskieren muss, mit seinen Gefühlen oder Gedanken zu tief einzutauchen. Es kommt mir vor, als gebe es da einen großen Unterschied zwischen Leichen und Tod. Der Tod ist ein Mysterium, etwas schwarzes Erhabenes. Leichen kann man ansehen, sie können einen gruseln lassen. Sie taugen zum Entertainment. Und Benecke ist ihr Meister. Ich fahre nach Hause.
Wenige Tage später stirbt Helmut Schmidt, einer der größten Söhne der Stadt an der Elbe. Die Trauerfeier im Hamburger Michel wird auf mehreren deutschen Sendern live übertragen. Es gibt viele Reden und wunderschöne Musik, und ich überlege, wie ich meine Beerdigung gerne hätte, und welche Reden, welche Musik Menschen wohl gerne bei ihrer haben.
Die Plattform bestattungen.de erhebt jedes Jahr die Top-Ten-Liste der gefragtesten Lieder bei Beerdigungen, also suche ich mir die Liste für das Jahr 2015.
Gereiht von Platz eins waren das:
Time To Say Goodbye – Sarah Brightman
Ave Maria – Franz Schubert
Candle In The Wind – Elton John
Das Leben ist schön – Sarah Connor
My Way – Frank Sinatra
Amoi seg’ ma uns wieder – Andreas Gabalier
Der Weg – Herbert Grönemeyer
I Will Always Love You – Whitney Houston
Only Time – Enya
Air Suite Nr. 3 – Johann Sebastian Bach
Ein paar davon kann ich nachvollziehen, so wie Bach, die meisten davon nicht. Ich fände ja »Here comes the Sun« von George Harrison schön oder auch »Happy days are here again« von Charles King. Doch beides höre ich lieber jetzt gleich und lebend, als zu wissen, dass sie dann alle anderen hören, während ich tot bin. Eigentlich ist es mir momentan völlig egal, was den Menschen um mein Grab herum vorgetragen wird. Es ist mir auch egal, ob sie mich verbrennen, neben der Autobahn verscharren oder mir ein Denkmal bauen.
Jedenfalls: Bei Schmidts Beerdigung ist alles voller Respekt, voller Liebe. Die Stimmung, die Beerdigung, die Gesichter. Intelligentere Menschen, als ich es bin, sagen, der Tod ist das Einzige, das alle Menschen vereint. Er trifft jeden, unabhängig von Herkunft, sozialem Status, Reichtum.
Der große Gleichmacher unter uns Menschen.
Es ist wahr, jeder Mensch stirbt. Und in seinem Moment des Todes ist jeder Mensch alleine. Doch stirbt jeder Mensch unterschiedlich, und jeder Tod wird von Menschen anders wahrgenommen.
Im Tod sind alle Menschen gleich? Nein.
Nichts an ihrem Tod, nichts an ihrem Abschied aus der Welt war gleich zwischen Helmut Schmidt, angesehenem Elder Statesman, entschlafen im Krankenhaus mit ärztlicher Betreuung und umringt von seinen Lieben, verabschiedet in einem Staatsakt, mit jedem Respekt, der ihm gebührt, und einer namenlosen Frau, die in ihrem Wohnwagen erstochen wurde und deren Leiche auf Fotos bei Vorträgen die Runde macht und Menschen sich gruseln lässt. Ich sage nicht, dass das unfair ist. Menschenleben sind unterschiedlich, also sind ihre Tode es auch. Sie spiegeln wider, was im Leben war. Manche Menschen kriegen Chancen und nutzen sie, manche kriegen welche und nutzen sie nicht, manche kriegen nie eine Chance, und manche sollten eine zweite bekommen. Und nur ganz wenige sind ausgesprochene Persönlichkeiten wie Helmut Schmidt.
Wenn ich einmal sterbe, und ich es mir wünschen darf, hätte ich gern, dass mein toter Körper nicht zur Abendunterhaltung in einem Hamburger Klub dient. Vermutlich wäre mir dann aber sogar das egal.
»Vielleicht ist der Tod nur für die Hinterbliebenen unterschiedlich«, sagt Florian, als ich abends mit ihm darüber rede.
Ja, vielleicht. Vielleicht registriere ich in meinen letzten Atemzügen aber auch, warum und wie ich diese Welt verlasse. Das kann ich nicht vorausplanen.
Meiner Angst vor dem Tod setzt der Besuch bei Benecke nichts entgegen. Ähnlich wie bei den Leichen im Leichenhaus lässt es mich aber noch verstörter zurück.
The more I see, the less I know for sure.
John Lennon
All die toten Menschen in dem Leichenschauhaus zu sehen führt für mich vor allem zu einer Frage: Wieso sind sie tot? Wieso sterben Menschen?