Parker Pyne ermittelt - Agatha Christie - E-Book

Parker Pyne ermittelt E-Book

Agatha Christie

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  • Herausgeber: Atlantik
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Diebstahl, Mord und weitere Herzensangelegenheiten  Der pensionierte Regierungsbeamte James Parker Pyne mag sein Leben so ganz ohne Arbeit einfach nicht. Also inseriert er in der  Times  seine detektivische Hilfsbereitschaft: "Sind Sie glücklich? Falls nicht, melden Sie sich bei Mr Pyne." Schon bald hagelt es Anfragen von gelangweilten, aber abenteuerlustigen Mitmenschen, über die Parker Pyne selbst in so manch kniffligen Fall hineingerät, Mord inklusive. Und der selbsterklärte Detektiv des Herzens erweist sich als brillanter Ermittler. 

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Seitenzahl: 273

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Agatha Christie

Parker Pyne ermittelt

Kriminalistische Erzählungen

Aus dem Englischen von Marcel Aubron-Bülles

Atlantik

Der Fall der enttäuschten Hausfrau

Einem viermaligen Grunzen folgte die ungehaltene Frage, warum man ihn nicht einfach in Ruhe lassen könne. Dann schlug Mr Packington die Tür hinter sich zu und fuhr mit dem Zug um acht Uhr fünfundvierzig in die Stadt. Mrs Packington saß am Frühstückstisch. Ihr Gesicht war puterrot angelaufen, und ihre Lippen waren zu einem schmalen Strich geworden. Es gab nur eins, das ihren Kummer nicht in Tränen verwandelte, und das war grenzenlose Wut. »Das lasse ich mir nicht bieten!«, sagte Mrs Packington. »Ich lasse mir das nicht bieten!« Sie blieb einige Augenblicke grübelnd sitzen und murmelte dann: »Diese Hexe. Widerliches, gerissenes, kleines Biest! Wie kann George nur so ein Dummkopf sein.«

Ihre Wut verging, und der Kummer kehrte zurück. Tränen traten Mrs Packington in die Augen und liefen ihr über das Gesicht, das Gesicht einer Frau mittleren Alters. »Ich kann hier sitzen und davon reden, dass ich es mir nicht gefallen lasse, aber was kann ich schon tun?«

Plötzlich fühlte sie sich einsam und verlassen, hilflos und elend. Langsam nahm sie das Morgenblatt zur Hand und las eine Anzeige auf der Titelseite, und das nicht zum ersten Mal.

»Lächerlich!«, sagte Mrs Packington. »Vollkommen lächerlich.« Und dann: »Na ja, ich könnte ja vielleicht …«

Das erklärt, warum Mrs Packington trotz einiger Nervosität um elf Uhr morgens in Mr Parker Pynes Büro geführt wurde.

Wie bereits gesagt, war Mrs Packington nervös, aber schon der schiere Anblick von Mr Parker Pyne beruhigte sie sehr. Er war wohlbeleibt, um nicht zu sagen fett; sein kahler Schädel hatte einen geradezu prächtigen Umfang, die Dicke seiner Brillengläser war mindestens genauso beeindruckend, und seine Augen funkelten verschmitzt.

»Bitte nehmen Sie Platz«, sagte Mr Parker Pyne. »Sie sind aufgrund meiner Anzeige hierhergekommen?«, fragte er freundlich.

»Ja«, antwortete Mrs Packington, sprach jedoch nicht weiter.

»Und Sie sind nicht glücklich«, sagte Mr Parker Pyne auf seine fröhliche, aber zugleich sachliche Art. »Die wenigsten Menschen sind das. Sie wären vermutlich sehr überrascht zu hören, wie wenige von uns wirklich glücklich sind.«

»Tatsächlich?«, fragte Mrs Packington, aber insgeheim dachte sie, dass es für sie nur von geringem Belang war, ob andere Menschen glücklich waren oder nicht.

»Das ist für Sie uninteressant, ich weiß«, sagte Mr Parker Pyne, »aber für mich ist es interessant. Wissen Sie, fünfunddreißig Jahre lang habe ich bei einer staatlichen Behörde Statistiken erstellt. Nun bin ich in Rente, und ich hatte die Idee, dass ich all meine Erfahrung auf neuartige Weise einsetzen könnte. Es ist eigentlich recht einfach. Die Gründe für fehlendes Glück lassen sich in fünf Kategorien einordnen – nicht mehr und nicht weniger, das versichere ich Ihnen. Sobald der Grund für das jeweilige Leiden erkannt ist, liegt eine Heilung sehr wohl im Bereich des Möglichen. Ich übernehme in diesem Fall die Aufgabe des Arztes. Zuerst diagnostiziert der Arzt die Erkrankung des Patienten, und dann schlägt er eine Behandlung vor. Es gibt Fälle, bei denen eine Behandlung nicht möglich ist. Wenn dem so ist, dann gestehe ich offen ein, dass ich nichts für Sie tun kann. Aber ich versichere Ihnen, Mrs Packington, wenn ich den Fall annehme, dann ist die Heilung praktisch garantiert.«

Konnte das wirklich sein? War es nur Unsinn, oder sprach er vielleicht die Wahrheit? Mrs Packington schaute ihn hoffnungsvoll an.

»Wollen wir Ihren Fall diagnostizieren?«, fragte Mr Parker Pyne lächelnd. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und legte die Fingerspitzen aufeinander. »Ihre Sorgen haben mit Ihrem Ehemann zu tun. Sie haben ein insgesamt recht glückliches Eheleben geführt, und Ihr Ehemann, so scheint es mir, ist recht erfolgreich gewesen. Ich gehe davon aus, dass in diesem Fall eine junge Frau im Spiel ist – vielleicht eine junge Frau im Büro Ihres Ehemanns.«

»Eine Schreibkraft«, meinte Mrs Packington. »Ein kleines, widerliches, aufgehübschtes Biest. Besteht nur aus Lippenstift, Seidenstrümpfen und Locken«, brach es plötzlich aus ihr hervor.

Mr Parker Pyne nickte beschwichtigend. »Da ist doch nichts Schlimmes dran – ich bin mir sicher, dass es Ihr Ehemann so formuliert.«

»Das sind genau seine Worte.«

»Warum sollte er daher nicht einfach die Freundschaft dieser jungen Frau genießen und ihr schlichtes Dasein mit ein wenig Freude, ein wenig Fröhlichkeit verschönern? Das arme Kind, es hat so wenig zu lachen. Ich nehme an, so denkt er darüber.«

Mrs Packington nickte energisch. »Humbug – alles Humbug. Er nimmt sie mit auf Flussrundfahrten – dabei mag ich das auch sehr gerne, aber die letzten fünf oder sechs Jahre meinte er nur, das gehe wegen seiner Golftermine nicht. Aber für sie kann er sein Golf ausfallen lassen. Ich gehe gerne ins Theater – George hat immer gesagt, er wäre zu müde, um abends noch ausgehen zu können. Jetzt geht er mit ihr tanzen – tanzen! Und kommt erst um drei Uhr nachts nach Hause. Ich – ich –«

»Und zweifellos beklagt er sich über die Tatsache, dass Frauen so eifersüchtig sind, wenn es dazu überhaupt keinen Anlass gibt?«

Erneut nickte Mrs Packington zustimmend. »So ist es.« Sie fragte ihn im scharfen Ton: »Woher wissen Sie das alles?«

»Statistiken«, lautete Mr Parker Pynes einfache Antwort.

»Ich fühle mich so elend«, meinte Mrs Packington. »Ich bin George immer eine gute Frau gewesen. Als wir frisch zusammen waren, habe ich Knochenarbeit geleistet. Ich habe ihm geholfen, etwas aus sich zu machen. Ich habe nie auch nur einen Gedanken an einen anderen Mann verschwendet. Seine Sachen sind immer gut gepflegt, er bekommt etwas Ordentliches zu essen, und sein Heim wird gut und sparsam geführt. Und jetzt, wo wir etwas in der Welt erreicht haben und uns endlich etwas leisten und reisen könnten, um endlich mal all das zu tun, worauf ich mich immer gefreut habe – jetzt das!« Sie holte tief Luft.

Mr Parker Pyne nickte ernst. »Ich versichere Ihnen, dass ich Ihren Fall bestens verstehe.«

»Und – können Sie irgendetwas tun?« Ihre Frage kam in einem Flüsterton.

»Selbstverständlich, meine Liebste. Es gibt ein Heilmittel. O ja, es gibt ein Heilmittel.«

»Was für eins?«, fragte sie erwartungsvoll und mit großen Augen.

Mr Parker Pyne sprach leise und entschlossen. »Sie werden tun, was ich Ihnen sage, und mein Honorar beträgt zweihundert Guineen.«

»Zweihundert Guineen?«

»Genau. Sie können sich ein solches Honorar leisten, Mrs Packington. Sie würden diese Summe auch für eine Operation ausgeben. Glück ist genauso wichtig wie Ihre körperliche Gesundheit.«

»Ich bezahle Sie im Nachhinein, nehme ich an?«

»Ganz im Gegenteil«, sagte Mr Parker Pyne. »Sie bezahlen mich im Voraus.«

Mrs Packington stand auf. »Ich bedaure, aber ich sehe keine Möglichkeit –«

»Die Katze im Sack zu kaufen?«, fragte Mr Parker Pyne gut gelaunt. »Nun, Sie haben vielleicht recht. Das Risiko ist eine solche Summe vielleicht nicht wert. Sie müssen mir vertrauen, verstehen Sie. Sie müssen diese Summe bezahlen und es darauf ankommen lassen. So lauten meine Bedingungen.«

»Zweihundert Guineen?«

»Genau. Zweihundert Guineen. Das ist eine Menge Geld. Guten Tag, Mrs Packington. Lassen Sie es mich wissen, wenn Sie Ihre Meinung ändern sollten.« Er reichte ihr die Hand und lächelte unbeirrt.

Nachdem sie gegangen war, drückte er einen Summer auf seinem Schreibtisch. Eine abschreckend wirkende junge Frau mit Brille erschien.

»Eine Akte, Miss Lemon. Und Sie sollten Claude darauf vorbereiten, dass ich seine Dienste bald wieder in Anspruch nehmen werde.«

»Eine neue Klientin?«

»Eine neue Klientin. Sie sträubt sich im Moment noch, aber sie wird zurückkommen. Vermutlich heute Nachmittag gegen vier. Legen Sie sie schon mal an.«

»Schema A?«

»Schema A, natürlich. Es ist interessant zu sehen, dass alle Leute glauben, ihr Fall wäre etwas Besonderes. Nun ja, warnen Sie Claude schon mal vor. Nichts zu Exotisches, sagen Sie ihm das. Kein Duftwässerchen, und er sollte sich besser die Haare kurz schneiden lassen.«

Es war Viertel nach vier, als Mrs Packington Mr Parker Pynes Büro erneut betrat. Sie zog ihr Scheckheft hervor, schrieb einen Scheck aus und überreichte ihn. Sie erhielt eine Quittung.

»Und nun?«, fragte Mrs Packington erwartungsvoll.

»Und nun«, sagte Mr Parker Pyne mit einem Lächeln, »werden Sie nach Hause gehen. Morgen früh erhalten Sie mit der Post entsprechende Anweisungen. Ich bitte Sie freundlichst, diese auszuführen.«

Mrs Packington kehrte in bester Laune nach Hause zurück und freute sich auf den nächsten Tag. Mr Packington kam mit wohlüberlegten Rechtfertigungen heim, denn er wollte seinen Standpunkt deutlichst vertreten, sollte die Diskussion vom Frühstückstisch eine Wiederholung finden. Er war aber sehr erleichtert, als er bemerkte, dass seine Frau in keinster Hinsicht angriffslustig wirkte. Sie war nur ungewöhnlich nachdenklich.

George lauschte dem Radioprogramm und fragte sich, ob dieses nette Kind, Nancy, ihm erlauben würde, ihr einen Pelzmantel zu schenken. Sie war sehr stolz, das wusste er. Er wollte sie auf keinen Fall beleidigen. Dennoch – sie hatte sich so über die Kälte beklagt. Ihr Tweedmantel bestand aus billigem Stoff, und warm hielt er auf jeden Fall nicht. Vielleicht konnte er es so formulieren, dass er sie nicht verärgerte …

Sie sollten möglichst bald wieder ausgehen. Es bereitete ihm größtes Vergnügen, ein solches Mädchen in ein elegantes Restaurant einzuladen. Er hatte bemerkt, wie ihn mehrere junge Burschen beneideten. Sie war außergewöhnlich gut aussehend. Und sie mochte ihn. Sie hatte ihm gesagt, dass sie ihn überhaupt nicht für alt hielt.

Er blickte hoch und bemerkte seine Frau. Plötzlich überkamen ihn Schuldgefühle, was ihn wütend machte. Was für eine engstirnige, misstrauische Frau Maria doch war! Sie neidete ihm selbst das kleinste bisschen Glück.

Er schaltete das Radio aus und begab sich zu Bett.

Mrs Packington erhielt am nächsten Morgen drei unerwartete Briefe. Der erste enthielt die schriftliche Terminbestätigung bei einem bekannten Kosmetiker. Der zweite enthielt einen Termin bei einem Schneider. Der dritte war eine Einladung von Mr Parker Pyne zum Mittagessen im Ritz.

Mr Packington erwähnte, dass er am Abend wohl nicht zum Essen zu Hause sein würde, da er noch einen Geschäftstermin hatte. Mrs Packington nickte nur geistesabwesend, und Mr Packington gratulierte sich insgeheim dafür, dem drohenden Sturm entkommen zu sein.

Der Kosmetiker war beeindruckend. Solche Nachlässigkeit! Madame, aber warum? Das hätte schon vor Jahren angegangen werden sollen. Aber es war noch nicht zu spät.

Man stellte Dinge mit ihrem Gesicht an; es wurde gewalkt und geknetet und im Dampfbad behandelt. Es bekam eine Schlammpackung. Verschiedenste Cremes wurden aufgetragen. Es wurde mit Puder bestäubt. Dann gab man ihr den letzten Schliff.

Am Ende reichte man ihr einen Handspiegel. »Ich glaube, ich sehe tatsächlich jünger aus«, dachte sie bei sich.

Der Aufenthalt beim Schneider war genauso spannend. Sie verließ seine Räumlichkeiten als elegante, modisch gekleidete Frau.

Um halb zwei erschien Mrs Packington pünktlich zu ihrer Verabredung im Ritz. Mr Parker Pyne machte nicht nur einen einwandfreien Eindruck, was seine Kleidung anbetraf, er vermittelte ihr auch ein Gefühl der Sicherheit, und er wartete bereits auf sie.

»Bezaubernd«, sagte er mit erfahrenem Blick, als er sie von oben bis unten betrachtete. »Ich war so frei Ihnen bereits einen White Lady zu bestellen.«

Mrs Packington, die in ihrem Leben nur selten Cocktails aus der Nähe gesehen hatte, hatte nichts dagegen einzuwenden. Während sie behutsam an dem aufregenden Getränk nippte, hörte sie ihrem wohlwollenden Lehrer aufmerksam zu.

»Ihren Ehemann, Mrs Packington«, sagte Mr Parker Pyne, »müssen wir aufhorchen lassen. Sie verstehen – aufhorchen lassen. Um Ihnen dabei zu helfen, stelle ich Sie einem jungen Freund von mir vor. Sie werden heute mit ihm zu Mittag essen.«

In diesem Augenblick kam ein junger, eleganter Mann herein, der sich suchend umsah. Er entdeckte Mr Parker Pyne und kam auf sie zu.

»Mr Claude Luttrell, Mrs Packington.«

Mr Claude Luttrell war knapp dreißig, elegant, charmant, äußerst gepflegt gekleidet und unglaublich gut aussehend.

»Es ist mir eine Freude, Sie kennenzulernen«, sagte er leise.

Drei Minuten später saß Mrs Packington an einem Tisch für zwei ihrem neuen Lehrmeister gegenüber.

Zu Anfang war sie noch schüchtern, aber Mr Luttrell sorgte dafür, dass sie sich bald entspannte. Er kannte sich gut in Paris aus und hatte auch einige Zeit an der Riviera verbracht. Er fragte Mrs Packington, ob sie gerne tanzen würde. Mrs Packington bejahte diese Frage, aber in letzter Zeit hatte sie wenig Gelegenheit dazu gehabt, da Mr Packington abends nicht gerne ausging.

»Aber er kann doch wohl kaum so lieblos sein, jemanden wie Sie zu Hause zu lassen«, meinte Claude Luttrell und ließ zwei blendend weiße Zahnreihen aufblitzen. »Frauen lassen sich doch die Eifersucht ihrer Männer heutzutage nicht mehr gefallen.«

Mrs Packington hätte fast gesagt, dass Eifersucht in diesem Fall keine Rolle spielte, doch sie behielt ihre Gedanken für sich. Immerhin gefiel ihr die Vorstellung.

Claude Luttrell sprach leichthin von Nachtclubs. Man einigte sich darauf, dass Mrs Packington und Mr Luttrell am nächsten Abend gemeinsam den beliebten Club Lesser Archangel mit ihrer Anwesenheit beehren würden.

Mrs Packington war bei dem Gedanken, diese Tatsache ihrem Ehemann mitzuteilen, ein wenig nervös. Es beschlich sie das Gefühl, dass George dies als ungewöhnlich und womöglich lächerlich empfinden würde. Ihre Sorge war aber gänzlich unbegründet. Sie war zu nervös gewesen, als dass sie ihre Ankündigung am Frühstückstisch hätte vorbringen können, doch um zwei Uhr erhielt sie einen Anruf mit dem Hinweis, dass Mr Packington das Abendessen in der Stadt einnehmen würde.

Der Abend war ein voller Erfolg. Mrs Packington war als junge Frau eine hervorragende Tänzerin gewesen, und unter Claude Luttrells erfahrener Anleitung lernte sie schnell die moderneren Schritte. Er beglückwünschte sie zu ihrem Kleid und lobte ebenso ihre Frisur. (An diesem Morgen hatte sie einen Termin bei einem äußerst renommierten Coiffeur gehabt.) Als er sich von ihr verabschiedete, ließ Claudes charmanter Handkuss ihre Haut angenehm prickeln. Mrs Packington hatte schon seit Jahren nicht mehr einen so wundervollen Abend verbracht.

Zehn verblüffende Tage folgten. Mrs Packington wurde zum Mittag- und Abendessen eingeladen, sie lernte Tango zu tanzen, genoss ihren nachmittäglichen Tee und ihren ständigen Tanzpartner. Sie erfuhr alles über Claude Luttrells traurige Kindheit. Sie lauschte den bedauerlichen Umständen, die seinen Vater mittellos machten. Sie hörte von seiner tragischen Romanze und seinem Gefühl der Verbitterung bezüglich aller Frauen.

Am elften Tag tanzten sie im Red Admiral. Mrs Packington erblickte ihren Ehemann, bevor er sie sah. An Georges Seite war die junge Frau aus seinem Büro. Beide Paare tanzten.

»Hallo, George«, rief Mrs Packington vergnügt, als ihre Tanzschritte sie einander näher brachten.

Es bereitete ihr ein exquisites Vergnügen zu sehen, wie ihr Mann erst erbleichte und die Überraschung ihn dann puterrot werden ließ. Doch auf seinem Gesicht war nicht nur seine Überraschung zu erkennen, sondern auch das Schuldgefühl, ertappt worden zu sein.

Mrs Packington fühlte sich ganz als Herrin der Lage und genoss es. Der arme alte George! Als sie sich hingesetzt hatte, blickte sie zu ihm hinüber. Wie beleibt er doch wirkte, wie glatzköpfig, und wie ungeschickt er auf seinen Füßen herumhüpfte! Er tanzte wie vor zwanzig Jahren. Der arme George – wie sehr er versuchte, wieder jung zu sein! Und das arme Mädchen, mit dem er tanzte, musste so tun, als ob ihm das gefiele. Sie wirkte gelangweilt, aber sie hatte ihr Gesicht auf seine Schulter gelegt, wo er es nicht sehen konnte.

Mit Genugtuung dachte Mrs Packington, in welch beneidenswerter Lage sie sich befand. Sie warf einen kurzen Blick hinüber auf den perfekten Claude, der diskret schwieg. Wie sehr er sie doch verstand. Es war völlig harmonisch – anders als mit den Ehemännern, mit denen man sich nach einigen Jahren einfach nicht mehr vertrug.

Sie betrachtete ihn erneut. Ihre Blicke trafen sich. Er lächelte, und seine wunderschönen dunklen Augen sahen sie so melancholisch, so romantisch und so zärtlich an.

»Möchtest du gerne tanzen?«, fragte er leise.

Und sie tanzten. Es war der Himmel auf Erden!

Sie spürte Georges Blick im Nacken, der sie ständig begleitete und um Verzeihung zu bitten schien. Es fiel ihr wieder ein, dass die ursprüngliche Idee gewesen war, George eifersüchtig zu machen. Wie lange das doch her war! Sie wollte George nicht mehr eifersüchtig machen. Das könnte ihn aus der Fassung bringen. Warum sollte sie den armen Kerl beunruhigen? Alle waren doch glücklich …

Mr Packington war bereits seit einer Stunde zu Hause, als Mrs Packington zurückkehrte. Er wirkte verwirrt und verunsichert.

»Hm«, merkte er an. »Da bist du ja.«

Mrs Packington legte eine Stola ab, für die sie am Morgen zuvor vierzig Guineen bezahlt hatte. »Ja«, sagte sie mit einem Lächeln. »Da bin ich.«

George hustete. »Ähem – es war etwas seltsam, dich heute zu sehen.«

»Das stimmt wohl«, meinte Mrs Packington.

»Nun – ich dachte, ich würde dem Mädchen etwas Gutes tun, wenn ich mit ihm ausgehe. Sie hat in letzter Zeit zu Hause eine Menge Ärger gehabt. Ich wollte ihr einen Gefallen tun, weißt du?«

Mrs Packington nickte. Der arme alte George, wie er beim Tanzen herumhüpfte und rot anlief und sich dabei selbst so gut gefiel.

»Wer war denn der Bursche, mit dem du da warst? Ich glaube, ich habe ihn noch nie gesehen.«

»Sein Name ist Luttrell. Claude Luttrell.«

»Woher kennst du ihn?«

»Ach, jemand hat ihn mir vorgestellt«, lautete Mrs Packingtons ausweichende Antwort.

»Es ist schon ein wenig seltsam, dass du tanzen gehst – und das in deinem Alter. Du solltest dich nicht lächerlich machen, meine Liebe.«

Mrs Packington lächelte. Sie war der ganzen Welt so wohlgesinnt, dass sie sich die offensichtliche Antwort sparte. »Ein wenig Abwechslung ist immer nett«, sagte sie auf liebenswürdige Weise.

»Du solltest auf jeden Fall vorsichtig sein. Von diesen Kerlen, diesen Salonlöwen, gibt es eine ganze Menge. Frauen mittleren Alters machen sich oft zum Narren. Ich möchte dich nur warnen, meine Liebe. Ich möchte nicht, dass du irgendetwas Unpassendes tust.«

»Nun, es ist auf jeden Fall gut für meine Gesundheit«, sagte Mrs Packington.

»Äh – natürlich.«

»Das ist es doch auch für dich«, meinte Mrs Packington freundlich. »Das Wichtigste ist doch, glücklich zu sein, nicht wahr? Ich erinnere mich, wie du das beim Frühstück gesagt hast, vor etwa zehn Tagen.«

Ihr Ehemann schaute sie scharf an, aber auf ihrem Gesicht zeigte sich keine Spur von Sarkasmus. Sie gähnte.

»Ich muss ins Bett. Übrigens, George, ich habe mir in den letzten Tagen einiges geleistet. Es werden ein paar erschreckend hohe Rechnungen eintrudeln. Du hast doch nichts dagegen?«

»Rechnungen?«, fragte Mr Packington.

»Ja. Für Kleider. Und Massagen. Für meine Haare. Ich habe mir sehr viel geleistet – aber ich weiß ja, dass du nichts dagegen hast.«

Sie ging die Treppe hinauf. Mr Packington blieb mit offen stehendem Mund zurück. Maria war mit der Angelegenheit sehr nonchalant umgegangen. Um genau zu sein, schien sie die ganze Sache nicht zu interessieren. Aber es war eine Schande, dass sie auf einmal angefangen hatte, das Geld mit vollen Händen auszugeben. Maria – der Inbegriff von Sparsamkeit!

Frauen! George Packington schüttelte den Kopf. Die Brüder seiner Begleiterin waren in letzter Zeit in einigen Ärger geraten. Nun, er hatte nur zu gern geholfen. Dennoch … Und zur Hölle damit! – Auf der Arbeit lief es auch nicht mehr so gut.

Mit einem tiefen Seufzer folgte Mr Packington seiner Frau die Treppe hinauf.

Manchmal wird einem die Bedeutung von Sätzen erst später bewusst. Erst am nächsten Morgen verstand Mr Packingtons Ehefrau einige der Dinge, die er gesagt hatte. Salonlöwen; Frauen mittleren Alters; machen sich zum Narren.

Mrs Packington war eine beherzte Frau. Sie setzte sich hin und stellte sich den Tatsachen. Ein Gigolo. Sie hatte in der Zeitung über Gigolos gelesen. Sie hatte über die Torheiten gelesen, die Frauen mittleren Alters begingen.

War Claude ein Gigolo? Sie ging davon aus. Aber Claude bezahlte immer für sie. Wurden Gigolos nicht immer bezahlt? Richtig, aber es war Mr Parker Pyne, der bezahlte, nicht Claude – oder besser gesagt, es waren ihre eigenen zweihundert Guineen.

War sie eine Närrin mittleren Alters? Machte sich Claude Luttrell hinter ihrem Rücken über sie lustig? Dieser Gedanke trieb ihr Zornesröte ins Gesicht.

Na, wenn schon. Claude war ein Gigolo. Sie war eine Närrin mittleren Alters. Sie hätte ihm vielleicht etwas schenken sollen. Ein goldenes Zigarettenetui. So etwas in der Art.

Einer plötzlichen Anwandlung folgend fuhr sie auf der Stelle zu Asprey’s. Sie suchte ein Zigarettenetui aus und bezahlte es. Claude und sie waren im Claridge zum Mittagessen verabredet.

Als sie an ihrem Kaffee nippten, holte sie es aus ihrer Tasche hervor. »Ein kleines Geschenk«, murmelte sie.

Er blickte auf und runzelte die Stirn. »Für mich?«

»Ja. Ich hoffe – ich hoffe, es gefällt dir.«

Seine Hand schloss sich um das Etui, und er schob es entschieden zurück. »Warum schenkst du mir das? Ich werde es nicht annehmen. Nimm es zurück. Nimm es endlich zurück.« Seine dunklen Augen blitzten wütend auf.

»Es tut mir leid«, murmelte sie und steckte es in ihre Tasche.

An diesem Tag war die übliche ungezwungene Atmosphäre zwischen ihnen dahin.

Am nächsten Morgen rief er sie an. »Ich muss dich sprechen. Darf ich dich heute Nachmittag besuchen?«

Sie schlug ihm vor, um drei Uhr bei ihr zu sein.

Als er vor ihrer Tür stand, war er bleich und wirkte nervös. Die Anspannung zwischen den beiden war bei der Begrüßung deutlich zu spüren.

Plötzlich wandte er sich ihr zu und sah ihr in die Augen. »Wofür hältst du mich? Ich will eine Antwort, und darum bin ich hier. Wir haben uns angefreundet, nicht wahr? Ja, wir sind Freunde geworden. Aber dennoch hältst du mich für – nun ja, einen Gigolo. Eine Kreatur, die auf Kosten von Frauen lebt. Ein Salonlöwe. Das glaubst du doch?«

»Nein, nein.«

Er wischte ihren Protest beiseite. Sein Gesicht war kreidebleich. »Das denkst du. Nun, es ist die Wahrheit. Ich bin hier, um dir das zu sagen. Es stimmt! Ich hatte die Anweisung, dich auszuführen, dich zu unterhalten, dir den Hof zu machen und dich deinen Ehemann vergessen zu lassen. Das war meine Aufgabe. Abscheulich, oder?«

»Warum erzählst du mir das?«, fragte sie.

»Weil ich genug davon habe. Ich kann das nicht mehr weitermachen. Nicht mit dir. Du bist anders. Du bist eine Frau, an die ich glauben, der ich vertrauen, die ich bewundern könnte. Du glaubst, ich sage das nur, weil es Teil des Spiels ist.« Er näherte sich ihr. »Ich werde dir beweisen, dass das nicht stimmt. Ich werde weggehen – wegen dir. Diese verachtenswerte Kreatur, die ich im Moment noch bin, werde ich hinter mir lassen und einen echten Mann aus mir machen – wegen dir.«

Plötzlich schloss er sie in die Arme, und ihre Lippen fanden sich. Dann ließ er sie wieder los und wich einen Schritt zurück.

»Auf Wiedersehen. Ich war immer ein Schuft. Aber ich schwöre dir, dass sich das ändern wird. Erinnerst du dich daran, wie du mal gesagt hast, dass du gerne die Anzeigen im Kummerkasten deiner Zeitung liest? Von heute an werde ich dort jedes Jahr an diesem Tag eine Nachricht hinterlassen, dass ich mich erinnere und es wiedergutmachen werde. Dann wirst du verstehen, was du mir bedeutet hast. Noch eine Sache. Ich habe nichts von dir genommen. Ich möchte, dass du etwas von mir nimmst.« Er zog einen schlichten Siegelring von seinem Finger. »Er gehörte meiner Mutter. Ich möchte, dass du ihn bekommst. Und nun: Lebe wohl!«

Er ließ sie verwundert stehen, mit einem Goldring in der Hand.

George Packington kam früh nach Hause. Er fand seine Frau vor dem Kamin. Sie starrte mit einem geistesabwesenden Blick ins Feuer. Sie sprach freundlich mit ihm, war aber in Gedanken verloren.

»Hör mal, Maria«, platzte es plötzlich aus ihm heraus. »Wegen dieses Mädchens.«

»Ja, mein Lieber?«

»Ich wollte dich nie damit verärgern, weißt du. Wegen ihr. Da war gar nichts dran.«

»Ich weiß. Ich habe mich albern benommen. Du darfst sie so oft sehen, wie du möchtest, wenn es dich glücklich macht.«

Diese Worte hätten George Packington froh stimmen sollen, aber seltsamerweise verärgerten sie ihn. Wie konnte man Spaß daran finden, mit einer jungen Frau auszugehen, wenn die eigene Frau sie einem praktisch aufdrängte? Zur Hölle damit, das gehörte sich nicht! Das Gefühl, ein fröhlicher Hund zu sein, ein Mann, der mit dem Feuer spielte, das alles verpuffte und fand ein schmähliches Ende. George Packington war plötzlich ganz erschöpft, und seine Brieftasche fühlte sich merklich leichter an. Das Mädchen war ein durchtriebenes Ding.

»Wie wäre es, wenn wir einfach ein paar Tage wegfahren, Maria?«, fragte er zögerlich.

»Oh, mach dir um mich keine Gedanken. Mir geht es gut.«

»Aber ich möchte gerne mit dir wegfahren. Wir könnten an die Riviera reisen.«

Die Distanz zwischen ihnen war zu spüren, aber dennoch lächelte Mrs Packington ihn an.

Der arme alte George. Sie mochte ihn wirklich sehr. Er war ein so rührender lieber Kerl. In seinem Leben gab es nicht denselben geheimnisvollen Glanz wie in ihrem. Sie legte Zärtlichkeit in ihr Lächeln.

»Das wäre schön, mein Lieber«, sagte sie.

Mr Parker Pyne sprach mit Miss Lemon. »Bewirtungskosten?«

»Einhundertundzwei Pfund, vierzehn Schilling und sechs Pence«, antwortete Miss Lemon.

Die Tür wurde aufgestoßen, und Claude Luttrell kam herein. Er wirkte mürrisch.

»Morgen, Claude«, sagte Mr Parker Pyne. »Ist alles zu unserer Zufriedenheit verlaufen?«

»Ich nehm’s an.«

»Der Ring? Welchen Namen hast du übrigens eingravieren lassen?«

»Matilda«, meinte Claude niedergeschlagen.

»Bestens. Welchen Wortlaut für die Anzeige?«

»Ich mach’s wieder gut. Denke daran. Claude.«

»Notieren Sie sich das bitte, Miss Lemon. Im Kummerkasten. Am dritten November für – lassen Sie mich kurz durchrechnen. Ausgaben von einhundertundzwei Pfund und ein paar Zerquetschte. Ja, für zehn Jahre, denke ich. Unser Gewinn beläuft sich damit auf zweiundneunzig Pfund, zwei Schilling und vier Pence. Zufriedenstellend. Recht zufriedenstellend.«

Miss Lemon verließ den Raum.

»Hör mal«, platzte es aus Claude heraus. »Ich mag das nicht. Das ist eine ganz niederträchtige Geschichte.«

»Mein guter Junge.«

»Eine niederträchtige Geschichte. Das war eine anständige Frau – die gute Sorte. Ihr diese ganzen Lügen zu erzählen, diesen ganzen schnulzigen Kitsch. Zur Hölle damit, das geht mir gegen den Strich!«

Mr Parker Pyne schob seine Brille zurecht und sah Claude dann mit wissenschaftlichem Interesse in die Augen. »Ach du liebe Zeit!«, sagte er trocken. »Ich kann mich nicht daran erinnern, dass dich dein Gewissen im Verlauf deiner  – ähem! – berühmt-berüchtigten Karriere jemals so geplagt hätte. Deine Liebschaften an der Riviera waren ganz besonders dreist, und deine Ausbeutung von Mrs Hattie West, der Ehefrau des kalifornischen Gurkenkönigs, war äußerst bemerkenswert in Anbetracht deines abgebrühten und geldgierigen Instinkts, den du eindrucksvoll unter Beweis gestellt hast.«

»Nun, ich sehe das mittlerweile anders«, murrte Claude. »Dieses Spiel – es ist nicht nett.«

Mr Parker Pyne sprach im Tonfall eines Schulmeisters, der seinem Lieblingsschüler den Kopf zurechtrücken musste. »Tatsächlich hast du, mein lieber Claude, eine verdienstvolle Aufgabe erfüllt. Du hast einer unglücklichen Frau das gegeben, was jede Frau braucht – eine kleine Romanze. Leidenschaft ruiniert den Ruf einer Frau, und sie bringt ihr auch nichts, aber eine Romanze kann sie noch jahrelang durch die rosarote Brille betrachten. Ich kenne das menschliche Wesen, mein Junge, und ich sage dir, dass eine Frau jahrelang von einem solchen Vorfall zehren kann.« Er hustete. »Wir sind unserer Verpflichtung Mrs Packington gegenüber äußerst zufriedenstellend nachgekommen.«

»Na ja«, murrte Claude, »ich mag es aber trotzdem nicht.« Er verließ den Raum.

Mr Parker Pyne nahm sich eine neue Akte zur Hand. Er notierte:

»Interessant: Ansätze eines Gewissens bei abgebrühtem Salonlöwen zu erkennen. Vermerk: Entwicklung beobachten.«

Der Fall des unbefriedigten Soldaten

Major Wilbraham zögerte vor der Tür von Mr Parker Pynes Büro. Nicht zum ersten Mal las er die Anzeige im Morgenblatt durch, die ihn überhaupt erst hierhergebracht hatte. Sie war sehr einfach gehalten:

Der Major nahm einen tiefen Atemzug und wagte sich durch die Schwingtür, die ins Vorzimmer führte. Eine unscheinbare junge Frau blickte von ihrer Schreibmaschine auf und schaute ihn fragend an.

»Mr Parker Pyne?«, fragte Major Wilbraham und errötete.

»Hier entlang, bitte.«

Er folgte ihr in das eigentliche Büro, in dem der freundliche Mr Parker Pyne saß.

»Guten Morgen«, sagte Mr Pyne. »Setzen Sie sich doch bitte, und sagen Sie mir, wie ich Ihnen behilflich sein kann.«

»Mein Name ist Wilbraham –«, fing er an.

»Major? Oberst?«, fragte Mr Pyne.

»Major.«

»Ah! Und erst vor kurzem aus der Ferne zurückgekehrt? Indien? Ostafrika?«

»Ostafrika.«

»Allem Anschein nach eine schöne Gegend. Nun, Sie sind jetzt wieder in der Heimat – und das mögen Sie nicht. Ist das Ihr Problem?«

»Sie haben völlig recht. Aber woher wissen Sie –«

Mr Parker Pyne wedelte mit einer beeindruckenden Hand. »Es ist meine Aufgabe, so etwas zu wissen. Ich habe fünfunddreißig Jahre lang bei einer staatlichen Behörde Statistiken erstellt. Jetzt bin ich in Rente, und mir kam der Gedanke, dass ich meine Kenntnisse auf neuartige Weise einsetzen könnte. Es ist alles sehr einfach. Die Gründe für fehlendes Glück lassen sich in fünf Kategorien einordnen – nicht mehr, das versichere ich Ihnen. Sobald der Grund für das jeweilige Leiden erkannt ist, liegt eine Heilung sehr wohl im Bereich des Möglichen. Ich übernehme in diesem Fall die Aufgabe des Arztes. Zuerst diagnostiziert der Arzt die Erkrankung seines Patienten, und dann schlägt er eine Behandlung vor. Es gibt Fälle, bei denen eine Behandlung nicht möglich ist. Wenn dem so ist, dann gestehe ich offen ein, dass ich nichts tun kann. Aber wenn ich den Fall annehme, dann ist die Heilung praktisch garantiert.

Ich kann Ihnen versichern, Major Wilbraham, dass sechsundneunzig Prozent der Männer, die unser Empire groß gemacht haben – dazu gehören Sie –, unglücklich sind. Sie tauschen ein aktives, ereignisreiches Leben voller Verantwortung, voller möglicher Gefahren gegen was ein? Eingeschränkte Möglichkeiten, furchtbares Wetter und das ständige Gefühl, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein.«

»Ich kann das, was Sie gesagt haben, nur bestätigen«, meinte der Major. »Es ist diese unerträgliche Langeweile, mit der ich mich nicht einverstanden erklären kann. Die Langeweile und der Klatsch und Tratsch über belanglose Dorfangelegenheiten. Aber was kann ich daran schon ändern? Neben meiner Rente verfüge ich nur über wenig Geld. Ich habe ein wunderschönes Häuschen in der Nähe von Cobham. Ich kann es mir nicht leisten zu jagen oder zu schießen oder zu fischen. Ich bin nicht verheiratet. Meine Nachbarn sind ohne Ausnahme bezaubernde Menschen, aber alles jenseits dieser Insel übersteigt ihren Horizont.«

»Langer Rede kurzer Sinn – dieses Leben erscheint Ihnen ohne Biss.«

»Von Biss kann hier keine Rede sein.«

»Sie suchen Abenteuer, vielleicht sogar Gefahr?«, fragte Mr Pyne.

Der Soldat zuckte mit den Achseln. »So etwas gibt es in diesem öden Land nicht.«

»Ich erlaube mir, Ihnen zu widersprechen«, meinte Mr Pyne im ernsten Ton. »Sie liegen mit dieser Aussage völlig falsch. London birgt reichlich Gefahren und ebenso Abenteuer, wenn man nur weiß, wo man suchen muss. Sie haben nur die Oberfläche unseres englischen Alltags angekratzt, seine ruhige angenehme Seite. Aber es gibt durchaus auch das Gegenteil. Wenn Sie es wünschen, dann zeige ich sie Ihnen.«

Major Wilbraham betrachtete ihn nachdenklich. Etwas an Mr Pyne vermittelte ein beruhigendes Gefühl. Er war wohlbeleibt, um nicht zu sagen fett; sein Kopf war nicht nur kahl, sondern auch von beachtlicher Größe, und hinter seinen dicken Brillengläsern zeigten sich kleine, verschmitzt funkelnde Augen. Eine Aura der Zuverlässigkeit schien ihn zu umgeben.

»Ich sollte Sie allerdings vorwarnen«, fuhr Mr Pyne fort, »dass dies ein gewisses Risiko beinhaltet.«

Die Augen des Soldaten blitzten auf: »Das gehört dazu.« Plötzlich fragte er: »Und wie hoch ist Ihr Honorar?«

»Mein Honorar«, sagte Mr Pyne, »beträgt fünfzig Pfund im Voraus. Wenn Sie binnen eines Monats nicht von Ihrer Langeweile kuriert sind, erhalten Sie Ihr Geld zurück.«

Wilbraham überlegte kurz. »In Ordnung«, sagte er schließlich. »Ich nehme an und stelle Ihnen sofort einen Scheck aus.«

Die Formalitäten wurden erledigt, und dann drückte Mr Parker Pyne einen Summer auf seinem Schreibtisch.

»Wir haben jetzt ein Uhr«, sagte er. »Ich werde Sie darum bitten, eine junge Dame zum Mittagessen einzuladen.« Die Tür öffnete sich. »Ah, Madeleine, meine Liebe, darf ich Ihnen Major Wilbraham vorstellen, der Sie zum Mittagessen einladen wird.«

Wilbraham blinzelte kurz, was unter den gegebenen Umständen verständlich war. Eine junge Frau hatte den Raum betreten, eine dunkelhäutige Schönheit mit wundervollen Augen und langen schwarzen Wimpern. Sinnliche scharlachrote Lippen hoben die Wirkung ihrer makellosen Haut noch hervor. Ihre auserlesene Kleidung betonte die verlockende Anmut ihrer Gestalt. Sie war von Kopf bis Fuß einfach perfekt.

»Ähm – sehr erfreut«, sagte Major Wilbraham.

»Miss de Sara«, stellte Mr Parker Pyne vor.

»Wie freundlich von Ihnen«, säuselte Madeleine de Sara.

»Ich habe Ihre Adresse«, ließ Mr Parker Pyne verlauten.

»Morgen früh werden Sie weitere Anweisungen erhalten.« Major Wilbraham und die bezaubernde Madeleine gingen hinaus.

 

Um drei Uhr kehrte Madeleine zurück.

Mr Parker Pyne blickte auf. »Nun?«, lautete seine einfache Frage.

Madeleine schüttelte den Kopf. »Er hat Angst vor mir«, sagte sie. »Er glaubt, ich sei ein Vamp.«

»Das habe ich mir schon gedacht«, meinte Mr Parker Pyne. »Du hast meine Anweisungen ausgeführt?«

»Ja. Wir haben über die Leute an den anderen Tischen geredet. Sein Typ ist blond, blaue Augen, leicht anämisch, nicht zu groß.«

»Das lässt sich finden«, meinte Mr Pyne. »Hol mir Schema B und lass mich nachsehen, wen ich gerade auf Lager habe.« Er ließ den Finger über eine Liste wandern und blieb bei einem Namen hängen. »Freda Clegg. Ja, ich denke, Freda Clegg ist die perfekte Besetzung. Ich spreche am besten mit Mrs Oliver.«

 

Am nächsten Tag erhielt Major Wilbraham eine Nachricht mit folgendem Wortlaut:

Fahren Sie am nächsten Montagmorgen nach Eaglemont, Friars Lane, Hampstead, und fragen Sie um elf Uhr nach Mr Jones. Sie werden sich als Repräsentant der Guava Shipping Company vorstellen.