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Aktuell, kritisch und äußerst spannend. Ein Climate-Fiction-Thriller über die Zukunft des Klima-Aktivismus. Die Autorin Johanna Stromann will einen Roman über Klima-Aktivisten schreiben. Doch die Recherche erweist sich als gefährlich, denn der Staat versucht, die Proteste mit Gewalt zu unterdrücken. Bald ist es Johanna nicht mehr möglich, neutral am Rand zu stehen und nur zu dokumentieren. Im Gegenteil: Ihr geht das alles nicht weit genug. Als ein Großteil der Klima-Gruppen verboten und ihre Mitglieder zu Haftstrafen verurteilt werden, gründet sie zusammen mit den verbliebenen Aktivist*innen die Gruppe "Parts Per Million", um die Verursacher der Klimakatastrophe zur Rechenschaft zu ziehen. Mit allen Mitteln. »Das intensivste Buch, das ich seit langem gelesen habe. Wer danach nicht über den Klimawandel nachdenkt, ist wahrscheinlich tot.« Andreas Eschbach Für Leser*innen von Kim Stanley Robinson, Cory Doctorow oder Andreas Brandhorst
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Seitenzahl: 451
Theresa Hannig
Gewalt ist eine Option
Roman
Die Autorin Johanna Stromann will einen Roman über Klima-Aktivisten schreiben. Doch die Recherche erweist sich als gefährlich, denn der Staat versucht, die Proteste mit Gewalt zu unterdrücken. Bald ist es Johanna nicht mehr möglich, neutral am Rand zu stehen und nur zu dokumentieren. Im Gegenteil: Ihr geht das alles nicht weit genug. Als ein Großteil der Klima-Gruppen verboten und ihre Mitglieder zu Haftstrafen verurteilt werden, gründet sie zusammen mit den verbliebenen Aktivist*innen die Gruppe »Parts Per Million«, um die Verursacher der Klimakatastrophe zur Rechenschaft zu ziehen. Mit allen Mitteln.
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Theresa Hannig, 1984 geboren, studierte Politikwissenschaft und arbeitete als Softwareentwicklerin, Projektmanagerin und Lichtdesignerin, bevor sie sich hauptberuflich dem Schreiben zuwandte. Seitdem wurde sie mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Seraph für ihren Roman »Pantopia«. 2023 erhielt sie den Tassilo-Kulturpreis der Süddeutschen Zeitung. In ihren Romanen, Kurzgeschichten und der taz-Kolumne »Über Morgen« schreibt sie über Zukunftsthemen wie KI, Datenschutz, Klimawandel und die Zukunft der Arbeit. Hannig lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in Fürstenfeldbruck.
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[Prolog]
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
Nachwort
Danksagung
Headlines
Content Notes
Abtreibung, Folter, Gewalt, Polizeigewalt, Suizid
Für die, die noch Hoffnung haben.
Für die, die keine Hoffnung mehr haben.
Für uns.
»(1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.
(2) Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.
(3) Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.
(4) Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.«
Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Artikel 20
»Der Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG schließt den Schutz vor Beeinträchtigungen grundrechtlicher Schutzgüter durch Umweltbelastungen ein, gleich von wem und durch welche Umstände sie drohen. Die aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG folgende Schutzpflicht des Staates umfasst auch die Verpflichtung, Leben und Gesundheit vor den Gefahren des Klimawandels zu schützen. Sie kann eine objektivrechtliche Schutzverpflichtung auch in Bezug auf künftige Generationen begründen.«
BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 24. März 2021 1 BvR 2656/18, Rn. 1–270, https://www.bverfg.de/e/rs20210324_1bvr265618.html
Spanien ächzt unter ungewöhnlicher Hitze
Fast 40 Grad – und das im April: Spanien erlebt ungewöhnlich hohe Temperaturen für diese Jahreszeit. Der Wetterdienst rechnet mit den heißesten Apriltagen seit 1950. Die Sorge vor Waldbränden wächst.
(Tagesschau, 26. April)
Ich treffe mich mit meinem Verleger im ehemaligen Mövenpick-Gebäude am Lenbachplatz. Das Lokal hat gewechselt und ist mittlerweile eine modern eingerichtete Osteria, die wagenradgroße Pizzas anbietet. Ich bestelle mir die teure Büffelmozzarella-Pizza, denn ich weiß, dass mein Verleger bei solchen Arbeitsterminen stets die Rechnung übernimmt. Wir überbrücken die Zeit zwischen Bestellung und Essen mit Smalltalk. Ich berichte stolz von den letzten Radioauftritten und Auftragsarbeiten für Unternehmen, die ich erledigt habe, und er jammert wie immer ein bisschen über den Buchmarkt, über die stressigen Messen – entweder es ist Stress, weil eine Messe kurz bevorsteht, weil Messezeit ist oder weil eine Messe nachbearbeitet werden muss – und über Autoren, die Selfpublisher werden oder zu großen Publikumsverlagen abwandern, anstatt in seinem Verlag zu veröffentlichen.
»Dabei sollten die doch wissen, dass die Kleinverlage die Kultur in Deutschland aufrechterhalten«, sagt er aufgebracht. Er gestikuliert dabei so wild, dass sein Bier überzuschwappen droht. »Wer bringt denn unbekannte Künstlerinnen raus und achtet auf Qualität statt Kommerzialität? Und bei mir muss auch keiner Angst haben, einen KI-Roman zu lesen. Bei mir sind alle Texte handgetippt. Einhundert Prozent Bio sozusagen.«
Sein Redeschwall wird erst gedämpft, als die Pizza endlich kommt. Sie ist so heiß, dass wir kaum hineinbeißen können, ohne uns Lippen und Zunge zu verbrennen, aber auch so köstlich, dass wir nicht warten wollen. Wir reißen kleine Stücke ab und schütteln die Pfoten wie Katzen im Schnee.
»Köstlich!«, sagt er.
Ich genieße den Augenblick. Essen und Literatur haben uns schon immer verbunden. Ich bin mir jetzt sicher, dass ihm meine Idee gefallen wird.
Beim dritten Viertel, als wir beide schon halb überfressen sind, sagt er endlich: »Jetzt erzähl schon. Was ist das für ein Projekt, das du mir anbieten willst? Ein historischer Roman? Ein Krimi? Oder doch endlich das Familienepos, von dem du so oft gesprochen hast?«
Das Familienepos ist mein Alibiprojekt, von dem ich erzähle, wenn ich sonst nichts vorzuweisen habe. Denn niemand zweifelt daran, dass so ein generationenüberspannendes Romanprojekt Jahre, wenn nicht Jahrzehnte an Arbeit verschlingt. Aber diesmal habe ich ja tatsächlich eine neue Idee:
»Ich habe mir überlegt, einen Klimathriller zu schreiben.«
»Klimathriller …«, brummt er sichtbar unbegeistert und trinkt einen großen Schluck Bier.
»Ja, so einen Young-Adult-Thriller für junge Frauen. Das ist die stärkste Käufergruppe zurzeit. Eine starke Heldin und ihr Weg zur Rettung der Welt. Korrupte Politiker, üble Öl-Lobby, eine Frau kämpft für das Gute. Es gab doch so viele Klimabewegungen. Diese Klimakleber und die Leute, die alles mit Farbe vollgeschmiert haben oder in den Hungerstreik getreten sind. Jede Menge Stories.«
»Das sind aber nicht gerade die Sympathieträger des Jahres«, sagt er vorsichtig.
»Ja, weil Regierung und Presse sie fertigmachen.«
»Nein, weil sie massiv nerven. Du schreibst die meiste Zeit von zu Hause an deinem Laptop, deshalb bist du nicht davon betroffen. Aber die Leute, die ganz normal zur Arbeit fahren wollen oder zum Arzt … und dann ist der Verkehr blockiert, weil schon wieder irgendwelche Leute demonstrieren. Wenn die versuchen, so die Massen für sich einzunehmen, dann machen die definitiv etwas falsch.«
»Ist trotzdem die ideale Konstellation. Ein paar Jugendliche ohne Waffen gegen das Schweinesystem. David gegen Goliath. Die Rebellen gegen das Imperium. Das hat doch immer funktioniert.«
»Ja, weil jeder Einzelne dem System gegenüber machtlos ist«, sagt er. »Deshalb identifizieren wir uns mit dem Helden und freuen uns, wenn er den Mächtigen ein Schnippchen schlägt. Aber hier liegt die Sachlage anders: Ich kann mich nicht mit den Aktivisten identifizieren, weil die sich gegen mich stellen. Bei den Klimaklebern war das besonders schlimm: wenn sie sich vor mir auf die Straße geklebt haben, haben sie mir eine Verantwortung zugeschoben, die ich gar nicht hatte! Ich spare Plastik, ich fliege nur noch alle drei Jahre in den Urlaub, ich bin schon fast Vegetarier. Ich tu, was ich kann. Und trotzdem soll ich der Böse sein? Seh ich gar nicht ein. Die Aktivisten können ja so viel protestieren, wie sie wollen, aber wenn sie mich nötigen, bei ihrem Protest mitzumachen, bin ich raus. Denn es ist ihnen scheißegal, was ich selber schon für Opfer bringe oder ob ich vielleicht gerade andere Probleme habe. Wie soll ich das denn gut finden?«
»Vielleicht ist das der Sinn der Geschichte. Den Lesern klarzumachen, dass sie Teil des Problems sind, dass sie eben doch Verantwortung haben.«
»Ach! Niemand will das hören. Keiner will so ein Buch lesen. Du schaufelst dir damit dein literarisches Grab. Du weißt, ich veröffentliche gerne Sachen von dir, aber ich muss auch wirtschaftlich denken. Wenn das Buch ein Ladenhüter wird, ist keinem von uns geholfen.«
»Hört sich nach einer Herausforderung an«, sage ich grinsend.
Er schüttelt den Kopf. »Ich weiß nicht.«
»Lass es mich probieren. Hab ich dich jemals enttäuscht?«
»Ich will nur, dass du dir darüber im Klaren bist, in welcher Situation wir uns befinden. In den letzten Jahren haben eine Menge Verlage Pleite gemacht. Wir können uns gerade so über Wasser halten. Wenn sich dein Buch nicht verkauft, kann ich dir keine zweite Chance geben. Und ob dich dann noch ein anderer Verlag nimmt, weiß ich nicht. Das Thema ist zu krass. Das kann dich kaputtmachen.«
Ich beobachte ihn schweigend, wie er sich das letzte Stück Pizza in den Mund steckt, kaut, nachdenkt.
»Okay«, sagt er endlich, »schreib mir ein Exposé, und ich überlege es mir.«
»Danke. Ich wusste, dass ich auf dich zählen kann.«
»Apropos zählen. Kannst du die Rechnung heute übernehmen? Ich habe meine Karte nicht dabei.«
Tote nach Überschwemmungen in Italien
Nach monatelanger Dürre und Trockenheit haben heftige Niederschläge im Norden Italiens Überschwemmungen verursacht. Mindestens zwei Menschen kamen ums Leben, Hunderte mussten ihre Häuser verlassen.
(Tagesschau, 3. Mai)
Ich beginne sofort mit der Recherche. Als Erstes möchte ich herausfinden, welche Gruppen noch aktiv sind. 2019 erlebte die Klimabewegung in Deutschland gleichzeitig ihren Hoch- und Tiefpunkt. Am 20. September 2019 gingen weltweit vier Millionen Menschen für Klimaschutz auf die Straße. Allein in Berlin demonstrierten über 250000 Menschen. Am gleichen Tag verabschiedete die Bundesregierung ein Gesetz, das zwar dem Wortlaut nach ein Klimaschutzgesetz war, später aber vom Bundesverfassungsgericht gerügt wurde, weil es den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen zukünftiger Generationen nicht genug mit einbezog. Die nächsten zwei Jahre war die Welt mit Corona beschäftigt, und als wir uns gerade wieder erholt hatten, begann der Krieg gegen die Ukraine. Die rechten Parteien nutzten die immer schneller aufeinanderfolgenden Probleme wie Energiekriese, Rezession, KI-Revolution und islamistischer Terror, um Angst in der Bevölkerung zu schüren und mit den Flüchtlingen einen Sündenbock zu präsentieren, gegen den streng und konsequent vorgegangen werden konnte, ohne in die Verlegenheit zu geraten, echte politische Lösungen anbieten zu müssen.
Das kurze Intermezzo der Ampel-Regierung hatte alle Hoffnungen auf Klimagerechtigkeit zunichtegemacht. Die FDP nutzte ihre fünf Prozent, um jedem klimaambitionierten Gesetz den Garaus zu machen. Tempolimit, Ausbau erneuerbarer Energien, Mobilitätswende, Klimasolidarität, Heizwende. Alles scheiterte am Veto der Liberalen. Die Grünen verspielten durch ihre Kompromisse das Vertrauen der Basis, die SPD beging kollektiv öffentlichen Selbstmord, als sie sich zur Bundestagswahl nicht auf einen Kanzlerkandidaten einigen konnte. Am Ende übernahmen Union und AfD die Regierung und beschlossen als eine der ersten Maßnahmen den Ausstieg vom Kohleausstieg und eine Revision des Verbrenner-Verbots. Sie beschlossen Großinvestitionen in Autobahnprojekte und stellten der Automobilindustrie neue Subventionen in Aussicht. Die Asylgesetzgebung wurde verschärft, indem die meisten afrikanischen Staaten als sichere Herkunftsländer deklariert wurden, so dass von dort geflüchtete Menschen ohne lange Verfahren abgewiesen werden konnten. Gleichzeitig wurden neue Polizeiaufgabengesetze beschlossen, die die Militarisierung der Polizei vorantrieben. Dazu KI-gestützte Gesichtserkennung und eine präventive Sicherheitspolitik, die dem 3-Strikes-System in den USA ähnelte: Binnen weniger Monate schnellten die Verhaftungen in die Höhe. Der letzte Streich war schließlich ein verpflichtendes soziales Jahr für alle Schulabgänger, was den Pflegenotstand und den Fachkräftemangel auf dem Papier beendete. Senioren, Menschen mit Behinderung und Kinder beschwerten sich nicht über das zusätzliche Personal, auch wenn es unqualifiziert war, und die jungen Menschen im Pflichtdienst blieben unter staatlicher Kontrolle und hatten keine Zeit mehr für politisches Engagement.
Was in Deutschland vonstattenging, ähnelte der Entwicklung im Rest der EU. Seit Ende der Zehnerjahre war in den meisten europäischen Staaten ein deutlicher Rechtsruck zu spüren. Österreich, Italien, Polen, Ungarn, Frankreich pendelten irgendwo zwischen rechts und autoritär rechts, so dass die europäische Einheit, die einst als unverbrüchlicher Garant für den europäischen Frieden galt, mittlerweile auf wackeligen Beinen stand. Die Länder rüsteten auf, versuchten, sich gegen das instabile Russland zu behaupten, das nach dem Tod von Wladimir Putin ebenfalls täglich zwischen autoritärer Ordnung und völligem Chaos schwankte.
Es scheint, als sei alles aus den Fugen geraten, als habe die Welt beschlossen, alle Krisen, Kipppunkte und Disruptionen zur gleichen Zeit auszuprobieren, um das Kartenhaus ein für alle Mal zum Einsturz zu bringen. Der Klimawandel ist da nur die Szenerie, vor dessen Hintergrund sich die großen Konflikte des 21. Jahrhunderts ausrollen. In Afrika und Südamerika gibt es große Klimabewegungen, die sich trotz schlechter demokratischer Grundlagen stetig Gehör in den sozialen Medien verschaffen. Nur leider sind sie nach wie vor die Stimmen der sowieso vom Westen ausgebeuteten Länder. Wenn selbst das Grüne Wirtschaftsministerium keine Gewissensbisse dabei hatte, seinen Energiehunger durch Fracking und Import von Flüssiggas aus Ländern des globalen Südens zu befriedigen, warum sollte sich dann ein weißer CDU-Politiker damit belasten? Indien und China machen sowieso, was sie wollen, und kein deutscher Politiker hat mehr die Größe, den Chinesen gegenüber das Wort »Menschenrechte« in den Mund zu nehmen. Die USA versinken nach der Inhaftierung von Donald Trump im Bürgerkrieg.
Unter diesen Umständen kann ich lange nach einer schlagkräftigen Klimabewegung suchen. Immerhin werde ich online fündig. Es dauert nicht lange, bis ich meinen Social-Media-Stream so eingestellt habe, dass ich täglich die neuesten Infos aus der Weltverbesserer-Bubble bekomme. Aber die Neuigkeiten auf dieser Ebene ernüchtern mich ebenfalls. Ist denn wirklich alles so furchtbar, oder übertreiben die Aktivisten mit ihrer Angst vor der Zukunft, den Katastrophen, den Überschwemmungen, Dürren, dem Artensterben und den Verteilungskämpfen?
Ich lade mir den aktuellen siebten IPCC-Report herunter, erkenne, dass es sich um über 4000 Seiten handelt und verschiebe das Dokument in den Ordner »zu bearbeiten«. Stattdessen öffne ich den Wikipedia-Eintrag und scrolle durch die Zusammenfassung. Es sieht bitter aus.
Nach ein paar Tagen Recherche habe ich eine ziemlich genaue Vorstellung davon, wie es um das weltweite Klima und die Aktivisten steht. Nachdem Corona den meisten Klimabewegungen das Genick gebrochen hatte konnten sie Mitte der zwanziger Jahre nicht ihr altes Niveau erreichen. Greta Thunberg hat sich mittlerweile vom öffentlichen Leben abgewandt und studiert irgendwo in Schottland Meeresbiologie. Extinction Rebellion wurde erst in England, dann im Rest Europas verboten. Nachfolgeorganisationen wie die Letzte Generation oder Stop Oil wurden in Deutschland Mitte der zwanziger Jahre als kriminelle Vereinigungen eingestuft. Nachdem sich die Gerichte zunächst nicht einigen konnten, ob die Aktionen der Aktivisten Ordnungswidrigkeiten, Straftaten oder legitime Akte politischer Meinungsäußerung waren, gelangten im Laufe der Zeit immer mehr Richter zu der Überzeugung, Freiheitsentzug sei die richtige Reaktion des Staates, so dass ein Klimakleber für eine Straßenblockade mit einer Haftstrafe von sechs Monaten und hohen Schadenersatzforderungen rechnen musste.
So wurde die Szene immer weiter ausgedünnt. Zurückgeblieben sind einige Aktivistinnen und Aktivisten alter Schule, Wissenschaftlerinnen und Forschende, die in den Sozialen Medien, auf Podiumsdiskussionen und in Zeitungen eindrücklich vor dem aktuellen Pfad warnen, der die Welt bis 2050 um etwa drei Grad und bis 2100 um etwa fünf Grad erwärmen würde, was mit einem zivilisierten Leben auf der Erde nicht mehr in Übereinstimmung zu bringen ist.
Ich tippe den Satz aus dem IPCC-Report in das Dokument mit meinen Notizen: »Bei gleichbleibenden Anstrengungen der Staaten droht eine Erderwärmung von über fünf Grad bis 2100.« Es ist paradox, das Wort »Anstrengungen« zu lesen, wo es doch darum geht, dass die Staaten eben nicht genug für den Klimaschutz tun und deshalb eine Erhitzung um fünf Grad erwartet wird. Ich google die Auswirkungen dieser Erwärmung: »Ein Großteil der Erde wird unbewohnbar.« Das habe ich schon häufiger gehört. Aber nie wirklich ernst genommen. Also, nicht wirklich wirklich. Es ist Zeit, mit der Dokumentenrecherche zu pausieren und mit echten Menschen zu sprechen.
Als ich meinem Mann beim Abendessen von meinem neuen Projekt erzähle, ist er skeptisch. »Ich lese jeden Tag in der Zeitung, in welchem Land Waldbrände wüten und wo schon wieder eine Hungersnot herrscht. Ich weiß, dass das ein wichtiges Thema ist, aber ich habe das Gefühl, die Leute sind im Augenblick ein bisschen übersättigt mit schlechten Nachrichten.«
»Ja, weil die Situation einfach schlimm ist.«
»Aber dann schreib doch etwas Positives. Das wollen die Leute lesen. Hier«, er greift nach seinem Handy und zeigt mir einen Zeitungsartikel. »Klimaanpassung. Das ist doch toll. Die züchten neue Kartoffelsorten, die der Hitze besser standhalten. Und Mangos gibt es auch bald in Deutschland. Es ist nicht alles schlecht. Oh, hier steht aber auch, dass offene Regentonnen ab sofort verboten sind, weil sich die Malaria sonst noch schneller ausbreitet … das ist natürlich nicht so toll.«
»Danke, Stefan, ich bin ja gerade selber bei der Recherche, und das Ganze soll ja positiv sein. Es geht um die Aktivistinnen und Aktivisten, die für den Klimaschutz kämpfen.«
»Dann solltest du die Geschichte aus der Perspektive der jungen Leute schreiben. Wir Alten haben doch nicht mehr viel zu melden. Die Jungen müssen das machen.«
Mein Blick, der gerade die Salami auf dem reichgedeckten Abendbrottisch sucht, fällt unwillkürlich auf meine Tochter. Sie bemerkt es nicht, tippt etwas in ihr Smartphone.
»Kannst du bitte das Telefon beim Essen weglegen«, sage ich.
»Gleich«, antwortet sie, ohne den Blick zu heben, und tippt weiter.
»Ich fände es ja auch toll, wenn die jungen Leute aktiv werden würden. Manchen scheint aber auch total egal zu sein, was mit ihrem Planeten passiert«, sage ich.
Finja reagiert nicht.
Ich finde die Salami, belege mein Brot und habe die erste Scheibe schon gegessen, als Finja das Telefon endlich beiseitelegt.
»Kann ich mal den Käse?«, fragt sie, mit einer Hand in der Brottüte wühlend, ohne mich oder meinen Mann eines Blickes zu würdigen.
»Was ist denn mit euch?«, fragt Stefan. »Sprecht ihr überhaupt über den Klimawandel?«
»Ja, klar«, sagt Finja.
»Und?«
»Was und?«
»Ja, was besprecht ihr denn da so?«
Sie rollt mit den Augen, zuckt mit den Schultern und beißt in ihr Brot, bevor sie antwortet: »Wir wissen, dass wir am Arsch sind, dass die Welt untergeht und wir nichts dagegen tun können, weil ihr alles verkackt habt.«
Stefan verzieht das Gesicht und sieht mich an.
»Und, was hat das für Konsequenzen?«, frage ich.
»Was meinst du?«
»Na, macht ihr irgendwas? Wollt ihr nicht demonstrieren oder euch engagieren?«
»Als ob das irgendwas bringt.«
»Aber wenn keiner demonstriert, dann passiert auch nichts«, sage ich.
»Gut. Mama, Papa, ihr seid Scheiße. Ihr habt mit eurer Lebensweise meine Zukunft zerstört. Danke für nichts. Ach ja: Fleischessen ist eine Klimasünde. Hört sofort damit auf. Zufrieden?«
Stefan lacht. »Gar nicht schlecht. Jetzt musst du nur noch ein Plakat malen und mit deinen Freundinnen auf die Straße gehen.« Finja schüttelt sich, als hätte sie irgendetwas Ekliges angefasst. Sie hält einen Moment inne, dann sieht sie ihrem Vater fest in die Augen. »Weißt du was? Das ist genau der Grund, warum wir es nicht machen. Weil keine Sau darauf hört, was wir sagen.«
»Doch, wir nehmen dich ernst«, sage ich.
»Und warum tust du dann nicht, worum ich dich bitte? Glaubst du mir nicht?«
»Doch ich glaube dir«, sage ich. »Aber es ist nicht so einfach. Fleisch schmeckt einfach gut, und wir retten ja auch nicht die Welt, nur weil wir jetzt kein Fleisch mehr kaufen. Da gibt es ganz andere Sachen, die viel schlimmer sind.«
»Ich glaub, ich muss gleich kotzen«, sagt sie und lächelt mich verächtlich an.
»Nicht in diesem Ton, junge Dame!«, sagt Stefan.
»Ich habe keinen Hunger mehr. Ich gehe auf mein Zimmer«, sagt sie, wirft die Serviette auf den Tisch und verlässt die Küche.
»Das lief ja super«, sage ich.
»Finja! Komm sofort zurück«, ruft Stefan ihr hinterher, stattdessen hören wir die Tür knallen.
»Unverschämtheit. So was dürfen wir uns nicht bieten lassen«, sagt er und steht ebenfalls auf. Ich lege meine Hand auf seine. »Lass es. Lass sie. Sie hat ja recht.«
»Damit, uns so anzufahren? Das geht nicht. Sie mag ja inhaltlich recht haben, aber dann trotzdem nicht in so einem Ton.«
»Bitte. Lass sie.«
Langsam sinkt Stefan wieder auf seinen Stuhl zurück. Er starrt auf das halb angebissene Salamibrot auf meinem Teller.
»Isst du das noch?«, fragt er.
Ich schüttle den Kopf.
Ich führe ein Rechercheinterview mit Dr. Julian Falter. Er fällt mir in meinem Social-Media-Stream auf, und ich schreibe ihn direkt an. Er freut sich, von mir zu hören, hat bereits eines meiner Bücher gelesen und fühlt sich der Klimagerechtigkeitsbewegung nach wie vor eng verbunden, obwohl er nur noch selten bei Talkshows auftritt und nur noch ab und zu Klimafakten in den Sozialen Medien postet.
Ich aktiviere den Videochat und sehe einen müde wirkenden Mann Mitte vierzig, der offenbar am Schreibtisch seines Büros sitzt – virtueller Hintergrund ist keiner aktiviert – und freundlich in die Kamera blickt.
Vor Jahren war er bei den Scientists for Future aktiv, die Fridays for Future die wissenschaftlichen Grundlagen für ihre Argumente lieferten Falter war von der Aufbruchsstimmung der jungen Leute begeistert und hoffte, dass sie politisch wirklich etwas erreichen würden. In seiner Funktion als Biologe wies er in vielen Zeitungsbeiträgen und Interviews auf das stattfindende Artensterben und die rasant abnehmende Biodiversität hin. Seine Artikel wurden in renommierten wissenschaftlichen Fachzeitschriften veröffentlicht.
»Wissen Sie, ich habe in Fernsehtalkshows mit den verantwortlichen Politikern gesprochen«, sagt er. »Die haben mir zugehört, die haben mir geglaubt und waren ernsthaft besorgt, das hat man gemerkt. Und dann sind die aus dem Studio raus, sind in ihre gepanzerten Autos gestiegen und haben mit ihrer Politik weitergemacht, als ginge sie das alles nichts an. Das ist Verdrängung par excellence. Mit Vernunft hat das nichts mehr zu tun. Und das sind intelligente Menschen. Sie wissen, dass sie Falsches tun. Aber weil sie nicht den Mut haben, die großen Veränderungen zu fordern, die notwendig wären, fordern sie gar nichts, verdrängen die Konsequenzen und reden sich ein, alles versucht zu haben. Und dann sind sie am Ende auch noch stolz auf sich!« Falter massiert sich erschöpft die Nasenwurzel. »Wenn ich ehrlich bin, habe ich die Hoffnung aufgegeben. Ich kämpfe selber mit depressiven Episoden. Sie können sich ja gar nicht vorstellen, wie ermüdend es ist, die Wahrheit zu kennen und ständig ignoriert zu werden. Aber weiterarbeiten soll ich bitte schön und weiterhin Ergebnisse veröffentlichen. Dabei ist jede Untersuchung, die wir machen, schlimmer als die letzte.«
Ich klappe den Laptop zu. Das Gespräch hinterlässt eine Empfindung in meinem Bauch, die ich nicht einordnen kann. Ein sowohl körperliches als auch seelisches Unbehagen darüber, ein offenes Geheimnis erfahren zu haben, über das niemand spricht. Natürlich habe ich gewusst, dass der Klimawandel ein Problem ist. Wer weiß das nicht? Selbst die vehementesten Klimaleugner sind mit der Zeit in eine Akzeptanzhaltung übergegangen, die zum Mainstream geworden ist: Ja, der Klimawandel ist menschengemacht. Ja, die Erde wird sich erwärmen. Ja, wir müssen etwas dagegen tun. Ja, ja, ja, wir überlegen uns was, und am Ende wird es schon nicht so schlimm werden, wie die hysterischen Wissenschaftler behaupten.
Nur dass Dr. Falter überhaupt nicht hysterisch geklungen hat. Im Gegenteil. Der Grad an Resignation, mit dem er mir die Ergebnisse des IPCC-Reports und seine eigene Forschung dargelegt hat, ist erschütternd. Ich bin ja nicht die erste Person, der er davon erzählt hat. Wie kann jemand diesem Mann zuhören und nicht nervös werden?
In Berlin gab es bis vor einigen Jahren noch eine große Digitalanzeige, die das CO2-Budget anzeigte, das die Bundesrepublik theoretisch noch maximal verbrauchen konnte, um das 1,5 Grad Ziel von Paris einzuhalten. Das Bild der 000000000 schaffte es auf die Titelseiten vieler Zeitungen. Ein paar Tage wurde diskutiert, wie es weitergehen sollte. Dann schaffte der FC-Bayern das Triple, und das Thema war erledigt. Die Anzeige wurde abgebaut. Niemand sprach mehr darüber.
Niemand? Meine eigenen Gedanken irritieren mich. Natürlich gibt es nach wie vor Klimaaktivistinnen, die genau wissen, was vor sich geht und die das Schlimmste zu verhindern suchen. Aber ihnen wird wenig Aufmerksamkeit geschenkt, wenig Raum in den Medien eingeräumt, und deshalb bemerkt man sie kaum. Die Klimakrise ist so präsent und wird gleichzeitig so vehement verdrängt wie der eigene Tod. Jeder weiß, dass er ihm bevorsteht, und doch glauben alle, irgendwie nicht betroffen zu sein. Nicht ich. Ich bin unsterblich, ohne mich würde die Welt zugrunde gehen. Deshalb kann auch der Klimawandel mich nicht persönlich treffen. So oder so ähnlich denken Millionen.
An diesem Nachmittag fällt mir auf, dass ich weniger Vögel höre als sonst. Ich habe mir bisher keine großen Gedanken darüber gemacht und gedacht, es liege an der Jahreszeit oder dem Wetter oder meiner Aufmerksamkeit. Doch selbst als ich am Abend zehn Minuten lauschend am Fenster verharre und der Dämmerung zuschaue, wie sie Schrank und Schreibtisch in immer tiefere Schatten taucht, höre ich kein einziges Vogelzwitschern.
Zahlreiche Hitzerekorde im pazifischen Nordwesten und Westkanada gebrochen
Eine extreme Hitzewelle zu Beginn der Saison hält in der Region an.
(The Washington Post, 15. Mai)
Ich treffe mich mit Maria zum Abendessen. Sie ist Autorin wie ich, schreibt aber hauptsächlich Liebesromane und hat in frühen Jahren einige vorausschauende Entscheidungen getroffen: Bevor sie das erste Buch veröffentlichte, sorgte sie dafür, dass ihr professionelles und ihr Privatleben vollkommen voneinander getrennt sind. Ihre Adresse ist nirgendwo zu finden, ihr echter Name wird nie genannt. Sie schafft es, in Interviews charmant und witzig aufzutreten, Anekdoten aus ihrem Leben zu erzählen, ohne jemals wirklich persönlich zu werden oder Privates auszuplaudern. Ich bewundere ihre Konsequenz, denn ich habe weder meine Privatsphäre geschützt, noch meine Familie von meiner Karriere separiert. Bei der Preisverleihung für den Badischen Literaturpreis für Historische Belletristik erschien ich mit Mann und Kind, ließ Fotos von mir, dem Pokal und meiner Familie machen und beantwortete den Journalisten freimütig alle Fragen. In den darauffolgenden Zeitungsartikeln merkte ich erst, in was ich mich hineingeritten hatte. »Junge Mutter gewinnt Literaturpreis«, »Vom Lätzchen zum Laptop – Wie eine Autorin sich den Frust von der Seele schreibt«, »Er hält mir den Rücken frei – Autorin dankt ihrem verständnisvollen Mann«. Die Zeitungsausschnitte hängen als Mahnung über meinem Schreibtisch, damit ich nicht vergesse, worüber ich bei einem neuen Interview nicht sprechen sollte.
Auch sonst kommt es mir vor, als habe Maria beim Schreiben den einfacheren Weg gewählt.
»Manchmal beneide ich dich«, sage ich, als unsere Getränke kommen und wir zur Feier des Tages anstoßen. »Wenn du einen Liebesroman schreibst, kannst du dich einfach in zwei Figuren hineinversetzen, deren Leben nachzeichnen, alles ein bisschen in Unordnung bringen und am Ende finden sie zusammen, Romantik, FSK-12-Sex und dann Happy End mit Sonnenuntergang.«
Maria verschränkt die Arme. »Wenn es so einfach ist, dann mach es doch selbst. Kein Mensch zwingt dich, immer diesen problematischen Kram zu schreiben.«
»Ja, ich weiß … ich meine ja nur. Im Augenblick zieht mich die Arbeit einfach so runter. Da würde ich zwischendurch am liebsten einen kitschigen Liebesroman schreiben.«
»Mit Kitsch kann ich nichts anfangen«, sagt Maria trocken. »Sehnsucht ja, Herzschmerz und ein Hauch von Porno. Damit kriegst du die Leute, und das macht auch am meisten Spaß. Aber das Gefühl hält nicht lange. Deshalb muss ich die Geschichten auch schnell zu Ende bringen. Irgendwann langweilt mich das Schmachten und Sehnen und diese ewigen Beschreibungen von Körpern und Blicken und Berührungen.«
»Dann switchst du zum nächsten Thriller?«
»Genau. Dann nehme ich die gleichen Figuren – also natürlich nur in meinem Kopf, die Leserinnen merken das natürlich nicht – und bringe sie um. Dann ist die Welt wieder clean.«
»Ich wusste schon immer, dass du genial bist. Figuren erschaffen und sie entsorgen, bevor sie zum Problem werden. Du bist eine schreckliche Göttin.«
»Ja, kann man nichts machen. Aber bei dir scheint es mal wieder zu knirschen. Was ist los?«
Ich erzähle ihr von meinem neuen Romanprojekt. Sie schaut mich dabei so mitleidend an, dass ich es kaum ertrage.
»Dass du dir so was antust. Warum bleibst du nicht bei den Themen, die sonst auch gut funktioniert haben? Starke Frau kurz vorm Zweiten Weltkrieg, starke Frau kurz vorm Ersten Weltkrieg, da gab es doch sicher auch eine starke Frau kurz vor der Französischen Revolution.«
»Unverschämtheit«, sage ich gespielt beleidigt.
»Na gut, dann halt ’ne starke Frau im Alten Rom!«, sagt sie grinsend.
»Keine starken Frauen mehr. Versprochen«, sage ich. »Aber im Grunde war das ja genau mein Problem. Ich wollte was anderes schreiben, was Neues, aber ich wusste nicht was. Alle Ideen waren so banal, so uninspiriert, schon tausendmal erzählt. Dann hab ich die Klimaaktivisten getroffen und angefangen zu recherchieren. Aber ehrlich gesagt habe ich ein ungutes Gefühl dabei. Die Recherchen fühlen sich an, als würde ich eine Kiste aufmachen, die mit tausend Ketten und Schlössern gesichert ist. Und je mehr ich davon öffne, desto mehr glaube ich, dass es einen Grund gibt, warum niemand da reinschauen will.«
»Oh, ist ein Monster in der Kiste? Knurrt es? Strahlt kaltes Licht aus dem Schlüsselloch?«, fragt Maria.
»Ja, all das, und vermutlich hat es auch Zähne.«
»Hört sich spannend an. Aber wenn es dir so schlecht damit geht, warum sagst du nicht ab?«
»Ich finde das Thema wichtig. Jetzt, wo ich mich so sehr damit beschäftige, frage ich mich, wieso nicht alle die ganze Zeit davon sprechen und nicht jeder und jede von uns nur noch Bücher darüber schreibt.«
»Es wird doch eine ganze Menge veröffentlicht: Solarpunk, Climate Fiction, da gibt es doch extra Genres für.«
»Ja, aber eben als eine Art Abenteuersetting. So wie Zombiefilme oder Postapokalypse. Das ist der Rahmen für die Handlung. Aber wo sind die Geschichten, die in der Realität spielen, mit echten Menschen – nicht mit Agenten oder Wissenschaftlern, sondern normalen Leuten?«
»Ich glaube, das nennt sich Hochliteratur, und die hat andere Probleme. Familiengedöns, Traumata, Altersgeilheit, so was eben.«
»Ja, ich weiß«, sage ich seufzend und suche Trost in meinem Glas.
»Also, erzähl mir von deiner Protagonistin.«
»So weit bin ich noch nicht«, lüge ich, aber ich kann Maria nichts vormachen. Ihr stechender Blick genügt, um mich zum Reden zu bringen.
»Also gut, ich habe mir gedacht, die Protagonistin könnte eine junge Frau aus gutem Hause sein, vielleicht zwanzig Jahre alt. Sie studiert Jura und soll bald in die Firma ihres Vaters einsteigen, der ein PR-Unternehmen hat, Onlinemarketing vielleicht. Aber sie ist auch ein bisschen in der Klimabewegung aktiv. Und dann wird sie irgendwie reingezogen in die Aktivistenszene, macht immer krassere Sachen und stirbt am Ende.«
Maria nickt, trinkt einen Schluck. »Ach, das war’s schon?«, fragt sie.
»Ich hab ja gesagt, ich hab noch nicht viel. Ich entwickle das alles gerade erst.«
»Was ist deine Deadline?«
»Ende des Jahres soll ich abgeben.«
»Dann hast du ja noch Zeit.«
»Eben. Eigentlich bin ich sowieso noch in der Recherchephase. Morgen treffe ich mich mit Marcus Heller, kennst du den?«
»Nie gehört.«
»Das ist einer der führenden Köpfe der Klimagerechtigkeitsbewegung. Bin mal gespannt, was der mir erzählen kann.«
Es wird spät, und als ich mich von Maria verabschiede, ist die Stadt wie leergefegt. Die Obdachlosen haben sich schon längst ihre Lager in warm belüfteten Ladeneingängen gesichert. Ein paar Betrunkene wanken durch die Nacht. Ich bin froh, von keinem der Bettler mehr angesprochen zu werden. Selbst die haben Feierabend. Ich fahre nach unten in den Bauch der S-Bahn-Station. An den Wänden und Säulen glänzen frisch renovierte Kacheln und LED-Lichter. Jetzt strahlt alles ganz neu, wie ein Geschenk. Aber ich kenne die Stadt gut genug, um zu wissen, dass die Station schon in wenigen Wochen so schäbig aussehen wird wie vorher. Die öffentliche Infrastruktur hat wie ein Körper nach einer zu strengen Diät einen Jo-Jo-Effekt. Am Ende ist der alte Zustand wieder hergestellt, inklusive Graffiti an den Wänden, eingeschlagene Scheiben und Kotze auf den Sitzbänken.
Meine Bahn kommt, und ich steige ein. Auch hier nur wenige Leute. Eine junge Frau sitzt in einem 4er-Riegel und spielt auf ihrem Handy herum. Gegenüber sitzen vier junge Männer, davor und dahinter je eine Rentnerin mit grimmigem Blick und ein Mann, der mit sich selbst spricht. Ich setze mich zu der Frau und starre aus dem Fenster. In der Reflexion der Scheibe kann ich die Blicke der Männer sehen, die mich völlig ignorieren, während sie hungrig die junge Frau anstarren. Sie flüstern miteinander, stoßen sich gegenseitig an und raunen sich Aufforderungen zu, die sie lachen oder den Kopf schütteln lassen. Ich blicke zu ihr. Erst jetzt bemerke ich, dass sie unabhängig von den ruckartigen Bewegungen der Bahn bedenklich hin und her schwankt. Ihre Augenlider sind schwer, der Mund halb geöffnet, die Haut rot und aufgequollen. Ich stelle mir vor, dass sie von einer Party kommt, die aus dem Ruder gelaufen ist. Geburtstagsfeier, sie dort mit ihrem Freund, alle trinken zu viel Alkohol. Er küsst eine andere, sagt: es ist doch nichts dabei, Streit, sie fährt alleine nach Hause. Maria würde sich schämen, so etwas zu schreiben.
»Hey, Süße«, sagt jetzt einer der Männer und versucht, die Aufmerksamkeit der jungen Frau auf sich zu lenken. Aber sie ignoriert ihn, starrt nur auf ihr Handy. Die vier pfeifen, lachen wieder. Ich frage mich, wie weit sie wohl fährt, ob jemand sie abholt oder sie den Weg von der Haltestelle bis zur Haustür alleine zurücklegen wird. Ihre Haare sind dunkel, der Nagellack schwarz, an einigen Stellen abgeblättert, durch das Septum führt ein Nasenring. Sie trägt ein enges Top, darüber eine luftige Jacke, schwarze Jeans und schwarze Lederstiefel mit wenig Absatz. Stiefel, die einen weit tragen, gut zum Tanzen, gut zum Treten. Das Mädchen kann tough sein, wenn sie will. Sie hat sicher schon mehr als einem Mann das Herz gebrochen und vielleicht auch eine Nase. Aber alleine gegen vier? Ich hoffe bei jeder Station, dass die Männer aussteigen werden. Aber sie bleiben sitzen, beobachten, flüstern, grinsen auf eine Art, die mich schaudern lässt. Meine Station wird angezeigt, nur noch wenige Minuten. Schließlich beuge ich mich nach vorne und sage: »Alles okay bei dir?« Sie hebt die Augen, träger Blick, Skepsis.
»Ja, wieso?«
»Brauchst du Hilfe? Hast du jemanden, der dich abholt?«
»Danke, ich komme schon klar.«
»Ich muss gleich aussteigen. Wer weiß, wie lange die mitfahren.« Ihr Blick flackert zur Seite, und jetzt erst scheint sie zu verstehen. Sie lächelt.
»Machen Sie sich keine Sorgen. Ich kann auf mich aufpassen.« Sie greift in ihre Jackentasche und zeigt mir ein Pfefferspray, das an ihrem Schlüsselbund hängt. Ich nicke. »Dann komm gut heim.«
»Danke, Sie auch«, sagt sie und vertieft sich wieder in ihr Handy. Als die S-Bahn abfährt, sehe ich von draußen, dass die vier Männer aufstehen. Dann schwindet das leuchtende Abteil aus meinem Blickfeld. Pfefferspray am Schlüsselbund, niemals alleine durch die Nacht, lieber so tun, als ob man telefoniert, SMS, wenn man gut zu Hause angekommen ist, scherzen, dass die Vertrauensperson die Polizei anrufen soll, wenn man sich zwei Stunden nach einem Date nicht gemeldet hat. Normales Verhalten von erwachsenen Frauen. Ich vergrabe die Hände in den Jackentaschen und gehe zum Taxistand. Auch ich will nachts nicht allein mit dem Bus nach Hause fahren.
Mehr als die Hälfte der Seen weltweit verliert Wasser
Durch den Klimawandel und die menschliche Nutzung schrumpft das Volumen von Seen weltweit erheblich. Das zeigt eine neue Studie, die Satellitenbilder von 2000 Seen ausgewertet hat.
(Tagesschau, 19. Mai)
Das erste Mal treffe ich Marcus Heller in einem Café in der Innenstadt. Er hat mir den Ort genannt und gesagt, er habe nur eine Stunde Zeit, aber ich habe das Gefühl, dass die kurze Zeitspanne nur ein Vorwand ist, um mich erst mal abzuchecken. Ich bin keine Journalistin, besitze keinen Presseausweis und bin – zumindest wenn man Maria glaubt – auch keine besonders begabte Interviewpartnerin, aber ich habe ein Portfolio an Büchern, das es mir erlaubt, selbstbewusst Gesprächsanfragen zu stellen. Deshalb habe ich nicht daran gezweifelt, dass Marcus sich mit mir treffen würde. Aber er lässt sich Zeit. Ich mache es mir an einem Tisch im Außenbereich des Cafés auf einer Miniaturbierbank bequem und beobachte die Leute, die vorbeiflanieren. Rohmaterial für meine Figuren. Ich suche nach besonderen Bildern, nach Vorlagen für Kleidung, Gang, Frisuren oder Gesprächsfetzen.
Zwanzig Minuten zu spät setzt Marcus sich mir gegenüber.
»Hallo«, sage ich, warte kurz, ob er einer der Menschen ist, der nach wie vor auf einem Händedruck besteht, aber seine Hände bleiben in den Taschen seiner Jacke verborgen.
»Hallo«, erwidert er. Er lächelt nicht, sieht mir direkt in die Augen. Ich habe im Vorfeld über ihn recherchiert, Fotos und Videos von ihm angesehen, aber es ist etwas ganz anderes, ihm persönlich gegenüberzusitzen. Er ist um die fünfzig, wirkt aber wesentlich jünger. Auf wenige Zentimeter rasierte Haare, stechend blaue Augen, eine Nase wie ein Dosenöffner, scharf gezeichnete Lippen. Er ist mager. Die Haut scheint schon einiges mitgemacht zu haben und trägt den Schatten morgendlicher Bartstoppeln wie einen Schutzschild. Eine grobgestrickte blaue Wolljacke verbirgt einen breiten Brustkorb und Schultern, die aussehen, als würden sie jeden Tag schwere Lasten tragen.
»Was willst du wissen?«, fragt er mit fordernder, ungeduldiger Stimme, und in diesem Augenblick weiß ich, dass ich einen neuen Protagonisten für mein Buch gefunden habe.
»Alles«, sage ich, und er lächelt.
Marcus Heller ist ein Veteran des politischen Kampfes. Er ist nie Mitglied einer Partei gewesen. Stattdessen hat er seine Ideale auf der Straße verteidigt. Castortransporter, Kohleausstieg, Hambacher Forst und natürlich das Klima. Seit Jahren immer das Klima. Marcus erzählt von seinen ersten Demonstrationen als Neuling in der Gruppe der Alt-Achtundsechziger und wie er zum ersten Mal dafür verprügelt wurde, eine Pride Flag zu tragen. Er ist in Lichtenhagen gewesen, als sie versucht haben, die Nazis aufzuhalten; in Hamburg, als sie den Krieg gegen die Polizei ausgerufen haben und die ganze Stadt gebrannt hat. Er hat sich Hunderte Male auf Gleise gelegt und festgebunden, hat geschottert, sich an Bäume gekettet, ist nackt und mit Farbe übergossen bei Konferenzen großer Industrieverbände aufgelaufen, um gegen die Abholzung des Regenwalds, die Ausbeutung der indigenen Völker und die Zerstörung unwiederbringlicher Naturwunder zu demonstrieren. Mit Extinction Rebellion hat er an Demos vor dem Kanzleramt teilgenommen, bei denen sich Hunderte Menschen wie tot auf die Straße gelegt haben, um das anstehende Massenaussterben zu visualisieren. Für die Klimabewegung ist er seit Jahren eine Art inoffizieller Sprecher, Vertreter, Stratege – kurz: Marcus hat schon alles gesehen und erlebt. Wenn jemand weiß, wie es um den Kampf ums Klima steht, dann er.
Ich habe meinen Laptop nicht mitgenommen und mache mir nur von Hand ein paar Notizen. Und das war eine gute Entscheidung. Marcus will nicht, dass das, was er zu sagen hat, Wort für Wort protokolliert wird. Er ist ausschweifend, spricht eine Mischung aus Akademikerdeutsch, Straßenslang und englischen Einschüben. Es ist faszinierend, ihm zuzuhören und sich vorzustellen, wie ein Mensch all diese Abenteuer erlebt haben kann; wie es ist, sein Leben nicht nur nach Feierabend, sondern täglich und ausschließlich dem politischen Kampf zu widmen, auch wenn es bedeutet, dass man kein geregeltes Einkommen hat, wenig Freunde, die den ständigen Aktionismus aushalten, ein ellenlanges Strafregister und einen Lebenslauf voller Lücken, was einen Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt so gut wie unmöglich macht – von Rente ganz zu schweigen. Er erinnert mich an einen altgedienten, wettergegerbten Haudegen aus einem Ritterfilm, der dem Helden das Fechten beibringt.
Ich höre Marcus gerne zu. Seine Stimme ist tief und selbstsicher, auch wenn die Worte, den zuckenden Erinnerungen folgend, manchmal wie Maschinengewehrsalven auf mich einprasseln. Wie oft er nach einer Aktion mit gebrochener Nase nach Hause gekommen ist, kann er nicht mehr sagen.
Ein dutzendmal ist er ins Krankenhaus eingeliefert worden, wo ihm Wunden genäht und Knochen geschient wurden. Er hat Glück gehabt. Aber oft war es knapp: »Am schlimmsten sind noch nicht mal die Polizisten, sondern die Hooligans, nach zwei, drei Litern Bier. Wenn dir einer von denen eine Eisenstange statt einen Holzknüppel über den Schädel zieht, dann war’s das. Glücklicherweise sind die meist so dumm oder so besoffen, dass sie nicht lange durchhalten. Lucky me!«