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In der Milchstraße schreibt man das Jahr 2071 Neuer Galaktischer Zeitrechnung. Dies entspricht dem 6. Jahrtausend nach Christus, genauer dem Jahr 5658. Über dreitausend Jahre sind vergangen, seit Perry Rhodan seiner Menschheit den Weg zu den Sternen geöffnet hat. Noch vor Kurzem wirkte es, als würde sich der alte Traum von Partnerschaft und Frieden aller Völker der Milchstraße und der umliegenden Galaxien endlich erfüllen. Terraner, Arkoniden, Gataser, Haluter, Posbis und all die anderen Sternenvölker stehen gemeinsam für Freiheit und Selbstbestimmtheit ein, womöglich umso stärker, seit ES, die ordnende Superintelligenz dieser kosmischen Region, verschollen ist. Als die Liga Freier Galaktiker durch drei Deserteure erfährt, dass in der Nachbarschaft der Milchstraße ein sogenannter Chaoporter gestrandet sei, entsendet sie unverzüglich ihr größtes Fernraumschiff, die RAS TSCHUBAI. Denn von FENERIK geht wahrscheinlich eine ungeheure Gefahr für die Galaxis aus. Perry Rhodan begibt sich in Cassiopeia, einer Andromeda vorgelagerten Kleingalaxis, auf die Suche nach dem Chaoporter. Doch dessen Agenten sind bereits aktiv. Während der Terraner eine Rettungsmission für zwei Besatzungsmitglieder der kosmokratischen LEUCHTKRAFT startet, verschlägt es zwei Besatzungsmitglieder der RAS TSCHUBAI in das Land der Navakan, WO DIE ÄONENUHREN SCHLAGEN ...
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Seitenzahl: 182
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Nr. 3124
Wo die Äonenuhren schlagen
Das Wissen der Navakan – zwei Gestrandete suchen einen Rückweg
Oliver Fröhlich
Cover
Vorspann
Die Hauptpersonen des Romans
1. Ein unscheinbares Knirschen
2. Schachfigurenarmee
3. Mit aller Kraft
4. Die Zange der Parxen
5. Äonenuhren und Chaofakta
6. Im Uhrwerk, davor und darüber hinaus
7. Eine falsche Verräterin und ein Spielzeugsoldat
Report
Leserkontaktseite
Impressum
In der Milchstraße schreibt man das Jahr 2071 Neuer Galaktischer Zeitrechnung. Dies entspricht dem 6. Jahrtausend nach Christus, genauer dem Jahr 5658. Über dreitausend Jahre sind vergangen, seit Perry Rhodan seiner Menschheit den Weg zu den Sternen geöffnet hat.
Noch vor Kurzem wirkte es, als würde sich der alte Traum von Partnerschaft und Frieden aller Völker der Milchstraße und der umliegenden Galaxien endlich erfüllen.
Terraner, Arkoniden, Gataser, Haluter, Posbis und all die anderen Sternenvölker stehen gemeinsam für Freiheit und Selbstbestimmtheit ein, womöglich umso stärker, seit ES, die ordnende Superintelligenz dieser kosmischen Region, verschollen ist.
Als die Liga Freier Galaktiker durch drei Deserteure erfährt, dass in der Nachbarschaft der Milchstraße ein sogenannter Chaoporter gestrandet sei, entsendet sie unverzüglich ihr größtes Fernraumschiff, die RAS TSCHUBAI. Denn von FENERIK geht wahrscheinlich eine ungeheure Gefahr für die Galaxis aus.
Perry Rhodan begibt sich in Cassiopeia, einer Andromeda vorgelagerten Kleingalaxis, auf die Suche nach dem Chaoporter. Doch dessen Agenten sind bereits aktiv. Während der Terraner eine Rettungsmission für zwei Besatzungsmitglieder der kosmokratischen LEUCHTKRAFT startet, verschlägt es zwei Besatzungsmitglieder der RAS TSCHUBAI in das Land der Navakan, WO DIE ÄONENUHREN SCHLAGEN ...
Tondar – Ein Krieger erfüllt seine eigenen Erwartungen nicht.
Anzu Gotjian – Die Mutantin stellt sich ihrer Angst und ihrer Gabe.
Bouner Haad
Krieger wird man nicht,
indem man sich so nennt.
Krieger wird man,
indem man wie einer handelt.
(Zweite Erkenntnis aus dem Kanon der Gen-Cluster)
1.
Ein unscheinbares Knirschen
Das Leben könnte echt schön sein, wenn wir nicht im Chaoporter gefangen wären, dachte Anzu Gotjian.
Sie hielt sich mit ihren Begleitern, dem Haluter Bouner Haad und dem Cyborg Tondar, im Gehöft der Bußfertigkeit auf, und die Navakan hatten sie vor einer Stunde freigesprochen. Anzu lehnte mit dem Rücken gegen eine Säule und gönnte sich ein wenig Ruhe.
Einige Schritte vor ihr standen Schüsseln auf dem Boden, gefüllt mit Porla-Brei, einer gelblichen Masse, in der vereinzelte schwarze Punkte schwammen. Wie sie inzwischen wusste, sättigte das Zeug immerhin. Hunger: null, Porla: eins. Und dafür, dass es das Hauptnahrungsmittel von zwei Meter langen intelligenten Würmern war, schmeckte es nicht einmal übel, nämlich nach nichts.
Der vage schildkrötenartige Cyborg Tondar aß bereits. Er saß auf dem Boden, die Beine übereinandergeschlagen, den Rückenpanzer leicht nach hinten geneigt. Zwei seiner Arme stützten ihn rechts und links, einer hielt die Schüssel, der vierte schaufelte in atemberaubender Geschwindigkeit mit einem improvisierten Löffel Brei in den kleinen Mund.
Anzu und Bouner hatten ihn zunächst für einen Feind gehalten, mittlerweile war er ein Verbündeter, wenn nicht sogar ein Freund. Gleiches galt für die Wurmwesen, die Navakan, die versprachen, sie nun, nach dem Freispruch, zu unterstützen.
Also lief alles gar nicht so übel. Verbündete mitten im Feindesland zu finden, war ein guter Anfang. Es hätte weitaus schlimmer kommen können.
Negativ schlug zu Buche, dass sie jederzeit mit einem neuen Angriff der Parxen rechnen mussten, diesen ebenso eigenartigen wie kampfstarken Wesen in ihren metallglänzenden Robotkörpern. Diese Gefahr verblasste allerdings angesichts der Vorstellung, dass sie im Chaoporter festsaßen, in FENERIK, dem havarierten Chaotarchenfahrzeug, das angeblich die Ursache einer Menge Probleme war und noch werden würde.
Und trotzdem gab es so viele positive Entwicklungen, dass das Leben eigentlich hätte schön sein können. Aber wie so oft, wenn man annahm, man bekäme die Dinge langsam in den Griff, dachte sich das Universum, das Schicksal oder wer-und-was-auch-immer ein neues Schelmenstück aus.
Es begann völlig harmlos mit einem leisen Knirschen.
Beim vorletzten Schritt auf dem Weg zur Porla-Schüssel zermalmte Anzu etwas unter dem linken Fuß. Sie hob ihn an und sah das zerbrochene Fläschchen auf dem Boden. Eine kaum sichtbare, feine Wolke stieg davon auf.
Nein!
Das durfte nicht wahr sein!
Anzu hastete rückwärts, um nichts von dem Dampf einzuatmen, aber es war zu spät. Es roch penetrant süß, vermischt mit einem harzig-herben Duft, wie nach einem abgestorbenen Baumstamm, in dessen Höhle ein Tier verrottete.
So also stank die Droge Saphna, in der die Navakan sechsdimensionale Spurenelemente aus ihrem eigenartigen Himmel verarbeiteten. Das Mittel, das sie aus apathischen, unfassbar langsamen Wesen in aufgeputschte Krieger verwandelte.
Anzus Herz schlug schneller.
Sie atmete aus, immer weiter aus, um das Zeug aus ihrer Nase und Lunge zu bekommen. Sie wollte seine Wirkung nicht spüren, zumal es keinerlei Erfahrungswerte gab, wie es auf Terraner wirkte. Vielleicht fiel sie in wenigen Sekunden tot um. Ganz davon abgesehen hasste sie Drogen, und sie verspürte nicht die geringste Lust auf die Erfahrung, wie ...
Zu spät!
Etwas überflutete ihr Gehirn wie eine brausende Welle. Sie konnte kaum atmen, aber nicht, weil sie keine Luft mehr bekam, sondern weil zu viel Luft in sie einströmen wollte. Alles ging mit einem Mal rasend schnell. Oder nahm sie es nur schärfer als sonst wahr, auf bizarre Weise überdeutlich?
Die Scherben glitzerten, und Anzu glaubte, das Licht darauf singen zu hören.
Sie zwang sich, ruhig zu bleiben.
Versuchte es zumindest.
Nicht gerade einfach, wenn irgendein Zeug den Körper überflutete und das Unterste zuoberst kehrte. Das Innere nach außen. Eine Droge mit sechsdimensionalen Bestandteilen ... Anzus Phantasie war lebhaft genug, um sich vorstellen zu können, was ein solcher Stoff anzurichten vermochte!
Sie rannte los, in acht, neun Richtungen gleichzeitig, und blieb doch stehen. Der Innenraum des Gehöfts der Bußfertigkeit bot zwar einigen Platz, aber nicht, um mit einem Spurt die überschüssige Energie loszuwerden.
»Anzu?«, hörte sie.
Das war Tondar, der Angler, der Krieger aus dem Gen-Cluster Sieben, der einst selbst von außen in FENERIK geholt worden war, und der ...
Egal!, schrie sie in Gedanken. Es spielte keine Rolle, aber auch ihr Verstand arbeitete rasend schnell, bombardierte sie mit Informationen, mit allem, worauf er nur zuzugreifen vermochte.
Ging es den Navakan so, wenn sie Saphna nahmen? Falls ja, wie kamen sie damit zurecht? Lernten sie es von Anfang an, wie ein Terraner laufen und reden und schwimmen lernte, bis er diese Bewegungen völlig selbstverständlich beherrschte? Dann, dachte Anzu, konnte sie gut nachvollziehen, dass die Wurmwesen den Rest ihres Lebens, sobald sie nicht unter dem Einfluss der Droge standen, in Ruhe, Langsamkeit und Apathie verbringen wollten, um einen Ausgleich zu schaffen.
Sie sah Tondars Rückenpanzer.
Sein faltiges Gesicht.
Den Schrumpelmund.
»Beruhige dich!«
Das sagte sich leicht, wenn man nicht selbst betroffen war. Und erst recht, wenn man keine Paragabe hatte, die sich gerne ungefragt zu Wort meldete und alles – gelinde gesagt – durcheinanderbrachte. Mit der man Dinge sah, die in so weiter Entfernung lagen, dass man sie auf natürliche Weise nicht sehen konnte. Eine Gabe, die man nicht vollständig beherrschte. Eine, die von der Droge aufgeputscht zuschlug.
Die einem die Augen öffnete.
Die einen sehen ließ, was man auf keinen Fall sehen wollte.
*
Anzu sieht durch die Außenwand des Gehöfts, hinauf in den schwarzen Himmel, über den die ewigen Blitze wandern. Wenn sie mit ihrer Gabe sieht, kommt es gelegentlich vor, dass sie manches über die Dinge weiß, die sie erblickt. Einzelheiten, die sie gar nicht wissen kann.
So ist ihr zwar bekannt, dass der Lebensbereich der Navakan, in dem sie sich aufhalten, nur eine von vielen Welten ist, die in ihrer Gesamtheit den Randbereich des Chaoporters bilden.
Sie weiß auch, dass sich diese einzelnen Welten auf höherdimensionaler Ebene schlauchförmig winden und verbinden.
Aber bislang hat sie nur ein einziges Mal von einem Volk gehört, das einen Weg durch den dunkelflächigen Himmel gefunden und die Blitze als Portal in einen neuen Lebensbereich genutzt hat: die Lerka. Einen dieser kleinen Insektoiden hat sie getroffen, Krarek, und er hat es ihr berichtet.
Nun blickt Anzu wie durch ein Fenster in deren Heimat.
Sie schaut aus gewaltiger Höhe hinab auf eine gänzlich andere Welt, auf einen wild wuchernden Dschungel, über dessen dampfenden Gipfeln Vögel mit breiten Schwingen fliegen. Sie treiben majestätisch in der Thermik. Ihre Schnäbel öffnen sich zu krächzenden Rufen. Die Flügel schillern dunkelrot, und ein Muster aus schwarzen Linien wirkt wie ein Auge, das beständig nach oben starrt.
Anzu weiß, dass dieses Gefilde der Lerka nebenan liegt, aber gleichzeitig weit entfernt, mit vielen Welten dazwischen, denn die Schläuche winden und verknüpfen sich nicht nur in drei Dimensionen.
Welch ein unverständliches, herrliches, bizarres, abstoßendes Kunstwerk: der Rand des Chaoporters FENERIK! Der Saum beherbergt etliche Völker, deren Sphären abdriften, bis sie eines Tages herauskippen und zurückbleiben.
Einen Gedanken lang versucht Anzu, noch weiter zu gehen. Sie will mit ihrem Fernblick FENERIK verlassen und einen Blick von außen auf das gesamte monströse Gebilde erhaschen, doch die Angst siegt über die Neugierde, sogar in ihrem vom Saphna aufgeputschten Verstand.
Stattdessen sinkt sie tiefer, den Vögeln entgegen, lässt sich für einen Moment mit ihnen treiben, fühlt den Luftzug ihres Schwingenschlags, und ein Frösteln rinnt vom Nacken aus den Rücken hinunter.
»Anzu«, hörte sie, und diesmal war es der Haluter Bouner Haad, ihr Freund, der sie beschützte, seit sie von der RAS TSCHUBAI hinweggerissen worden waren, hinein in die fremden Welten des Chaoporters.
»Warte«, sagte sie oder dachte es nur, während ihre Fernsicht die Wipfel der Dschungelriesen durchbrach und tiefer sank.
Ein Tier sitzt auf einem Ast. Drei Augen, kugelrund, mit roten Iriden und irritierend weißer Pupille, glotzen sie an – nein, nicht sie, denn das Geschöpf kann Anzu nicht sehen. Es starrt auf einen Artgenossen, der es mit weit geöffnetem Maul im pelzigen Gesicht anspringt, vier Pfoten ausgestreckt.
Anzus Blick erreicht den Boden. Insektoiden wandeln darauf. Sie eilen geschäftig hin und her, Lasten auf ihre Chitinpanzer gebunden. Wie gerne würde Anzu sie ansprechen, ihnen mitteilen, dass Nachfahren der mutigen Abenteurer, die den Weg in eine andere Welt gesucht und gefunden haben, noch immer leben, und dass es ihnen gut ergeht. Aber natürlich kann sie nicht reden; sie sieht und sie versteht, doch ihre Gabe erlaubt es nicht, sich mitzuteilen.
Einige Meter entfernt führt eine Öffnung im Boden in eine Höhle.
Es geht auf einem ausgetrampelten Weg steil nach unten. Insektoide versammeln sich dort, in von Lichtschächten erschaffenem Zwielicht. Sie essen, sie lachen, sie vermehren sich, sie arbeiten. Sie sind glücklich, und es schert sie nicht, dass sie in FENERIK wohnen, denn die Tage, in denen ihre fernen Vorfahren für den Chaoporter wichtig waren, liegen weit zurück.
Bouners gewaltige Hände umfassten Anzu, sanft und bestimmt. »Es ist nichts passiert, lös dich aus deiner Gabe!«
Nichts passiert? Wie konnte er das sagen, wo doch ihr Herz raste, ihr Verstand pochte, die Haut prickelte und sie ihre Fernsicht präziser lenken konnte als jemals vorher?
Illustration: Dirk Schulz
»Zurück!« Er drückte sie einen Moment lang so fest, dass sie aufschrie und ihre Para-Augen schloss.
Sie sieht nur mehr Schwärze, die Lerka und ihre Höhle verschwinden, genau wie der dampfende Dschungel.
Was zurückkehrt, ist anders, aber sie kennt es: ein dunkles, ewiges Tuch, dumpf und vibrierend diesmal, hinter dem sich alles verbirgt, was sich im Chaoporter befindet. Jeder einzelne Gegenstand entzieht sich ihrem Parablick. Sie kann nur erahnen, was dort lauert, was sich abzeichnet wie helle Schatten in der Schwärze, jenseits des Verstandes.
Sie versteht mit einem Mal, warum sie es auf diese Weise sieht. Es steht für den Prozess der Abstoßung der Welt der Navakan, der bereits begonnen hat, obwohl er noch Jahre in Anspruch nehmen wird. Die Navakan sind Teil des Chaoporters, und trotzdem davon entfernt, gehören nur zum äußersten Rand.
Dass sie es nun begreift, macht das, was sich hinter dem Tuch bewegt, nicht weniger abscheulich. Anzu will es nicht sehen!
Oder doch?
Ist es nicht wichtig, zu erfahren, was ihre Feinde planen, die Parxen? Ob und wie sie sich zum Angriff rüsten? Kann ein Blick auf sie nicht unendlich wertvoll sein?
Etwas tritt aus dem Tuch heraus, aus einer Überlappung, die zuvor nicht existiert hat. Es ist ein Parxe, einer jener glänzenden Robotkörper, größer als die meisten, vielleicht als alle, die sie bislang gesehen hat. Das weiß sie, obwohl es keine Vergleichsmöglichkeit gibt, weil er allein und isoliert vor dem wallenden schwarzen Tuch steht.
Er nähert sich dem Gehöft der Bußfertigkeit, nein, er ist bereits in der Nähe und beobachtet.
»Etrex Baibur«, sagte Anzu. »Es ist Etrex Baibur, der Verfahrensdenker. Lass mich, Bouner, ich will sehen, ich muss sehen, solange ich kann.«
Solange das Saphna sie aufpeitschte und ihr Körper mitspielte.
Solange ihr Herz nicht unter dem irrsinnigen Druck zerplatzte und ihr Verstand es aushielt, ohne zu zerbrechen.
Der Verfahrensdenker ist ein hochrangiger Parxe, der Anführer derjenigen, die das Gehöft aus der Ferne belauern. Ein in höchstem Maß gefährliches Wesen. Und er ist nicht allein gekommen, er hat eine Waffe angefordert.
Eine Waffe, deren Einsatz alles verändern wird.
Anzu will weitersehen, um die Natur der Waffe zu begreifen, herauszufinden, was es damit auf sich hat. Aber mit einem Mal ist ihr, als blicke nicht nur sie Etrex Baibur an, sondern als schaue der Verfahrensdenker zurück, genau in ihre Augen.
Anzu schrie.
Dunkelheit.
*
Die Finsternis der Parasicht wich den normalen Eindrücken ihrer Umgebung. Anzu sah wieder mit ihren Augen, und es fühlte sich unfassbar erholsam an. Dennoch zitterten ihre Finger, und in ihr tanzte eine ganze Armee.
»Was hast du gesehen?«, wollte Bouner wissen.
»Wie der Mond sich in Zinkoxid verwandelt hat«, sagte sie.
»Äh ... was?«, fragte Tondar.
Eine sehr gute Frage. Warum in aller Welt hatte sie das gesagt? Das war völliger Unfug! Sie atmete tief durch, versuchte, innerlich ruhig zu werden, und konzentrierte sich. »Meine Sinne sind überflutet«, sagte sie langsam und spürte Erleichterung, dass Zunge und Mund die richtigen Worte formten.
»Du warst verwirrt«, erkannte der Haluter. »Ich habe davon gehört, dass Terraner unter extremem Stress so reagieren. Man verwechselt Worte, vertauscht ihre Bedeutung. Du denkst das eine und sagst das andere. Eine Aphasie. Versuch es erneut!«
Ich kann es, dachte Anzu und sagte: »Ich kann es.«
Welche Erleichterung.
Sie konnte es wirklich.
Wie hatte Bouner es genannt? Aphasie? Mit solchen Phänomenen hatte sie bisher nie zu kämpfen gehabt. Aber sie hatte schließlich niemals zuvor eine höherdimensionale Droge genommen.
»Es geht mir besser«, versicherte sie. »Nur das Saphna macht mich verrückt. Meine Muskeln zittern, und die Gelenke fühlen sich an, als würden sie ...«
»Kein Saphna«, unterbrach Tondar.
»Was meinst du?«, fragte sie.
»Du hast kein Saphna inhaliert.«
Anzu drehte den Kopf, sah auf die Scherben des Fläschchens, das sie zertreten hatte. »Also habe ich mir das alles nur eingebildet und meine Paragabe hat ganz ohne Anlass noch mehr verrückt gespielt als sonst, ja?« Sie lachte, aber es hörte sich verflixt unsicher an.
»Exakt«, sagte der Cyborg.
»Verstehst du das unter schonend beibringen?«, grollte Bouner.
Wovon sprachen sie? Was sollte das? »Könnt ihr bitte Klartext reden?«, forderte Anzu.
»In dem Fläschchen war kein Saphna«, erklärte ihr der Haluter sanft. »Hast du je vom Placeboeffekt gehört?«
»Oh«, machte Anzu. »Ist nicht dein Ernst.«
»Ist es doch.«
»Aber die Gabe ... ich habe ... sie hat noch nie derart ... also, ich konnte sie noch nie so lange und gezielt anwenden!«
2.
Schachfigurenarmee
Anzu setzte sich auf den Boden, in den Schneidersitz. Sie fühlte sich schrecklich. Wie eine Närrin!
Und weil sie Bouner glaubte, nein, weil sie wusste, dass er sie nicht belog, fragte sie sich, wie das hatte passieren können. Wie war es möglich, dass ihr Körper derart extrem reagierte – das Herzrasen, das Zittern, die Unruhe in allen Muskeln, in jedem Gelenk?
Andererseits – seit sie es wusste, waren die Symptome weitgehend abgeklungen. Sie empfand lediglich ein seltsam hohles Gefühl im Brustkorb, sonst fühlte sie sich wohl.
Ein Placeboeffekt. Bouner hatte es auf seine nüchterne Art auf den Punkt gebracht. Weil sie angeblich Saphna einatmete, spürte sie die Wirkung. Wenn der Körper dazu in der Lage war, warum nicht auch die Seele oder das Bewusstsein? Und jener Bereich darin, von dem ihre Paragabe ausging, der sie aktivierte und steuerte?
Sie kam sich unendlich dumm vor, doch sie schwieg, denn sie wusste, wie es ausgehen würde, falls sie etwas sagte.
»Ich komme mir so dumm vor.«
»Das brauchst du nicht. Eine verständliche Reaktion unter diesen Umständen.«
»Aber ich ...«
»Kein Aber, Anzu.«
Nein, auf dieses Gespräch hatte sie nicht die geringste Lust.
Bouner schwieg, und Tondar ebenso. Die beiden ließen ihr Zeit, und für die Navakan galt das ohnehin. Die Wurmwesen hielten sich abseits, einige Meter entfernt, am anderen Ende des Gehöfts. So war es schon gewesen, bevor Anzu den entscheidenden Schritt gemacht und das Fläschchen zertreten hatte.
Irgendwann, als die Stille ihr zu quälend wurde, sagte sie: »Woher wisst ihr, dass es kein Saphna war?« Die Worte kamen völlig selbstverständlich und ungezwungen, keine Spur von Wortfindungsstörungen gleich welcher Art – auch das war offenbar nur eine Auswirkung der extremen Aufputschung gewesen.
Einer eingebildeten Aufputschung.
Sie war wirklich eine Vorzeigeheldin für Mutanteneinsätze. Sie stellte sich vor, wie sie den Rückweg zur RAS TSCHUBAI schaffte, mit Gucky zusammensaß und ihm von dieser Glanztat erzählte. Und deshalb, mein Lieber, bin ich nicht in dein Parakorps eingetreten.
Aber obwohl sie sich momentan selbst nicht leiden konnte, wusste sie, dass der Mausbiber sie deswegen keinen Deut weniger schätzen würde. Es war eben nicht leicht, zu verzweifeln, wenn einem solche Freunde zur Seite standen.
»Ganz einfach«, antwortete Tondar auf ihre Frage, »weil wir die Navakan gefragt haben. Sie sind zu einhundert Prozent davon überzeugt. Ein Saphna-Fläschchen könntest du auf diese Art nicht zerbrechen.«
»Was war sonst darin?«
»Willst du es wirklich wissen?«
Anzu nickte.
Der Cyborg lachte. »Diese seltsame Kopfbewegung habe ich schon ein paar Mal bei dir beobachtet. Ich deute sie als ja. Doch bevor ich es dir sage ... wie hat es gerochen?«
Was tat das zur Sache? »Ekelhaft.«
Das amüsierte Tondar sichtlich. »Die Navakan mussten es lang und breit umschreiben, aber es lässt sich einfach auf den Punkt bringen. Das war Parfüm.«
»Par...« Das verschlug ihr die Sprache. Ganz ohne Wortfindungsstörungen.
Nachdem sie das verdaut hatte, teilte Anzu die Inhalte der Parasicht mit ihren Gefährten. Vor allem beschrieb sie Etrex Baibur und das Wissen um die Spezialwaffe. »Darum müssen wir uns kümmern«, schloss sie ihren Bericht.
»Das müssen wir«, stimmte Bouner zu. »Aber nicht nur darum! Wir teilen uns auf.«
»Was hast du vor?«
»Mir ist eine Idee gekommen, und ich habe sie bereits im Millisekundendialog mit meinem Planhirn diskutiert.«
Also mit dir selbst?, dachte Anzu. Soll es mich beunruhigen, dass er Selbstgespräche führt? Sie sprach es nicht aus.
Er war eben ein Haluter, und sie konnte sich als Terranerin nicht vorstellen, mit zwei voneinander getrennten Gehirnen zu denken. Ob das Ordinär- und das Planhirn wohl manchmal unterschiedliche Meinungen vertraten? Gerieten sie hin und wieder in Streit? Vielleicht sollte sie ihn das fragen, irgendwann, falls sie die kommenden Stunden überlebten.
Ihr Schweigen fasste Bouner ganz zu Recht als Aufforderung auf. »Die Navakan wollen uns unterstützen. In ihren Gehöften lagert allerlei Gerümpel. Ich konnte vieles in Augenschein nehmen, als ich die notwendigen Teile zusammensuchte, um den Ernteroboter zu reparieren. Eine Menge sehr hochwertiger Technologie oder zumindest Bauteile für höherwertige Geräte.«
»Worauf willst du hinaus?«, fragte Tondar.
»FENERIKS Herren haben uns mit einem Transpositstrahl aus unserem Raumschiff geholt«, antwortete der Haluter. »Und du wiederum hast uns aus diesem Strahl herausgeangelt. Also kennst du dich damit aus, richtig?«
»Das stimmt«, sagte der Cyborg unbescheiden.
»Darauf fußt mein Plan. Wir bauen eine Maschine, die den Transpositstrahl kopiert und uns zurück auf unser Schiff bringt.«
»Klar«, meinte Tondar. »Und direkt danach basteln wir uns einen zweiten Chaoporter.« Er lachte brüllend, merkte jedoch, dass keiner mitlachte. »Du meinst das ernst?«
»Todernst.«
»Das ist einfach ... das ... das ist ...« Ein kurzes Schweigen, dann: »Hm. Eigentlich wollte ich sagen, es ist unmöglich. Aber ein Versuch kann wohl nichts schaden. Wenn wir es schaffen, den Transpositstrahl zu imitieren, könnte ich euch mit meiner Angel einfädeln.«
Bouner Haad hob eine seiner riesigen Hände und ließ sie auf Tondars Rückenpanzer krachen. »So gefällst du mir. Ich halte ja Dinge prinzipiell nicht für unmöglich, nur weil noch niemand einen Weg gefunden hat, sie möglich zu machen.«
*
Tondar blieb bei den Navakan im Gehöft der Bußfertigkeit. Die Wurmwesen hatten zugesagt, ihm Zutritt zu den Nebenräumen zu gewähren, die – anders als der Verhandlungssaal – mit ihrem Gerümpel vollgestopft waren. So konnten sie hoffentlich beizeiten an die Arbeit gehen, die Maschine zu bauen, die den Transpositstrahl imitierte. Das war Teil eins des Evakuierungsplans für Bouner und Anzu.
Später würden die beiden Tondar unterstützen, zunächst jedoch brachen sie auf. Ihr Ziel lag an jenem Ort, an dem Anzu den Verfahrensdenker Etrex Baibur gesehen hatte.
Eines der Wurmwesen öffnete ihnen einen Ausgang. Gehöfte blieben normalerweise rundum geschlossen; um sie zu betreten oder zu verlassen, konnte jeder Navakan mit seiner Standrüstung einen Impuls abgeben, der einen Durchgang schaltete. Vor den beiden Gästen schob sich ein Teil der bis dahin scheinbar fugenlosen Außenwand zur Seite.
Sie gingen nach draußen.
Anzu legte den Kopf in den Nacken. Sie sah nach oben, in den eigenartigen Himmel, jene schwarze Fläche etwa 80 Kilometer über ihnen, auf der kontinuierlich Blitze wanderten, sich verästelten und verbanden.
Mit ihrer Parasicht hatte sie durch einen dieser Blitze geschaut, in die Welt der Insektoiden. Ob sie jemals tatsächlich dorthin kam? Aber das war Zukunftsmusik. Zunächst mussten sie alles daransetzen, FENERIK zu verlassen und zur RAS TSCHUBAI zurückzukehren, damit sie die inzwischen gesammelten Informationen weitergeben konnten.
Danach stand ein Zweitbesuch auf dem Chaoporter an, auf die eine oder andere Weise. Besser ausgerüstet, gezielt und mit einem genau zusammengestellten Team. Ob sie diesem selbst angehören würde, ob sie das überhaupt wollte, es womöglich musste, wusste sie nicht. Und solange sie im Chaoporter festsaßen, blieben derlei Überlegungen ohnehin müßig.