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In der Milchstraße schreibt man das Jahr 2072 Neuer Galaktischer Zeitrechnung. Dies entspricht dem Jahr 5659 nach Christus. Über dreitausend Jahre sind vergangen, seit Perry Rhodan seiner Menschheit den Weg zu den Sternen geöffnet hat. Noch vor Kurzem wirkte es, als würde sich der alte Traum von Partnerschaft und Frieden aller Völker der Milchstraße und der umliegenden Galaxien endlich erfüllen. Die Angehörigen der Sternenvölker stehen für Freiheit und Selbstbestimmtheit ein, man arbeitet intensiv zusammen. Doch entwickelt sich in der kleinen Galaxis Cassiopeia offensichtlich eine neue Gefahr. Dort ist FENERIK gestrandet, ein sogenannter Chaoporter. Nachdem Perry Rhodan und seine Gefährten versucht haben, gegen die Machtmittel dieses Raumgefährts vorzugehen, bahnt sich eine unerwartete Entwicklung an: FENERIK stürzt auf die Milchstraße zu. Mit an Bord ist Anzu Gotjian, die Transmitterspezialistin, Mutantin und Heldin wider Willen. Drei der fünf Quintarchen sind mittlerweile gestorben, der vierte, Farbaud, ist im Gewahrsam der Galaktiker. Als Addanc, der Taucher, nach der Macht und den tödlichen Möglichkeiten FENERIKS greift, stellt sich ihm Reginald Bull entgegen: Lösen ließe sich der Konflikt womöglich UNTER DEM NABEL VON ZOU SKOST ...
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Seitenzahl: 176
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Nr. 3192
Unter dem Nabel von Zou Skost
In FENERIKS Tiefen – eine kosmische Begegnung
Michael Marcus Thurner /
Christian Montillon
Cover
Vorspann
Die Hauptpersonen des Romans
1. An Bord von FENERIK
2. Außerhalb von FENERIK
3. Außerhalb von FENERIK
4. An Bord von FENERIK
5. Außerhalb von FENERIK
6. Außerhalb von FENERIK
7. An Bord von FENERIK
8. Außerhalb von FENERIK
9. Außerhalb von FENERIK
10. An Bord von FENERIK
11. Außerhalb von FENERIK
12. An Bord von FENERIK
13. Außerhalb von FENERIK
14. Außerhalb von FENERIK
15. An Bord von FENERIK
Leseprobe PR NEO 290 –Marlene von Hagen – Der Versuchsplanet
Vorwort
1. Die Blase im Sand
2. Perry Rhodan ist zurück
3. Das Ding
4. Die Delegation
Gespannt darauf, wie es weitergeht?
Leserkontaktseite
Glossar
Impressum
In der Milchstraße schreibt man das Jahr 2072 Neuer Galaktischer Zeitrechnung. Dies entspricht dem Jahr 5659 nach Christus. Über dreitausend Jahre sind vergangen, seit Perry Rhodan seiner Menschheit den Weg zu den Sternen geöffnet hat.
Noch vor Kurzem wirkte es, als würde sich der alte Traum von Partnerschaft und Frieden aller Völker der Milchstraße und der umliegenden Galaxien endlich erfüllen. Die Angehörigen der Sternenvölker stehen für Freiheit und Selbstbestimmtheit ein, man arbeitet intensiv zusammen.
Doch entwickelt sich in der kleinen Galaxis Cassiopeia offensichtlich eine neue Gefahr. Dort ist FENERIK gestrandet, ein sogenannter Chaoporter. Nachdem Perry Rhodan und seine Gefährten versucht haben, gegen die Machtmittel dieses Raumgefährts vorzugehen, bahnt sich eine unerwartete Entwicklung an: FENERIK stürzt auf die Milchstraße zu. Mit an Bord ist Anzu Gotjian, die Transmitterspezialistin, Mutantin und Heldin wider Willen.
Drei der fünf Quintarchen sind mittlerweile gestorben, der vierte, Farbaud, ist im Gewahrsam der Galaktiker. Als Addanc, der Taucher, nach der Macht und den tödlichen Möglichkeiten FENERIKS greift, stellt sich ihm Reginald Bull entgegen: Lösen ließe sich der Konflikt womöglich UNTER DEM NABEL VON ZOU SKOST ...
Addanc, der Taucher – Der Quintarch befiehlt den Einsatz einer besonderen Waffe.
Reginald Bull – Der Quintarch muss sich seines Amtes als gewachsen zeigen.
Anzu Gotjian – Die Sextadim-Kanonierin steht zwischen zwei Quintarchen.
Zou Skost
»Wer zusammenbricht,
soll auf die Knie fallen.«
Helene Gräfin von Waldersee
(1850–1917 alter Zeitrechnung)
1.
An Bord von FENERIK
Anzu Gotjian traute Reginald Bull nicht, und sie wusste, dass er ihr ebenso wenig traute.
Das war mal wieder typisch. Da traf man einen alten Bekannten, den ersten Terraner, den sie seit mehr als sechs Wochen sah, seit Farbaud sie in den Chaoporter mitgenommen hatte ... und dann so was.
»Ich bin Anzu, vielleicht erinnerst du dich ja noch an mich«, sagte sie so locker, wie es ihr gelang. Es klang sogar in ihren eigenen Ohren nicht überzeugend.
Reginald Bull grinste, und das wirkte ungefähr so echt wie ihr Tonfall. »Ja, ich habe dich nicht vergessen«, sagte er. »Das müsste so zwei, drei Jahre nach der Rückkehr der Erde aus dem anderen Zweig des Dyoversums gewesen sein. Perry hat dich mir vorgestellt, während dieser Party, bei der diese verrückte cheborparnische Band aufgetreten ist.«
»Es war weniger als ein Jahr nach der Rückkehr. Oder aus meiner Sicht, weniger als ein Jahr, nachdem ich zum ersten Mal in euren Dyoversumszweig gekommen bin. Ich hatte damals gerade angefangen, irgendwie Fuß zu fassen. Aber ja, die Band war wirklich gut.«
Sie ging näher zu Bull, der neben einer echten Schönheit stand – einem würfelförmigen Wesen mit einer Kantenlänge von etwa einem Meter, getragen von vier niedrigen, stämmigen Beinen. Ein grauweißer Knochenhelm bedeckte den Kopf des Unbekannten, von dem nur dunkle, grün blitzende Augen zu sehen waren. Zwei spiralförmige Arme wuchsen aus der Brust. Dann gut, doch keine Schönheit.
Anzu wandte sich an dieses Wesen. »Wir hatten noch nicht das Vergnügen.«
»Nicht, dass es jetzt ein Vergnügen wäre«, sagte es mit grollender Stimme. »Ich bin Ruuman. Die GNATOK steht unter meinem Befehl. Reginald Bull und der hochgeschätzte Addanc sind meine Gäste. Und du mittlerweile wohl ebenfalls.« Er klang nicht so, als passte ihm das in seine Pläne.
Vor Kurzem war Anzu noch auf der LUCTU gewesen, dem Schiff von Addanc, dem Taucher, dem letzten verbliebenen Quintarchen in FENERIK. Dort hatte sie gewartet, während er im Chaofaktenhort unterwegs war, um – ja, um was zu tun? FENERIK und damit auch die Milchstraße zu retten? Das behauptete er zumindest, und Anzu wollte ihm glauben, aber so richtig gelang ihr das nicht.
Anzu hatte ihm geholfen, Zugang zum Chaofaktenhort zu finden, indem sie mit der Sextadim-Kanone Einfluss auf das Staubmeer genommen hatte. Danach war ihr nichts anderes übrig geblieben, als zu warten, was sich durchaus zermürbend anfühlte, wenn man damit rechnete, dass jeden Augenblick die Galaxis untergehen konnte.
Dann war die Funknachricht eingetroffen. Addanc hatte sich gemeldet, mit einem schlichten Komm zu mir, ohne weitere Erklärungen, von ein paar Koordinaten und dem Namen des Schiffes GNATOK abgesehen. Eine nicht sonderlich wohlklingende Benennung, wie Anzu fand, aber es passte gut zu dem Würfel-Charmebolzen Ruuman.
Also hatte sie sich auf den Weg gemacht und eine offene Schleuse sowie einen unmissverständlichen Hololeuchtpfeil vorgefunden, der ihr vorangeschwebt war und sie durch einen grün phosphoreszierenden Korridor an diesen Ort geführt hatte. Der blasenförmige Raum, alles andere als gemütlich, musste wohl die Zentrale der GNATOK sein. Aber gut, es gehörte nicht zu den Aufgaben einer Raumschiffszentrale, gemütlich zu sein. Und dort hatten zu ihrer Überraschung nicht Addanc, sondern Reginald Bull und dieser Ruuman gewartet.
Die ganze GNATOK fühlte sich ... seltsam an. Wobei seltsam im Chaoporter durchaus als das neue Normal durchging. Hörte Anzu da tatsächlich ein Pochen, wie einen fernen, sehr langsamen Herzschlag? Und erweiterte sich der blasenartige Raum dieser Zentrale wirklich und zog sich wieder zusammen?
»Du kannst den Helm deines Anzugs öffnen«, sagte Reginald Bull – der selbst als Beweis dafür diente, dass die Atmosphäre im Schiffsinneren atembar war, weil er sie, nun ja, eben atmete.
Anzu folgte der Aufforderung. Das erste Luftholen schmeckte widerwärtig, so intensiv nach Chlor, dass sie meinte, es würde ihr die Schleimhäute verätzen. Sie unterdrückte einen Würgereiz. Sie wollte nicht so charmant sein und sich wenige Sekunden nach der Begrüßung vor dem Schiffskommandanten übergeben. Ruuman könnte es auf sich beziehen. Na ja, andererseits ...
»Man gewöhnt sich dran«, sagte Bull, der ihrem Gesichtsausdruck offenbar ansah, wie sie sich fühlte. »Allerdings bin ich verblüfft – als wir uns kennenlernten, war deine Hautfarbe ...«
»... nicht azurblau?«, unterbrach Anzu. »Ist die neueste Mode in FENERIK, weißt du? Oder anders gesagt: lange Geschichte.« Tatsächlich lag ein Film aus Azurlauge über ihrem gesamten Körper, seit sie die erste Prüfung auf dem Weg zur Sextadim-Kanonierin durchlaufen hatte. »Du kennst das ja. Wie es eben so ist. Mal passiert einem dieses, dann jenes. Die eine wird azurblau, der andere hört einen Sternenruf.« Dabei suchte sie seinen Blick und starrte ihn durchdringend an.
Sie war gelinde gesagt überrascht, ihn auf diesem Weg zu treffen, den legendären Terraner, Perry Rhodans ältesten Freund und Wegbegleiter. Aber war er das noch – Perrys Wegbegleiter? Oder hatte Reginald Bull längst einen gänzlich anderen Weg eingeschlagen? Sich von der Menschheit wegbewegt, vielleicht gezogen von seinem veränderten, chaotarchisch geprägten Zellaktivator? Immerhin hatte er den Sternenruf gehört, den Ruf des Chaoporters ...
... und nun war er im Chaoporter. Hieß das, dass man ihm als Galaktiker nicht mehr trauen konnte? Dass er die Seiten gewechselt hatte?
Andererseits befand sich Anzu an genau demselben Ort. Und sie hatte die Seiten nicht gewechselt.
Nein, das habe ich nicht.
Seltsam, dass sie an diesem Punkt ihrer Überlegungen hängen blieb und sich das selbst bestätigen musste.
Wie war Bull in den Chaoporter gekommen? Und dort in die GNATOK? Anzu, die sich seit Wochen in FENERIK aufhielt, hatte seitdem nichts über Bulls Werdegang gehört. Ob man es draußen wusste, in der Milchstraße? Wenigstens Leute wie Rhodan?
»Hm«, machte Bull und wiederholte in nachdenklichem Tonfall: »Die eine wird azurblau, der andere hört den Sternenruf. Und beide treffen sich am Ende in FENERIK.«
»Am Ende?«, fragte Anzu. »Ist es das – das Ende?«
Reginald Bull schwieg daraufhin.
»Du bist hier«, nutzte Ruuman die Gelegenheit, sich an Anzu zu wenden, »weil Addanc dich gerufen hat. Ich bringe dich zu ihm. Es gibt viel zu besprechen.«
Anzu traf eine Entscheidung: Künftig würde sie ihn nur noch Charmewürfel nennen. Das Leben war zu kurz für komplizierte Spottnamen.
*
Auch der Korridor, durch den Ruuman sie nun führte, schien auf gewisse Art zu leben, wobei das nicht der richtige Begriff dafür war. Die GNATOK war kein grundlegend lebendiges Schiff, sondern eindeutig ein technologisches Produkt. Doch die Wände blieben nicht fest, bewegten sich auf fast – aber nur fast – organisch anmutende Art. Sie vergrößerten den Raum, verkleinerten ihn, ein Durchgang öffnete sich nicht wie eine Tür, sondern eher wie ...
... ja, wie was?
Anzu fand keinen guten Vergleich, keine passende Analogie, also traf sie eine weitere pragmatische Entscheidung: Es war ihr ab sofort egal. Sie kümmerte sich nicht mehr darum.
Bald standen sie einem weiteren blasenartigen Raum.
Addanc lag in einer wassergefüllten Mulde im Boden. Genauer handelte es sich um eine seiner Larven, in die der Quintarch sein Bewusstsein verschoben hatte. Die Larve, einer seiner Abkömmlinge, war deshalb in diesem Moment mit dem Quintarchen wesensidentisch.
Er ähnelte einem stark segmentierten Borstenwurm – weitaus kleiner als Addancs Originalkörper und in diesem Fall ausgebleichter, als Anzu die Larven in Erinnerung hatte, die den Weg in den Chaofaktenhort angetreten hatten. Sie waren zu dritt gewesen ... dort unten in der Mulde gab es nur noch eine.
»Falls du dir die Frage stellst – ja«, sagte die Larve. Die Stimme drang aus einem antiquiert wirkenden Lautsprecher, der über der Mulde schwebte, einem etwa faustgroßen Metallkasten. »Meine Begleiter sind tot. Es gab Probleme. Nur ich habe überlebt.«
Lichtschauer huschten auf der Wasseroberfläche, die gleichzeitig in Bewegung geriet. Luftblasen stiegen auf und zerplatzten mit leisem Plopp.
»Probleme welcher Art?«, fragte Anzu, die nicht gerade übermäßige Trauer wegen des Todes der beiden Addanc-Larven empfand.
Sie hatte den Quintarchen unterstützt, doch sie traute ihm nicht. Wusste nicht, wie sie sein Handeln einschätzen sollte. Ihr war völlig klar, dass er aus Eigennutz handelte, weil er die Alleinherrschaft über FENERIK gewinnen wollte ... aber war das alles? Oder plante er auch, die Milchstraße vor der Vernichtung bewahren?
»Nichts, das hier besprochen werden müsste«, antwortete die Larve ein wenig verspätet auf ihre Frage.
»Wir waren uns nicht einig, wie die Dinge zu handhaben sind«, polterte Reginald Bull. Sein Blick wurde hart.
»Du hast die beiden anderen Larven getötet?«, fragte Anzu den Terraner.
Bull presste die Lippen aufeinander. Ein paar Sekunden Schweigen folgten, dann: »Man könnte es genauso gut als Missverständnis bezeichnen. Vielleicht hatte Addanc, der hochgeschätzte Taucher, auch Probleme damit, dass ich möglicherweise schon bald Quintarch sein werde. Ihm gleichgestellt.«
Illustration: Dirk Schulz
»Für Terraner kennt die Karriereleiter in FENERIK offenbar keine Grenzen«, sagte Anzu leichthin, während sie diese Information zu verdauen versuchte. Reginald Bull als Quintarch? »Falls du es noch nicht gehört hast, ich bin zur Ersten Sextadim-Kanonierin im Chaoporter aufgestiegen.«
Und Addanc hatte ihr in Aussicht gestellt, ebenfalls eine Anwärterin auf den Quintarchenposten zu werden.
»Sollte ich dir gratulieren?«, fragte Bull.
Keine Ahnung, dachte Anzu. Sie zuckte mit den Achseln. »Vielleicht könntest du in Zukunft ja auch eine Assistentin aus der Heimat gebrauchen.«
»Dem steht entgegen, dass du mir verpflichtet bist«, sagte die Larve.
Die Lichtschauer hörten auf, doch nun tropfte scheinbar aus dem Nichts eine gelbe Flüssigkeit ins Wasser, zerlief in Schlieren und war bald nicht mehr zu sehen.
»Ein Vorschlag zur Güte«, warf Reginald Bull ein. »Lassen wir Zou Skost entscheiden. Ich weiß nicht, ob FENERIK den Sternenruf an mich ausgesandt hat oder der Chaotarch selbst ... aber ich würde ihn gerne sprechen.«
»Und wie stellst du dir das vor?«, herrschte Addanc ihn an. »Man kann Zou Skost nicht einfach ...«
»Von einfach«, unterbrach Bull, »ist keine Rede. Aber ich zweifle nicht daran, dass es gewisse Möglichkeiten gibt.«
»Oh ja«, sagte Anzu. »Ich hatte bereits das Vergnügen einer Audienz.« Nur dass es kein Vergnügen gewesen war. Nicht das geringste. »Allerdings bin ich mir nicht sicher ...« Sie deutete in die Wassermulde, auf die Larve. »Wenn ich das hier richtig verstehe, befindest du dich in medizinischer Behandlung? Kannst du diese ...« Sie zögerte. »... Krankenstation verlassen?«
»Selbstverständlich bin ich dazu in der Lage«, sagte die Larve. »Erwartet mich vor der GNATOK.«
»Müssen wir nicht mit dem Schiff zu einem Audienzsaal fliegen?«, fragte Anzu. So war es gewesen, als sie mit Addanc bei dem Chaotarchen vorgesprochen hatte.
»Wir halten uns dicht bei den Pforten des Chaofaktenhorts auf«, sagte die Larve. »Sie gehören zu den chaosignierten Orten.«
»Klar«, meinte Anzu. »Wie hatte ich das nur vergessen können.« Nicht, dass sie je davon gehört hätte oder auch nur die geringste Ahnung hatte, was damit gemeint war.
»Und warum diese Verzögerung?«, fragte Bull. »Begleite uns einfach nach draußen. Wir sollten keine Zeit verlieren.«
»Ich werde die Audienz bei Zou Skost anfragen und vorbereiten. Oder kannst du das für mich übernehmen?«
»Nein«, gab Bull zu.
Eins zu null für Addanc, dachte Anzu. Aber sie kannte genug Geschichten aus Reginald Bulls Leben, um zu wissen, dass dies nicht der Endstand in dieser Auseinandersetzung bleiben würde.
*
Vor dem Schiff blickten sie auf das Staubmeer, in dessen Mitte die GNATOK und die LUCTU parkten. Winde wirbelten dunkle Wolken auf, und wohin man auch schaute, bog sich die Welt nach oben.
Sie befanden sich in einem 9000 Kilometer durchmessenden Krater wie auf dem Boden einer gigantischen Schale. Nicht, dass Anzu das alles überblicken könnte – sie wusste es aufgrund von Messungen. Ebenso wie die Daten hergaben, dass einige unregelmäßige Inseln aus diesem trockenen Meer ragten. Oder dass der Staub viele Kilometer hoch lag und es insgesamt 19 Staubsäulen gab, die den eigentlichen Zugang zum Chaofaktenhort bildeten, in den die drei Larven eingedrungen waren.
Was Anzu tatsächlich sah, war weit weniger imposant: eine kleine staubige Wüstenfläche und staubtrockener Wolkendunst, der den Blick nach einigen Dutzend Metern verschwimmen ließ. Der wirbelnde Staub verpuffte am Schirm ihres Schutzanzugs, schmirgelte jedoch über die Hülle der GNATOK.
»Mein Schiff«, erklärte Ruuman ungefragt, »unterliegt einer starken Erosion. Die Reparaturroutinen arbeiten dagegen, aber es sieht nicht gut aus. Lange kann ich mich hier nicht mehr aufhalten.«
»Was ist mit dem Schutzschirm deines Raumers?«, fragte Bull knapp.
»Ein Opfer der Erosion, weil er den höherdimensionalen Staubwinden dauerhaft ausgesetzt ist. Eure Anzüge werden es auch nicht ewig tun.«
»Vielleicht sollten wir dann lieber in dein Schiff zurückkehren?«, fragte Anzu.
»Addanc weiß, was er anordnet«, meinte Ruuman. »Ich zweifle nicht daran, dass er bald auftauchen wird.«
Tatsächlich kam die Larve nach weniger als fünf Minuten zu ihnen. Sie trug einen wassergefüllten Panzeranzug, eine der Möglichkeiten für das Unterwasserwesen, sich an Land fortzubewegen.
»Zou Skost wird den chaosignierten Ort nutzen und sich vor den Pforten zum Chaofaktenhort konkretisieren«, teilte Addanc mit.
Aha. Dazu also dient ein chaosignierter Ort. Anzu fragte sich darüber hinaus, wie eine solche Anfrage wohl ablief. Sie war dabei gewesen, als Zou Skost aus den Tiefen emporgetaucht war – der Chaotarch hielt sich in unerreichbaren Fernen auf. Andererseits war er zu jedem Zeitpunkt bis zu einem gewissen Grad in FENERIK gelöst. Wahrscheinlich war es einem Quintarchen möglich, auf diesem Weg die Aufmerksamkeit des Chaotarchen zu gewinnen.
»Wo genau werden wir ihn treffen?«, fragte Bull.
»Wo es ihm gefällt. Glaub mir, uns entgeht das nicht.«
»Daran zweifle ich nicht. Die Gegenwart eines Chaotarchen wird wohl kaum besonders unauffällig bleiben.«
Nicht, wenn es so ablief, wie Anzu es bereits kannte und vor Kurzem erlebt hatte. Erst vor zwei Tagen war sie mit Addanc in der LUCTU zu einem Audienzsaal geflogen und hatte miterlebt, wie ...
»Er kommt«, sagte Addanc.
Ja – sie hatte genau das miterlebt, nur in anderer Umgebung; nicht im Staubmeer, sondern in einer Höhle, umringt von in der Zeit eingefrorenen Wächtern, die sich ständig änderten, wann immer Anzu sie nicht direkt ansah.
Nun legte sich an einer Stelle der Sturm, irgendwo zwischen der GNATOK und den in der Ferne aufragenden Staubsäulen. Statt des dunklen Staubnebels leuchtete Licht auf – ein düsterrot glimmendes Totenlicht. Hinzusehen kostete Anzu Überwindung, obwohl sie es bereits kannte. Sie sagte sich, dass sie es schon einmal überlebt hatte und es ihr wieder gelingen würde. Trotzdem zitterten ihre Arme, als sie sie an die Brust zog, um sich wenigstens die Illusion von Schutz zu geben.
»Gehen wir«, sagte Bull. Sein Gesicht glich einer steinernen Maske.
*
Im windstillen Bereich, dort, wo das Rot am intensivsten glühte und eine sinnverwirrend helle Düsternis schuf, blitzte ein gläsernes Etwas – die schräg stehende Ampulle, die Anzu bereits aus dem Audienzsaal kannte. Das rote Gefäß stand in einem unmöglichen Winkel, als müsste es jeden Augenblick umfallen und zerschellen.
In der Flüssigkeit darin wallte wiederum ein Gespinst aus Fäden, verflüssigte sich, formte sich erneut. Aus der nach oben weisenden, kleinen Flaschenöffnung ragte ein pulsierender Strang, wie aus Nervenbahnen zusammengefügt, und verschwand jenseits des Lichts in staubiger Dunkelheit.
Aus der Tiefe seiner Ampulle tauchte der Chaotarch in die Höhe – Zou Skost!
Er zeigte sich in derselben Gestalt wie vor zwei Tagen, einem vage fischartigen Etwas. Anzu war klar, dass dieser Körper nicht der wahre des Chaotarchen war, sondern lediglich eine Inkarnation, eine Verkörperung des eigentlich un-greifbaren Wesens.
Hellgrüne Augen lagen hinter der Nase in einem grob lemuroiden Gesicht. Vier dornenartige Reißzähne ragten aus dem Mund des lang gestreckten Kopfes. Der drei Meter lange Fischleib schimmerte kupferfarben und ging in einen Schwanz über. Unterhalb des Leibes streckte Zou Skost knorpelige Arme mit dreifingrigen Händen aus – nein, er bog sie zum eigenen Körper zurück, packte in die fleischigen, fetten Wülste an der Unterseite seines Fischkörpers. Er bohrte die Finger hinein und riss Fleischfetzen heraus, die er sich in den Mund steckte. Er kaute, und Fett und Blut tropften von den Reißzähnen.
Anzu wandte sich ab.
»Hältst du es für widerlich, dass ich mich selbst verzehre?«, fragte der Chaotarch. Seine Stimme klang nicht unfreundlich, er sprach in reinstem Interkosmo, dabei ein wenig zu sauber, zu glatt, zu perfekt; fast wie eine überhöhte Form von Anzus Muttersprache. »Wäre es dir angenehmer, wenn ich das Fleisch von anderen Kreaturen verzehrte? Ist das angemessener? Oder soll ich die lebendige Substanz einer Pflanze in mich aufnehmen? Wäre das ebenfalls widerwärtig für dich? Das Leben in euren Niederungen besteht doch aus Verzehren und Aneignen.«
Anzu zwang den Blick zurück zu der Fischkreatur in der gläsernen, roten Ampulle. »Tu, was immer du willst.« Denn das würde er sowieso tun. Warum also über irgendwelche Nichtigkeiten streiten, während das Schicksal des Chaoporters und der Milchstraße auf dem Spiel stand? »Hauptsache, es schmeckt«, sagte sie.
»Aber was, Anzu Gotjian, inzwischen Erste Sextadim-Kanonierin meines Chaoporters – was denkst du?«
»Du bist gut informiert«, sagte sie und wunderte sich, dass Zou Skost sich immer noch an sie wandte, obwohl weitaus interessantere Personen an dieser Audienz teilnahmen. Addanc, der letzte Quintarch, und Reginald Bull, immerhin der ...
Anzu krümmte sich, als plötzlich ein scharfer Schmerz jeden Gedanken pulverisierte und zu Staub zerfallen ließ, der sich der ewigen Wüste beimischte. Ihr Brustkorb schmerzte, die Arme wurden taub, der Blick verschwamm. Sie hörte den eigenen Atem dumpf dröhnend im Ohr. Das rechte Trommelfell wummerte. Ihr wurde schwindlig, sie kippte zur Seite.
Jemand hielt sie fest, fing sie auf, ehe sie hinfiel. Sie roch Schweiß, sah zuerst rotes Haar, dann Reginald Bulls Gesicht. Er stützte sie.
»Was war das?«, flüsterte sie, zu leise, als dass irgendjemand es hören könnte, doch ihr fehlte die Kraft, lauter zu sprechen.
Dennoch antwortete der Chaotarch, aber nicht länger in Interkosmo, nicht mit seiner Stimme, sondern in Form eines Gedankens, der Anzus Verstand überflutete, nicht gebunden an Worte und trotzdem glasklar in seiner Aussage. Sie wusste, dass er eine Antwort forderte, keine Ablenkung, keine Lügen, keine Ausflüchte.
Ich denke, dass du anders bist als ich, beantwortete sie seine Frage. Dass ich nicht verstehe, was du tust. Warum du dich selbst auffrisst. Wieso du ein Etwas wie FENERIK flutest und durchs Universum steuerst.
»Willst du alles wissen, Anzu Gotjian?«, fragte Zou Skost, nun wieder laut vernehmlich. »Willst du den Chaoporter erfassen – mich erfassen?«
Nein, schrie alles in ihr.
»Ja«, sagte sie.
»Ich höre beide Antworten«, sagte der Chaotarch. »Und sie gefallen mir. Sie drücken all das aus, was die Existenz eines Lebewesens auf deiner Stufe des Daseins ausmacht. All euren Zweifel, eure Nichtigkeit und euer Streben nach Höherem. Ich biete dir einen guten ersten Schritt, Erste Sextadim-Kanonierin. Möchtest du unter meinem Nabel knien?«
Sie kannte diese Formulierung, hatte andere darüber reden hören. Nur den wenigsten in FENERIK war es vergönnt gewesen, unter Zou Skosts Nabel zu knien, und diese empfanden es als große Auszeichnung. Nur was es bedeutete, hatte nie jemand geäußert.
Anzu dachte nach und entschloss sich, auf ihre Art zu reagieren. Sie schüttelte Reginald Bulls Griff ab und warf ihm einen dankbaren Blick zu. »Warum nicht?«, sagte sie, trat einen Schritt vor, unter die Ampulle.
Sie kniete sich hin.
Stand wieder auf.
»Und nun? Soll ich auch noch einen Handstand machen?«, fragte sie.
Sie hörte, wie Bull scharf die Luft einsog und einen Laut folgen ließ, den sie nicht einordnen konnte. Ein unterdrücktes Lachen? Schieres Entsetzen über die maßlose Respektlosigkeit?