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Das Buch
Der Autor
1 - DIE ANKUNFT
2 - TAGS ZUVOR: DAS ORAKEL
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HEYNE 〈
Das Buch
Im Kahlsack, einem vom Rest des Universums abgeschotteten Sektor, reisen die Thanatologen von Planet zu Planet, um ihren Geschäften als interstellare Totengräber nachzugehen. Sie genießen bei allen anderen Völkern absolute Immunität und bieten weitaus mehr als simple Bestatterdienste: Ausgestattet mit überlegener Technik inszenieren sie planetenweite Leichenfeiern, entsorgen aus der Mode gekommene Götter oder helfen einem abgehalfterten Monarchen über die letzte Schwelle.
Turil, der jüngste Spross einer alten Thanatologen-Dynastie, ist als selbstständiger Leichenbestatter im Kahlsack unterwegs. Er steht jedoch nach wie vor unter der Fuchtel seines strengen Vaters und muss sich außerdem ständig gegen die Intrigen seiner Schiffs-KI zur Wehr setzen. Und dann kreuzt immer wieder eine Spezies seinen Weg, die zur Geisel des Kahlsacks geworden ist und sogar für Turil eine tödliche Gefahr darstellt: die Kitar.
Diese unheimlichen Wesen werden offenbar von einer unersättlichen Zerstörungswut getrieben. Sie fallen ohne erkennbaren Grund über Welten her, bringen die gesamte Bevölkerung um und zerlegen die Planeten in ihre Bestandteile. Für Turil geht eine unerklärliche Faszination von dieser Spezies aus, und er will dem Geheimnis der Kitar auf die Spur kommen. Doch er ahnt nicht, was ihn mit diesen Mörderwesen wirklich verbindet...
Der Autor
Michael Marcus Thurner, geboren 1963 in Wien, studierte Anglistik, Geographie und Geschichte. Insbesondere mit seinen gefeierten Romanen zur Zukunftssaga PERRY RHODAN wurde er schnell einer der bedeutendsten deutschen Science-Fiction-Autoren. Thurner lebt und arbeitet in Wien.
1 - DIE ANKUNFT
Zituyn zog soeben seine Wurzeln an die Oberfläche, um die ungemein lästige Schicht Parasitenwürmer abzukratzen, als das Ding auf den Boden krachte. Die Erde bebte, der Lärm und eine Woge heißer Luft rissen ihn beinahe um.
Ein Ding?!
Zituyn war ein einfacher Wurzelhauer, und er verstand nicht viel von den Wirrnissen der großen, weiten Welt. Er arbeitete Tag und Nacht, um sich und seiner Familie einen akzeptablen Lebensstandard und einmal im Jahr einen Kuraufenthalt in den Sumpfbädern von Twaroch zu ermöglichen. Dies hier - der Lärm, die Wolke, die Ahnung von etwas Fremdartigem, das sich in den Boden bohrte - irritierte ihn.
Zituyn ließ die Würmer Würmer sein und näherte sich zögerlich dem Absturzplatz inmitten seiner Plantage. Unmengen des trockenen Savannenstaubs, den er so sehr hasste, flirrten in der Luft, legten sich langsam über seine Astfalten und krochen in jede noch so kleine Körperritze. Dann fegte der böige Ostwind den Staub beiseite und erlaubte ihm einen ersten Blick auf das fremde Objekt. Es handelte sich um eine gerade mal wurzeldicke Rechteckplatte, glänzend, mit weißen Einsprengseln in einer kupferroten Oberfläche. Die Platte glühte; von den scharfkantigen Rändern kroch Feuer über die Ranken seiner Ovenchunken-Zucht und setzte die leckeren Gemüseblätter ebenfalls in Flammen.
»Was, bei den Afterwurzeln des Götzlichen …« Fluchend peitschte Zituyn Erde hoch und ließ sie auf die Brandherde regnen, bevor sich das Feuer weiter ausbreitete. Es war hartnäckig, und die Hitze, die von der glänzenden Platte ausging, schmerzte ihn bis tief ins Innere seiner Blattfasern.
»Funtarin! Epeskoar! Ditrik!«, schrie Zituyn, doch keiner der Erntehelfer ließ sich blicken. Sicherlich kühlten die drei Kameraden ihre Astarme wieder mal im nahegelegenen Tümpel, statt zu arbeiten. Er alleine musste sich um dieses Unglück kümmern.
Allmählich ließ die Hitze nach. Zituyn trat vorsichtig näher und klopfte gegen das Metall. Sein Spiegelbild, das er in der Oberfläche der Platte wellig und ein wenig verzerrt sah, tat es ihm gleich - allerdings mit einer Verzögerung von mehreren Sekunden.
Erschrocken wich er zurück. Das Ding - es stammte aus dem Weltall! Er hatte davon gehört, dass manche Raumschiffe von einer dünnen Schicht verzerrter Eigenzeit umgeben waren und eine Weile benötigten, bevor sie zurück in die Gegenwart eines planetaren Umfelds oszillierten.
Er hatte das Ding angefasst. Bestand die Gefahr, dass er sich irgendwie … infiziert hatte?
Zituyn benötigte dringend jemanden, der ihm sagte, was zu tun war. Jetzt gleich, bevor er einen Fehler machte. Er tastete mit den Hauptwurzeln tief in den Boden, so tief, dass er einen Strang des alten, aber noch immer ausgezeichnet funktionierenden Nachrichtennetzes ertasten konnte. Sanfte Vibrationen durchdrangen ihn. Das System war nur wenig ausgelastet, und er sandte seine Botschaft augenblicklich ab.
Das Ding öffnete sich.
Eine Platte, scheinbar dünner als ein Blatt, klappte aus der Ursprungsform und plumpste rechts zur Seite. So satt, als hätte es mehr Gewicht als ein Stahlträger. Eine weitere Platte fiel zur Linken, die nächste kippte in Zituyns Richtung. Jedes einzelne Objekt entfaltete sich weiter, und in immer rascherem Tempo entstand eine Fläche, eine metallene Ebene. Die Teile lagen so passgenau zueinander, dass keine Zwischenräume zu erkennen waren. Der ursprüngliche Rechteckkörper verblieb im Zentrum. Er schien keinerlei Substanz verloren zu haben.
Zituyns Angst schlug in Panik um. Er musste immer weiter zurückweichen, wollte er nicht von den Metallplatten erschlagen werden. Er nahm die Hand- und Gesichtswurzeln zu Hilfe, als er davoneilte, beschleunigte immer mehr, setzte hastig über die Steinumrandung des Ovenchunken-Feldes hinweg. Platten krachten auf die schweren Felsbrocken und pulverisierten sie. Zituyn wagte es nicht zurückzublicken. Er lief und lief und lief, so rasch ihn seine Wurzeln trugen.
Irgendwann kehrte hinter ihm Ruhe ein. Er rannte noch ein Stückchen weiter, bevor er es wagte, anzuhalten und dringend benötigten Sauerstoff durch die Körperöffnungen einzufiltern. Zituyn nahm all seinen Mut zusammen und drehte sich um. Ein düsterrot glänzendes Metallfeld breitete sich vor seinen Augen aus, mit einer Ausdehnung von gut und gerne hundert mal hundert Metern.
Stille. Kein Vogel wagte es zu trillern, die im Frühjahr ausschwärmenden Fruchtfliegen, die schlimmsten Feinde seiner Zucht, hatten längst das Weite gesucht. Unter seinen Beinen fühlte Zituyn die Ausläufer des weit verzweigten Wurzelwerks einer Baumgruppe, die hinter dem nächsten Hügel gesiedelt hatte. Die Wurzelfreunde verharrten in einer Art Stasis und hatten jegliche Nahrungsaufnahme eingestellt. Die Ruhe schreckte Zituyn mehr als alles andere zuvor. Selbst der ewige Wind hatte sich zu einem matten, kaum noch hörbaren Säuseln gewandelt.
Aus dem Zentrum der Fläche trieb ein Etwas hervor. Quecksilberähnliche Substanz umfloss einen Klumpen, der entfernt einem Humanes-Körper glich. Er schob sich höher und höher, wuchs wie eine Pflanze aus dieser zweidimensionalen Fläche und spottete damit aller Gesetzmäßigkeiten. Aus Nichts wuchs Etwas; ein knollenförmiges Ding, dem Ovenchunken-Triebling nicht unähnlich.
Zituyn beobachtete den Prozess mit schreckstarren Astarmen. Er wusste, dass er einen Alarmruf abgeben musste - doch es fehlte ihm die Kraft. Eine Art Bannstrahl ging von diesem Klumpen aus, der sich nun von der ihn einengenden Quecksilberschicht befreite. Das Wesen darin zwang ihn, wie paralysiert zu verharren. Jede Regung, jeder vernünftige Gedanke war ihm verboten.
Die Gazehaut fiel zu Boden und verband sich dort wieder mit der unergründlichen Metallfläche. Das Geschöpf wankte leicht. Es schüttelte Flüssigkeit oder Schweiß aus dem dunklen Pelz, machte vorsichtig ein paar Schritte nach vorne und bewegte dann den Kopf in alle Richtungen. Es wirkte gedrungen und muskulös, strahlte Arroganz und Aggressivität aus.
Der Unheimliche scherte sich vorerst nicht um ihn. Er schien nach etwas anderem zu wittern, zu schnüffeln. Die Nase, von tiefen Lamellenkerben gekennzeichnet, ragte zwischen zwei blutroten Kulleraugen hervor. Das Ein- und Ausatmen wurde von röchelnden Geräuschen begleitet, als erhielte der Unbekannte nicht ausreichend Sauerstoff. Er bewegte sich mit schweren Schritten, die laut auf der Metalloberfläche widerhallten. Auf einen Wink der Klauenhand mit den fünf Fingern hob sich ein Aggregat aus dem Boden, ein Rundpult mit vielen grell glitzernden Schaltflächen. Darüber drehte sich eine Art Parabolantenne mit großer Geschwindigkeit.
Ich muss weg!, dachte Zituyn, jetzt, da er nicht herschaut, nicht auf mich achtet!
Er mühte sich mit aller Gewalt ab, die Wurzelbeine aus dem Boden zu ziehen, diese verfluchte Verkrampfung in seinen Gliedern zu lösen. Das Herz pumpte Blut durch den kräftigen, von vieler Arbeit gestählten Körper und wurde dabei von photosynthetischer Energiezufuhr unterstützt. Es gelang Zituyn, einen Schritt zu tun, und dann noch einen. Er musste es bis hinter die kleine Bodenwelle schaffen, die den Blick auf sein Gehöft versperrte. Dort konnte er sich flach auf die Erde werfen, der Gegenwart dieses schrecklichen Wesens entkommen und laut um Hilfe röhren. Irgendwer würde ihn hören und herbeieilen, ganz sicher.
Ein dritter und ein vierter Schritt. Nur ja nicht in Richtung des Unbekannten blicken. Sich nicht einfangen lassen von dessen Präsenz. Weitergehen, immer nur weitergehen …
Ein Ton erklang.
Durchdringend, furchterregend. Zituyn verließ jeglicher Mut. Er blieb stehen. Seine Wurzeln glitten neuerlich ins fruchtige und süße Erdreich, das so ausgezeichnet für jegliche Art von Gemüseanbau geeignet war, und verkrallten sich dort zwischen Steinbrocken. Er fühlte sich zu schwach, um sich neuerlich zu den Strängen des Nachrichtennetzes vorzutasten.
»…hen!«, erklang derselbe grauenhafte Ton wie zuvor, diesmal fast verbal verständlich. Der Unbekannte sagte etwas, das ihm galt.
»Du bleibst stehen!«
Ein Befehl. Dem Zituyn nicht zu widersprechen in der Lage war.
Er wagte es nicht, seinen Blick zu heben. Er konzentrierte sich mit aller Macht auf die Krume rings um ihn. Auf den heimatlichen Boden, auf sein Ein und Alles. Solange er die Erde berührte und nicht auf diesen grässlichen, künstlichen Untergrund treten musste, war alles gut.
Das Geschöpf verließ die auf so seltsame Weise gewachsene metallene Ebene und berührte den Erdboden. Es erschien Zituyn wie ein Frevel, dass es domiendramischen Grund betrat. Es beschmutzte dieses heilige Land.
»Sieh mich an!«, sagte der Wurzellose.
Zituyn fand kein probates Mittel, sich gegen den Befehl zu wehren. Er hob den Sinnesstamm und sah in dieses grässliche Gesicht, das von einem Mund mit spiralförmig tief in den Rachen reichenden Zahnreihen beherrscht wurde. Mit jedem röchelnden Atemzug blähten sich dünne Membranbändchen zwischen den Zähnen auf.
»Es ist hier!«, meinte der Unbekannte. »Wo ist es?«
Was für eine seltsame, unsinnige Frage. »Ich weiß nicht, was du meinst …«
Sein Gegenüber zog einen Stab aus dem Hüftgürtel. Dünne Striemen hingen daran. Sie glänzten in der friedlichen Frühjahrssonne. Ein sirrendes Geräusch ertönte, als der Fremde den Stab hoch über seinen Kopf hob und die Fäden auf Zituyns rechtes Bein hinabfahren ließ.
Sein Körperholz zerbrach, zerbröckelte. Er stürzte seitwärts zu Boden. Dickes Harzblut drang aus der offenen Wunde. Der Schmerz war so groß, so allgegenwärtig, dass er nicht einmal die Kraft fand zu schreien. Die Striemen der Peitsche waren energetisch geladen; sie hatten sein Bein zerschnitten, als bestünde es aus Trieblingsholz.
»Wo ist es?«, wiederholte der Pelzige.
Zituyn konnte nicht antworten. Er lag auf dem zertrümmerten Rumpf seines Beines, wollte einfach nicht glauben, was mit ihm geschah.
Ein weiterer Peitschenschlag. Mehrere seiner Astarme fielen vom Stamm, weiteres Harzblut drang aus den offenen Wunden. Zituyn wusste, dass er verloren war. Die Mitglieder seines Volkes waren zäh; es existierte kaum ein Raubtier oder eine Würgepflanze, die die Borke durchdringen und an das darunterliegende Fleisch gelangen konnten. Doch gab es eine offene Wunde, dann bedeutete selbst ein geringer Blutharzverlust das Ende, wenn es nicht gelang, die Wunde so rasch wie möglich zu verbinden.
»Wo ist es?«
Ein drittes Mal dieselbe sinnlose Frage. Der Fremde schien gar keine Antwort mehr zu erwarten. Er beugte sich zu Zituyn herab, tastete mit den feingliedrigen Fingern über die Kanten des offenen Faserfleischs - und drückte dann an den blankliegenden Nervenenden zu. Der Schmerz war unbegreiflich, raubte ihm schier den Verstand; er entleerte seine Körperflüssigkeiten in die Erde. Die finalen Wurzelkontraktionen setzten ein. Er krallte sich an Felsbrocken im Erdreich, um einen Halt in diesem Leben zu finden, um sich noch zu spüren.
»Wir werden es finden«, hörte er die Stimme seines Mörders, »wir werden es finden. Diesmal schon. Ganz sicher.«
Zituyns Sinne versagten allmählich, nur die Sehkraft blieb ihm erhalten. Der Pelzige warf ihm einen letzten Blick zu, drehte sich dann um und ging zu jener Metallfläche zurück, aus der er gewachsen war. Er hatte jegliches Interesse an ihm verloren.
Wut wallte in Zituyn auf. Er bäumte sich auf, nährte sich an Kraftreserven, von denen er nicht einmal gewusst hatte, dass er sie besaß. So durfte es nicht zu Ende gehen, so nicht! Er zog den längsten ihm verbliebenen Wurzelarm aus der Erde, holte Schwung und ließ ihn auf den Rücken seines Gegners niederfahren. Das Fell des Pelzigen riss mit einem Knall, als hätte die Haut unter starker Spannung gestanden. Blut spritzte nach allen Richtungen; Gedärm, grün und faulig, glitt aus seiner Seite - und da war da dieser Flaschenkörper, der mit herausflutschte. Er war vergittert, und in ihm lagerte ein schrumpelig wirkendes Etwas. Ein Körperorgan.
Zituyn war nicht mehr in der Lage, die Dinge klar zu beurteilen. Er sah, aber er begriff nicht. Sein nahender Tod erschien ihm so … so … ungerecht, und er machte keinen Sinn. Was wollte dieses Geschöpf auf Domiendram? Warum tötete es grundlos, warum waren Teile seines Körpers wie eingelegte Früchte in Flaschen eingeschlossen?
Der Pelzige begutachtete die Wunde in seinem Leib. Seelenruhig, als ginge ihn die schwere Verletzung nichts an. Mit einem Ruck riss er die … Organflasche aus seinem Leib und verstaute sie in seinem Rucksack. Ein weiterer Blutstrahl, dunkel und dickflüssig, ergoss sich aus dem Körper, stockte aber bald und bildete eine dicke Kruste entlang des Rumpfs und des Oberschenkels.
Der Unbekannte atmete tief durch und wandte sich dann Zituyn zu. Mit einer blitzschnellen Bewegung packte er dessen sich windenden Astarm, riss ihn mühelos aus dem Hauptstamm und schleuderte ihn beiseite.
Der Schmerz erschien Zituyn gering. Er war lediglich eine weitere Woge in diesem Ozean aus Pein, in dem er dahintrieb. Viel schlimmer war die Übelkeit. Er wollte sich übergeben, besaß aber weder die Kraft noch den Willen dafür.
Die Furcht vor diesem unheimlichen Gegner besaß keine Gewalt mehr über ihn. Er sehnte die Ruhe herbei, das Versinken in der geliebten Krume. Sein Körper würde zu Dünger werden und der Erde zurückgeben, was er ihr über die Jahre hinweg entnommen hatte. Ein anderer würde kommen, Zituyns Arbeit fortsetzen und eine neue Generation prachtvollen Blattgemüses heranziehen. Aus seinen Körperresten würde Neues entstehen.
Der Pelzige kümmerte sich nicht weiter um ihn. Er hatte die Metallfläche mittlerweile fast erreicht. Deren Wachstum - oder Metamorphose? - gewann eine neue Qualität. Seitenwände klappten aus ihr hoch, immer schneller, nach einem ähnlichen Muster wie zuvor die Bodenfläche. Ein Gebäude entstand, ein Kubus, dessen Kanten und Ecken so scharf wirkten, als könnte man sich an ihnen schneiden. Immer höher strebte das seltsame Bauwerk in den sich allmählich verdüsternden Himmel.
Zituyn beobachtete mit nachlassendem Interesse, wie sein Mörder vor dem letzten verbliebenen Tor in dem Gebilde wartete. Im Inneren zeichneten sich weitere quecksilberne Beulen im Boden ab. Auch sie wurden zu Lebewesen, deren pfeifender Atem weithin zu hören war. Sobald sie dem Boden vollständig entwachsen waren, schlüpften sie durch die Türe und gesellten sich zu dem Vorboten.
Zituyn bemühte sich, der Unterhaltung dieser Wesen Worte zu entnehmen, die er verstand. Doch die Zischund Reibelaute besaßen keinerlei Verwandtschaft zu jenen Sprachen, derer er mächtig war.
Er hustete, dunkelgrüner Schleim quoll aus seinem Mund. Der Himmel verdunkelte sich weiter, Wolken zogen aus dem Nordgebirge heran. Ein Donnergrollen folgte den ersten Blitzen, die das Firmament mit einem schaurig-schönen Muster überzogen.
Das Leben rann aus Zituyn, unaufhörlich. Sein Geist verwirrte sich zunehmend, Reflektionen eines ausgefüllten, aber viel zu kurzen Lebens zogen an ihm vorbei.
Mit ihnen kehrte die im Unterbewussten gespeicherte Erinnerung an einen vor Jahren gelesenen Bericht zurück. Er hatte von einem im Kahlsack marodierenden Volk gehandelt, das gemeinhin »Kitar« genannt wurde. Dessen Angehörige tauchten völlig unvermittelt auf. Sie brandschatzten und vernichteten, von einer Wut getrieben, die ihr einziges Motiv zu sein schien. Städte, Kontinente, Planeten und mitunter ganze Sonnensysteme vergingen im Feuer der Kitar.
Das Gewitter nahm seinen Anfang. Schwere Tropfen prasselten auf Zituyn nieder und brachten ihm ein wenig Linderung. Die Fingersprossen fühlten werdendes Leben in der Erde. Dass er den Beginn eines neuen Zyklus fühlen konnte, erschien ihm als tröstlicher Gedanke. Alles endete, und alles begann wieder von neuem.
Oder?
Das Gebäude der Kitar erreichte seine Vollendung. Der Kubus ragte nun so weit in den Himmel, dass er Zituyns Horizont fast vollends ausfüllte. Antennen ragten wie überdimensionierte Nadeln daraus hervor. Sie zogen die Blitze des Gewitters an und ließen die rote Außenhaut des Gebäudes aufleuchten. Mindestens zwanzig der fremdartigen Wesen labten sich an den Energiestößen. Ihre Körper glühten auf, ab und zu stöhnten sie unkontrolliert. Sie ließen den Sturm über sich ergehen, mit einer seltsamen Mischung aus Geilheit und Abscheu.
Zituyns Herz wollte und wollte nicht aufhören zu schlagen. Warum musste er dies alles sehen? Warum nahm ihn der Tod nicht endlich zu sich und erlöste ihn von seinem Leid?
Er begann ein altes Gebetsmantra vor sich hin zu brabbeln. Die Worte, lange verdrängt und vergessen, schenkten ihm Trost …
Die Hitze eines Strahlschusses fächelte über Zituyn hinweg. Sie verbrannte die Bäume, den Hügel, die Gebäude dahinter, brachte das Gestein zum Schmelzen. Aus einem einstmals blühenden Land wurde binnen weniger Augenblicke ein Schlackehaufen, auf dem nichts mehr existieren konnte.
Zituyn starb mit dem Wissen, dass sich die Kitar auf den Weg gemacht hatten. Sie begannen, Domiendram zu vernichten. Die Zyklen des Lebens würden endgültig zu einem Ende kommen.
2 - TAGS ZUVOR: DAS ORAKEL
Der Tote Herrscher wandte sich Turil zu. Seine Herrlichkeit Pramain der Götzliche ließ die Seitenkiefer schwer aufeinanderfallen; das mahlende Geräusch erzeugte Töne, die mit etwas Fantasie als Sprache erkennbar waren.
»Es beruhigt mich, mein Tötungszeremoniell in den geschickten Händen eines so erfahrenen Thanatologen zu wissen«, sagte der Götzliche. »Mein Lebensende bedeutet nicht nur einen glorreichen Abschluss meiner Existenz, sondern auch einen Neubeginn des Lebenszyklus. Für die erlauchten Hofdamen, für mein Volk, für ganz Domiendram.«
Der Totengräber verneigte sich. »Das Lob aus so berufenem Munde ist wie Labsal, Eure Herrlichkeit, von dem ich nur selten kosten darf«, sagte er, dem Zeremoniell entsprechend. »Ich werde alles daran setzen, Euren Tod nach allen Regeln der Etikette in Szene zu setzen.«
Mit gesenktem Kopf watete er zurück, Schritt für Schritt, weg vom Götzlichen. Er vermied den Blickkontakt mit dessen Zweitgesicht, jenem talgigen Rund, das der Herrscher umgegurtet hatte und dem gegenüber er zur Wahrheit verpflichtet war. Es stellte seine Gefühle in simplen Emotikons dar. Sicherlich zeigten sich dort Angst, Abscheu und Widerwillen, denn Pramains Worte waren gelogen. Die Domiendramer waren hinlänglich dafür bekannt, den Tod zu fürchten, und der Götzliche machte in dieser Hinsicht keine Ausnahme.
Der Götzliche war von 46 Hofdamen umgeben, die sich um sein Wohlergehen kümmerten. Mit aller Hingabe massierten sie seine im lehmigen Boden verwurzelten Beine, schmeichelten mit wohlgesetzten Worten seiner Eitelkeit, sangen sinnbetörende Lieder. Ihr Herrscher gab sich wohlig grunzend den Annehmlichkeiten hin. Sein Kopf sank langsam nach hinten, die vielfach geäderten Arme zogen sich zur gekrümmten Schlafposition zusammen.
Die Schwingtüren schlossen sich hinter Turil. Der Thanatologe brachte sich das Ende des höfischen Zeremoniells in Erinnerung und verharrte für weitere fünf Atemzüge in gebückter Haltung. Erst dann richtete er sich auf und streckte den schmerzenden Rücken durch.
»Seine Herrlichkeit ist mit all deinen Forderungen einverstanden«, sagte ein verknorpelter Hofschranze mit ausdrucksloser Stimme. »Jedwedes Mittel, das zum Gelingen des Tötungsaktes vonnöten ist, wird dir so rasch wie möglich zur Verfügung gestellt. Bis es so weit ist, möchten wir dich bitten, Stadt und Land zu besichtigen. Sicherlich findest du weitere Inspiration für das Rahmenprogramm der Tötung, wenn du dich unters Volk mischst und eingehender mit Domiendram beschäftigst.«
»Ich danke dir für deinen wertvollen Rat.« Turil nickte seinem Gegenüber zu. Die Bitte war in Wahrheit eine Anweisung, ein Befehl. »Wenn du mir einen ortskundigen Reisebegleiter zur Verfügung stellen würdest?«
»Ein frisch geschlüpftes Fünkchen wird dich begleiten.« Der Hofschranze deutete auf ein leuchtendes Geschöpf, das sich von seinem Stammlicht löste und mit Hilfe der Filigranarme auf Turil zuflatterte. »Es weiß über deine Bedürfnisse Bescheid und wird dir alles sagen, was du wissen musst.«
»Du bist zu höflich.« Lügen und Schmeicheleien waren ein fixer Bestandteil seines Lebens, nicht nur im Umgang mit Klienten. Der Thanatologe mochte keine Fünkchen. Sie besaßen zu viel freien Willen, und sie zeigten allzu viele Eigenwilligkeiten. Dennoch deutete er eine letzte Verbeugung in Richtung des Thronsaales an, bevor er sich zur Seite drehte und aus dem Vorraum entfernte. Vorbei an in Fantasiedecken gehüllten Mitgliedern des Hofstaates, die sich den Anschein gaben, unglaublich wichtige Notizen auf vergilbten Wachsblättern niederschreiben zu müssen, verließ er diesen ältesten Teil des Hofkastells. Seine Schritte klackten zunächst über totes und morsches Holz, dann über steinigen Boden, schließlich über angenehm weichen Kunststoff. Domiendramische Wächterdrohnen erwarteten ihn am Ende des langen Ganges. Sie unterzogen ihn einer peinlich genauen Leibesvisitation, wie sie es bereits bei seinem Kommen getan hatten, und ließen jene Achtung vermissen, die ihm eigentlich zustand.
Turil blieb stumm. Er beobachtete, sondierte, sammelte Eindrücke, formte ein Gesamtbild dessen, was er bislang zu hören und zu sehen bekommen hatte.
»Wir bitten dich um Verzeihung«, meldete sich das nun lichterloh brennende Fünkchen erstmals zu Wort. »Die Außenwelt ist nicht so, wie sie sein sollte. Wir lieben die wonnewuschelige Wärme des Inneren Hofkastells und wünschten uns, dass es überall auf Domiendram so wäre.«
»Selbstverständlich.«
»Willst du uns einen Namen geben? Wir hätten gerne eine Identität.«
»Nein. Du bist ein Fünkchen. Du besitzt kein Anrecht auf einen Namen.«
Turil nahm den speckigen Zeremonienmantel in Empfang und zog ihn über. Er hatte sein Gewand hier zurücklassen müssen, bevor ihm der Zutritt zum Inneren Hofkastell gewährt worden war. Hatten die Wächter die Geheimnisse des Mantels entdeckt? Unwahrscheinlich. Er wusste sich zu tarnen und zu schützen. Dennoch fühlte Turil Erleichterung, als er die Insignien seines Berufsstandes in den vielen Taschen und Beuteln spürte, und er ärgerte sich im nächsten Moment über diese seltsame Emotion.
»Wohin möchtest du mich zuallererst führen?«, fragte er das Fünkchen.
»Wir haben erfahren, dass du niemals zuvor auf Domiendram warst.« Das Fünkchen zügelte seine Brandlust. Das Feuer seiner Flügel wechselte von rot zu gelb. Es dachte angestrengt nach. »Wir verlassen das Hofkastell«, sagte es schließlich, »und unternehmen einen Spaziergang durch die Altstadt. Wir meinen, dass dir das Nekromantion gefallen könnte.«
»Das Nekromantion?« Turil beugte sich vor.
»Das Totenorakel. Es begründete die Erbfolge unserer Könige. Seine Ruhestätte liegt tief in den Katakomben unter der Stadt verborgen. Es lebt an einem abgeschiedenen Ort, der den wenigsten Domiendramern zugänglich ist.«
»Ich bin … interessiert.« Der Thanatologe bemühte sich, seine Stimme nicht allzu gelangweilt klingen zu lassen.
»Dann lass uns gehen«. Das Fünkchen kicherte. »Oder fliegen.« Es schlug eifrig mit den Filigranflügeln und vollführte übermütig einen Looping, bevor es voranflatterte, wobei es eine dünne, kaum erkennbare Rauchfahne hinter sich herzog.
»Wie lange darfst du leben?«, fragte Turil.
»Dreißig Standardstunden.« In den ausdrucksvollen Augen des Fünkchens glitzerte es. »Ganz schön lange, nicht wahr?«
»Ich gratuliere.« Dreißig Stunden. So viel Zeit gestand man dem Totengräber also zu, sich auf Domiendram umzusehen und sich auf seine Aufgabe einzustimmen.
Sie verließen das Hofkastell durch das große Haupttor. Das blendende Licht der untergehenden Sonne Remigard empfing sie, und eine entsetzliche Schwüle. Turil schaltete die Schutzfunktionen seines Mantels ein. Augenblicklich umfächelte ihn kühlende Luft, und der Sauerstoffgehalt wurde so weit heruntergefahren, dass er sich wohlfühlte.
»Chalasim wurde vor über fünftausend Jahren als erste Siedlung auf Domiendram gegründet«, sagte das Fünkchen im gelangweilten Ton eines professionellen Fremdenführers. Sicherlich bezog es sein Wissen aus einer der offiziellen Info-Seiten des Planeten. »Das Wie und Warum der Stadtgründung blieb trotz umfangreicher Forschungsarbeiten weitgehend ungeklärt; wie so vieles, das damals im Kahlsack geschah.« Es schwänzelte ungeduldig mit seinem plumpen Hinterleib. »Wenn du uns bitte schön folgen würdest. Der Zugang zu den ältesten Teilen der Stadt befindet sich unweit von hier, unter dem Kathustral der Seligkeit.« Leise brummend flog es vorneweg, geschickt den unzähligen Passanten auf der breiten, weiß marmorierten Freitreppe des Hofkastells ausweichend.
Turil folgte seinem kleinen Führer, hinab in die vor Leben sprudelnde Stadt. Beiläufig beobachtete er die Domiendramer. Die aus Holz und Fleisch gewachsenen Geschöpfe wirkten wie kleinere Ausgaben ihres Königs; sie waren meist kugelrund und zeigten ein ausdrucksvolles, von vielen Maserungen durchzogenes Mienenspiel. Ihre Schritte waren steif, die langen Arme blieben stets in Bewegung und tasteten weit um sich. Wenn sie sich berührten - und das kam oft genug vor -, dann strichen die weichen Sprossenfingerchen zärtlich übereinander.
»Hier entlang, hier entlang!«, drängelte das Fünkchen.
»Ich komme.« Turil verstand die Eile des Kunstwesens. Ihm standen nur wenige Stunden zur Verfügung. Erfüllte es seine Lebensaufgabe nicht zufriedenstellend, würde es zutiefst gekränkt aufhören zu funktionieren. Das Gefühl der Schande würde sich auf seine Nachfolger übertragen und möglicherweise zu eingeschränkter Funktionalität bei folgenden Generationen führen.
Dennoch: Turil benötigte weitaus mehr als die vom Hof verordnete Sightseeingtour. Er musste ein Gefühl für die Domiendramer entwickeln; er musste sie verstehen, ihre Motive erkennen, ihr Seelenleben ergründen. Nur dann würde es ihm gelingen, das Todeszeremoniell so zu gestalten, dass man sich auch in Jahrhunderten noch daran erinnerte. Wie ihn diese Arbeit anödete …
Sie erreichten die Niederungen der Stadt. Hier drunten, abseits des märchenhaft schönen Palastes, erreichte die Betriebsamkeit ein ihm unangenehmes Niveau. Händler schwebten inmitten kleiner Wolken stickigen Dunstes und priesen laut krakeelend ihre Waren an; Genossenschafter eines Einkaufskonsortiums beklagten ebenso lautstark die überzogenen Preise und die sinkende Qualität der Waren. Zwei heimische Betbrüder der Apokalyxe flehten lautstark den Untergang allen Seins herbei, mehrere Bettler stritten sich um faulige Nährfrüchte, Damen und Herren des Dunklen Gewerbes boten ihre verholzten und narbendurchzogenen Leiber feil. Ein knorriger Wahrsager hob einen Erdklumpen vom Boden, zerbröselte ihn, zeigte eine nachdenkliche Miene und prophezeite Turil viel Zufriedenheit während der nächsten Jahre. Der Totengräber wusste über das Interesse der Domiendramer an allem Metaphysischen Bescheid. Ihre Erdverbundenheit stand in strengem Gegensatz zur Technik, derer sie sich bedienten. Im Leerraum zwischen diesen beiden so unterschiedlichen Polen ihrer Existenz fand eine Vielzahl an Scharlatanen ein fruchtbares Biotop, das die vielen selbsternannten Propheten nach allen Regeln der Kunst beackerten.
Bodenfahrzeuge ruckelten entlang der kaum gepflegten Straßenfurchen. Deren Fuhrwerker, die wie auf allen Welten des Kahlsacks zu den schlechtest gelaunten Exemplaren ihres Volkes zählten, scherten sich keinen Deut um die Fußgänger. Nährschlamm spritzte hoch, überall rissen und brachen Fußtriebe der Domiendramer im Geflecht dieses überbordenden Durch- und Miteinanders. Turil blieb inmitten des Gedränges stehen und schloss die Augen. Irgendwann musste er ja mit der Arbeit beginnen. Er atmete tief durch, konzentrierte sich, passte sich dem Herzschlag der Stadt an.
Da war … Sehnsucht. Der Wunsch nach Erlösung. Die Hoffnung auf ein Ende allen Leids.
Der Zyklus, in dem sich diese Wesen zur Zeit bewegten, dauerte bereits viel zu lange an. Alles drängte nach Erneuerung, nach Verbesserung. Kinder, Greise, Berufstätige und Arbeitsscheue, Reiche und Arme - sie hofften auf einen raschen Tod ihres Herrschers. Erst wenn er, der Stamm allen Seins, gefällt war und sein Leib im Moosboden des Hofkastells verfaulte, würde Neues heranwachsen: ein Machthaber, der neue Ideen und frische Hoffnung mit sich brachte.
Turil kehrte in die Realität zurück. Das Fünkchen blinkte ihn aufgeregt an, manch ein Domiendramer warf ihm verwunderte Blicke zu. Seine hagere Gestalt erregte Aufmerksamkeit, sein seltsames Verhalten umso mehr.
»Verzeih mir, mein Kleines«, sagte der Thanatologe. »Ich benötige ab und an ein wenig Ruhe, um meine Gedanken zu sammeln.«
»Ruhe? Hier?!« Das Fünkchen schaffte es, so etwas wie Empörung in seine künstliche Stimme zu legen. »Sollen wir dich zurück zu deinem Schiff, zur GELFAR, bringen?«
»Keinesfalls, Fünkchen. Ich möchte unbedingt dieses Nekromantion sehen.« Und endlich Ruhe vor dir und deinesgleichen haben, dachte Turil.
Zwischen niedrigen Häusern mit ziegelgedeckten Dächern ging es weiter, durch schmale Gassen, immer tiefer ins Wirrwarr der Straßen hinein. Eine seltsame Melange aus altertümlichen Behausungen und fortschrittlicher Technik prägte das Zentrum Chalasims.
»Bleib stets in unserer Nähe«, sagte das Fünkchen. »Nicht jedermann hier will dir Gutes. Wir haben … Kollegen minderer Qualität, die dich von uns weglocken möchten. Sie wollen dich verführen, dir wehtun …«
»Ich weiß mich zu wehren, danke.«
Allmählich wurde es ruhiger. Remigard war untergegangen, die beiden Monde warfen silbernes Licht über den steinigen Boden. Eine alte Vettel, fast vollends verholzt, bürstete mit mühseligen Bewegungen Staub von ihrer Hauspforte. Ihre Augen knirschten bei jeder Bewegung. Aus einer dunklen Ecke drangen quiekende Geräusche. Rattenähnliches Getier lauerte auf seine Chance. Wenn die Alte irgendwann ihr Leben aushauchte, würden sie über ihren Leib herfallen und die letzten grünen Sprossen und Blätter von ihr zupfen.
Die Domiendramer sind in ihrer traditionellen Lebensweise erstarrt, dachte Turil. Verholzt. Weil ihr König zu alt und zu feige und zu konservativ geworden ist, um ihnen den Zugang zu neuen Dingen zu erlauben.
Der Schatten eines großen Gleiters verdeckte die beiden Monde und das grelle Sternenlicht des Kahlsacks. Leise brummend glitt der Riesenkörper in Rochenform über die Häuser hinweg. Er steuerte den zentralen Raumhafen im Norden der Stadt an, der auf mächtigen, mehrere hundert Meter hohen Luftwurzeln errichtet worden war.
Aus den Fenstern der Häuser flackerte unruhiges Kerzenlicht. Einige wenige Fackeln beleuchteten die miefigen Wege, die ihn das Fünkchen entlangführte. In der Ferne klackten Holzschuhe über den Stein der Straßen, und Kinderstimmen wurden laut. Die Innenstadt samt ihren dunklen Ecken, vielen Geheimnissen und der jahrtausendealten Geschichte waren ein prächtiges Biotop für abenteuerlustige Jugendliche.
»Wie weit ist es noch?«, fragte Turil.
»Nur noch um die nächste Ecke«, flüsterte das Fünkchen. »Schnell, beeil dich, schnell! Wir wollen das Nekromantion erreichen, bevor seine Bewohner zur Gänze erwachen. Nimm eine Fackel aus der Halterung. In den Katakomben ist kein künstliches Licht erlaubt.«
Turil nahm die Kienfackel an sich und leuchtete den Weg aus. Die Dächer der Häuser links und rechts lehnten sich aneinander, als wären sie gute Freunde. Der Thanatologe war schlank, wie alle seiner Art. Dennoch schaffte er es kaum, sich durch die schmale Lücke zwischen den glitschigkalten Steinwänden zu zwängen. Dahinter war es dunkel, und es roch nach Wiese. Nach Moos. Nach Kühle. Turil stand am Rande eines … Waldes.
Er hatte schon zu viel in seinem Leben gesehen, um für länger als ein paar Atemzüge erstaunt zu sein. Ein Wald, so dicht, dass viele Stämme einander umarmten, war ungewöhnlich - und andererseits wiederum nicht. Die Domiendramer vereinten fleischliches und pflanzliches Leben in sich. In einem kaum durchschaubaren Durcheinander an Sinnes- und Leibesorganen, photosynthetischen Fühlern, Wurzelpranken, Venensystemen und feuchtigkeitstransportierendem Äderwerk steckten viel Vernunft und Intelligenz, aber auch ein gehöriges Maß an Humor und Fantasie. Nirgendwo sonst in seinem Arbeitssektor waren Turil ähnliche Geschöpfe untergekommen, und auch nicht während der Lehrjahre in anderen Regionen des Kahlsacks. Das änderte allerdings nichts daran, dass ihn sein Auftrag langweilte. Es gab spannendere Dinge zu tun, als einen König zu töten.
»Schnell, schnell!«, drängte das Fünkchen einmal mehr. »Hier kannst du hindurchschlüpfen.« Es flatterte auf eine Art Pfad zu, der sich zwischen dünnen Stämmen ins Innere des Waldes wand.
»Dies ist das Kathustral der Seeligkeit?«, fragte Turil.
»Was denn sonst?« Das Fünkchen schüttelte den Kopf, als wunderte es sich über seine Begriffsstutzigkeit. Es stieg höher, leuchtete Baumkronen aus. Manche von ihnen waren kahl, andere zeigten dichten Bewuchs. Und an vielen von ihnen lehnten knorpelige, verkrümmte Körper. Ausgetrocknete, verdorrte Domiendramer.
»Hier also werden sie zur letzten Ruhe gebettet«, murmelte Turil.
»Nur die bedeutendsten von ihnen. Solche, die das Opfer von Weltraumreisen auf sich nahmen, Forscher, Musiker, Wissenschaftler, Politiker, Geschäftsleute.«
»Ich habe in meinem Dossier nichts von diesem Wald gelesen.«
»Du sollst auch einen König beerdigen«, summte das Fünkchen, »und nicht das Fußvolk. Deine Aufgabe ist es, den Hauptstamm einer ganzen Generation in die Dunkelheit zu verpflanzen. Das Tötungszeremoniell von Pramain dem Götzlichen muss in seiner Großartigkeit alles übertreffen, was Domiendram während der letzten hundert Jahre erlebt hat.«
»Selbstverständlich. Der Götzliche wird Bestandteil des großartigsten Tötungsrituals sein, das ich jemals ausgerichtet habe.«
Ein Standardsatz. Turil hatte ihn schon viele Male verwendet, und er würde es weiterhin tun, bis ans Ende seiner Karriere.
Er hielt die Fackel auf Armlänge vor sich. Vorsichtig, so dass sie keinesfalls mit einem der weit herabhängenden Äste und Lianen in Berührung kam. Es roch nach Schimmel und Verwesung und Tod, eine Mischung, die ihm durchaus vertraut war. Kleine Tierchen mit wuscheligem Fell und Stummelschwänzchen huschten kreuz und quer über den moosbesetzten Weg. Ihre roten Augen blitzten ihn böse an. Sie waren offenbar der Meinung, dass er hier nichts zu suchen hatte.
Das Fünkchen schwieg, als hätte es Angst oder Respekt vor den vielen Toten, die in den Astgiebeln saßen und aus leblosen Augen auf sie herabstarrten. Viele von ihnen waren kunstvoll ums Holz der Stämme drapiert worden, als wären sie Teil eines Spektakels, eines Schauspiels, das den ganzen Wald zur Bühne hatte.
Turil bewunderte ohne Neid die Arbeit seiner hiesigen Kollegen. Sie gaben dem Tod ein Antlitz, das ihm gefiel. Das Kathustral der Seeligkeit wirkte ästhetisch und entbehrte jeglichen Schreckens. Die Domiendramer wussten mit dem Ende ihres Daseins umzugehen.
Der Weg endete abrupt. Dornige Efeuranken wuchsen hier so dicht, dass kein Weiterkommen mehr möglich erschien. Fahle Schatten flatterten durch die Baumgiebel über Turil. Die Schwingen der Vögel erzeugten eine Art Melodie mit stakkatoartigen Tönen.
»Hier befindet sich der Abgang zu den Katakomben«, unterbrach das Fünkchen seine Gedanken. »Die Karakähen sind bereits erwacht. Schade, schade …«
Der Thanatologe blieb abrupt stehen. Die Stimme des kleinen Wesens klang verändert. Zornig und lauernd. Turil wusste um die Bösartigkeit, die die Fünkchen überfiel, sobald sie begriffen, dass ihre Lebenszeit so viel kürzer bemessen war als die ihrer Besitzer. Dann folgten sie Befehlen nur noch widerwillig. Sie verdrängten das Pflichtbewusstsein ihrem Zuchtlicht gegenüber und machten sich einen Spaß daraus, Leute in die Irre zu führen, ihnen Fallen zu stellen. Fünkchen waren auf vielen Welten verboten oder nur noch wenig geschätzt. Man griff vermehrt auf Kunstwesen neuerer Generationen zurück, die weniger Eigenbewusstsein entwickelten.
»Was ist mit dir?«, fragte das Fünkchen.
»Ich traue dir nicht.« Sorgfältig leuchtete Turil die Umgebung ab. Woher drohte ihm Gefahr? Von den Vögeln, diesen Karakähen?
Eine unterarmlange Schlange ringelte sich durchs kniehohe Gras und zischelte aggressiv, als das Licht der Fackel auf sie fiel. Das Getier interessierte Turil nicht. Die Design-Intelligenz seines Schuhwerks war ausreichend, um eine von der Schlange ausgehende Gefahr zu erkennen und zu neutralisieren. Wo aber befand sich der Abgang zu den Katakomben, von dem das Fünkchen gesprochen hatte? War er durch einen versteckten Mechanismus zu öffnen? Das erschien Turil unwahrscheinlich. An einem Ort wie diesem hatte Technik, und wäre sie auch noch so einfach gestrickt, nichts verloren.
Links von ihm zeigte sich ein Fleck in annähernder Rechteckform, auf dem das Gras ein wenig kürzer wuchs. »Müssen wir hier hinab?«, fragte Turil. Er leuchtete sorgfältig den Boden aus und suchte nach Bearbeitungsspuren.
»Ja«, gab das Fünkchen widerwillig zur Antwort. Es blieb in der Luft stehen und machte keinerlei Anstalten, ihm zu erklären, wie das Tor zu öffnen war.
»Muss ich dich daran erinnern, dass du mir verpflichtet bist? Möchtest du, dass ich mich im Hofkastell über dich beschwere? Man wird dein Zuchtlicht entsorgen, deine unfertigen Nachfolger zurück in jene unbeseelte Ursuppe schütten, aus der ihr gehoben wurdet …«
»Nein! Nein!« Das Licht des Fünkchens zitterte, drohte fast zu erlöschen. »Das darfst du nicht tun, ehrwürdiger Totengräber! Verzeih uns, dass wir unaufmerksam waren, dass wir dir nicht alles, was wir wussten, auch sagten.«
»Das kommt niemals wieder vor! Hast du mich verstanden?«
»Selbstverständlich, Herr! Wir werden alles tun, was du verlangst.«
Das Fünkchen tauchte hinab ins Gras, zerrte an einem Büschel und zog es unter Aufbietung all seiner Kräfte beiseite. Ein Geflecht aus Moos, Efeu und ineinander verflochtenen Pflanzen klappte hoch. Turil blickte in ein schwarzes Loch, scheinbar ohne Boden. Eine metallene Leiter führte ins Unbekannte hinab. Ein Schritt weiter - und er wäre abgestürzt. Der Arbeitsmantel hätte ihn geschützt, keine Frage; doch er hätte einen Teil seiner sorgfältig bewahrten Geheimnisse aufdecken müssen.
Turil trat vorsichtig auf die oberste Sprosse. Irgendwo knarrte und quietschte es, doch die metallene Verankerung hielt. »Du fliegst voraus«, befahl er dem Fünkchen.
»Gerne, Herr.«
Das Kunstwesen tauchte hinab in die Dunkelheit und leuchtete ihnen den Weg. Vorerst hatte er das Fünkchen in die Schranken gewiesen. Es würde Turils Anweisungen befolgen und seine Autorität nicht mehr anzweifeln. Doch irgendwann, wenn Kraft und Leuchtkraft nachließen und dem Fünkchen die Flatterbewegungen immer schwerer fielen, würde es erneut nachzudenken beginnen. Turil musste achtsam bleiben …
Ein Schwarm von Karakähen flatterte schrill kreischend an ihm vorbei, hinab in die Tiefen der Katakomben. Er zog den Kopf ein, lehnte sich so gut es ging gegen die kalten Eisensprossen der Leiter und machte sich klein. Eines der Flugtiere verfing sich dennoch in einem der weit geschnittenen Ärmel. Es krächzte panisch, kratzte und verbiss sich im metallgewirkten Unterhemd von Turils Zeremoniengewand. Turil unterdrückte einen Fluch - Totengräber fluchten nie! Niemals! -, schüttelte und beutelte die panisch reagierende Karakähe aus dem Gewand und packte sie mit einer blitzschnellen Handbewegung am gefiederten Schweif, ohne auch nur für einen Augenblick das Gleichgewicht zu verlieren. Seine Reflexe waren ausgezeichnet; weitaus besser als die seiner Landsleute. Die Karakähe reagierte auf den sanften Fingerdruck und machte sich klein, so klein, dass es Turil schien, als hätte sie sich irgendwie aus seiner hohlen Hand befreit.
Für lange Sekunden musste er sich gegen das Eisen pressen. Der Schwarm wollte und wollte kein Ende nehmen. Die Tiere gehorchten ihren Instinkten, suchten offenbar die Sicherheit des Dunkels. Oder hatte sie jemand zu sich herabgerufen?
Endlich kehrte Ruhe ein. Das Fünkchen leuchtete einige Meter unter ihm. Es machte keine Anstalten, zu ihm zurückzukehren, um sich nach seinem Befinden zu erkundigen.
Turil öffnete vorsichtig die Hand und begutachtete die Karakähe. Sie wagte einen vorsichtigen Fiepser und zog die weit über den Kopf geschlungenen Lederflügel zurück. Goldgesprenkelte Augen starrten Turil an. Die schmutzverklebten Nasenmembrane bewegten sich in raschem Rhythmus. Breite, im Windzug flatternde Hautlappen bedeckten die Wangen des sonst fledermausähnlichen Gesichts. Unzählige Warzen wuchsen dort; sie bildeten ein dichtes Geflecht, das wohl so etwas wie zusätzliche Sinnesrezeptoren darstellte.
Turil öffnete die Hand zur Gänze. Die Karakähe blieb ruhig sitzen, schien nicht glauben zu wollen, dass ihr erlaubt war, der Gefangenschaft zu entfliehen. Nach Sekunden erst stieß sie sich ab und kreischte laut, verwundert, bevor sie sich mit eng angelegten Flügeln in die Tiefe stürzte, am Fünkchen vorbei, einem unbekannten Ziel entgegen.
»Wie weit ist es noch bis zum Grund der Katakomben?«, fragte Turil.
»Noch etwa fünfzig Sprossen.«
Turil aktivierte die Sicherheitsmechanismen seines Anzugs, ohne das Fünkchen davon zu informieren. Der Ledermantel war trotz seines schäbigen Aussehens ein Wunderwerk der Technik. Er bestand aus bewährten und robusten Mischmaterialien, die einem Strahlenbeschuss ebenso standhalten konnten wie mechanischer Einwirkung, und hütete darüber hinaus vielfältige Geheimnisse. Erfahrungswerte mehrerer Generationen von Totengräbern und stetige Anpassungen an geänderte Lebensumstände machten das so unscheinbare Kleidungsstück zu seinem wertvollsten Schutzmittel - und zu seinem ärgsten Feind.
Schweigend setzte er seinen Weg fort. Bald ertastete er mit den Füßen den Boden und machte prüfend ein paar Schritte vorwärts, ins Unbekannte hinein. Das Licht der Fackel reichte nur wenige Meter weit. Von irgendwoher wehte kalter, stetiger Wind, und in der Ferne meinte er, das Flattern des Karakähen-Schwarms auszumachen.
»Wir sind unterhalb des Zentrums des Kathustrals«, sagte das Fünkchen. »Mach jetzt die Fackel aus und schließ die Augen.«
Die Kienfackel löschen? Seine einzige Lichtquelle - ausgenommen jener des heimtückischen Fünkchens?
Trotz seines Misstrauens gehorchte Turil. Wiederum dachte er an die unzähligen Mechanismen, die in seinen Mantel eingearbeitet und darin versteckt waren. Er zählte mindestens 22 Möglichkeiten, um sich gegen einen unerwarteten Angriff zu wehren. Er hatte nichts zu befürchten.
Er presste die Augen fest zusammen. Trotz des Gefühls, inmitten eines Nichts zu stehen, zu treiben, zu fallen, gefangen zu sein in einem unendlichen Raum aus Schwärze, zählte er bis zehn, bevor er die Augen wieder öffnete.
Da war Licht. Ein Hauch, ein Schein, der ihn die Umgebung erkennen - und staunen ließ. Er war umgeben von einem Gespinst langer, dünner Fäden, deren Enden blass leuchteten. Dies waren die Wurzeln der Bäume des Kathustrals, und sie emittierten blaues, kaltes Licht.
»Es soll sehr schön sein«, sagte das Fünkchen mit trauriger Stimme. »Wir können das Leuchten der Wurzeln nicht erkennen, weil wir selbst zu viel Helligkeit abstrahlen.«
Turil achtete nicht auf das kleine Geschöpf. Er sah sich um und staunte. Er stand am Eingang zu einer riesigen Höhle, die von riesigen Kristallformen durchzogen war. Sie lagen kreuz und quer, schienen in Größe und Form einen Kampf um die Vormachtstellung in diesem unterirdischen Reich auszutragen. Salzverkrustet waren sie; von Stalaktiten tröpfelte beständig mineralienhaltige Flüssigkeit auf die Riesenkörper herab. Daumengroße Kristalle kullerten da und dort aus großer Höhe zu Boden und zerbarsten. Die Reste bildeten abstrakte und sinnverwirrende Muster. Viele der Lichtwurzeln hatten ihre feinen Ausläufer um die streng strukturierten Gebilde gewickelt. Einer von ihnen, mindestens zehn Meter lang und zylindrisch geformt, schwebte frei in der Luft, lediglich von Baumstrünken gehalten. Dort saßen Karakähen. So viele, dass sie den Riesenkristall schwarz färbten und kaum einen Blick auf das semitransparente Mineral erlaubten.
Turil berührte einen der größeren Kristalle, der sich warm und feucht anfühlte. Er hielt den nachglimmenden Stumpf seiner Fackel unter den Mineralstein und wartete. Nach wenigen Sekunden verfärbte sich das kristalline Material, wurde weiß. Staub bröselte zu Boden. »Selenit«, sagte er nüchtern. »Gipskristalle von besonderer Reinheit.« Mit einem kräftigen Ruck brach er ein Stück des Steins ab und hielt es gegen das schwach glimmende Licht. Es war transparent; nur wenige Kratzspuren beeinträchtigten seine Perfektion. »Sehr interessant«, meinte er zum Fünkchen, »doch die Naturwunder dieser unterirdischen Welt interessieren mich nicht besonders. Ich möchte das Totenorakel kennenlernen.«
»Geduld ist wohl nicht deine Stärke?«, fragte das Fünkchen provokant.
»Ich bemühe mich, jene Zeitspanne, die mir zur Verfügung steht, so effizient wie möglich zu nützen. Es wäre schön, wenn du das Gleiche tun würdest.«
Das Fünkchen glühte hellauf vor Zorn. Es überstrahlte das Licht der Wurzeln, blendete Turil für ein paar Augenblicke. »Hier entlang!«, sagte das kurzlebige Kunstwesen schließlich und drosselte seinen Energieausstoß wieder auf Normalmaß. Es führte ihn über einen schmalen, rutschigen Weg tiefer hinab in die Höhle. Die Kavernen waren natürlich entstanden, keine Frage, höchstwahrscheinlich durch Korrosion, wie Turil anhand der kalkhaltigen Ablagerungen allerorts vermutete. Die Domiendramer hatten nur wenige Spuren hinterlassen. Hier war ein Metallgitter zum Schutz vor Steinschlag angebracht worden, dort standen einige wenige Messgeräte, die Luftfeuchtigkeit und Temperatur überwachten. An einem dritten Ort befand sich eine Art Altar. Turil kniff die Augen zusammen und betrachtete die flache Deckplatte. Dunkle Flüssigkeit war darauf eingetrocknet und hatte den Fels um eine Nuance verfärbt. Möglicherweise hatte man hier vor langer Zeit in archaischen Ritualen Opfer dargebracht. Tiere oder Feinde - wer wusste das schon zu sagen?
Turil wanderte an gewaltigen Basaltblöcken vorbei. Was anfänglich strukturiert und aufgeräumt gewirkt hatte, erwies sich nun als komplexes Labyrinth. Immer wieder musste er über Kristalle klettern, so hoch und so breit wie er selbst, und sich dabei des leuchtenden Wurzelwerks als Steighilfe bedienen. Der Boden war glitschig und feucht, die Kanten der Steine messerscharf.
Turil blickte nach oben. Unbehagen befiel ihn. Genau über ihm schwang der in den Leuchtwurzeln verfangene Riesenselenit in leichtem Windzug. Die Karakähen bewegten sich nicht.
»Ein Gast?«, grollte plötzlich eine Stimme durch den Raum. »Heute? Jetzt? Welch angenehme Überraschung! Komm näher, näher, damit ich dich in Augenschein nehmen kann.«
Turil zuckte zusammen. Sein erster Impuls war davonzulaufen, die Sicherheit der Oberfläche zu suchen. Doch er hatte sich rasch wieder unter Kontrolle. Immerhin war er ein Totengräber, und nicht unbedingt einer der schlechtesten.
Er sah sich nach dem Fünkchen um. Es hatte ein Stück hinter ihm Halt gemacht und bedeutete ihm nun mit hämischem Gesichtsausdruck, der Einladung des unbekannten Wesens Folge zu leisten.
Turil dachte an Pramain den Götzlichen. An das Volk der Domiendramer, das durch den Tod seines Herrschers Erlösung und Neubeginn herbeisehnte. Dieser Ort hatte zweifelsohne etwas Mystisches an sich, und er war ein mehr oder weniger sorgfältig gehüteter Teil der hiesigen Kultur. Es war seine Pflicht zu lernen. Zu verstehen. Um seine Aufgabe so gut wie möglich zu erledigen. Also marschierte Turil weiter, und er ließ sich auch nicht vom lautstarken Gekreische und Gekrächze der Karakähen abhalten, die wie auf ein geheimes Kommando hin vom schwebenden Kristall abhoben und voranflogen.
Riesige Augen starrten ihn an. Blau und kristallen waren sie, unergründlich wie das Wasser des Ozeans. Pupillen trieben darin, verengten und weiteten sich, rollten in erschreckender Weise durch einen Raum, den es nicht geben durfte. Sie fokussierten Turil, ließen in ihm das Gefühl von Winzigkeit und Bedeutungslosigkeit wachsen. Eines der Augen war von einem schmutziggrauen Schleier bedeckt. Dort, wo sich ein Gesicht befinden sollte, flatterten die Karakähen aufgeregt hin und her, hoch und nieder. Nur andeutungsweise ließ sich eine von feinsten Rissen durchzogene Struktur erahnen. Wie von einem Kristall, der in Myridaden Facetten zersplittert und in mühseliger Kleinarbeit wieder zusammengefügt worden war. Außer den schrecklichen Augen waren keine Sinnesorgane zu sehen.
Wo war sein Fünkchen geblieben? Aus den Augenwinkeln sah Turil das kleine Geschöpf. Es hing wie eingefroren in der Luft, mit erstarrten Gliedern und weit aufgerissenem Mund. Wollte es etwas sagen, ihn vor Gefahren warnen?
»Du wirst den Götzlichen bestatten?«, fragte die schreckliche Stimme von irgendwoher. »Du wirst ihn mir bringen, wenn das Zeremoniell abgeschlossen ist?«
»Nein«, widersprach Turil, trotz der Angst, die in ihm wuchs, immer breiteren Raum einnahm. »Mein Auftrag ist beendet, sobald der Leib Pramains verharzt und der letzte Lebensfunke aus ihm gewichen ist. Was mit seinen Überresten geschieht, bleibt den Domiendramern überlassen. So wurde es in den Verträgen festgelegt.«
Gelächter. Schauriges, schreckliches Gelächter, das die Kristallstrukturen ringsum zum Klingen brachte. Staub rieselte von der Decke, mehrere Lichtwurzeln rollten sich ein, als wollten sie vor einer Katastrophe fliehen. »Ich hatte schon öfter Besuch von Totengräbern«, sagte die Stimme. »Sie alle zeigten sich ähnlich unbeeindruckt wie du. Ihr seid ein seltsames und ein furchtloses Völkchen. Dabei hättet ihr alle Gründe, Angst zu haben …«
Turil reagierte nicht auf die Andeutung. Das Orakel wollte ihn ablenken. Wovon?
»Wenn du meinesgleichen kennst, dann weißt du auch, warum ich hier bin.«
»Es gibt zwei Antworten: Nach offizieller Lesart kommt ihr hierher, um möglichst viel über die Totenkultur der Domiendramer zu lernen und zu verstehen. In Wirklichkeit aber …«
»Ja?«
»… wollt ihr eurem langweiligen und lustlos geführten Leben ein wenig Aufregung verpassen. Indem ihr Informationen über Todeskulte, Todesphänomene, Todesspektakel sammelt. In der Hoffnung, irgendwann einmal alles darüber zu wissen, was der Übergang vom Licht in die Dunkelheit eigentlich für einen Sinn macht. Dabei wäre diese Frage so einfach zu beantworten …«
Wiederum eine Andeutung. So, wie es von einem Orakel zu erwarten war. Aber: Hatte es denn Recht? Waren er und seine Landsleute in bestimmten Schemata gefangen, um ihrem Leben Bedeutung einzuhauchen?
»Ich hätte mir mehr als Allgemeinplätze von dir erwartet. Du bist eine Enttäuschung. Ich sehe erbärmliche Effekte aus einer jahrtausendealten Trickkiste, die mit Müh und Not die Domiendramer und harmlose Fünkchen beeindrucken. Was soll dieses billige Schauspiel? Riesige Augen, die von fledermausähnlichen Tierchen umflattert werden und tief in der Psyche vieler Wesen verankerte Ängste wecken sollen. Mehr als Taschenspielertricks hast du nicht zu bieten? Du willst mich mit billigen Illusionen beeindrucken, Orakel?«
Stille.
Dann, nach langen Sekunden, die Antwort: »Also gut.«
Das Augenpaar löste sich in Luft auf, und ein alter Mann trat humpelnd hinter einem Felsbrocken hervor.
»Du hast die Wahrheit rascher als deine Vorgänger erkannt«, sagte das dreidimensionale Kunstbild eines älteren Humanes, eines Menschenähnlichen. Es kam mit langsamen Schritten auf ihn zu und zog dabei das linke Bein nach. Fehlende Schatten und Unschärfen an den Körperrundungen deuteten darauf hin, dass er ein Refrakto war, ein holografischer Avatar älterer Bauart. »Wie bist du mir so rasch auf die Schliche gekommen?«, fragte das Geschöpf verwundert.
»Ich hatte schon öfter mit … Kollegen von dir zu tun. Es existieren viele Refraktos auf den äußeren Welten des Kahlsacks. Sie zeigen sich als Spukgestalten, Visionen, Orakel, Schimären oder als ordinäre Hausgeister. Die meisten deiner Art stellen sich allerdings geschickter an als du.«
»Ach ja?« Der Refrakto beugte sich interessiert vor. »Es gibt … andere?«
»Ja. Keiner von ihnen weiß auch nur das Geringste über seine Herkunft und seine Zwecke. So wie du, stimmt’s?« Turil wartete keine Antwort ab. Er wusste, dass er Recht hatte. »Wo befindet sich deine Zentraleinheit?«
»Warum?«
»Ich werde eine Datenkopie deiner Gedächtnisinhalte ziehen. Ich rate dir davon ab, Widerstand zu leisten. Ich könnte auf den Gedanken kommen, dir wehzutun.«
»Warum willst du mich entblößen?« Der Refrakto schüttelte verärgert den Kopf.
Turil dachte nach, bevor er fortfuhr. Es war besser, die Schärfe aus seinem Ton zu nehmen. Refraktos erwiesen sich als erstaunlich widerspenstig, wenn sie das Gefühl hatten, nicht für voll genommen zu werden. »Ich möchte Daten entnehmen, um sie mit jenen deiner Kameraden zu vergleichen. Vielleicht ergeben sich neue Spuren, die eure Herkunft betreffen. Deine Intimsphäre bleibt gewahrt, das verspreche ich dir.«
Intimsphäre - wie kam er dazu, einem künstlichen Geschöpf, das aus refraktiven Bildern und Rechenprozessen entstanden war, so etwas wie Eigenbewusstsein oder Schamgefühl zuzugestehen?
Nun, der Kahlsack nahm sich wie der überfüllte Musterkoffer eines Vertreters aus. Es gab meist nur wenige Exemplare einer Lebensform, dafür aber unglaublich viele Varianten und Spielarten. Humanes und Schwarmgeschöpfe waren, statistisch gesehen, am häufigsten vertreten. Doch abseits dieser Hauptstämme existierte eine Vielfalt, die kaum zu durchschauen war. Die Refraktos passten ebenso wenig in Schemata wie zum Beispiel die Choronisten, die Zerebrären oder die zu einem Kollektivbewusstsein verschmolzenen Nanobots.
Der alte Mann wuchs mit einem Mal auf das dreifache seiner ursprünglichen Größe an. »Du greifst unter keinen Umständen meine Zentraleinheit an!«, brüllte er. Er stieß Beleidigungen und Drohungen aus, er verfluchte Turil, seine Familie, seine ungeborenen Kinder, drohte ihm mit einem grausamen Tod. Psychedelisch anmutende Bilder machten aus dem Höhlenraum einen aufs Riesenhafte vergrößerten Projektionsraum. Der Refrakto wollte Turil verwirren und erschrecken, wollte ihn wider besseren Wissens von hier vertreiben. Der Totengräber nahm es hin und gab sich gelangweilt. Diese Pseudowesen gefielen sich darin, irrationale Verhaltensmuster zu pflegen.
Irgendwann verstummte der Alte. Er schrumpfte auf ein Normalmaß zurück, die Schultern fielen kraftlos nach vorne. »Na schön«, sagte der Refrakto missmutig, »ich liege links von dir, drei Schritte voraus.«
Turil näherte sich langsam, während die Schutzmechanismen des Mantels nach allen Seiten sicherten. Zwischen mehreren abgebrochenen Selenitbrocken eingeklemmt lag der eiförmige Zentralkörper, halb so groß wie Turil selbst. Er war teils von Staub und kristallinen Ablagerungen überkrustet. Drei der insgesamt vier Beine waren weggebrochen und korrodiert, das letzte zuckte hilflos in der Luft wie das eines auf dem Rücken liegenden Käfers. Nein, von diesem Kunstgeschöpf ging keine Gefahr aus. Seine Lebensund Kraftreserven näherten sich ihrem Ende. Der Refrakto würde bestenfalls noch einige Jahrhunderte funktionieren, bevor er den in den Katakomben herrschenden Umweltbedingungen zum Opfer fiel. Vor allem die nahe der Hundert-Prozent-Marke liegende Luftfeuchtigkeit musste ihm Schwierigkeiten bereiten.
Turil tastete den Zentralkörper sorgfältig ab. Eine der Linseneinheiten war beschlagen; deswegen hatte das linke Riesenauge wie von einem Grauschleier überzogen gewirkt. Mit einem antistatischen Tuch reinigte und polierte der Thanatologe die Übertragungseinheit, so gut es ging. Um mehr zu tun, mussten Spezialisten ans Werk, die sich nicht nur um das Äußere und die Hardware kümmerten, sondern sich auch des Kodebuchs der Programmierung annahmen und die Charaktertiefe des Refraktos überarbeiteten. Vielleicht hätten sich im Zuge einer derartigen Restrukturierung Andeutungen oder Hinweise auf die ursprüngliche Aufgabe des Kunstgeschöpfs ergeben - doch dieses Vielleicht war es nach Turils Ansicht nicht wert, mehr Zeit als nötig zu verschwenden.
Er kramte einen halb verbrauchten Booster der Bariumtitanat-Klasse aus seinem kleinen Rucksack und legte ihn vorsichtig auf den Eikörper. Das Gerät setzte sich zögernd in Bewegung; er würde sich selbsttätig eine Ladeklappe suchen und den Refrakto mit Energien versorgen, die ihm mindestens hundert zusätzliche Jahre Leben garantierten. Sorgfältig wischte Turil Staub und Schmutz beiseite, so dass der Booster leichteres Spiel hatte. Schon bald hatte der sein Ziel erreicht und begann mit dem Ladevorgang.
»Danke!«, seufzte der Refrakto nach einer Weile. Der alte Mann stand nun aufrecht statt gebückt, und er wirkte um einige Jahre jünger. Sein Bild war klarer, konturierter.
»Erzähl mir deine Geschichte«, forderte der Thanatologe ihn auf. Refraktos waren dankbar - und leutselig. Vielleicht ließ er sich Informationen entlocken, die Turil irgendwann verwenden konnte.
»Da gibt es nicht viel, an das ich mich erinnere.« Der Alte setzte sich - scheinbar - auf einen Felsbrocken. »Ich weiß noch, dass ich auf der Oberfläche Domiendrams zu mir kam, vor mehr als fünftausend Jahreswechseln. Die Welt war leer und unberührt, nur ein paar neugierige Kriechtiere ließen sich blicken und verbissen sich in meinem metallenen Körper. Ich verscheuchte sie und versuchte zu ergründen, warum ich existierte. Doch in meinen Gedächtnisroutinen fand sich nichts, das mir weitergeholfen hätte. Also beschloss ich, meine Existenz zu beenden. Mich abzuschalten.« Der Refrakto stockte. »Ich konnte nicht. Ich durfte nicht. Ein Sperrmechanismus hielt mich von diesem letzten Schritt ab. Ich war gezwungen zu leben.« Er lächelte traurig. »Während der nächsten Tage ging ich meine Befehlsroutinen durch und suchte nach Auffälligkeiten, die mir erklärten, warum ich funktionell bleiben sollte, ohne eine Zielvorgabe zu besitzen.«
Originalausgabe 10/2009 Redaktion: Rainer Michael Rahn
Copyright © 2009 by Michael Marcus Thurner
Copyright © 2009 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Umschlagillustration: Dirk Schulz
eISBN : 978-3-641-03542-6
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