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Nachdem der Astronaut Perry Rhodan im Jahr 2036 auf dem Mond ein außerirdisches Raumschiff entdeckt hat, einigt sich die Menschheit – eine Zeit des Friedens beginnt. Doch 2049 tauchen beim Jupiter fremde Raumschiffe auf. Es sind Maahks, und sie planen einen Krieg gegen das Imperium der Arkoniden. Kurz darauf verheert eine übermächtige Flotte der Maahks das Arkonsystem. Es folgen erstaunliche Entdeckungen und umwälzende Ereignisse. Einer von Rhodans ältesten Freunden begeht sogar Verrat: Der Arkonide Crest schwingt sich zum neuen Imperator auf und nimmt Rhodans Schiffe unter Beschuss. Entsetzt muss Perry Rhodan zusehen, wie die MAYA im atomaren Feuer vergeht – mit seiner Frau Thora an Bord. Der Kampf um die Macht im arkonidischen Sternenreich geht gnadenlos weiter. Es kommt zu einer dramatischen Begegnung im Tal der Zeit ...
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Band 129
Im Tal der Zeit
Oliver Plaschka
Nachdem der Astronaut Perry Rhodan im Jahr 2036 auf dem Mond ein außerirdisches Raumschiff entdeckt hat, einigt sich die Menschheit – eine Zeit des Friedens beginnt. Doch 2049 tauchen beim Jupiter fremde Raumschiffe auf. Es sind Maahks, und sie planen einen Krieg gegen das Imperium der Arkoniden.
Kurz darauf verheert eine übermächtige Flotte der Maahks das Arkonsystem. Es folgen erstaunliche Entdeckungen und umwälzende Ereignisse. Einer von Rhodans ältesten Freunden begeht sogar Verrat: Der Arkonide Crest schwingt sich zum neuen Imperator auf und nimmt Rhodans Schiffe unter Beschuss.
Entsetzt muss Perry Rhodan zusehen, wie die MAYA im atomaren Feuer vergeht – mit seiner Frau Thora an Bord.
Der Kampf um die Macht im arkonidischen Sternenreich geht gnadenlos weiter. Es kommt zu einer dramatischen Begegnung im Tal der Zeit ...
Prolog
An Bord der CREST, 15. Juli 2049
Der Hyperraum spuckte das Ultraschlachtschiff aus, wie eine plötzliche Böe ein Blatt Papier in den Rinnstein weht. In einer Sekunde tosten noch die fünfdimensionalen Kräfte, die einen Transitionssprung von einer Stelle des Universums an eine andere ermöglichten, im nächsten Augenblick war die Raumzeit wieder so ruhig wie der Himmel an einem wolkenlosen Tag.
Innerhalb des tausend Meter durchmessenden Kugelraumers jedoch tobte der Sturm weiter. Seine ganze Macht entfaltete er in dem Mann, der in diesen Sekunden im Zentrum der kuppelförmigen Zentrale im Kern des stählernen Giganten stand.
Eine Glutwolke, die sich aufbäumt wie ein junges Pferd und dann platzt, als könnte sie vor lauter Kraft die eigene Form nicht mehr halten. Ein Feuer wie von fernen Sonnen ...
»Wir springen zurück!«, befahl Perry Rhodan. »Na los!«, setzte er nach, als niemand in der Zentrale sich rührte.
Pilot und Kommandant tauschten ungemütliche Blicke.
»Perry«, ergriff Admiralleutnant Conrad Deringhouse das Wort. »Das geht nicht.«
Nur wenige Lichtjahre entfernt bläht sich die Glutwolke immer weiter auf und beginnt zu erkalten. Kalt wie die Asche der Toten ...
Statt einer Antwort trat Rhodan raschen Schritts neben den Sitz des Piloten, Captain Mirin Trelkot, und griff in die Holos, die träge in der Luft schwebten. Es sah aus, als verwirbelten seine Hände ein eben erst zur Ruhe gekommenes Becken Wasser. Als würde sich Rhodans Aufruhr auf das Schiff selbst übertragen, färbten die Holos sich erst rot und pulsierten dann zum Takt einer akustischen Fehlermeldung. Selbstverständlich kannte Rhodan den Grund hierfür: Auch nach kurzen Sprüngen wie ihrer Nottransition musste eine minimale Refraktionszeit eingehalten werden.
Wie lange, bis es tatsächlich vorbei ist? Bis die Glutwolke erlischt? Die Luft aus einer Lunge weicht? Das Herz gefriert? Selbst im Vakuum des Alls ist ein Überleben für kurze Zeit möglich ...
Unter zahlreichen Flüchen versuchte Rhodan, die automatischen Sicherungen des Schiffs zu umgehen. Der Pilot war keine Hilfe, warf nur einen ratlosen Blick in die Runde. In dieser kurzen Sekunde hasste Rhodan ihn für seine Untätigkeit und sich selbst dafür, diese personelle Fehlentscheidung nicht eher korrigiert zu haben. Er wäre als Testpilot der Air Force nicht weit gekommen, hätte er sich von Paragrafen und Selbstzweifeln aufhalten lassen! Deshalb hatte man ihm seinen sperrigen Spitznamen verliehen – der »Sofortumschalter« ...
Die Glutwolke verblasst wie eine Blüte, eine Seerose, die in der Finsternis versinkt.
»Cortell!«, rief er der Chefingenieurin zu. »Strukturkonverter bereit machen für Nottransition!«
Er erhielt keine Antwort, sah nur die kritischen Falten auf der Stirn des Piloten. Wütend wollte er Trelkot aus dem Sitz reißen, als er eine Hand auf seiner Schulter spürte. Erst reagierte er nicht darauf, denn er wusste genau, wer hinter ihm stand. Dann verstärkte sich der Druck; und so wie die Glutwolke in seiner Phantasie verblühte, verließen ihn sein Zorn und seine Kraft.
»Perry«, sagte Deringhouse. »Nicht! Wir können nicht springen. Es ist nicht Trelkots Schuld.«
Rhodan wusste, dass sein Freund recht hatte. Es war nicht nur eine medizinische, sondern auch eine technische Frage. Selbst wenn Rhodan versuchen würde, Schiff und Besatzung zu einem Sprung in die eigene Vernichtung zu zwingen – die Strukturkonverter hatten so kurz nach der vorherigen Transition schlicht noch nicht wieder die nötige Energie.
Er konnte sich der Realität dessen, was geschehen war, nicht länger entziehen. Und Teil dieser Realität war, dass es nichts gab, was er in diesem Moment tun konnte.
»Ich weiß«, entgegnete er seinem Freund. »Es ist meine Schuld. Nicht seine.«
Die CREST und die MAYA waren mit knapper Not Aarakh Ranton entkommen, der geheimen Zufluchtswelt der Arkoniden. Noch im planetennahen Raum jedoch waren sie unter Beschuss genommen worden – von arkonidischen Schiffen, die unter dem Befehl seines alten Freunds und Mentors Crest da Zoltral gestanden hatten. Dem Namenspatron dieses Raumschiffs ...!
Rhodan hatte eine Reihe von Entscheidungen fällen müssen. Wie so oft hatte er sie schnell und ohne Zögern getroffen. Mehr als einmal hatte er auf diese Weise in den vergangenen Jahren Leben gerettet.
Diesmal indes hatten seine Entscheidungen das Leben seiner Frau, vieler Freunde und unzähliger Besatzungsmitglieder gekostet.
Erst hatte er befohlen, mit der CREST vorauszufliegen, in der Hoffnung, die MAYA würde mit ihnen Schritt halten. Doch das kleinere Schiff hatte nur verzögert starten können und war in der Folge immer weiter zurückgefallen. Vielleicht weil er wütend gewesen war, hatte er es zunächst geschehen lassen. Dann, viel zu spät, hatte er angeordnet, die angreifenden Schiffe zu binden, ihr Feuer auf sich zu ziehen. Der Abstand zwischen CREST und MAYA war jedoch zu groß gewesen, um die MAYA effektiv zu schützen: Die Angreifer waren mit einer Kurztransition einfach zwischen beide Schiffe gesprungen, hatten das davonbrausende Ultraschlachtschiff ignoriert und sich stattdessen auf den schwächeren Gegner geworfen.
Wieder und wieder blühte die tödliche Blume in Rhodans Erinnerung auf, der Moment, in dem die Schirme der MAYA unter dem konzentrierten Beschuss der arkonidischen Einheiten zusammenbrachen und das Schiff sich in einem feurigen Energiesturm aufblähte und barst.
Mit sich in den Untergang riss es Orome Tschato und seine über zweihundert Männer und Frauen zählende Besatzung, darunter Sue Mirafiore, Thi Tuong Nhi – und Thora, Rhodans Frau. Seine Wut, all das, was zuvor gewesen war, erschien ihm auf einmal sehr kleinlich.
Deringhouse drehte ihn herum, sodass beide Männer einander ins Gesicht blickten. Mit nunmehr siebenunddreißig Jahren wirkte Conrad Deringhouse nicht mehr ganz wie der unbeholfene Junge, an den er Rhodan bei ihrer ersten Begegnung erinnert hatte. Unwillkürlich musste er beim Blick in das stoppelige Gesicht daran denken, dass Conrad einst zu dem Team gehört hatte, das Thoras auf dem Mond notgelandete AETRON im Auftrag der amerikanischen Regierung hatte vernichten sollen.
So viel war geschehen seither ...
Hinter Conrad erkannte er die besorgten Gesichter seiner übrigen Gefährten. Der Erste Offizier, Jason Melville. Der Aulore Tuire Sitareh. Der unsterbliche Atlan, dessen Gesicht wie aus Stein gehauen war. Keiner wusste, was er sagen sollte. Die Stille war geradezu geisterhaft. Rechneten sie damit, dass er weitere sinnlose Befehle gab? Dass er zusammenbrach? Sie glaubten zu verstehen, was in ihm vorging. Aber taten sie es wirklich? Atlan vielleicht. Die ganze Welt schien vor Entsetzen festgefroren.
Die kleinen Entscheidungen. Befehle, im Bruchteil von Sekunden getroffen, hatten über zweihundert Leben beendet und sein eigenes für immer zerstört.
Rhodan wusste genau, was man bei der Air Force, ja überall beim Militär, von Leuten wie ihm hielt: Solange sie mit ihren Entscheidungen richtiglagen, feierte man sie als Helden, belobigte sie für ihre Tapferkeit, hängte ihnen Orden an die Brust.
Trafen sie die falsche Wahl, nannte man sie einen Hitzkopf. Ungeeignet, über Menschenleben zu entscheiden. Eine Gefahr für sich selbst und für andere.
Sofortumschalter! In Wahrheit habe ich meinen Verstand ausgeschaltet ...
Wieder ging sein Blick über die Gesichter. Sie alle hatten es mit angesehen. Hatten seinen Befehlen gehorcht, Werkzeuge seines Scheiterns.
Ihr Mitgefühl ist fehl am Platz, hörte er auf einmal Thoras Stimme in seinem Verstand. Worte, die sie einst an ihren Ziehvater Crest gerichtet hatte. Fast musste Rhodan lachen, als er an ihr erstes Aufeinandertreffen an Bord der AETRON dachte – als die stolze Kommandantin nicht mehr als gewitzte Barbaren in ihm und Reginald Bull gesehen hatte. Sie quälen diese Tiere nur unnötig ...
Und er dachte daran, wie Thora aus Wut über Crests Entführung vor langer Zeit den Eiffelturm zerstört hatte. Wie sie beide durch die halbe Galaxis gereist waren und einander dabei immer wieder verloren hatten. Wie sie vor zwölf Jahren, im Widerstandskampf der besetzten Erde, endlich zueinandergefunden hatten. Und er dachte an ihren gemeinsamen Sohn, Thomas.
Mein Gott, Tom, schoss es ihm durch den Kopf. Wie sollte er dem Jungen nur begreiflich machen, was geschehen war?
Er merkte, wie Conrad ihn behutsam wegführte. Immer noch standen alle anderen in der Zentrale reglos an ihren Plätzen. Rhodan ging langsam, wie ein sehr alter Mann, der vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzt. Conrad zog ihn an den Schultern zu der sogenannten Mutantenlounge, dem gepolsterten, hufeisenförmigen Halbrund, wo normalerweise Zivilisten oder erschöpfte Spezialisten des Mutantenkorps Platz nahmen, um den Betrieb in der Zentrale nicht zu stören oder wieder zu Kräften zu kommen. Auch seine Familie hatte häufig hier gesessen, wenn Thomas ihn bei der Arbeit besucht hatte ...
Er leistete keine Gegenwehr, als Deringhouse ihn in die Polster drückte.
»Perry«, hörte er Conrads Stimme. »Es ist nicht deine Schuld. Hörst du? Niemand hat das kommen sehen.«
Nun, in dieser Hinsicht hatte sein Freund wohl recht. Wer hatte schon erwartet, dass Crest, der gelehrte Derengar, auf einmal den Verstand verlor? Dass er sich zum Herrscher über die Reste des Großen Imperiums ausrief und bei seinem Griff nach der Macht keine Skrupel kannte? Dass er tatsächlich das Feuer auf seine alten Freunde, seine einstige Familie eröffnen würde und sogar den Mord an seiner Ziehtochter Thora in Kauf nahm?
Mit Grauen dachte Rhodan an Crests Gesicht zurück, dessen Abbild ihm Ishy Matsu mit ihrer Paragabe auf Aarakh Ranton gezeigt hatte: ein abgemagerter Totenschädel, die Zügen zerfressen von Hass, die Augen tief in den dunklen Höhlen. Rhodan konnte nur mutmaßen, dass die Posbi-Implantate Schuld an der geisterhaften Veränderung hatten. Doch hieß das, dass Crest selbst nur ein Opfer war? Trieben die positronisch-biologischen Roboter falsches Spiel mit den Menschen und Arkoniden?
Abermals spürte er Wut in sich aufsteigen, aber er wusste nicht mehr, auf wen er sie richten sollte.
»Ich habe einen schrecklichen Fehler gemacht«, sagte Rhodan. »Wenn ich nur anders entschieden hätte ... Hätten wir die MAYA zuerst starten lassen und ihr den Rücken freigehalten oder hätten wir früher verzögert, um sie zu schützen, hätten wir sie nur näher herankommen lassen, dann wären sie vielleicht entkommen.«
»Und wir wären vielleicht tot«, gab Deringhouse zu bedenken.
»Die CREST hätte es weit besser mit dieser Überzahl aufnehmen können.«
»Du hast keinen Fehler begangen«, sagte Conrad. »Weißt du noch, damals, als Marcus und ich die Vernichtung von New Earth nicht verhindern konnten? Da hast du uns gesagt, wir hätten nur menschlich gehandelt. Auch du bist nur ein Mensch! Und manchmal machen Menschen Fehler. Selbst wenn sie alles richtig machen, ereignen sich manchmal schreckliche Tragödien. Wir wissen nicht, was Tschato dazu zwang, verzögert zu starten. Laut Auswertung der Positronik hat er alles in seiner Macht Stehende getan, um uns so schnell wie möglich einzuholen. Und du hast noch versucht, unseren Freunden den Weg freizuschießen. Wir werden nie wissen, wie es ausgegangen wäre, wenn wir zuletzt gestartet wären oder du andere Befehle erteilt hättest. Vielleicht hätte deine Strategie in neunzig Prozent aller Fälle Erfolg gehabt. Doch du kannst den Lauf der Dinge nie hundertprozentig vorhersagen! Niemand konnte ahnen, dass die Arkoniden mit einer solchen Übermacht und einer solchen Verbissenheit angreifen. Die MAYA hatte nie eine Chance. Wir haben es alle gesehen, und keiner von uns wollte es glauben. Dich trifft keine Schuld, Perry! Hörst du mir zu?«
Rhodan vernahm die Worte, doch ihr Sinn bedeutete ihm nichts. Nach wie vor schien die Zeit stillzustehen, der unumkehrbare Moment anzudauern, sich quälend langsam immer weiter auszudehnen, ohne je zu vergehen. Es würde nie einen nächsten Moment nach diesem geben, erkannte er. Dies war nun sein Leben – es war Wirklichkeit. Das alte Versprechen, das Eltern ihren Kindern gaben – dass alles wieder gut werden würde –, war gebrochen. Die Welt würde nie wieder so, wie sie sein sollte.
»Wie soll ich es Tom sagen?«, fragte er Deringhouse. »Wie?« Er erhielt keine Antwort.
Da flimmerte einen Lidschlag lang die Luft über der Sitzgruppe, als hätte die Welt geblinzelt, und von einer Sekunde auf die nächste saß Gucky neben ihm. Der Ilt musste erfahren haben, was geschehen war. Vielleicht hatte er Rhodans Schmerz in dessen Gedanken gelesen.
Er rechnete damit, dass Gucky etwas sagen würde, dass er wie Conrad versuchen würde, ihn davon zu überzeugen, dass ihn keine Schuld traf.
Doch der Ilt saß nur ganz still und ergriff Rhodans Hand. In Guckys großen, dunklen Augen sah Rhodan seine eigene Trauer gespiegelt, seine eigene Verzweiflung.
Merkwürdigerweise tat der Ilt ihm leid. Eine solche Trauer sollte er nicht kennen.
»Conrad«, sagte Rhodan und erhob sich. »Organisiere eine Suchaktion. Sobald wie möglich springen Freiwillige mit Space-Disks zurück ins Dorsystem. Sobald man sie entdeckt, sollen sie fliehen. In der Zwischenzeit wird die CREST einer gründlichen Überprüfung unterzogen. In zwei Stunden setzen wir eine Einsatzbesprechung mit allen Offizieren und Mutanten an. Wenn du mich vorher brauchst, ich bin in meiner Kabine.«
»Verstanden!«, bestätigte Conrad knapp.
Rhodan wollte gehen, dann hielt er noch einmal inne. »Niemand redet mit Tom, ist das klar? Wenn er nach seiner Mutter fragt, so ist die MAYA mit unbekanntem Ziel davongesprungen.«
Conrad nickte.
1.
Reginald Bull
Terrania, 15. August 2049
Der Interstellar Spaceport – ISP – von Terrania war wie eine eigene, mit der Hauptstadt der Terranischen Union verwachsene Stadt. Kilometerweit reihte sich Landefeld an Landefeld, jedes groß genug für mehrere Sportstadien, flankiert von Terminalgebäuden und technischen Einrichtungen, verbunden durch ein Netzwerk von Röhrenbahnen und Zufahrtswegen. Im Gegensatz zu herkömmlichen Flughäfen brauchte es nur eine geringe Zahl von Start- und Landebahnen für die überwiegend senkrecht abhebenden Raumfahrzeuge. Doch allein den nötigen Platz für bis zu tausend Meter durchmessende Raumer bereitzustellen, verschlang riesige Flächen ehemaliger Wüste. Jede natürlich gewachsene Stadt in einem dichter besiedelten Gebiet der Erde wäre mit der Logistik eines solchen Hafens überfordert gewesen.
Die Landung derartiger Gigantschiffe, die üblicherweise im Orbit eines Planeten verblieben, war zwar ein seltenes und außergewöhnliches Ereignis. Gelegentlich kam es aber doch vor. Schließlich war der ISP der größte zivile Raumhafen der Erde und verkörperte – mehr noch als die für Warenverkehr genutzte Aetron Freight Bay und der Militärraumhafen Port Hope – den Anspruch der Menschheit, ein »Galactic Player« zu sein. Ungeachtet ihrer noch immer nicht überwundenen inneren Konflikte und dem gerade erst begonnenen Aufbruch zu den Sternen wollte die Terranische Union das Signal senden, dass ein Besuch der Erde lohnenswert war: um zu investieren, Güter abzusetzen oder Geschäfte mit Milliarden zahlungswilligen Menschen zu machen, die ihren Kindern einst erzählen wollten, dass sie von der ersten Stunde an dabei gewesen waren.
Einer, der die Gewinnerzielungsmöglichkeiten auf der Erde mit Sicherheit erkannt hatte, dachte Reginald Bull, während sein Quadrocopter am Rand des Raumhafens zur Landung ansetzte, war der Mehandor Levitan. Dessen MIRKANTIN war zurzeit die Hauptattraktion der Stadt – wie ein riesiger Wolkenkratzer ragte sie gut siebenhundert Meter hoch in den Abendhimmel auf. Das Zirkusschiff war einst eine typische Mehandorwalze gewesen, doch Levitan hatte sie um eine große, trichterförmige Sektion erweitert, sodass sein Schiff nun wie ein riesiger, aufrecht stehender Kreisel auf dem Landefeld ruhte. Der Trichter durchmaß hundert Meter an der Basis und vierhundert an der Oberkante. Darüber, jenseits eines breiten Ringwulsts, wuchs die zentrale Walzensektion empor. Innerhalb des Trichters befand sich die Manege, und ringsum saßen die Zuschauer wie in einem Amphitheater auf den sich nach oben hin verbreiternden Rängen. Bis zu zehntausend Besucher fanden dort und in den verschwenderisch ausgestatteten Logen Platz.
»Mirkantin« hieß »Ort der Sensationen« – und nichts weniger als das versprach der Zirkuspatriarch seinen Gästen. Im Laufe der vorigen Woche hatte sein Schiff in Rio de Janeiro, London, Moskau, Berlin und New York gastiert. Der mehrtägige Aufenthalt in Terrania hätte der glanzvolle Abschluss der Show werden sollen, die den hochtrabenden Titel »Levitans Rückkehr vom Rand des Universums« trug.
Ausgerechnet ein kosmisches Ereignis war ihm dabei in die Quere gekommen: Die gigantische Sonneneruption vor drei Tagen, die planetenweit zum Ausfall der Infrastruktur und zahlreichen Katastrophen geführt hatte, hatte auch Levitans Pläne durchkreuzt. Am Abend dieses Tages nun öffnete Levitan die MIRKANTIN erstmals wieder, und noch hatten viele Menschen andere Sorgen, als in den Zirkus zu gehen – vor allem wenn die Eintrittspreise wie in diesem Fall astronomisch waren. Dass Bull der MIRKANTIN in seinem neuen Rang als Interimsprotektor die Aufwartung machte, war auch als Zeichen zu verstehen, dass man die Lage auf der Erde inzwischen wieder im Griff hatte und das Leben weiterging.
Selbstverständlich war das nicht der einzige Grund für Bulls Besuch.
Ihm gegenüber saß Special Agent Autum Legacy, die ihm von Interimsadministrator Ngata nach dem jüngsten Anschlag vor zweieinhalb Monaten zur Seite gestellt worden war. Obgleich Bull nach wie vor nicht ganz klar war, ob sie als Leibwächterin oder Aufpasserin gedacht gewesen war, musste er feststellen, dass ihn solche Feinheiten immer weniger beschäftigten. Er schätzte die Unterstützung der jungen GHOST-Agentin und fühlte sich in ihrer Nähe wirklich sicherer – was nicht nur an ihren bemerkenswerten Kampfkünsten lag, die ihr den Spitznamen »Leg« eingebracht hatten. Oder daran, dass sie in ihrer modischen, tiefblauen Abendgarderobe, die ihre goldenen Haarsträhnen akzentuierte, absolut hinreißend aussah.
Auch Bull trug an diesem Abend zivil. Bei der Auswahl des dunklen Anzugs mit den weinroten Akzenten, die dezent auf sein Amt verwiesen, hatte er sich von Autum beraten lassen. Offenbar rangierte der Besuch eines gehobenen Zirkus protokollarisch knapp unterhalb eines Abends im Theater, aber oberhalb eines gewöhnlichen Spendendinners.
»Was machen die Teams?«, fragte Bull sie, solange sie sich noch ungestört unterhalten konnten.
»Sind schon vor Ort.« Legacy streifte zufrieden das Headset mit Optisteg ab, das sie während des Flugs getragen hatte. »Alles nach Plan.« Sie zückte einen Spiegel und richtete ihr Haar. »Aufgeregt?«, fragte sie lächelnd.
Bull hob in gespieltem Gleichmut die Schultern. »War ein langer Tag. Ein wenig Aufregung wird mir sicher guttun.«
Legacys Blick ging kurz ins Leere, und ihr Lächeln vertiefte sich. »Dann habe ich gute Nachrichten für dich: Sie haben Dinosaurier! Wie findest du das?«
Bull wusste nicht, ob sie diese Information gerade über das externe Komgerät erhalten hatte oder ob sie über ein Kommunikations-Implantat verfügte, womöglich mit direktem Interface zu ihrem Sehnerv. Er vermutete aber schon lange, dass die Agentin Hilfsmittel wie Headsets eigentlich nicht nötig hatte und vor allem seinetwegen benutzte: damit er sah, dass sie etwas tat, und vor allem, was sie gerade tat.
»Saurier finde ich großartig«, brummte er. »Wer mag sie nicht?« Dass die MIRKANTIN allerhand exotische Wesen an Bord hatte, war ihm bekannt. Er wünschte nur, das wäre ihr einziges Problem.
Sie hatten das Zirkusschiff als den vermutlichen Unterschlupf der zwei flüchtigen Mehandor Empona und Emptral ausgemacht. Emptral war mit größter Wahrscheinlichkeit eine Komplizin von Debur ter Calon, des Hauptverantwortlichen für die Attentate auf Bull. Außerdem wurde sie im Zusammenhang mit der Entführung von Thomas Rhodan vor viereinhalb Monaten gesucht.
Empona wiederum wurde des Mordes an Dr. Larry Cheng und des Diebstahls jenes Posbi-Datenwürfels von der CREST bezichtigt, auf dem sich die Pläne für den Bau einer Transformkanone befanden. Die Leerfischerin war mit ihrem Diebesgut zur Erde geflohen, weil sie nur hier Zugriff auf die verschlüsselten Daten hatte erhalten können. Nun musste sie so schnell wie möglich wieder entkommen, und zwar mithilfe ihrer Sippenangehörigen – höchstwahrscheinlich ihrer Schwester – Emptral.
Und weil die Erde nach wie vor kein idealer Ort für Außerirdische war, um sich unbemerkt ein Raumschiff zu verschaffen, bot die riesige MIRKANTIN mit ihrer hauptsächlich aus Mehandor und anderen Außerirdischen bestehenden Besatzung die ideale Tarnung.
Bull hatte entschieden, die Jagd auf Debur ter Calon erst mal aufzuschieben und sich stattdessen zunächst um dessen Komplizen zu kümmern. Sosehr er den feigen Attentäter endlich aus dem Verkehr ziehen wollte, die Suche nach den Plänen der Transformkanone musste Priorität haben. Die Waffe war allen bekannten Defensivsystemen überlegen und durfte auf keinen Fall in die falschen Hände gelangen.
»Da wären wir«, meldete sich der Pilot aus dem Cockpit. »Wünsche einen angenehmen Abend!«
»Werden wir haben!«, entgegnete Bull.
Der Quadrocopter setzte auf, die Türen öffneten sich, und die warme Abendluft Terranias wehte ihnen ins Gesicht. Kaum dass sie die kurze Trittleiter hinabgestiegen waren, schlug ihnen das erwartete Blitzlichtgewitter entgegen. Legacy lächelte so unbeeindruckt, als hätte sie nie ein anderes Leben als das auf dem roten Teppich gekannt, und bugsierte Bull raschen Schritts durch die Reihen der Reporter. Er fragte sich, was für einen Aufmacher die einschlägigen Evernet-Portale hieraus schnitzen würden: »Interimsprotektor privat – Liebesglück im Hause Bull?«
»Einfach lächeln«, flüsterte Legacy, als hätte sie seine Gedanken erraten.
Voraus sahen sie die Scharen der anderen Zirkusbesucher, die sich im Schatten des Trichterrunds vor dem Eingang sammelten. Riesenhafte Hologramme außerirdischer Landschaften und Lebewesen, die Levitan auf seinen Reisen gesehen haben wollte, verkürzten ihnen die Wartezeit, gespickt mit Bildern des bärtigen Patriarchen, die ihn als stattlich gekleideten Mann zeigten, der seinen brennenden Blick wohlgefällig über die Menge schweifen ließ.
Auch Appetithäppchen früherer Vorführungen gab es: Bull erahnte haarsträubende Trapezakte und waghalsige Dressurnummern, die er zu neunzig Prozent für reißerisch und zu zehn Prozent für manipuliert hielt. Die Zuschauer aber schienen die Holos zu lieben und starrten sie wie gebannt an, selbst als sich die Werbeschleife wiederholte. Auch einige Mehandor und Arkoniden erspähte Bull, die sich vermutlich darauf freuten, ein paar Landsleute zu treffen und wieder etwas Sternenluft zu schnuppern.
Angesichts der gesalzenen Eintrittspreise war die Zahl der Gäste erstaunlich. Terrania mit seinen nunmehr vierzig Millionen Einwohnern hatte in den vergangenen Jahren eine sehr spezielle Oberschicht angezogen: neureiche Alienbegeisterte und Kulturliebhaber ebenso wie Investoren und Krisengewinner aus Zeiten des Protektorats, die längst nicht alle die Vision einer in Freiheit geeinten Menschheit teilten, sondern vor allem an ihrem eigenen Vorteil interessiert waren.
Eigentlich, dachte Bull nicht zum ersten Mal, sollte das Ideal ja sein, dass alle Menschen gleichermaßen Zugang zu Ara-Medizin, arkonidischer Technologie oder den anderen Wundern der Galaxis erhielten; dass es keinem mehr an etwas mangelte und jeder, der einen Mehandorzirkus besuchen wollte, das auch tun konnte.
Die Wirklichkeit jedoch war komplizierter. Die Terranische Union und ihre inoffiziellen und halboffiziellen Organe wie der Geheimdienst GHOST oder die General Cosmic Company beschritten einen schmalen Grat zwischen Meritokratie, Planwirtschaft und Turbokapitalismus – und gerade Leute wie Levitan dachten nicht im Traum daran, sich einen Profit, egal wie groß, entgehen zu lassen.
Auch Bull und seine Begleiterin genossen Privilegien, was ihm an diesem Abend bei aller Skepsis gegenüber zu viel Pomp durchaus gelegen kam. Ehe sie mit der wartenden Zuschauerschar direkt in Kontakt kamen, bedeuteten ihnen zwei Sicherheitskräfte, ihnen zu folgen. Sie passierten eine Absperrung mit einer altmodischen Samtkordel und fanden sich kurz drauf auf dem sprichwörtlichen roten Teppich wieder, gemeinsam mit einer Handvoll Filmstars und Wirtschaftsvertretern.
»Team eins hat seine Position erreicht«, teilte Autum ihm im Flüsterton mit, ohne ihr professionelles Kameralächeln einen Augenblick zu unterbrechen. »Und Team zwei fragt an, ob damit zu rechnen sei, dass sie vor dem Frühstück wieder zu Hause sind.«
»Sag ihm, wenn er nicht bald die Klappe hält, kann er sein Frühstück auf KE-MATLON einnehmen, oder wo immer die MIRKANTIN als Nächstes Station macht.« Team zwei bestand, nach Größe der Egos gerechnet, zuvorderst aus Dr. Dr. Eric Leyden, dessen vorrangige Sorge bei diesem Einsatz offenbar die um einen gesunden Schlaf und geregelte Mahlzeiten war.
»Er sagt, schlechter als das Essen beim Training kann es dort nicht sein«, gab Legacy weiter.
Bull atmete tief durch, so tief, dass sich sein Anzug spannte. Mehr ließ er sich von seinem innerlichen Grollen aber nicht anmerken.
Sie alle hatten einen langen Tag hinter sich. Gerade erst waren sie mit knapper Not dem Zugriff des starrköpfigen, von Ngata eingesetzten Sonderermittlers Ovald Figgs entronnen. Figgs störte sich hochgradig an den Eigenmächtigkeiten von Bulls altem Freund Julian Tifflor. Dieser hatte sich eines Raumschiffs bemächtigt und auf eigene Faust ungewöhnliche Vorgänge innerhalb der Sonne erforscht, die vielleicht – sogar wahrscheinlich – mit der jüngsten Giganteruption im Zusammenhang standen. Bislang hatte Bull noch gar keine Gelegenheit gehabt, sich richtig damit zu befassen.
Dann hatte Bull beschlossen, die Suche nach dem Attentäter ter Calon zugunsten der Jagd auf die Mehandorschwestern hintanzustellen. Auf ausdrücklichen Wunsch von Militärpolizeileutnant Pete Roofpitter, der Empona bereits seit den ihr zur Last gelegten Verbrechen an Bord der CREST nachspürte, hatten sie dafür Eric Leyden, Abha Prajapati, Belle McGraw und Luan Perparim verpflichtet. Legacys Kollegen bei GHOST hatten den Wissenschaftlern einen »Schnellkurs im Schlapphut-Tragen« verpasst, wie Leyden das Agententraining abschätzig getauft hatte. Nur dass der Schlapphut des Geheimdienstlers in der Mitte des 21. Jahrhunderts das Spiegelfeld war. Statt Dietrichen gab es positronische Türschlossöffner, statt Colts spezielle Mini-Paralysatoren, die für die meisten Detektoren oder Scanner unsichtbar blieben. Legacy hatte die unfreiwilligen Rekruten erbarmungslos gescheucht, bis alle neun die ihnen zur Verfügung gestellte Einsatzausrüstung beherrscht und ihren Auftrag verinnerlicht hatten.
Es war, wie Roofpitter selbst eingestand, eine unorthodoxe Gruppe – und das war noch höflich formuliert. Trotzdem glaubte der Polizist an ihre Fähigkeit, Probleme auf kreativem Weg zu lösen. Außerdem waren sie in der Lage, Empona persönlich zu identifizieren. Was Bull anging, kam es ihm entgegen, dass die Sache keine allzu weiten Kreise zog.
Verstärkt durch die Exo-IT-Spezialistin Anneke ter Verleuwen, die Roofpitter und sein Team seit deren Aufbruch von der CREST begleitete, sowie die Mutanten Ras Tschubai, Betty Toufry und Anne Sloane, hatten sie drei Teams gebildet, die unabhängig voneinander vorgehen sollten und jedes einen anderen Ansatz verfolgte, um die Mehandorschwestern dingfest zu machen: Team eins, bestehend aus Roofpitter, Prajapati und Toufry, sollte die DNS-Spuren der Flüchtigen aufspüren, was angesichts der Vielzahl an Zirkusbesuchern, Besatzungsmitgliedern und Fremdwelttieren eine schwierige Aufgabe darstellte. Leyden, McGraw und Tschubai überprüften verschiedene mögliche Verstecke an Bord; Grundlage waren von GHOST angefertigte Deckpläne der MIRKANTIN und das dem Geheimdienst zur Verfügung stehende Wissen um gängige Schmuggeltricks der Mehandor. Und ter Verleuwen, Perparim und Sloane würden versuchen, zum Patriarchen selbst vorzudringen – oder vielmehr in sein Quartier, um ihm auf den Zahn zu fühlen. Schließlich war es fast undenkbar, dass Empona und Emptral das prächtige Mehandorschiff zur Flucht benutzten, ohne dass Levitan davon wusste und daran verdiente.
Es war ein aufwendiges und riskantes Unterfangen. Bull schickte alles ins Feld, was er auf die Schnelle unauffällig mobilisieren konnte, spielte alle Joker, die er hatte. Lediglich Julian Tifflor, von Ngata zum Staatsfeind Nummer eins erklärt, war vorsichtshalber im Versteck geblieben. Am Ende dieses Abends wären sie entweder einen großen Schritt weiter oder mussten die verdeckte Operation zu einem massiven Polizeieinsatz ausweiten – eine Blamage, auf die angesichts ihres ohnehin gespannten Verhältnisses zum Interimsadministrator keiner der Beteiligten gesteigerten Wert legte.