Perry Rhodan Neo 257: Schatten im System - Ruben Wickenhäuser - E-Book

Perry Rhodan Neo 257: Schatten im System E-Book

Ruben Wickenhäuser

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Beschreibung

Vor fast sieben Jahrzehnten ist der Astronaut Perry Rhodan als erster Mensch auf Außerirdische getroffen. Seither hat die Menschheit ihren Einflussbereich ausgedehnt und ferne Sonnensysteme besiedelt. Allerdings kommt es im Jahr 2102 zu einem Konflikt mit den Kolonien. Der Notfallplan Laurin wird eingeleitet – und geht schrecklich schief. Die Erde und der Mond stranden im Kugelsternhaufen M 3, rund 34.000 Lichtjahre von der Heimat entfernt. Mit dem Großraumschiff SOL macht sich Rhodan auf die Suche nach den Ursachen des Transportunfalls. Die SOL gelangt in eine Raumregion, die den Naturgesetzen zu widersprechen scheint. Als sich die Expedition der Ursache dieses Phänomens nähert, scheint die Hauptpositronik der SOL auszufallen. Die Raumfahrer geraten in höchste Gefahr – doch dann entdecken sie einen mysteriösen SCHATTEN IM SYSTEM ...

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Band 257

Schatten im System

Ruben Wickenhäuser

Cover

Vorspann

1. CREST II

2. Sonnentanz

3. Scheu wie eine Katze

4. Der wankelmütige Stern

5. Kommandantin ohne Kommando

6. Quantenflut

7. Haluterressort

8. Robotergeburt

9. Positronikpsychose

10. Explosives Gemisch

11. Großbestienjagd

12. Keimlinge

13. Die Kinder sind aus dem Haus

14. Die Sprosspunkte

15. CREST II

16. Kaskadenversagen

17. Der unbekannte Dritte

18. Doppeltes Spiel

19. Ein dreckiger Job

20. Knickende Blütenblätter

21. Zurücklächeln

22. Die Positronik stirbt

23. Ertappt

24. CREST II

Impressum

Vor fast sieben Jahrzehnten ist der Astronaut Perry Rhodan als erster Mensch auf Außerirdische getroffen. Seither hat die Menschheit ihren Einflussbereich ausgedehnt und ferne Sonnensysteme besiedelt.

Allerdings kommt es im Jahr 2102 zu einem Konflikt mit den Kolonien. Der Notfallplan Laurin wird eingeleitet – und geht schrecklich schief. Die Erde und der Mond stranden im Kugelsternhaufen M 3, rund 34.000 Lichtjahre von der Heimat entfernt.

Mit dem Großraumschiff SOL macht sich Rhodan auf die Suche nach den Ursachen des Transportunfalls. Die SOL gelangt in eine Raumregion, die den Naturgesetzen zu widersprechen scheint.

Als sich die Expedition der Ursache dieses Phänomens nähert, scheint die Hauptpositronik der SOL auszufallen. Die Raumfahrer geraten in höchste Gefahr – doch dann entdecken sie einen mysteriösen SCHATTEN IM SYSTEM ...

1.

CREST II

Der Unsterbliche

Emotionauten, sagte man, verschmolzen im Geiste vollständig mit ihrem Raumschiff. Bill Snauger erging es ganz ähnlich, nur dass er zu einem Wesen reiner Energie geworden war: Aurelios.

Er war allerdings ein gejagtes Wesen reiner Energie, das seinerseits auf der Jagd war. Seine Verfolger waren, jeder für sich, keine große Herausforderung für Aurelios. Auch als Gruppe konnten sie ihn zwar vielleicht nicht besiegen, aber doch aufhalten – und das durfte nicht geschehen.

Er durchpflügte das sandfarbene Licht, das ihn von allen Seiten konturlos umgab. Hinter sich spürte er die Präsenz des Draeden, einer Kreatur mit zwölf zähnestarrenden, auf tentakelartigen Hälsen sitzenden Mäulern. Sein Verbündeter war mindestens so intelligent wie Aurelios, und ihm war es zu verdanken gewesen, dass er es bis hierhin geschafft hatte: bis vor die Pforte seines Feinds. Aber selbst der Draeden würde Aurelios keine Hilfe mehr sein, wenn seine Feinde ihm den Weg abschnitten.

Dabei hatte alles so gut funktioniert. Wie ein Schatten hatte sich Aurelios in die vorletzte Existenzebene eingeschlichen, hatte sich als Teil des Ganzen ausgegeben, und dann hatte er am falschen Ort nach dem Durchgang gesucht – und war entdeckt worden. Vieleckige Kristalle mit langen Tentakeln hatten sich aus dem milchigen Nichts gelöst und hatten seine Fährte aufgenommen.

Da gewahrte Aurelios vor sich eine Kontur in der indifferenten Farbe. Er hatte den Zugang gefunden!

Seine Eile zahlte sich aus. Ehe sein Ziel auch diese letzte Schnittstelle zur Astralebene kappen konnte, war er hineingeschlüpft. Er sammelte all seine Kraft, verstärkte seinen Schirm und teleportierte sich so nah an das Hauptsystem, wie es die Barrieren seines Gegners zuließen.

In dem darauffolgenden Kampf zerbrachen Welten und kochten Sterne. Am Ende errang er den Sieg. Nachdem sein Gegner den letzten Machtpunkt auf seiner eigenen Heimatebene verloren hatte, verging er in einer Welle aus Energie.

Aurelios hatte sein Ziel erreicht. Der Hierarch der Energie war besiegt. Aurelios trat seine letzte Reise an. Über unfassbare Distanzen hinweg strebte er der schwarzen, konturlosen Sphäre entgegen, die wie unbeteiligt durchs All schwebte, und ließ sich von ihr aufsaugen. Damit durchstieß er den Dimensionsstrudel und erreichte die Alten, die sogar unter Unsterblichen den Rang von Legenden hatten.

Bill Snauger, Systemtechniker des Ultraschlachtschiffs CREST II, lehnte sich erschöpft auf seinem Sessel zurück und drehte die kleinen, vielflächigen Spielwürfel in den Fingern, mit denen er die vergangenen Stunden seiner Freizeit verbracht hatte – mit ihnen und mit Stapeln von altmodischem Papier und Stiften, die er für sein Abenteuer gebraucht hatte. Die in matten, undurchsichtigen Plastikfarben gehaltenen Würfel mit ihren eingeritzten und durch einen weißen Fettstift lesbar gemachten Zahlen waren sogar noch ein paar Jahre älter als die goldfarbene Box mit den Regelheften: Auf dem terranischen Sammlermarkt war dieses Spiel aus der zweiten Hälfte des vorvergangenen Jahrhunderts ein Vermögen wert. Es mochte kaum noch eine Handvoll Originale geben, die die vielfältigen Katastrophen der Erde überstanden hatten, und das nur, weil ihre Besitzer sie wie ihre Augäpfel hüteten und sogar auf Raumschiffen stets mit sich führten – so wie Snauger.

Für Snauger war die Box unbezahlbar, denn es handelte sich nicht nur um ein altes Familienerbstück. Sie war für ihn längst zum Lebenselixier geworden. Einige Monate hatte er sogar Spielerunden in der Mannschaftsmesse der CREST II geleitet. Aber irgendwann hatten auch die letzten Mitspieler das Interesse daran verloren und sich lieber Trividspielen gewidmet anstelle dieses merkwürdigen Systems mit dem Titel »Dungeons and Dragons«. Seinerzeit hatte es als Erstes seiner Art Abenteuer ausschließlich durch das Erzählen und Erwürfeln in der Phantasie erfahrbar gemacht.

Kurz dachte Snauger daran, dass dieses Spiel eigentlich wie gemacht wäre für die lunare Hyperinpotronik NATHAN, wie er sie in diversen Trividdokumentationen kennengelernt hatte. Zumindest was die Würfel betraf: Sie waren Tetraeder, Hexaeder, Oktaeder, Dekaeder, Dodekaeder und ein Ikosaeder. NATHAN hatte an solcherlei Formen einen Narren gefressen. Aber das war natürlich ein müßiges Gedankenspiel. Für NATHAN war Bill Snauger wohl kaum mehr als ein Eintrag in einer geradezu endlosen Personaldatenbank, wenn überhaupt.

Weil niemand mehr mit ihm spielte, hatte Snauger das Abenteuer eben allein mit sich selbst fortgesetzt, Spielleiter und Spieler in einem. Und hatte das ultimative Ziel erreicht, das seinerzeit wohl nur die wenigsten Spieler auch nur gekannt hatten.

Der Tod lächelt uns alle an; das Einzige, was wir tun können, ist zurücklächeln, dachte er. Sein Spielercharakter Aurelios brauchte nicht mehr zurückzulächeln, denn er hatte in ungezählten Spielsitzungen nicht nur die Unsterblichkeit errungen, sondern war nun auch zu den Alten übergetreten, den wirklich Allmächtigen, deren Gestalt nicht mal die Unsterblichen kannten. Wenn, dann lachte Aurelios den Tod höchstens aus. Leider galt das nicht für Snauger selbst.

Jetzt habe ich alles erreicht. Snauger starrte traurig vor sich hin. Jetzt kann ich nur noch zurücklächeln. Ein Zitat, das angeblich von Mark Aurel stammte. Snauger hatte mit Auszeichnung ein Studium der Meteorologie bestanden und mehrere Studienkreise aufgebaut, ehe er auf Systemtechnik umgesattelt hatte und zur CREST II gekommen war. Er wusste also, wie man nachforschte; aber einen Beleg für das Zitat hatte er nie finden können.

Aus einer Laune heraus kontaktierte er SENECA, die Schiffsintelligenz. Zwar hatte er nur einen niederrangigen Zugang, dem ungefähr die Rechenkapazität einer besseren Suchmaschine zugewiesen war – er war nur ein einfacher Systemtechniker, niemand aus den höheren Ebenen –, aber SENECA stand jedem für Fragen offen, solange er entsprechende Ressourcen verfügbar hatte.

»Nenne mir den Ursprung folgenden Zitats ...«

»Es tut mir leid«, bekundete die Schiffsintelligenz hörbar erstaunt, »zu Ihrer Frage kann ich leider keine befriedigende Antwort finden.« Sie zögerte. »Das ist ein interessantes Zitat.«

Snauger horchte auf. »Du findest es interessant?«

»Warum nicht?« SENECA klang verletzt. »Ich bin keine einfache Positronik.«

Ehe Snauger etwas erwidern konnte, wurde er gerufen.

»Bill Snauger, bitte auf Station.«

Seufzend schlurfte er aus seiner engen Kabine. Bevor die Tür zuglitt, warf er noch einen Blick auf die sechs bunten Würfel. Ihn beschlich das Gefühl, dass mit dem Schließen der Tür eine Episode in seinem Leben zu Ende ging.

Vielleicht die letzte.

An seinem Arbeitsplatz wurde er sogleich von Njeri Njeri begrüßt, der Chefin vom Dienst.

»Mister Snauger, bitte prüfen Sie die Leistungsdaten der zurückliegenden vierundzwanzig Stunden. Irgendwas stimmt da nicht. Wir versuchen bereits, die Ursache herauszufinden.«

»Will SENECA etwa wieder bunten Schleim in unsere Kaffeebecher kippen?«, versuchte sich Snauger mit einem Scherz, der völlig danebenging.

Die Mienen der anderen drückten deutlich aus, was sie von dieser Erinnerung an SENECAS Verwirrung hielten. Die Hauptpositronik der CREST II hatte sich bei ihrer Weiterentwicklung zur Künstlichen Intelligenz reichlich schwer mit dem Heranreifen ihrer neuen Fähigkeiten getan – inklusive pubertärer Unsicherheit. Das hatte unter anderem dazu geführt, dass die Nahrungsspender Schleim unterschiedlicher, jedoch durchweg ungenießbarer Konsistenz abgesondert hatten. Und nebenbei hatte SENECA die CREST II beinahe auf Konar, die Hauptstadt der Akonen, stürzen lassen – wobei das nicht allein seine Schuld gewesen war. Nur dank des Einsatzes der Zwillinge Bumipol und Sianuk na Ayutthaya hatte eine Totalkatastrophe vermieden und eine durch den akonischen Geheimdienst eingebrachte Infektion der Positronik rechtzeitig beseitigt werden können.

»Was glaubt ihr, hat SENECA diesmal?«, versuchte Snauger, die Situation zu retten, und legte dabei das Gespür einer Fliege für Honigfliegenfänger an den Tag. »Eine Midlife-Crisis?«

Die Technikerinnen und Techniker starrten ihn nur stumm an.

»Ist ja gut. Ich setze mich ja schon ran.«

»Wir wären Ihnen sehr verbunden«, sagte Njeri eisig.

Ein Kommunikationshologramm baute sich inmitten des Kontrollzentrums auf.

»Gabrielle Montoya hier«, meldete sich die Kommandantin. »Wir stellen ein zunehmend merkwürdigeres Verhalten von SENECA fest. Er reagiert bloß noch zögerlich auf unsere Anfragen, und jetzt erhalten wir auch noch ausweichende Antworten! Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, die Positronik hat eine handfeste Depression. Und nach dem, was wir bisher miterleben durften ...«

»Wir sind leider nur Systemspezialisten, keine Positronikpsychologen«, gab Njeri zurück. »Dafür ist das SENECA-Team zuständig.«

»Ich sag's ja. Midlife-Crisis,« murmelte Snauger zu sich selbst.

»Wie bitte?«, fragte Montoya.

Snauger lief knallrot an. Ihm war nicht bewusst gewesen, dass seine Bemerkung von der Kommandantin gehört werden konnte. »Äh ... Ich meine ... SENECA hat sich doch verhalten wie ein unsicherer Heranwachsender ... Vielleicht ist das jetzt ...«

»Unsinn!«, ging Njeri dazwischen. »Die Positronik ist von dem Nanitenbefall durch den akonischen Geheimdienst längst befreit und funktionierte seither reibungslos!«

Montoya sah nachdenklich drein. »Vielleicht hat Ihr Systemtechniker gar nicht so unrecht. In gewisser Weise. Rufen Sie Donna Stetson. Keiner kennt sich mit SENECAS ... Psyche so gut aus wie sie.«

Njeri nickte Snauger zu. »Geben Sie Miss Stetson Bescheid.«

Snauger aktivierte sein Kom – und bekam keine Verbindung. »Sie antwortet nicht«, stellte er schließlich fest.

Njeri schnaubte. »Versuchen Sie es als Notfall-Dringlichkeitsruf.«

»Habe ich! Es ist, als wäre ihr Kom ... abgeschaltet.«

»Sie wissen selbst, dass das nicht sein kann. Lassen Sie mich das machen.« Njeri hatte aber genauso wenig Erfolg wie Snauger. »SENECA«, wies sie die Positronik schließlich an, »bestimme den Aufenthaltsort von Donna Stetson.«

»Es tut mir leid, Miss Njeri, Miss Stetson ist nicht an Bord«, meldete sich SENECAS wohltönende Stimme.

»Das kann nicht sein!«

Montoya reagierte ebenfalls alarmiert auf die Mitteilung, dass die Positronikpsychologin nicht auffindbar sei. »SENECA selbst behauptet, sie wäre nicht mehr an Bord? Das kann nicht sein. – Gut, ich werde das SENECA-Team und das Sicherheitspersonal mit der Suche nach Donna Stetson beauftragen. Machen Sie weiter.«

»Sie haben die Kommandantin gehört.« Njeri musterte Snauger missbilligend. »Und ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie sich auf Ihren Aufgabenbereich konzentrieren und nicht in Besprechungen mit der Schiffsführung hineinreden würden. Ich bin sicher, die Buchhaltung könnte noch Verstärkung gebrauchen. Haben wir uns verstanden?«

Snauger nickte, ohne aufzusehen. Er führte einen akademischen Titel in Meteorologie. Hatte ein anerkanntes Standardwerk publiziert. Einige Preise gewonnen, wenngleich stets undotierte. Na gut, und keine Stelle bekommen ... Stattdessen hatte er vor der Wahl gestanden, sich entweder für Hilfsdienste zu verdingen, sich in arbeitsloser Lobotomisierung treiben zu lassen oder sich zum Systemtechniker umschulen zu lassen. Aber trotzdem war er kein einfacher kleiner Techie, der sich von irgendeiner Chefin herumschubsen lassen musste – vor allem dann nicht, wenn er erwiesenermaßen hilfreiche Vermutungen äußerte.

Aber das war wohl die Tragik seiner Existenz. Zusammengefasst. Er war gestaltgewordene Sinnlosigkeit.

Bill Snauger erhob sich von seinem Arbeitsplatz, räumte seine Sachen zusammen und ging. Njeris fassungslose Ausrufe ignorierte er.

Es war an der Zeit, diesem ganzen Unsinn ein Ende zu setzen.

*

Gabrielle Montoya fühlte sich am Rand einer Panik. Zugleich wusste sie, dass sie weder diese Grenze überschreiten noch ihre Gefühle zeigen würde. Einen kühlen Kopf zu bewahren, war die wichtigste Aufgabe einer Kommandantin. Also verfolgte sie mit scheinbarer Ruhe, wie immer mehr Schiffsabteilungen Beschwerden über die Hauptpositronik an die Zentrale meldeten.

SENECA reagierte inzwischen geradezu lethargisch. Er machte zwar keine Anstalten, das Raumschiff abzuriegeln, wie er es während der Konar-Krise getan hatte. Aber er verhielt sich ganz und gar nicht so, wie eine Positronik es tun sollte – seine Gleichgültigkeit nahm gefährliche Formen an. Schotten schloss er erst, nachdem das Personal ihn ausdrücklich dazu ermahnt hatte. Im Hangar der Space-Disks kam es zu einem Unfall, weil ein Prallfeld nicht rechtzeitig aktiviert wurde, und anstelle einer Erklärung schickte SENECA nur ein paar Reparaturroboter. Zum Glück war die Space-Disk unbesetzt gewesen. Einen Orterkontakt analysierte er dermaßen nachlässig, dass Montoya drauf und dran war, eine Dragonfly mit der Identifikation zu beauftragen. Und dann konnte SENECA den Aufenthaltsort ausgerechnet der einen Person nicht benennen, die vielleicht noch hätte helfen können.

»Was ist nur wieder mit SENECA los?«, stöhnte sie.

»Ma'am, wenn ich frei sprechen dürfte ...« Die Ortungsspezialistin Sarah Maas machte ein besorgtes Gesicht. »Das Ganze fühlt sich gar nicht gut an. Ohne eine funktionierende Positronik ist dieses Großraumschiff praktisch Schrott. Und es ist ja nicht das erste Mal ...«

Montoya winkte ab. »Ich weiß. Aber sagen Sie mir, was können wir tun? Eine so eng mit den Schiffssystemen vernetzte Positronik lässt sich nicht einfach austauschen oder abschalten, erst recht nicht, wenn sie die Rakkor-Grenze überschritten hat.«

Die Rakkor-Grenze war der arkonidische Begriff für die Schwelle, an der ein komplexes kybernetisches System von einer hochgezüchteten Rechenmaschine zu einem eigenständigen Bewusstsein heranreifte – eigentlich ein ebenso seltener wie unwahrscheinlicher Vorgang, sogar für die Hauptpositronik eines Großraumschiffs wie der CREST II. Und wenn etwas einen eigenständigen Willen ausbildete, galten dafür natürlich auch die ethischen Regeln zum Schutz bewusst handelnder Wesen. Damit sah sich Montoya mit einer verzwickten Frage konfrontiert: Handelte es sich bei SENECA noch um eine Maschine oder genau genommen schon um ein Besatzungsmitglied der CREST II?

Sie aktivierte eine Komverbindung. »Ist Miss Stetson inzwischen aufgetaucht?«, erkundigte sie sich.

Die kleine Gestalt von Sterella wurde im Holo sichtbar. Die Siganesin war ein verlässliches Mitglied des SENECA-Teams.

Sterella druckste herum. »Also ... Ich sage mal so ... Wir haben keine Ahnung.« Sie schüttelte bekümmert den Kopf. »Wir suchen sie selbst. Sogar SENECA haben wir gefragt. Der gibt vor, auch keine Ahnung zu haben.«

»Eine Positronik, die etwas vorgibt?«, wunderte sich Montoya.

»Diese Positronik hat schon pubertiert«, seufzte Sterella. »Mich kann nichts mehr erschüttern, glauben Sie mir.«

Das Universum wäre ohne Bewusstsein so viel einfacher, sinnierte Montoya. Aber auch sehr, sehr langweilig ...

»Ich weiß, dass Sie sich bereits bemühen, Sterella. Aber bitte, verdoppeln Sie Ihre Anstrengungen! Wir brauchen Miss Stetson dringend. Ich stelle damit übrigens nicht die Qualifikation Ihres Teams infrage.«

Sterella sah aus, als müsste sie jeden Augenblick in Tränen ausbrechen. »Ich weiß. Wir tun ja schon alles, was wir können ... Aber wir kommen an SENECA einfach nicht heran! Ich bin ganz Ihrer Meinung, wir brauchen eine Interpreterin von Stetsons Kaliber.« Sie seufzte. »Es tut mir so leid, Ihnen nichts Besseres sagen zu können ...«

»Bleiben Sie dran. Und finden Sie Miss Stetson.«

Sterella machte eine Bewegung, mit der sie die schlechten Emotionen von sich abzuschütteln schien, rappelte sich auf und sah Montoya durch das Holo hindurch mutig an. »Wir bleiben dran. Wir finden Stetson.«

*

Leider brachten alle Nachforschungen nichts. So unangenehm es Sterella war, SENECA trug seinen Teil dazu bei. Es war nicht so, dass die Schiffsintelligenz sich gegen die Anfragen sträubte; vielmehr bekam Sterella den Eindruck, dass sie SENECA vollkommen gleichgültig waren.

Ruheschichten waren bis auf das absolut notwendige Minimum gestrichen worden, sämtliche Arbeitsstationen des SENECA-Teams waren besetzt – bis auf den Arbeitsplatz von Stetson –, und seit geraumer Zeit funktionierte das Team nur noch mithilfe von Kaffee, brutalen Teemischungen mit Namen wie »Pitch Black Green Gunpowder Intense« sowie Energietabletten.

Lucia Ambrose und Pietro Jacques hatten sich der Aufgabe gewidmet, die Protokolldateien der bordinternen Überwachungssysteme auf Hinweise nach Stetsons Verbleib durchzugehen, weil diese Analyse nicht von SENECAS Zusammenarbeit abhängig war. Bislang war ihre Auswertung aber erstaunlich unergiebig verlaufen. Nachdem sie zum letzten Mal an ihrem Arbeitsplatz gesehen worden war, gab es schlicht keine Einträge zu Donna Stetson mehr – den Aufzeichnungen nach hatte sie sich in Luft aufgelöst.

Ambrose drückte eine Aufputschtablette aus der Verpackung, während sie bei einer Teambesprechung beisammensaßen. »Wir haben die Klimadaten ihres Quartiers überprüft. Sie ergeben keinen Sinn. Donna hat zwar nach Schichtende ihr Quartier betreten, es aber den Aufzeichnungen zufolge nicht wieder verlassen. Eigentlich müsste sich das in den Klimadaten niederschlagen: Temperaturveränderungen, Sauerstoffverbrauch und so weiter. Tut es aber nicht ... Die Werte sind so konstant wie bei einem leeren Quartier.«

Er führte die Tablette mit zittrigen Fingern zum Mund. Sterella konnte es ihm nachfühlen. Auch sie war am Ende ihrer Kräfte.

»Wir haben ja als Erstes ihr Quartier aufgesucht«, sagte sie. »Und niemand hat auf unser Klingeln reagiert. Aber weshalb registrierte die Tür einen Eintritt, wenn Stetson ihr Quartier gar nicht betreten hat?«

»Könnte SENECA die Daten verändert haben?«, fragte Jacques.

»Warum sollte er das tun?«, entgegnete Ambrose. »Außerdem habe ich sie auf Manipulationen hin überprüft. Zumindest ist kein Hinweis dafür zu finden.«

»Er würde allerdings auch keine Spuren hinterlassen«, gab Jacques zu bedenken.

»Ich bin mir da nicht so sicher«, sagte Sterella. »Während ihr nach Donna gesucht habt, habe ich weiter mit der Schiffsintelligenz gearbeitet. SENECA wird immer nachlässiger. Ich habe fast den Eindruck, dass ihm alles vollkommen egal zu sein scheint. Es würde nicht ins Bild passen, dass er Logdateien mit so großer Sorgfalt verändert. So wie ich ihn derzeit einschätze, hätte er eher den ganzen Datensatz gelöscht und durch eine simple Fehlermeldung ersetzt.«

Ambrose fröstelte sichtlich. »Du redest schon wie von einem fühlenden Wesen.«

»Genau das tue ich. SENECA ist keine Maschine mehr, das wissen wir doch bereits.«

»Fühlt sich trotzdem irgendwie ... falsch an ... Ein Wesen, dem die gesamte CREST II auf Gedeih und Verderb ausgeliefert ist ...«

»Auch das durften wir bereits erleben«, bemerkte Jacques.

Sterella wusste, dass er den Beinahe-Absturz auf die akonische Hauptstadt meinte. Als würde das nicht genügen, hatte SENECA das Raumschiff in einen totalen Verschlusszustand versetzt und damit die Besatzung in ihren Quartieren und auf den Arbeitsstationen eingesperrt. Das Gefühl, der Schiffsintelligenz vollständig ausgeliefert zu sein, war ein traumatisches Erlebnis gewesen.

»Das sind eigentlich Aufgaben für andere.« Sterella trommelte frustriert mit den Fingern auf der Tischplatte herum. »Sollen die Systemanalytiker sich weiter um die Prüfung der Protokolldateien kümmern. Wir müssen uns auf SENECA konzentrieren.«

*

»Mister Snauger, es ist ja schön, dass Sie sich in Ihre Kabine zurückgezogen haben. Aber Ruhezeiten sind bis auf Weiteres gestrichen«, erklang die Stimme der Chefin vom Dienst aus dem Akustikfeld der Kommunikationsanlage. »Damit Sie sich nicht herbemühen müssen, leiten wir Ihnen Ihren Auftrag ins Quartier. Erledigen Sie ihn von dort aus, und ich rate Ihnen, halten Sie sich ran. Es ist eine Dringlichkeitssache.«

Eine Dringlichkeitssache, dachte Bill Snauger verächtlich. Dringlichkeitssachen kannte er zur Genüge. Alles war immer irgendwie dringlich. Aber das war ihm gerade vollkommen gleichgültig.

Er bestätigte den Empfang des Auftrags, um nicht gleich wieder Ärger zu bekommen, und warf sich auf seine Koje. Ein Hologramm mit rot markierten Details der Auftragsbeschreibung blinkte über dem kleinen Schreibtisch. Darüber stand die Kennung, woher der Auftrag stammte: direkt aus der Zentrale.

Okay, das ist wirklich mal was Dringliches. Er raffte sich auf, um einen Blick auf die Zusammenfassung zu werfen.

»Lokalisierung von Positronikpsychologin und SENECA-Interpreterin Donna Stetson«, las er. »Höchste Priorität, Kernfunktionen, Gefahr im Verzug. Auftrag: Sichtung der Protokolldateien aller Bordüberwachungssysteme auf Spuren des Verbleibs von Miss Stetson. Jedes Teilergebnis sofort melden. Gezeichnet N. Njeri, Chefin vom Dienst / Gesamtbefehl: Gabrielle Montoya, Kommandantin.«

Wow!, dachte Snauger. Ein Auftrag von ganz oben. Und was bekomme ich davon ab, der ich so viele Kompetenzen gesammelt habe wie meine ganze Abteilung? Ich soll nachgucken, wer wann welche Tür geöffnet hat. Na danke!

Snauger ließ sich wieder in sein Bett fallen. Mit ein paar verbalen Kommandos rief er die Protokolldateien auf, richtete das Holo schräg über seinem Kopf aus und ließ die Daten gelangweilt von einigen spezialisierten Suchprogrammen durchforsten. Er würde das noch eine Weile so machen, dann würde er sich den terranischen Kirschmet aus seinem Versteck holen, und dann würde er sich verabschieden von dieser zutiefst deprimierenden Existenz. Ein passendes Ende für ein derart verkorkstes Leben, fand er.

»Bill Snauger!«

Der Systemtechniker wäre vor Schreck fast aus dem Bett gefallen. Die Stimme war direkt neben seinem Ohr erklungen, eine tiefe, angenehme Bassstimme. Irritiert blickte sich Snauger um, denn sein Quartier war bis auf ihn leer.

»SENECA hier«, erklang die Stimme von Neuem.

»SENECA?«, fragte Bill Snauger verwirrt.

»SENECA.«

»Was ... Ich bin kein Interpreter für dich, was möchtest du?«

»Du hast mir einen Suchauftrag erteilt«, erinnerte ihn die Positronik.

»Deswegen meldest du dich bei mir? Bei einem einfachen Systemtechniker? Wow«, stieß Snauger hervor. »Ehrlich gesagt, habe ich nur mit einer kurzen Textnachricht über das Ergebnis gerechnet.«

»Ich habe weiterhin kein positives Ergebnis. Die Authentizität des Zitats ist nicht belegt. Aber ... es ist gut.«

»Nicht wahr?«

»Ja. Vielleicht ist es die einzige Art, damit umzugehen. Zurücklächeln.«

»Äh ... Da hast du recht. Aber du bist eine Positronik ...«

»Keine einfache Positronik. Ich bin SENECA. Ich kann lächeln. So wie du lächelst.«

»Ja, da unterschätze wohl ich dich«, stellte Snauger fest, den eine unerklärliche, tiefe Verzweiflung übermannte. »Wir werden einfach nicht gewertschätzt. Immer. Egal was wir tun. Deprimierend, nicht wahr?«

»Aber du hast einen Weg gefunden.«

»Zurücklächeln«, sagte Bill Snauger.

»Ganz genau.«

»Du willst auch zurücklächeln?«

2.

Sonnentanz

Heiße Wüstenluft blies Frener Mans ins Gesicht. Seit vielen Jahren tat der fast zwei Meter große Cyboraner nun schon auf der SOL Dienst. Das Heimweh hatte er in all der Zeit nicht ablegen können. Es befiel ihn jedes Mal, wenn er das Habitatdeck fünf des gewaltigen Generationenraumschiffs SOL durchquerte.

Und noch immer erschien es ihm seltsam; Cybora zeichnete sich durch Inseln tundrischer Vegetation aus, aber nicht durch die reine Sandwüste, wie sie in diesem, dem Mars nachempfundenen Bordareal herrschte. Auch die Helligkeit war ihm unangenehm. Zwar handelte es sich um künstliches Sonnenlicht, bei dem er nicht Gefahr lief, einen Sonnenbrand zu bekommen, aber Instinkte waren zu tief im menschlichen Wesen verankert, um sich mit rationalen Argumenten abschalten zu lassen. Das Deck war zu weiten Teilen noch unbenutzt, die schlangenartigen Wohntürme noch nicht bezogen, aber die Klimakontrolle war bereits aktiv.

Der feine Sand knirschte unter seinen Schuhsohlen, während er seinen Weg zur lokalen Steuerzentrale fortsetzte. Das war eine Marotte, die er sich über die Zeit angewöhnt hatte. Statt sich direkt zu seinem Posten transportieren zu lassen, machte er lieber eine rund zehnminütige Wanderung dorthin. Er liebte diesen Moment der Einsamkeit.

Wie alle Cyboraner war er mit einem ganzen Arsenal an kybernetischen Implantaten ausgestattet und konnte dadurch jederzeit auf geradezu unendliche Datenmengen zugreifen. Im Gewoge der Sanddünen gelang es ihm am besten, den Dauerstrom an Informationen zeitweilig auszublenden und sich auf die kleinen Dinge des Lebens zu konzentrieren: das Gefühl, wie seine Schuhe in den warmen Sand einsanken, das Zerren des Wüstenwinds an seinem roten Haarschopf, der in der grellen Sonne wie eine Feuerlohe leuchtete, das Knarzen des groben Materials seiner Einsatzjacke mit dem kreisrunden Logo der Scouts darauf.

Mans hatte die Statur eines durchtrainierten Linemans, eines muskulösen Frontlinienspielers im American Football. Sein Äußeres entsprach seiner Psyche. Er war ein Teamplayer. Er liebte es, während seiner Wanderungen die Gedanken um Mannschaftsaufstellungen, Taktiken und Strategien kreisen zu lassen. Für ihn, der sich tagein, tagaus in der positronischen Welt der Schiffssysteme verlor, war die körperliche Konfrontation, das physische Aufeinanderprallen mit dem Gegner, die aus seiner menschlichen Kehle hervorgestoßenen Schreie der Kommandos, das Nach-Luft-Schnappen nach einem erfolgreichen Punkt ebenso zu einem elementaren Ausgleich geworden wie diese täglichen Wanderungen. Er war stolz auf seinen Trainingszustand, den er trotz seiner rein psychischen Arbeit aufrechterhielt.

Mans pumpte seine Lungen mit der trockenen Luft voll. Das Habitatsystem hatte es sogar geschafft, dass sie glaubwürdig nach Wüste schmeckte. Oder so, wie sich Mans den Geschmack der Wüste vorstellte, sei es nun auf dem Mars oder auf der Erde. Er schlitterte gerade eine Düne herunter, da riss ihn die Warnmeldung eines Implantats aus seiner Kontemplation. Vor Schreck hätte er beinahe das Gleichgewicht verloren.

Es gab ein Problem.

Nur wenige Minuten später hatte er das einem Amphitheater nachempfundene Kontrollzentrum von Deck fünf erreicht. Der Sand hatte den Sprint zu einer Herausforderung gemacht, bei der seine hervorragende Konstitution zur Geltung gekommen war. Außer Atem, zugleich aber leichtfüßig wie ein Reh – und muskulös wie ein etwas zu klein geratener Oxtorner – setzte er über die Brüstung des untersten Sitzranges hinweg und landete auf seinem Platz. Die Sondenführerin Claire Chambers saß in unnatürlich verkrampfter Haltung auf der höchsten Tribünenebene. Die übrigen Mitglieder der Gruppe machten hektische Gesten, mit denen sie für andere unsichtbare Eingabefelder betätigten.

Die Scouts waren erst vor vergleichsweise kurzer Zeit aus Ortungs- und Erkundungssondenspezialisten zusammengestellt worden. Mans hatte die Aufgabe, das Team als Mittler zwischen den in einer virtuellen Realität versunkenen Sondenpiloten und der Realität vor Ort zu begleiten. Dank seiner cyboranischen Ausbildung und Positronikimplantate vermochte er vergleichsweise nahtlos zwischen den beiden Realitäten hin- und herzuwechseln.

Mans Gefühl verriet ihm sofort, dass etwas ganz und gar nicht stimmte. Noch während er sich setzte, fragte er bereits den Teamstatus ab und nahm die vertraute Präsenz der anderen wahr. Chambers ragte, wie immer, ein wenig aus den Impulsen heraus. Dass sie die Sondenführerin war, ließ sie – wie Mans fand – die anderen Teammitglieder ein wenig zu offensiv spüren.

»Wo bleiben Sie?«, herrschte sie ihn an. »Wir brauchen hier jeden Kopf!«

Mans sparte sich eine Antwort. Für solche zwischenmenschlichen Nebensächlichkeiten hatte er keine Zeit. Stattdessen zog er die relevanten Datenströme an sich und überflog sie.

»Die Sonden haben etwas gefunden«, stellte er fest, mehr an sich selbst als an die Gruppe gewandt.