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Vor fast sieben Jahrzehnten ist der Astronaut Perry Rhodan auf Außerirdische getroffen. Seither hat die Menschheit ihren Einflussbereich ausgedehnt und neue Sonnensysteme besiedelt. Dann aber werden im Jahr 2102 die Erde und der Mond in den fernen Kugelsternhaufen M 3 versetzt. Mit dem Großraumschiff SOL bricht Rhodan auf, um dieses Geschehen rückgängig zu machen, und strandet 10.000 Jahre in der Vergangenheit. Während Perry Rhodan und seine Gefährten dem Grund für diese Zeitversetzung nachspüren, haben die Überschweren in der Heimatgegenwart das Solsystem besetzt. Reginald Bull und die anderen Verantwortlichen der Terranischen Union müssen sich Leticron und seinen Truppen beugen. Im Untergrund versucht eine Widerstandsgruppe, den Kampf gegen die Überschweren aufzunehmen und deren Pläne zu durchkreuzen. Womit die Rebellen jedoch nicht gerechnet haben, ist Leticrons List ...
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Seitenzahl: 214
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Band 264
Leticrons List
Rüdiger Schäfer
Cover
Vorspann
1. Harkon von Bass-Teth
2. Reginald Bull
3. Thomas Rhodan da Zoltral
4. Leticron
5. Harkon von Bass-Teth
6. Reginald Bull
7. Harkon von Bass-Teth
8. Ronald Tekener
9. Harkon von Bass-Teth
10. Leticron
11. Harkon von Bass-Teth
12. Thomas Rhodan da Zoltral
13. Ronald Tekener
14. Reginald Bull
15. Harkon von Bass-Teth
16. Thomas Rhodan da Zoltral
17. Ronald Tekener
18. Thomas Rhodan da Zoltral
19. Reginald Bull
20. Reginald Bull
Impressum
Vor fast sieben Jahrzehnten ist der Astronaut Perry Rhodan auf Außerirdische getroffen. Seither hat die Menschheit ihren Einflussbereich ausgedehnt und neue Sonnensysteme besiedelt.
Dann aber werden im Jahr 2102 die Erde und der Mond in den fernen Kugelsternhaufen M 3 versetzt. Mit dem Großraumschiff SOL bricht Rhodan auf, um dieses Geschehen rückgängig zu machen, und strandet 10.000 Jahre in der Vergangenheit.
Während Perry Rhodan und seine Gefährten dem Grund für diese Zeitversetzung nachspüren, haben die Überschweren in der Heimatgegenwart das Solsystem besetzt. Reginald Bull und die anderen Verantwortlichen der Terranischen Union müssen sich Leticron und seinen Truppen beugen.
Im Untergrund versucht eine Widerstandsgruppe, den Kampf gegen die Überschweren aufzunehmen und deren Pläne zu durchkreuzen. Womit die Rebellen jedoch nicht gerechnet haben, ist Leticrons List ...
1.
Harkon von Bass-Teth
Sie kamen zu viert, und ihre wuchtigen Körper, die in schwarzen Rüstungen steckten, waren so breit, dass sie mehrere der Raumteiler anrempelten und teilweise umwarfen. Die Menschen in der Registratur zuckten zusammen und beschwerten sich lautstark. Der ein oder andere sprang sogar erschrocken oder wütend aus seinem Sessel, verstummte jedoch sofort, wenn er erkannte, wer die Arbeitsruhe störte.
Harkon von Bass-Teth bemerkte die Überschweren, obwohl er eine Datenbrille trug, die ihn nicht nur optisch, sondern auch akustisch von seiner Umgebung isolierte. Das Quartett der Gon-Mekara ging so brutal und rücksichtslos vor, dass man das Poltern und Krachen wahrscheinlich noch in den umliegenden Abteilungen der Verwaltungsbehörde hören konnte. Außerdem hatte der Akone in den vergangenen drei Monaten eine Art sechsten Sinn entwickelt. Bei dem Risiko, das er trotz aller Kompetenz in Sachen Positroniken und Kommunikationstechnik einging, hatte er mit einer Entdeckung rechnen müssen. Nun war dieser Fall offenbar eingetreten.
Er warf die Brille achtlos auf die Konsole vor ihm, duckte sich und verließ schnell den Raum. Keiner der in unmittelbarer Nähe sitzenden Kollegen bemerkte seine Flucht; wie die meisten anderen waren sie in ihren Holos versunken und bearbeiteten die permanent einlaufenden Datenströme der Meldepositroniken. Es war eine nicht allzu anspruchsvolle Tätigkeit, aber sie erforderte einiges an Konzentration. Normalerweise wurde diese Aufgabe ebenfalls von Positroniken erledigt. Doch die Überschweren hatten bereits vor Wochen damit begonnen, die entsprechenden Systeme abzubauen und anderweitig einzusetzen, weshalb man gezwungen gewesen war, wieder auf Personal umzustellen.
Ich muss erst mal raus aus dem Gebäude, dachte der Akone. Aber wenn sie hier auftauchen, kennen sie meine Identität. Also wissen sie mit hoher Wahrscheinlichkeit auch, wo mein Gleiter steht.
Eine Flucht über das Parkdeck kam daher nicht infrage. Das Hauptportal konnte er ebenfalls vergessen. Zweifellos hatten die Gon-Mekara die Behörde vor dem finalen Zugriff abgeriegelt. Er wusste inzwischen sehr gut, wie das lief: Verhaftungen gehörten in Bradbury Central, der Hauptstadt des Mars, fast schon zum Alltag.
Verlier nicht die Nerven, ermahnte sich Harkon. Du hast das hundertfach geübt. Auch wenn es diesmal der Ernstfall ist, machst du einfach alles genauso, wie du es einstudiert hast!
Aber das war leichter gedacht als getan. Seit er vor exakt 97 Tagen – über die Dauer seines unfreiwilligen Exils führte er mental akribisch Buch – aus unbekannten Gründen aus seiner 34.000 Lichtjahre entfernten Heimat ins Solsystem der Menschen versetzt worden war, hatte sich nicht viel verändert. Er war immer noch kein Held, nicht mal einer wider Willen, immer noch kein Abenteurer, der im Angesicht der Gefahr Nerven aus Stahl bewies, und schon gar kein Kämpfer, der alle möglichen Tricks und Kniffe kannte und sich im Fall der Fälle zu wehren wusste.
Ich bin Harkon von Bass-Teth. Wartungstechniker der Klasse zwei für Energieerzeuger und positronische Verteilernetze. Man hat mir mein wunderbar normales und eintöniges Leben gestohlen, und ich habe nach wie vor nicht den Hauch einer Ahnung, wie ich es wieder zurückbekomme ...
Statt des Expresslifts nahm er die Nottreppe und eilte die Stufen hinunter. Schnell, aber nicht überhastet, obwohl ihm das schwerfiel. Er war bei den Übungen jedoch zweimal mit dem Knöchel umgeknickt, wodurch er eingesehen hatte, dass Hektik und Übereifer einer geordneten Flucht alles andere als zuträglich waren.
Immer wieder warf er Blicke über das Treppengeländer in die Tiefe. Jeden Moment konnten dort ein paar Gon-Mekara auftauchen. Wie genau hatten die Überschweren die Konstruktionsholos des Behördengebäudes studiert? Hatten sie wirklich alle möglichen Schlupflöcher gestopft, oder vertrauten sie darauf, dass es sich bei dem Verdächtigen nur um einen gewöhnlichen Datenanalysten handelte, der bei seiner Verhaftung vor Angst schlottern und sich ganz sicher nicht widersetzen oder gar davonlaufen würde?
Als er die unterste der drei Kelleretagen erreichte, schien es ihm, als seien Stunden vergangen. Ein Blick auf sein Multifunktionsarmband verriet ihm aber, dass er weniger als zwei Minuten gebraucht hatte. Das deckte sich mit der Zeitnahme bei seinen Übungsläufen.
Die Tür zum Gebäudetechnikbereich war elektronisch gesichert. Den entsprechenden Öffnungscode hatte er sich schon vor Wochen besorgt und auf seinem Ausweischip gespeichert. Die Terraner, oder Menschen, wie sie sich oft nannten, waren in vielerlei Dingen nicht besonders weit fortgeschritten. Auf Drorah war Harkons individuelle Zellkernstrahlung überall gespeichert, wo er Zugangsberechtigung hatte. Irgendwelche Chips oder ID-Karten als Einlasskontrollen kannte man auf seiner Heimatwelt schon lange nicht mehr.
Ein schmaler Gang mündete in einen Verteiler. Von diesem zweigten weitere Korridore in verschiedene Richtungen ab. Inzwischen wussten die Gon-Mekara bestimmt, dass sich ihre Zielperson nicht an dem Ort befand, wo sie es erwartet hatten. Wie lange würde es dauern, bis ihnen jemand sagte, dass Harkon gerade eben noch an seinem Arbeitsplatz gewesen war? Für gewöhnlich hielt man sich von den Riesen der Exemplarischen Instanz fern, aber wenn sie direkt vor einem standen, erzählte man besser alles, was man wusste. Denn die Ordnungsmacht der Überschweren wandte selten subtile Verhörtaktiken an, sondern ging meist eher brachial vor. Wer dabei lediglich ein paar gebrochene Knochen davontrug, durfte sich bereits glücklich schätzen.
Harkon betrat das Areal, in dem die Wartungstechniker, Reinigungskräfte, Positronikkoordinatoren und das weitere Dienstpersonal dafür sorgten, dass ein modernes Gebäude wie die Stadtverwaltung und die darin verbauten Anlagen reibungslos funktionierten. Rechts ging es zur Werkstatt, in der unter anderem Servoroboter gewartet und repariert wurden. Links gelangte man zu den Lagern und in die Großküche. Die Behörde bot für jeden Mitarbeiter zwei kostenlose Mahlzeiten am Tag an, was bei rund 2500 Angestellten einen nicht unerheblichen logistischen Aufwand darstellte.
Der Akone eilte geradeaus weiter. Er hatte Glück; außer ihm war im Moment niemand im Flur unterwegs. Auf dem Mars war es später Nachmittag. Viele Menschen beendeten gerade ihre Arbeit und machten sich auf den Weg nach Hause. Sofern es Harkon gelang, das Gebäude zu verlassen, würde ihm der entsprechende Verkehr helfen.
Der Korridor beschrieb eine scharfe Biegung nach rechts und endete vor einer Stahltür, die der Akone ignorierte. Sie führte zu einer kleinen Maschinenhalle, in der die Stromerzeuger untergebracht waren, und stammte noch aus der Frühzeit der Besiedlung des Planeten. Die Terraner lebten noch keine siebzig Jahre auf dem Mars, und zu Beginn der Kolonisation hatte keine zentrale Energieversorgung existiert, stattdessen war jedes Gebäude mit eigenen Meilern ausgestattet gewesen. Die meisten davon wurden aus Kostengründen nach wie vor genutzt.
Harkon ging in die Knie und löste die Magnetklammern einer breiten Klappe in der Wand. Die freigelegte Öffnung ermöglichte den Zugang in einen Wartungstunnel. Bevor er hineinkroch, sah er sich noch einmal hastig um. Es war niemand in der Nähe, der ihn beobachtete – und Überwachungskameras gab es in diesem Tiefgeschoss nicht. Dazu war der Bereich nicht wichtig genug.
Auf Händen und Knien schob er sich schließlich durch eine etwa einen Meter durchmessende Röhre, die aus miteinander verklebten Metallplastelementen bestand. Schweiß rann ihm von der Stirn. Sein Hemd klebte unangenehm auf dem Rücken. Seine Jacke hatte er in der Eile an seinem Arbeitsplatz vergessen.
Damit bin ich also ein gesuchter Krimineller, ärgerte er sich. Das dürfte es noch schwerer machen, einen Weg zurück ins Blaue System zu finden ...
Der Gedanke an die verlorene Heimat verursachte einen ziehenden Schmerz in Harkons Brust. Das Gesicht von Coyela von Segestrin erschien vor seinem inneren Auge. Er hatte die Mitarbeiterin des lokalen Registrierungsbüros seiner Stadtteilverwaltung erst vor Kurzem kennengelernt ... in einem anderen Leben. Einem Leben, das man ihm aus unbekannten Gründen gestohlen hatte. Ob Coyela ihn wohl vermisste? Dass er verschwunden war, hatte man garantiert irgendwann bemerkt. Auch wenn er keine eigene Familie hatte, würde zumindest sein Vorgesetzter im Technikkorps Kasal-2 die Abwesenheit eines seiner Mitarbeiter feststellen und Meldung erstatten. Man würde nach ihm suchen und ihn natürlich nicht finden.
Irgendwann wird man mich zu den Opfern des Transfers zählen und für tot erklären, dachte er. Was würde seine Mutter dazu sagen? Oder seine Schwester Iruna? Er hatte wenig Kontakt zu ihnen, doch sie sahen sich hin und wieder und pflegten ein allgemein freundschaftliches Verhältnis.
Harkon erreichte das Ende des Wartungsschachts und löste ein paar weitere Magnetklammern. Vorsichtig streckte er den Kopf aus der Öffnung und sondierte die Lage. Er war allein. Nur ein kleiner Servoroboter in Bereitschaft rollte träge über den Boden des schnurgeraden Korridors und beachtete ihn nicht. Seine Sensoren waren wahrscheinlich auf Verschmutzungen oder technische Defekte geeicht.
In den zurückliegenden Monaten hatte Harkon eine Menge Informationen gesammelt; davon auch solche, die eher nicht für die breite Öffentlichkeit bestimmt waren. Die Terraner hatten in ihrer noch jungen Geschichte bereits einiges hinter sich. Die Überschweren waren nicht die ersten Fremden, die das Solsystem überfallen und die Macht an sich gerissen hatten. Wenn sich Harkon die Historie der Menschheit in den vergangenen siebzig Jahren vor Augen führte, wurde ihm erst richtig bewusst, was sein eigenes Volk an dem blauen Energieschirm hatte, der das Akonsystem isolierte. Allein der Gedanke, dass dieser Schutz infolge des Transfers von Erde und Mond vorübergehend verschwunden gewesen war, verursachte ihm jedes Mal körperliche Übelkeit.
Nachrichten aus dem Blauen System waren rar. Zwar bestand eine sporadische Verbindung mittels Kurierschiffen, doch diese war streng geheim, weil die Verantwortlichen der Terranischen Union auf keinen Fall wollten, dass die Gon-Mekara erfuhren, wo die Erde und ihr Trabant abgeblieben waren. Deshalb ging man sehr behutsam vor, und die entsprechenden Informationen waren gut gesichert und mehrfach verschlüsselt. Selbst für einen hochkarätigen Positronikspezialisten wie Harkon war es alles andere als leicht gewesen, die entsprechenden Datenspeicher anzuzapfen – noch dazu so, dass es niemand bemerkt hatte. Zumindest bisher.
Der Korridor führte ein paar Dutzend Meter weit zu einer Rampe, an die sich rechts und links Parkmulden für die Privatgleiter der höheren Verwaltungsbeamten und wichtigen Besucher angliederten. Das Asaph Hall Building, jenes Gebäude, in dem der Mars Council sowie mittlerweile zusätzlich der Interimsrat der Terranischen Union tagten, lag nur wenige Hundert Meter entfernt. Von dort kamen immer wieder hochrangige Politiker oder Datenanalysten vorbei, um sich direkt an der Quelle ein Bild über die Lage im Solsystem zu verschaffen.
An einem stählernen Doppelschott, das direkt neben der Schleuse für die Gleiterein- und -ausfahrt lag, benutzte Harkon erneut seine ID-Karte. Der Akone atmete auf, als sich der Durchgang anstandslos öffnete. Die Gon-Mekara hatten das Gebäude offenbar noch immer nicht in den Verschlusszustand versetzt – und wenn das doch noch geschehen sollte, war es nun egal.
Harkon verfiel in einen kräftesparenden Laufschritt. Während der Monate im Exil hatte er auf seine körperliche Kondition geachtet und regelmäßig trainiert. Er atmete deshalb nur geringfügig schneller als üblich, während er den sanft nach oben führenden Gang hinaufrannte. Nach etwa zweihundert Metern gelangte er an ein zweites, diesmal ungesichertes Schott, das ihn über einen kleinen Aufenthaltsraum direkt in die Antoniadi Street führte. Sie fungierte als Zubringer auf den Red Dunes Drive, eine der drei Ringstraßen, welche die City von Bradbury Central umschlossen und zu praktisch jeder Tages- und Nachtzeit überfüllt waren. Lediglich das moderne Verkehrsleitsystem verhinderte, dass ein Dauerchaos herrschte.
Harkon wandte sich nach rechts. Dort führte eine breite Treppe auf eine Art Galerie für Fußgänger. Sie war nur mäßig belebt, denn die meisten Marsianer nutzten die kostenlosen Stadtbusse oder – für weitere Strecken – die Schwebefähren. Das erschien dem Akonen jedoch zu riskant. In einem Bus oder einer Fähre konnte man ihn per positronischer Überwachung schnell identifizieren – trotz des Störsenders in seiner Hosentasche. Er musste die Innenstadt erreichen, wo es so hektisch und unübersichtlich war, dass er mühelos würde untertauchen können.
Erneut musste er sich zwingen, nicht zu rennen. Geh ganz normal! Du bist ein Datenanalyst, der nicht weit von seinem Arbeitsplatz entfernt wohnt und sich auf seine Freizeit freut.
Als er das Ende der Galerie erreichte, blieb er kurz stehen und tat, als genieße er den Ausblick auf das Stadtpanorama. Er sah die Fassade des Holographic Man, des größten Hotels in Bradbury Central. Außerdem die obere Hälfte der Sinking Sand Shopping Mall, die beiden Türme der Hochschule Baikonur und die geschwungenen Bänder der drei Ringstraßen Red Dunes Drive, Galileo Strait und Kepler Avenue, die sich wie die Fäden eines Spinnennetzes um das Zentrum der Metropole spannten.
Vor allem aber spähte er unauffällig in die Richtung, aus der er gekommen war – und hatte augenblicklich das Gefühl, sein Herz setzte zwei Schläge lang aus. Die beiden Überschweren waren wie aus dem Nichts aufgetaucht – und sie schienen ihn direkt anzustarren!
Ruhig bleiben. Ganz ruhig! Sie sind viel zu weit weg, um dich zu erkennen. Dreh dich einfach um und geh weiter – wie ein Bürger, der nichts Ungesetzliches getan und deshalb keinen Grund hat, sich Sorgen zu machen ...
Er hatte plötzlich kein Gefühl mehr in den Händen. Seine Finger fühlten sich unangenehm taub an. Das passierte ihm oft, wenn er aufgeregt war. Aber er wagte es nicht, sie – wie er es sonst tat – kräftig gegen seine Oberschenkel zu schlagen, um die Durchblutung wieder in Gang zu bringen. Er durfte nichts tun, was eventuell auffiel und das Interesse der beiden Gon-Mekara auf ihn lenkte.
Unter Aufbietung all seiner Willenskraft drehte er den Riesen den Rücken zu und setzte seinen Weg fort. Nach den ersten beiden Schritten wurde ihm klar, dass genau das ein gewaltiger Fehler gewesen war.
In seiner aufkommenden Panik hatte er nicht mehr auf die Umgebung geachtet. Andernfalls hätte er bemerkt, dass alle, die sich auf der Galerie aufhielten, stehen geblieben waren und die Überschweren in ihren schwarzen Rüstungen anstarrten. Wenngleich die Invasoren inzwischen mehr oder weniger zum Stadtbild gehörten, waren sie dennoch stets ein imposanter Anblick – und im Moment war Harkon von Bass-Teth der Einzige, den das nicht zu interessieren schien.
»Hey!«, hörte Harkon eine grollende Stimme in seinem Rücken. »Hey, du da! Bleib stehen!«
Das war der Augenblick, in dem die letzte Sicherung im Gehirn des Akonen aus der Fassung sprang und die Instinkte die Herrschaft übernahmen.
2.
Reginald Bull
»Die HENRI BECQUEREL ist vor zwei Stunden im Solsystem eingetroffen und hat Position im Ortungsschatten des Zwergplaneten Makemake im Kuipergürtel bezogen.« Stella Michelsen trank einen Schluck Wasser und sah Reginald Bull dabei über den Rand ihres Glases an. »Angesichts der jüngsten Vorfälle erhalten wir den Bericht aus dem Blauen System über eine Kuriersonde, die noch auf dem Weg ist.«
»Wie lange?«, fragte der Protektor knapp.
»Zwei, höchstens drei Stunden«, antwortete die Administratorin der Terranischen Union. »Die getarnte Sonde nähert sich dem Mars von der sonnenabgewandten Seite und geht in der Arcadia Planitia nieder. Dort wird sie von einem Späherflugroboter abgeholt.«
»Ich hasse diese Verzögerungen.« Bull warf einen missmutigen Blick auf sein eigenes Wasserglas, das er nur zu gern gegen einen Whisky eingetauscht hätte. Allerdings war ihm aufgefallen, dass er in den zurückliegenden Wochen etwas zu oft zur Flasche griff, und auch wenn ihm der Alkohol aufgrund seiner relativen Unsterblichkeit weit weniger zusetzte als den meisten anderen Menschen, wollte er auf keinen Fall Gewohnheiten entwickeln, die intern zu Gerede führen konnten. Ihm reichten schon die Gerüchte, nach denen er und Stella angeblich nicht nur den Schreibtisch, sondern auch das Bett miteinander teilten.
»Die Gon-Mekara sind noch misstrauischer geworden«, sagte die Administratorin. Sie saßen in Bulls Büro zusammen und warteten auf Shalmon Kirte Dabrifa, der bereits seit zehn Minuten überfällig war. »Du weißt ebenso gut wie ich, dass sie zwei der letzten Späher abgefangen haben. Wir konnten ihre Daten zwar gerade noch rechtzeitig löschen, aber die Fragen, die man uns deshalb gestellt hat, waren ziemlich unangenehm.«
»Wem sagst du das?«, gab Bull zurück. »Leticron hat mich quasi durch die Mangel gedreht. Freundlich wie immer – aber unmissverständlich in der Sache. Wenn die uns jemals auf die Schliche kommen ...«
»Ich weiß.« Michelsen seufzte.
Sie war in den vergangenen Monaten oft an seiner Seite gewesen. Deshalb waren sie längst zur vertraulichen Anrede übergegangen. Insofern durfte er sich über die Gerüchte wohl nicht wundern, wenngleich an ihnen nichts dran war. Stella war eine gute Freundin – nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Für einen Moment musste Bull an seine beiden Töchter denken. Während der Ortsversetzung von Terra und Luna hatten sich Laura und Sophie in der Nähe des Monds befunden. Seit gut drei Monaten hielten sie sich nun im Blauen System auf. Immerhin ging es ihnen gut. Sie hatten ihm mit einem der ersten Kuriere eine kurze persönliche Nachricht zukommen lassen, die er fast jeden Abend abspielte. Meistens dann, wenn die Last des Tages für einen Moment von ihm abfiel und die Einsamkeit sich wie ein Sargdeckel über ihm schloss.
Hi, Dad. Wir sind wohlauf und vermissen dich. Der deutsche Schriftsteller Hermann Hesse hat einmal gesagt: »Glück ist Liebe, nichts anderes. Wer lieben kann, ist glücklich.« Aber das stimmt nicht, wenn der, den man liebt, unerreichbar fern ist. Dann ist Liebe die Hölle – und Glück nur ein leeres Wort. Pass auf dich auf. Wir lieben dich! Egal wie lang es dauert ...
Wenn es nach Reginald Bull gegangen wäre, wäre er sofort mit einem der Kurierschiffe nach M 3 geflogen. Seine Töchter in die Arme zu schließen, hätte alles in Ordnung gebracht; das wusste er. Zumindest für ihn.
Aber er war nicht allein. Es ging leider nicht nur um sein Wohl oder Wehe. Es ging um viele Millionen Menschen, für die er die Verantwortung übernommen hatte. Und seit Leticron mit seinen Gon-Mekara wie ein Heuschreckenschwarm über das Solsystem hergefallen war, hatte er diese Verantwortung nicht eine Sekunde lang vernachlässigt.
Er spürte eine fremde Hand auf seiner Rechten. Reflexhaft wollte er sie wegziehen, besann sich jedoch im letzten Moment eines anderen. Stattdessen hob er den Kopf und sah Michelsen direkt in die Augen.
Die kleine Frau mit dem runden Gesicht hatte ein paar Kilo zugelegt, aber sie standen ihr gut. Fett glättet Falten, pflegte sie manchmal scherzhaft zu sagen, wenn sie sich am Mittagsbüfett der Kantine bediente und die von ihr geliebten Sandflöhe auf den Teller lud, frittierte Bällchen aus süßem Brandteig mit Schokoladen- oder Marmeladenfüllung. Sie konnte Unmengen davon verdrücken.
»Es ist hart.« Sie lächelte traurig. »Aber notwendig.«
»Und niemand wird es uns danken, schon klar.« Bull lächelte zurück. Er legte seinerseits die linke Hand auf die der Administratorin. Die Berührung tat gut; ganz ohne Hintergedanken. Er mochte Michelsen sehr, doch die Frau, die er geliebt hatte ... nein, die er nach wie vor über alles liebte, war Autum Legacy. Irgendwann hatte er sich eingestanden, dass er weiterhin mehr Zeit brauchte, um über ihren Tod hinwegzukommen. Danach hatte er sich ein wenig besser gefühlt.
Die Tür zum Büro öffnete sich, und Dabrifa trat ein. Ohne zu klopfen oder sich anderweitig anzukündigen – ein Verhalten, das für den Mann, der sonst so sehr auf Etikette achtete, sehr ungewöhnlich war.
Weder Michelsen noch Bull zuckten von ihrer vertraulichen Geste zurück. Stattdessen drückten sie sich noch einmal die Hände und lösten sie erst dann voneinander. Es gab keinen Grund für Schuldbewusstsein, nichts, für dass sie sich hätten schämen oder rechtfertigen müssen.
»Schön, dass du es noch einrichten konntest«, begrüßte Bull den Präsidenten der Solaren Union.
Auch mit dem ehemaligen Diplomaten und Botschafter Israels bei der TU war er inzwischen zur vertraulichen Anrede übergegangen. Perry Rhodan hatte recht gehabt: Shalmon Kirte Dabrifa war ein zutiefst integrer, kluger und loyaler Mann, der Bulls Ablehnung und Misstrauen nicht verdient hatte. Zwischen ihnen hatte sich längst eine offene und ehrliche Freundschaft entwickelt. Bull hatte sich bei Dabrifa sogar für seine einstige Distanziertheit entschuldigt.
»Tut mir leid!«, stieß Dabrifa hervor. »Aber ich war im Gespräch mit Tivara.«
Bull horchte auf. »Tivara Sina? Die Obfrau von Cybora?«
»Genau die.« Dabrifa ließ sich in den Sessel neben Michelsen fallen und winkte einen scheibenförmigen Roboter heran, der mehr oder weniger als schwebendes Serviertablett diente. »Stilles Wasser«, sagte er. »Zehn Grad Celsius.«
Auf der Oberfläche der Scheibe öffnete sich eine Klappe, und ein gefülltes Glas schob sich hervor. Der Präsident der Solaren Union griff danach, trank es in einem Zug bis zu Hälfte und stellte es dann mit einem Laut des Wohlbehagens auf den Tisch.
»Entschuldigt«, sagte er. »Aber in der Aufregung des Tagesgeschäfts vergisst man manchmal die elementarsten Dinge. Trinken, zum Beispiel.«
Bull nickte. Er kannte das nur zu gut.
»Um auf Cybora zurückzukommen ...«, fuhr Dabrifa fort. »Tivara hat mir berichtet, dass die Gon-Mekara im Spicasystem mit dem Bau einer ziemlich großen Produktionsanlage begonnen haben. Größer als alles, was bislang auf der eigentlichen Kolonie entstanden ist. Diesmal bauen sie zudem auf Makko!«
Währenddessen hatte Michelsen den Holoprojektor von Bulls Schreibtisch aktiviert. Ihre Steuergesten erfolgten knapp und routiniert. Einen Atemzug später schwebte die grüngraue Kugel von Cybora im Raum. Die beiden Sonnen Spica A und Spica B tauchten das ganze Zimmer in einen düsteren, blauen Schein.
»Makko?«, wiederholte Bull konsterniert und richtete den Blick auf eine winzige, silberne Kugel, die den Doppelstern auf einer engen, fast kreisförmigen Bahn umlief. »Dort sind nach dem Verschwinden von NATHAN meines Wissens doch sämtliche Lichter ausgegangen ...«
»Den Überschweren ist es anscheinend gelungen, sie wieder anzuschalten«, erwiderte Dabrifa. »Zumindest teilweise. Auf jeden Fall geht dort aktuell eine Menge vor sich, von dem wir keine Ahnung haben.«
»Wunderbar.« Michelsen seufzte. »Noch ein Problem mehr auf unserer langen, an Problemen nicht gerade armen Liste.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Posbis einfach so kooperieren«, sagte Bull. »Zumindest nicht jene Bakmaátu, die seit vielen Jahren für NATHAN tätig sind.«
»Vielleicht haben Leticrons Leute einen MINSTREL gefunden«, äußerte die TU-Administratorin.
»Möglich«, gab Bull zu. »Aber ohne einen passenden Interpreter nutzt ihnen das nichts.« Die sofort aufkommenden Gedanken an Laura und Sophie schob er schnell beiseite.
»Wie auch immer ...« Dabrifa griff erneut nach seinem Glas. Den dünnen Ring aus Kondenswasser, der sich auf dem Tisch gebildet hatte, ignorierte er. »Spekulationen bringen uns nicht weiter. Die Gon-Mekara haben in den vergangenen drei Monaten Dutzende von Bauvorhaben angestoßen: Orbitalwerften über Phobos und Deimos, Fabriken rund um Bradbury Central und in den Kolonien, Verhüttungsanlagen auf Ganymed und Titan. Ein Großteil der terranischen Ökonomie wird auf Kriegswirtschaft umgestellt. Makko ist nur ein weiteres Teilstück in einem ziemlich hässlichen Puzzle.«
»Das wissen wir«, sagte Bull mürrisch. »Einige Außenposten im Asteroidenring und kleinere Marssiedlungen melden bereits Versorgungsengpässe, weil die Produktionskapazitäten für die Güter des täglichen Bedarfs massiv verringert wurden. Ich werde Leticron noch einmal darauf ansprechen.«
Die Mienen von Michelsen und Dabrifa verrieten deutlich, welche Erfolgschancen sie der Intervention des Protektors einräumten. Reginald Bull spürte, wie Zorn in ihm aufstieg – wieder einmal. Er sprang auf, weil er plötzlich den unbändigen Drang nach Bewegung verspürte.
»Was soll ich sonst machen?«, rief er aufgebracht. »Außer ihm darlegen, dass er seine neuen Sklaven einigermaßen bei Laune halten muss, wenn sie für ihn arbeiten sollen. Das Schlimmste dabei ist nicht mal, dass er das sogar versteht, sondern dass ich nach jedem neuen Bittgang am liebsten vor mir selbst ausspucken würde. Das alles kotzt mich so sehr an, dass ich manchmal ...«
Er brach ab und schüttelte den Kopf. Er wusste, dass er sich besser im Griff haben sollte, aber er war noch nie ein Mann gewesen, der seinen Frust einfach still in sich hineinfraß. Wenn ihn etwas störte, musste er es aussprechen, weil er sonst platzte. Und die Herrschaft der Überschweren störte ihn ganz gewaltig!
»Das geht uns allen so, Reginald«, hörte er Dabrifas sanfte, fast entspannte Stimme.
Bull wusste, dass der SU-Präsident es gut meinte; trotzdem regte ihn dessen scheinbare Ruhe auf. »Ja, aber ich bin derjenige, der seinen Kopf vor die Hololinsen hält! Ich bin der Verkünder, der Gon-Shial, der Mann, der all die kleinen und großen Zumutungen öffentlich macht. Nicht nur die Marsianer würden mich am liebsten teeren, federn und aus Bradbury Central treiben ...«
Als er die verwirrten Mienen der beiden anderen bemerkte, musste er trotz seines Zorns grinsen. »Ich vergaß: Dafür seid ihr zu jung.« Er winkte ab. »Früher, in einer Epoche, die man den Wilden Westen nannte, wurden unliebsame Zeitgenossen mit Teer übergossen, mit Federn überschüttet und dann aus der Stadt gejagt. Eine ziemlich drastische Form des politischen Misstrauensvotums ...«
»Ich glaube, wir alle sollten derzeit nicht auf unsere Umfragewerte schauen«, sagte Dabrifa. »Unsere Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass kein Unionsbürger zu Schaden kommt. Das war schon immer so, auch wenn sich das im Moment schwieriger gestaltet als früher.«
»Du bist wie stets ein Meister der Euphemismen.« Bull fixierte sein Wasserglas, als könne er es mit schierer Geisteskraft in Whisky verwandeln. »Also gut: Gibt es einen Weg, um herauszufinden, was auf Makko vor sich geht?«
Mit einem Fingerschnippen vergrößerte Michelsen die Holodarstellung des von den Posbis errichteten Kunstplaneten. Die hundertfünfzig Kilometer durchmessende Kugel als Planeten zu bezeichnen, entsprach sicher nicht den allgemeinen astrophysikalischen Konventionen, doch da das Gebilde komplett den positronisch-biologischen Robotern unter NATHANS Führung gebaut worden war, hatte man sich darum nicht geschert.