Peter Weiss - Werner Schmidt - E-Book

Peter Weiss E-Book

Werner Schmidt

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Beschreibung

Die Triebkraft seiner künstlerischen Arbeit bilde, so Peter Weiss, das »In-Gegensätzen-Denken«. 1916 im heutigen Babelsberg geboren, 1937 mehrere Monate als »Schüler« Hermann Hesses in Montagnola arbeitend, schließlich vor den Nationalsozialisten nach Schweden fliehend (Auschwitz bezeichnete er als »meine Ortschaft«), als Filmemacher scheiternd, zunächst das Schwedische als Literatursprache benutzend, dann ins Deutsche wechselnd, als Prosaautor (Der Schatten des Körpers des Kutschers) Vorbild vieler Autoren, als Dramatiker Erfinder des »dokumentarischen Theater« (Die Ermittlung), sich durch die Kritik am Kapitalismus der BRD wie dem Sozialismus der DDR aufreibend, von der »Zweifel-Krankheit« befallen, trotzdem die monumentale Ästhetik des Widerstands in Romanform ausbreitend: »Was bleibt, ist der Autor eines Jahrhundertwerks, einer andern Suche nach der verlorenen Zeit.«

Der in Schweden lehrende Historiker Werner Schmidt wirft einen Blick von außen auf Leben und Werk von Peter Weiss, indem er die Privatperson wie den öffentlich Agierenden in den zeitgenössischen Kontext einordnet. Damit dringt er in die Kernbereiche, die Antriebskräfte, vor, da er die Hintergründe in Schweden und in Deutschland heranzieht, sich auf Zeitzeugen stützen kann, ihm unbekanntes Material zur Verfügung steht.

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Die Triebkraft seiner künstlerischen Arbeit bilde, so Peter Weiss, das »In-Gegensätzen-Denken«. 1916 im heutigen Babelsberg geboren, 1937 mehrere Monate als »Schüler« Hermann Hesses in Montagnola arbeitend, schließlich vor den Nationalsozialisten nach Schweden fliehend (Auschwitz bezeichnete er als »meine Ortschaft«), als Filmemacher scheiternd, zunächst das Schwedische als Literatursprache benutzend, dann ins Deutsche wechselnd, als Prosaautor (Der Schatten des Körpers des Kutschers) Vorbild vieler Autoren, als Dramatiker Erfinder des »dokumentarischen Theaters« (Die Ermittlung), sich durch die Kritik am Kapitalismus der BRD wie am Sozialismus der DDR aufreibend, von der »Zweifel-Krankheit« befallen, trotzdem die monumentale Ästhetik des Widerstands in Romanform ausbreitend: »Was bleibt, ist der Autor eines Jahrhundertwerks, einer andern Suche nach der verlorenen Zeit.«

Der in Schweden lehrende Historiker Werner Schmidt wirft einen Blick von außen auf Leben und Werk von Peter Weiss, indem er die Privatperson wie den öffentlich Agierenden in den zeitgenössischen schwedischen wie deutschen (im Spannungsfeld von BRD und DDR) Kontext einordnet. Damit kann er erstmals ein vollständiges Bild des Intellektuellen Peter Weiss entwerfen, da er sich auf Zeugnisse aus beiden Gesellschaften und Kulturen stützt und ihm unbekanntes Material zur Verfügung steht.

Werner Schmidt, geboren 1944, ist emeritierter Professor für Neuere Geschichte in Stockholm mit den Arbeitsschwerpunkten Intellektuelle und Arbeiterbewegung sowie Geschichtstheorie.

Werner Schmidt

Peter Weiss

Leben eines kritischen Intellektuellen

Suhrkamp

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2016

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2016.

© Suhrkamp Verlag Berlin 2016

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

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Umschlaggestaltung: Hermann Michels und Regina Göllner

Umschlagfoto: Arno Fischer

eISBN 978-3-518-74802-2

www.suhrkamp.de

Gewidmet

den beiden kritischen Intellektuellen

Wolfgang F. Haug

und

Jürgen Schutte

In memoriam

Gisela

die viel zu früh gehen musste

Die Spuren, die die Zeit in seinem Leben hinterlassen hat, haben jene Spuren produziert, die Weiss in seiner Zeit hinterlassen hat. Er hat die Deformationen seines Lebens durch die Zeitläufe nicht einfach hingenommen, hat sich den Zeitläufen zunehmend widersetzt, hat Widerstand geleistet, mit seinem Denken und mit seinem Werk. So sind dieses Denken und dieses Werk – und dieses Leben – verwoben mit der Geschichte der ganzen Epoche.

Robert Cohen (1992)

ohne aufgefordert zu sein, nehme ich heftig das wort und spreche über die ÄSTHETIKDES WIDERSTANDS von peter weiss, ein satz, den ich also – wie mir im traum einfällt – im schlaf weiß: WENN WIR UNS NICHT SELBST BEFREIEN, BLEIBT ES FÜR UNS OHNE FOLGEN. ich bin mir nicht sicher, ob ich diese leute verletzen will oder erfreuen, aber ich fühle deutlich die wollust, offen, alle politische scheu abstreifend zu reden. niemand erwidert mir, niemand stimmt mir zu, man sieht peinlich auf den abschüssigen tisch.

Volker Braun (1981)

Was bleibt, ist der Autor eines Jahrhundertwerks, einer andern Suche nach der verlorenen Zeit. Es wird vielleicht, im leeren Raum unsrer vergänglichen Gegenwart, die glaubt, ohne Zukunft auskommen zu können, Leser und Zuschauer verlieren, weil es nach einer Zukunft greift, deren nächste Erscheinung noch keine Gestalt hat, aber es gibt kein Leben in der Ewigkeit des Augenblicks.

Heiner Müller (1991)

Inhalt

Einleitung

1. Untergang oder Übergang?

2. »Es gibt noch eine andere Welt«

3. Eine kohärente Haltung – imprägniert mit Zweifel

4. »Ich will für diesen Tag schreiben und für die Veränderung dieses Tages«

5. Vietnam!

6. Neunzehnhundertachtundsechzig

7. Persona non grata

8. Selbsttherapie für einen Neuanfang

9. Retrospektive, um dem jetzigen Ich näherzukommen

10. Ästhetik eines Widerstands für Zeiten des Dennoch

Peter Weiss – Leben und Werk

Quellen- und Literaturverzeichnis

Einleitung

Was unterscheidet eine Biografie, d.h. die Lebensbeschreibung einer Person, von dem konkreten Leben, das sie beschreibt? Vom dänischen Philosophen Sören Kierkegaard stammt die Einsicht, dass der Mensch sein Leben rückwärts versteht, es aber vorwärts lebt. Das zu lebende Leben ist ein sich ständig entwickelndes, offenes Projekt, ein Zukunftsprojekt, das immer die Ergebnisse der Vergangenheit und deren Deutung zur Voraussetzung hat. Es muss immer wieder im konkreten Jetzt für ein mögliches, aber ziemlich unsicheres Morgen entworfen werden, dessen Rahmen von äußeren, meist nicht zu beeinflussenden und manchmal noch unbekannten Faktoren bestimmt wird.

Die Biografie über solch ein wirklich gelebtes Leben ist ein völlig andersartiges Projekt. Sie ist eine Konstruktion im Nachhinein: Mit einem ungefähren Fazit blickt der Verfasser auf dieses Leben oder – besser – auf ausgewählte Aspekte und Phasen des Lebens zurück, um es vom Anfang oder von einem bestimmten Zeitpunkt an wieder aufzurollen. Die Biografie schafft sich so ihr eigenes Objekt mit einer eigenen Zeit. Bestimmend bei dieser Auswahl ist das Erkenntnisinteresse des Autors.

Wer ist der Peter Weiss der Biografie? Er ist zuallererst eine Künstlerpersönlichkeit. Er malte, schrieb, machte Filme. Einem größeren Publikum wurde er Anfang der 1960er-Jahre als deutschsprachiger Schriftsteller bekannt. Er versuchte mit seinem Schreiben zuerst sein eigenes Ich, dann auch seinen Platz in der ihn umgebenden Gesellschaft zu finden. Sein internationaler Durchbruch gelang ihm als ein Schriftsteller, der sich mit seinem Schreiben einmischen, die gesellschaftlichen Verhältnisse beeinflussen wollte. Dieser eingreifende Schriftsteller ist die eine Seite des Objekts der Biografie. Die andere Seite betrachtet den Citoyen Peter Weiss, der sich mit der durch das Schreiben erworbenen Autorität in die gesellschaftlichen Konflikte seiner Zeit einmischte. Er wurde zu einem Intellektuellen im Sinne Bourdieus. Aber im Unterschied zu dessen Definition des Intellektuellen konnte und wollte Weiss die beiden Rollen nicht klar auseinanderhalten: Schriftsteller hier, Intellektueller da. Sie beeinflussten einander, konnten einander befruchten. Da aber diese beiden Tätigkeiten verschiedenen Logiken folgen, führten sie manchmal zu schmerzvollen inneren Spannungen, die er jedoch letztendlich für sein Schreiben produktiv machen konnte.

Diese Biografie handelt von der Formierung und Entwicklung des eingreifenden Schriftstellers und Intellektuellen Peter Weiss, von dem widerspruchsvollen Verhältnis zwischen diesen beiden Rollen und von ihren Auswirkungen auf seine Person. Dies kann dazu führen, dass gewisse Aspekte oder Phasen seines Lebens oder Dimensionen seiner Person, die Autoren mit einem anderen Erkenntnisinteresse wichtig erscheinen mögen, in dieser Biografie nicht beachtet oder nur gestreift werden. So wird zum Beispiel auf sein Privatleben nur insoweit eingegangen, wie es für die Befriedigung des geschilderten Erkenntnisinteresses von Belang ist. Letzteres gilt besonders für die Lebenssituation um 1959/60. Damals durchlebte Peter Weiss eine sowohl künstlerische als auch private Krise, der eine Art katalysatorische Funktion für die hier untersuchte Entwicklung zukam. Die Biografie nimmt deshalb gerade dort ihren Ausgang.

1. Untergang oder Übergang?

Im zweiten Halbjahr 1960 arbeitete Peter Weiss in Kopenhagen an dem sozialkritischen Dokumentarfilm Hinter den Fassaden (Bag de ens facader), der sich mit den Wohnverhältnissen in den Vorstädten der dänischen Hauptstadt beschäftigte. Während dieser Monate schrieb er ein Tagebuch, das 2007 unter dem Titel Das Kopenhagener Journal erschien. Es dokumentiert eine künstlerische und existenzielle Krise. Zwischen Frühjahr 1959 und Spätherbst 1960 durchlebte Weiss eine Periode tiefgreifender Veränderungen, die sowohl sein Privatleben als auch sein Selbstverständnis als Künstler betrafen. Seine Eltern waren kurz hintereinander gestorben: die Mutter im Dezember 1958 und der Vater im März 1959. Auch wenn sein Verhältnis zu ihnen, besonders zur dominanten Mutter, oft angestrengt war, traf ihn der Verlust der Eltern dennoch hart. Im März 1959 zerbrach auch die Beziehung zu der Bühnenbildnerin und Keramikern Gunilla Palmstierna, mit der er seit 1952 zusammengelebt hatte. Das Paar fand zwar Ende 1959 wieder zueinander, die Beziehung stand jedoch eine Zeitlang auf zerbrechlichem Grund.

Neben den privaten Erschütterungen ergab sich fast zeitgleich ein entscheidender Wandel im Modus operandi des Künstlers. Gunilla Palmstierna-Weiss berichtete in der Rückschau, Weiss habe 1959 »alles aufgeben« wollen, »als das mit Filme machen, Artikel schreiben, Malerei, auf Schwedisch schreiben – als all das nicht mehr ging«.1 Alle seine bisherigen künstlerischen Versuche schienen sinnlos geworden zu sein. Genau zu diesem Zeitpunkt wurde sein schon 1952 geschriebener »Mikroroman« Der Schatten des Körpers des Kutschers von Walter Höllerer an den Suhrkamp Verlag vermittelt. Als er 1960 erschien, nahm ihn die westdeutsche Kritik begeistert auf. Nach jahrelangen erfolglosen Versuchen war es Peter Weiss endlich gelungen, in seiner Muttersprache zu publizieren. Er hatte einen Verlag gefunden, der ihn zu fördern versprach, und ein Publikum, mit dem er kommunizieren konnte.

Obwohl dies die Erfüllung eines Traums bedeutete, mischten sich Zweifel in das Glücksgefühl. Für Weiss war die künstlerische Arbeit immer mehr als nur das Hervorbringen von Bildern, Filmen oder Texten. Sie war zur tragenden Säule seiner (Über-)Lebensstrategie geworden. Die äußeren Voraussetzungen veränderten sich nun grundlegend. Als der Verleger Siegfried Unseld ihn in den Kreis von Autoren um Uwe Johnson, Hans Magnus Enzensberger, Max Frisch und Martin Walser aufnahm, hörte Weiss auf, ein »freier« Schriftsteller zu sein. Als Verlagsautor wurde er Teil einer Verkaufsstrategie mit bestimmten Verpflichtungen. Von ihm wurde erwartet, sich für die Vermarktung seiner Produktion einzusetzen und ständig neue Produkte zu liefern. Dieser Produktionsdruck blockierte ihn.

Weiss stand an einem Scheideweg: Er konnte fortfahren, Kunst als Medium seines eigenen Selbsterkennungsprozesses zu begreifen – und damit Kunst für die Schublade zu produzieren –, oder sich den vom Verlag an ihn herangetragenen Erfordernissen des Marktes beugen – und damit Gefahr laufen, »von der kommerzialisierten Welt verschluckt« zu werden.2 Diese Alternative schien ihm, trotz aller Bedenken, eine Perspektive für seine künstlerische Entwicklung zu bieten. Das Zusammentreffen von künstlerischem Dilemma und unsicherer privater Situation griff jedoch seine psychische Verfassung an. Die schleichende Depression gipfelte in dem Gefühl, dass »schon alles bald zuende sei«.3 Am 6. November 1960 hielt er in seinem Tagebuch fest: »Ich befinde mich in einem Übergang oder einem Untergang.«4

»Ich muss mich neu erschaffen«

Die Krise führte schließlich zu einem Übergangsstadium, das jedoch prekär bleiben musste, solange es ihm nicht gelingen würde, im Einklang mit sich selbst zu leben. Wer war dieses Selbst? Die Lebenskrise, die er gerade durchmachte, beruhte unter anderem darauf, dass er keinen festen, gesicherten Punkt hatte, von dem er hätte ausgehen können. »Es ist mir immer noch nicht geglückt«, notiert er am 29. Oktober 1960, »eine Lebensauffassung auf Grund meiner Erfahrungen aufzubauen.«5 Seine lange und intensive Beschäftigung mit der Psychoanalyse hatte ihn zur Einsicht gebracht, es sei notwendig, die eigenen biografisch-historischen Erfahrungen, die das Gefühl des »Fremdseins« und der »Unzugehörigkeit« in seinen Körper eingeschrieben hatten, von einer neuen Perspektive aus zu betrachten. Allein in der bewussten, analytischen Aufarbeitung der Vergangenheit lag die Möglichkeit, sich von ihr zu emanzipieren. Diese Einsicht war die Basis für die Dialektik von Vergangenheit, Jetztzeit und Zukunft, die er in den beiden Werken praktizierte, die zu dieser Zeit entstanden: Abschied von den Eltern und Fluchtpunkt.

Eine solche Dialektik hatte er schon im Roman Situationen (Die Situation) ausprobiert, den er, nach seinen vergeblichen Bemühungen im Jahr 1956, einen deutschen Verlag für Der Schatten des Körpers des Kutschers zu finden, Ende 1956 auf Schwedisch geschrieben hatte. Es war sein letzter Versuch, sich an das schwedische kulturelle Leben zu assimilieren. Der Kalte Krieg war durch die sowjetische Niederschlagung des Ungarn-Aufstands und durch das militärische Eingreifen Englands und Frankreichs zur Verhinderung der Nationalisierung des Suez-Kanals in eine heiße Phase übergegangen. Über allem schwebte die Gefahr einer atomaren Apokalypse. Von dieser rauen Wirklichkeit blieb auch die vermeintliche schwedische Idylle nicht mehr unberührt. Vor diesem Hintergrund behandelt der Roman Fragen der Politik und der Gesellschaft, des künstlerischen Engagements und verschiedener Formen des Zusammenlebens. Hier zeigen sich schon Andeutungen von Themen, die später in ausgearbeiteten Formen kennzeichnend für das literarische, dramatische und dokumentarische Werk von Peter Weiss werden sollten. Hervorzuheben ist hier besonders seine Methode, die autobiografischen Erfahrungen zu objektivieren, indem er sie zerlegt und verschiedenen Figuren mitteilt. Er habe, schreibt er im Roman, »ein Selbstportrait in chinesischen Schachteln geschaffen«, Figuren »mit merkwürdigem Anspruch auf ein eigenes Dasein«.6

»Nein, das deckt nichts ab«, klagt eine der Figuren heftig. »Was ich geschrieben habe, war von Selbstfeindlichkeit diktiert, von Selbstvorwürfen. Ich versuche es mit einer neuen Version.«7 Zu diesem Zweck muss sie über ihr Verhältnis zur Psychoanalyse nachdenken. Peter Weiss hatte sich zweimal einer psychoanalytischen Behandlung unterzogen. Zum ersten Mal 1941 im südwestschwedischen Alingsås und dann zwischen 1950 und 1952 bei dem Freud-Schüler Lajos Székely in Stockholm. Während dieser Zeit der Analysen, resümiert die Romanfigur, »war ich mit einem immerwährenden Mahlen und Wiederkäuen der Konflikte der Kindheit beschäftigt«. Das war zwar »notwendig und wesentlich«, aber dadurch ließ sie auch die Vergangenheit nie richtig los. Sie musste sich von der »neuen Vaterinstanz«, dem Analytiker, lösen. Durch das Sprengen des solipsistischen Teufelskreises und dadurch, dass sie sich »in höherem Grade« nach außen wendet, »wirkte es, als hätten die Wunden sich geschlossen«. Sie waren noch da, und nur die Haltung zu ihnen hatte sich verändert, aber das Entscheidende war: »[…] jetzt kann ich mich auf eine andere Weise sehen.«8

Der Existenzialismus wird zum neuen Leitstern in seinem Befreiungsversuch, jedoch ohne dabei die psychoanalytische Lehre zu vergessen, wonach das, was wir Wirklichkeit nennen, nicht auf das reduziert werden darf, was in der äußeren Welt geschieht; unsere innere Welt, unsere Gefühle und unser Denken, sind auch wesentliche Momente dessen, was wir als Wirklichkeit bezeichnen. Es besteht ein dialektisches Verhältnis zwischen innerer und äußerer Wirklichkeit und zwischen ihren beiderseitigen Veränderungsprozessen.

In Die Situation geht Weiss das Problem an, sich »neu zu erschaffen«. Die Bestimmungen, die ihm von außen auferlegt wurden, dürfen ihn nicht definieren, »es kommt nur auf den Weg an, den ich selbst gewählt habe«, nur »das, was ich selbst zustande gebracht habe, zählt«.9 Er lässt sich nicht von der individualistischen Form des Existenzialismus leiten, sondern von der Variante, die auf Jean-Paul Sartre zurückgeht und die betont, dass die Verantwortung des Einzelnen für seine eigene Individualität notwendigerweise auch eine Verantwortung für andere Menschen mit einschließt. Nach Sartre wählt der Mensch für sich selbst und für alle Menschen zugleich. Das individuelle Sein ist gleichzeitig »ein Werden für andere«; da es eine einzige gemeinsame menschliche Welt gibt, muss es auch ein Engagement für andere geben.

In Übereinstimmung mit dieser Variante des Existenzialismus enthält Weiss’ Versuch der Neuerschaffung auch das Aneignen eines »Zeitbewusstseins« und »einer spontanen Solidarität mit den Unterdrückten und Terrorisierten der Welt«. Dies soll ihm zu einer breiteren Perspektive bei der eigenen »Schürfarbeit« verhelfen.10 Weiss hatte zwar noch keine Perspektive für sich gefunden, »die zu einer Lösung führen kann«, doch war er überzeugt, »nach dieser Reise«, die er in Die Situation beschreibt, »auf eine neue Weise« schreiben zu können.11

Während der folgenden Jahre, bis 1960, stand Peter Weiss jedoch vor der Frage, ob er überhaupt eine Zukunft als Autor haben würde. Das schwedische Romanmanuskript hatte er fast allen Verlagen angeboten, ohne Erfolg. Erst im Jahr 2000 wurde der Roman in deutscher Übersetzung, ein Jahr später im schwedischen Original veröffentlicht.

Mit der Erzählung Abschied von den Eltern (1961) und dem Roman Fluchtpunkt (1962) beendete Weiss die psychodramatische Aufarbeitung seiner eigenen Biografie. Im Anschluss an die damalige Kritik ist es üblich geworden, eine scharfe Grenze zwischen dieser subjektivistischen Schaffensperiode und den folgenden politischen Stücken Marat/Sade und Die Ermittlung zu ziehen. Weiss selbst ist nicht schuldlos an dieser Grenzziehung, wenn er zum Beispiel Brechts abfälligen Begriff »Seelenkäse« benutzt, um die gerade abgeschlossene Periode zu charakterisieren. Nur von einem Bruch zu sprechen, wäre jedoch nicht korrekt. Man kann deutliche Kontinuitätslinien zwischen beiden Perioden in dem Sinn erkennen, dass Problematiken der früheren Periode in den späteren Werken wieder aufgenommen und aufgehoben werden.

Weiss selbst betonte 1966, die beiden »autobiografischen Romane« Abschied und Fluchtpunkt stünden »fremd neben dem, was mich heute interessiert, aber es ist auch wahr, dass ich ohne sie niemals Die Ermittlung etwa hätte schreiben können«;12 erst sie machten es ihm möglich, »zu einer Theaterform zu kommen, die die Wirklichkeit stärker einfing«.13 Als Weiss im November 1960 letzte Änderungen an Abschied von den Eltern vornahm, notierte er im Kopenhagener Journal:

Diese Kindheit, diese Beziehung zu den Eltern erweist sich, nach jedem erneuten Versuch der Gestaltung, als etwas Unbestimmbares, Wandelbares. Die Kindheit ist nicht mehr vorhanden. Die Eltern sind tot. Gegenwärtig ist nur ein späteres Ich, das etwas über diese Vergangenheit aussagen will. Die Aussagen über diese Vergangenheit waren bestimmt von der jeweiligen gegenwärtigen Lage.14

In Abschied und Fluchtpunkt wird das biografische Grundmaterial reflektiert und mit selbstkritischer Distanz und einem Bewusstsein bearbeitet, das durch spätere Erfahrungen geformt und während des Schreibprozesses weiter verändert wurde. Die Beschäftigung mit den beiden Texten war eine notwendige und wichtige Etappe auf der Suche nach einer tragfähigen künstlerischen und persönlichen Haltung.

Unzugehörig und fremdbestimmt

Die ersten drei Jahrzehnte von Peter Weiss’ Leben (1916-1946) fielen in die dunkelste und brutalste Periode der Geschichte des modernen Europas. Die erste historische Tatsache im Leben des jungen Peter Ulrich Weiss war der Erste Weltkrieg und die damit verbundenen politischen und gesellschaftlichen Erschütterungen. Die subjektive Bearbeitung dieses äußeren Geschehens resultierte in einem tief empfundenen Gefühl der Unzugehörigkeit. In Fluchtpunkt erzählt er:

Mein Vater stammte aus einem ungarischen Dorf. Seine Eltern, die dort einen Getreidehandel betrieben hatten, waren gläubige Juden gewesen, er selbst war jedoch, als er in jungen Jahren nach Wien zog, zum Christentum übergegangen. Die Eltern meiner Mutter stammten aus Straßburg und Basel […]. Während des Weltkriegs hatte mein Vater in der österreichisch-ungarischen Armee Dienst zu leisten. Er war von einem russischen Maschinengewehr verwundet und dafür mit einem Orden und dem Leutnantsrang belohnt worden. Er war stolz auf diese Auszeichnungen und erwähnte sie bei feierlichen Gelegenheiten. Die ersten Jahre meines Lebens verbrachte ich in der galizischen Etappe, in die mein Vater versetzt worden war […]. Nach dem Krieg erhielt mein Vater, auf Grund der neuen Grenzscheidungen, die tschechoslowakische Staatsangehörigkeit. Er wurde jedoch in Deutschland ansässig, und dort verbrachte ich meine Jugend.15

Peter Weiss wurde am 8. November 1916 in Nowawes (heute der Potsdamer Stadtteil Babelsberg) bei Berlin geboren; ein Jahr später folgte der Umzug nach Przemyśl in Polen, wohin der Vater abkommandiert worden war, 1918 ging es zurück nach Nowawes, 1919 nach Bremen, 1929 nach Berlin; 1935 emigrierte die Familie nach England, zum Jahreswechsel 1936/37 zog sie nach Warnsdorf in Böhmen/Tschechoslowakei um. Weiss war zwanzig Jahre alt, als er das Land kennenlernte, dessen Staatsangehöriger er war, dessen Sprache er aber weder sprach noch verstand. Staatsangehöriger Deutschlands, des Landes, in dem er aufgewachsen war, dessen Sprache er beherrschte und dessen Literatur er bereichern würde, war er hingegen nie.

Nach der Machtübergabe an die Faschisten im Januar 1933 wurde Weiss »mit eingeschlossen in eine unbarmherzige Entwicklung«. Seine beiden älteren Halbbrüder Arwed und Hans16 marschierten mit in den braunen Kolonnen, »bewaffnet mit Knotenstöcken, mit entrücktem Gesichtsausdruck, mit Stahlhelmen und den Wahrzeichen eines neuen, schrecklichen Kreuzzugs«. Auch wenn er manchmal versuchte, sich in seinem Versteck hinter Büchern, Gemälden und Musik zu verbarrikadieren, hielt ihn dennoch »ein Zwang in der Zusammengehörigkeit mit diesem Marschieren fest, der Zwang von der wahnsinnigen Idee eines gemeinsamen Schicksals«. Wäre er nicht plötzlich »vor eine einschneidende Veränderung gestellt worden«, erinnert sich das Erzähler-Ich in Abschied von den Eltern, so wäre er »von der Flucht der Kolonnen mitgerissen worden in meinen Untergang«.17 Die plötzliche Veränderung ereignete sich, nachdem er eine jener Reden angehört hatte, die damals »aus dem Lautsprecher brachen, und die, vor dem Erkennen, eine unfassbare Gewalt besaßen, und die, nach dem Erkennen, wie ein wirres Geschrei aus der Hölle waren«.18 Neben ihm saß einer seiner Stiefbrüder; beide lauschten »überwältigt« dem heiseren Schreien.

Und als es endlich still geworden war, und der Orkan der Freudenrufe über den Tod und die Selbstaufopferung, die damals wie Freudenrufe über eine goldglänzende Zukunft erschienen, verbraust war, sagte Gottfried, wie schade dass du nicht dabei sein darfst. […]. Und als Gottfried dann erklärte, dass mein Vater Jude sei, so war mir dies wie eine Bestätigung für etwas, das ich seit langem geahnt hatte.19

Die plötzliche Ernennung zum Ausländer und Halbjuden, erinnert sich der Erzähler in Fluchtpunkt, bestätigte sein Gefühl der Entwurzelung, doch erlebte er diese Ernennung gleichzeitig als eine willkürliche, ihm von außen zugeschriebene Identität. Später, in einer 1966 in Princeton gehaltenen Rede, erklärte Weiss dazu:

Als mich diese Gesellschaft ausstieß, weil sie beschlossen hatte, dass es eine andere Rasse geben sollte, die zu zerstören sei, da war ich überrascht und konnte es nicht glauben. War ich anders? Hatte ich nicht, wie alle anderen, über unsere großen Heldengestalten gelesen, war ich nicht bereit, meine ruhmreiche Zukunft hier aufzubauen? Nein, ich würde ausgerottet werden.

Und all das geschah, ohne dass ich selbst daran wirklichen Anteil nahm. Ich hatte nicht einmal gewusst, dass ich zu dieser anderen Rasse gehörte und ich wusste nicht, was ich mit diesem Unterschied anfangen sollte.20

Er hatte ja selbst nichts mit dem Judentum zu tun, glaubte er, da er christlich getauft und konfirmiert worden war. In Abschied von den Eltern beendet er die Beschreibung dieser Vertreibung aus der Gemeinschaft mit einer überraschenden Feststellung: »doch ich verstand noch nicht, dass dies meine Rettung war«.21 Rettung wovor? In Fluchtpunkt referiert der Erzähler ein Gespräch in Stockholm während des Zweiten Weltkriegs, in dem angedeutet wird, dass er sehr wohl, wie seine beiden Stiefbrüder, als mordender moderner Ritter in Hitlerdeutschlands Kreuzzug hätte mitziehen können: Hätte ihn nicht »der Großvater im Kaftan« davor bewahrt, so wäre er wohl in Deutschland geblieben. »Es gab Augenblicke, in denen ich es bedauert hatte, dass ich nicht mehr dabei sein durfte.« Ja, er wollte nicht einmal ausschließen, dass er »auf der Seite der Verfolger und Henker« hätte stehen können.22 Diese beunruhigende Möglichkeit hatte schon den Erzähler in Die Situation beschäftigt.23 Weiss kam später immer wieder auf diese »Rettung« zurück:

Ich habe mich oft gefragt, was passiert wäre, wenn mein Vater kein Jude gewesen wäre und wir das Land nicht verlassen hätten. Alle meine Schulfreunde waren, wie man so sagt, »gute Deutsche«, und viele hatten wie ich Angst vor der Gewalt. Und doch war es meine Generation, die in Polen und Frankreich einmarschierte. Warum nicht auch ich? […] Das kann man nicht beantworten, weil es rein hypothetisch ist, aber das befreit mich nicht von der Verpflichtung, es zu bedenken, wenn ich über diejenigen schreibe, die tatsächlich an den Gräueln der Hitlerzeit teilgenommen haben.24

In seinem Stück über den Auschwitzprozess in Frankfurt am Main, Die Ermittlung, im Gesang vom Phenol, berichtet ein Zeuge von zwei Funktionshäftlingen, denen Weiss die Namen Schwarz und Weiß gibt. Sie waren an der Tötung von Mithäftlingen durch Injektionen beteiligt:

Schwarz hielt den Häftling / an den Schultern / Weiß drückte ihm die Hand / auf den Mund / und Klehr stach ihm die Spritze / ins Herz.25

In dieser Chiffrierung, schreibt Irene Heidelberger-Leonard, »ist das höchstpersönliche Paradigma des jüdischen Selbstverständnisses von Peter Weiss enthalten: seine Identifikation mit dem Häftling als Täter – und nicht, wie zu erwarten gewesen wäre, als Opfer«.26 Die für ihn unbegreifliche Ernennung zum Opfer – diese ihm von außen zugeschriebene jüdische Identität, die keine innere Entsprechung in irgendwelchen positiven, von ihm bewusst gelebten Identitätsmerkmalen aufweist –, wirft bei Weiss die beunruhigende Frage auf, ob er selbst hätte zum Täter werden können.

Diese existenzielle Problematik – und all die Fragen, die mit ihr verbunden sind – bezeichnete Weiss später als »Hintergrund für alles, was ich schreibe«.27 Wie sind die gesellschaftlichen Verhältnisse beschaffen, die einen Teil der Bevölkerung ausschließen und ihm die Opferrolle zuteilen? Wie sieht die Lebensweise aus, die die einen zu Tätern, die anderen zu Opfern stempelt, zu Unterdrückern und Unterdrückten, Angreifern und Angegriffenen macht? Und: Welche Verantwortung und welche Wahlmöglichkeiten hat der Einzelne dabei?

Innere Emigration

Es dauerte noch einige Jahre, ehe Weiss diese »langandauernde introvertierte Phase«28 überwinden konnte und anfing, die äußeren Bedingungen für sein Fremdsein und seine Unzugehörigkeit zu erforschen. Sein erster Befreiungsversuch richtete sich gegen das eigene bürgerliche Heim mit all den Attributen, die er als Beschränktheit und Konformität erlebte. 1934, mit dem Tod seiner geliebten jüngsten Schwester Margit Beatrice

begannen meine Versuche, mich aus meiner Vergangenheit zu befreien. Es gab Perioden, in denen ich wütete und tobte, der niedergehaltene Aufruhr erhob sich und verfluchte die alten Übermächte und schlug auf die alten Übermächte ein, doch die Schläge fuhren ins Leere und die Unflätigkeiten trafen kein Ohr.29

Seine Auflehnung richtete sich nicht gegen das Bürgertum an sich, »sondern nur gegen die Beengungen, die mich an der persönlichen Freiheit hinderten«,30 gegen die Eltern, die sich weigerten, den Traum des Sohnes von einem Leben als Künstler zu akzeptieren. Anstatt sich mit Literatur, Kunst und Musik zu beschäftigen, wurde er gezwungen, das Erstellen von Geschäftsbilanzen zu lernen, um einmal in die väterlichen Fußstapfen treten zu können: 1933 musste er vom Heinrich-Kleist-Gymnasium in Berlin-Schmargendorf in die Rackow-Handelsschule überwechseln. Weiss floh in ein imaginäres Heim, das es ihm erlaubte, sein Gefühl von Entfremdung und Entwurzelung in eine Tugend zu verwandeln. Er versuchte, das Leiden im romantischen Traum von einem freien, introvertierten und introspektiven Künstlerdasein aufzuheben.

Im Herbst 1936 saß er völlig isoliert in seinem Versteck, einer kleinen Dachkammer in der Villa in der böhmischen Kleinstadt Warnsdorf, in die die Familie aus der Metropole London umgezogen war, und schuf sich ein Alter Ego, Skruwe, das Idealbild eines romantischen Künstlers. Das große Vorbild war Hermann Hesse, der Verfasser des Steppenwolf. Hesse zu lesen, empfand Peter Weiss damals als

ein Wühlen in meinem eigenen Schmerz. Hier war meine Situation gezeichnet, die Situation des Bürgers, der zum Revolutionär werden möchte und den die Gewichte alter Normen lähmen. In vielem hielt mich diese Lektüre in einem romantischen Niemandsland fest, im Selbstmitleid und in altmeisterlichen Sehnsüchten […].31

Anfang 1937 schrieb er, ein 20-jähriger literarischer Niemand, einen Brief an den »Meister« in Montagnola. Er fügte seine Textsammlung Skruwe / aus Aufzeichnungen und Erinnerungen zusammengestellt von Peter Ulrich Weiss, ein handgeschriebenes Buch von gut hundert Seiten mit eigenen Federzeichnungen, bei. Weiss präsentierte sich Hesse als einer seiner romantischen Schüler, als ein Vagabund der Künste, der vom Wind in ein kleines Nest an der böhmischen Grenze geweht worden war und dort in seiner kleinen Stube sitzt, malt, dichtet und musiziert »nach Herzenslust. Doch ach! Davon kann ich nicht leben.« Er hätte schon »eine Menge Dinge« versucht, wäre »hierhin und dorthin« gegangen, doch »nirgends überragend glücklich« geworden. Dann kommt er zum Wesentlichen:

Ich weiss, dass ich Maler und Dichter bin oder einmal werde, aber es ist schwer, heute auf diese Art sein Leben zu verbringen, vor allem, wenn man weniger mit seinen Gedanken im heutigen Tun und Treiben mit all seinem Motorengedröhn und der Unterhaltungsmusik steht, als in romantischen Gefilden.

Ich suche also nach einem Weg und kann ihn nicht finden.32

Er sei unsicher, fuhr er fort, ob das, was er schreibe, gut sei oder schlecht, »denn ich lese es für mich allein. Ich male und weiß nicht, ob es gut ist, denn ich male nur für mich allein.« Er sei isoliert, isoliere sich, bekomme keine Resonanz, deshalb bitte er Hesse um Rat, »weil Sie für mich der Meister sind«.33

Obwohl Hesse einige Jahre früher einen fiktiven Brief »An einen jungen Dichter« veröffentlicht hatte, um sich der unzähligen Anfragen von jungen Schreibern zu erwehren, antwortete er dennoch. Offensichtlich hatte der Brief ihn angerührt. »Begabung haben Sie ohne Zweifel«, urteilte er in seinem Brief vom 21. Januar 1937, »sowohl als Dichter wie als Zeichner«, wobei ihm die Zeichnungen »schon reifer und selbstständiger« zu sein schienen als das Geschriebene. Man fühle stark die »literarisch-romantische Atmosphäre«, aber auch »Vorbilder und Anregungen«. Abschließend wünschte er dem jungen Mann, dass er seinen Weg finden möge. »Geht es mit dem Zeichnen nicht, so müßten Sie einen andern, gewöhnlichen Broterwerb suchen – nicht aus Ihrer Dichtung Brot zu machen suchen! Nur dies nicht!«34

Auch wenn die Antwort des Meisters sicherlich dämpfend auf den Suchenden gewirkt haben mag, deutet seine Darstellung in Abschied von den Eltern darauf hin, dass Hesses Schreiben eine geradezu existenzielle Bedeutung für sein Selbstwertgefühl hatte:

Als ich an Haller [Hesse] schrieb, war dies ein Versuch, aus meiner Unwirklichkeit herauszukommen. Und ich erhielt Antwort auf meinen Brief. Da stand mein Name auf dem Umschlag, wieder und wieder las ich ihn. Plötzlich war ich in eine unfassbare Beziehung zur Außenwelt getreten. Jemand hatte meinen Namen auf einen Brief geschrieben, jemand glaubte an meine Existenz und richtete seine Stimme an mich. Ich las die Worte eines lebendigen Mundes. Der Sinn der Worte war mir fast gleichgültig. Die Tatsache, dass jemand zu mir sprach, genügte mir.35

Obwohl er enttäuscht über Hesses Worte »vom geduldigen Arbeiten, vom langsamen, gründlichen Studieren«36 war, fasste er den Entschluss, zum Meister ins Tessin zu wallfahren. Nach einer abenteuerlichen Reise über die Alpen erreichte Weiss Montagnola im Spätsommer 1937, wo er freundlich empfangen wurde. Weiss wohnte sechs Wochen in der Nähe Hesses, in einem kleinen Atelier in der Casa Camuzzi, in der dieser selbst von 1919 bis 1931 gewohnt hatte. Hesses luden ihn zum Essen ein, zum Boccia spielen im Garten und zum Musizieren in der Bibliothek. Die übrige Zeit verbrachte er mit Zeichnen und Schreiben. Nie hatte er freier geatmet als während dieser Sommermonate.

Die Rückkehr nach Warnsdorf war ernüchternd. Wieder versuchten andere, über ihn zu bestimmen. In Prag sollte er als Lehrling in eine Textilfabrik eintreten. Bei der Revolte gegen die Eltern kam ihm wiederum Hesse unverhofft zu Hilfe. Dieser übermittelte ihm im Oktober 1937 die Adresse eines deutschen Emigranten in Prag, den er aufsuchen könne, falls er »je einmal Lust« haben sollte, »sich mit den tatsächlichen politischen und menschlichen Zuständen näher vertraut zu machen«.37 Der Emigrant hieß Max Barth, in Abschied von den Eltern und Fluchtpunkt tritt er als Max Bernsdorf oder Max B. auf. Der zwanzig Jahre ältere Journalist hatte Anfang 1933 in seiner eigenen Wochenschrift Die Richtung zum Generalstreik gegen die Nazis aufgerufen. Im März 1933 entzog sich Barth einer drohenden Zuchthausstrafe und floh in die Schweiz. Via Frankreich und Spanien kam er 1935 nach Prag. Durch Barths Vermittlung nahm der bekannte Maler und engagierte Antifaschist Willi Nowak Weiss als Schüler in seine Malklasse an der Prager Kunstakademie auf. Ein Brief dieser künstlerischen Autorität, in dem es als Verbrechen bezeichnet wurde, würde man den begabten Sohn nicht Kunst studieren lassen, bewegte schließlich die Eltern dazu, ihm das Studium und ein Atelier in Prag zu finanzieren.

In Nowaks Malklasse schloss Weiss Freundschaft mit dem zehn Jahre älteren surrealistischen Maler Endre Nemes, wie sein Vater Jude aus Ungarn, und mit Peter Kien, geboren in Warnsdorf und Sohn eines jüdischen Textilfabrikanten. Bei einem Mahler-Konzert in Prag lernte Weiss den drei Jahre älteren Robert Jungk kennen, der später einer der ersten Zukunftsforscher werden sollte. Nach zweijähriger Emigration in Paris und Spanien war dieser illegal nach Deutschland zurückgekehrt, um in einer Widerstandsgruppe mitzuarbeiten. Als diese im November 1936 entdeckt wurde, gelang Jungk die Flucht nach Prag. Dort lebte er so, wie man sich das Leben eines Emigranten »in politisch bewegten Zeiten« allgemein vorstellt: »Begegnungen mit politischen Schicksalsgefährten, Spekulationen über Gerüchte von drüben und die unsichere Zukunft, Debatten über das missliche Heute und über das ganz andere Nachher, das aber jeder anders sah.«38 Solche Diskussionen, erinnert sich Jungk, gab es mit Peter Weiss nie:

Das Radio wurde sofort abgeschaltet oder umgeschaltet, wenn die Nachrichten kamen. Die schreckliche Heiserstimme, die uns unaufhörlich ankläffte und in Schrecken versetzte, sie habe ich im halbhellen Traumasyl des jungen Malers niemals gehört. Dabei kam er immer näher, dieser wüste Schreier, vor dem die Welt zu kuschen begann. Für Peter aber rückte der Bedränger dann eher noch weiter weg, weil er sich malend oder schreibend von ihm in Regionen absetzte, die der Usurpator niemals würde erobern können.39

Später, gesteht Jungk in seinen Erinnerungen, habe er verstanden, dass das, was die politischen Emigranten als »Flucht« auslegten, in Wirklichkeit seine »Treue zu Paradiesen der Vorstellung [war], aus denen wir anderen uns schon längst und zu leicht hatten vertreiben lassen«.40

Im Juni 1938 schloss das Studienjahr an der Kunstakademie mit einer offenen Ausstellung für alle Klassen ab. Für die beiden Gemälde Das große Welttheater und Das Gartenkonzert erhielt Weiss eine Auszeichnung der Akademie. Danach kehrte er zu den Eltern nach Warnsdorf zurück, die mit Sorge die Provokationen der sudetendeutschen Henlein-Truppen verfolgen. Im Oktober marschierte die deutsche Wehrmacht im Sudetenland ein, um ihre Landsleute zu »befreien«, und im November brannten in Deutschland die Synagogen. Weiss hatte diese Entwicklung vorausgeahnt und sie in das apokalyptische Gemälde Das große Welttheater gebannt. Schon im Mai 1938 hatte er an Hesse geschrieben:

Es ist furchtbar, was aus Europa gemacht wird, das kleine Häufchen, das sich noch wehrt, schmilzt immer mehr zusammen und wird immer mehr zusammengepresst.

Nun kann es ja bald losgehen mit der großen Schießerei, einmal muss man doch die herrlichen Kanonen und Flugzeuge und Kriegsschiffe und Tanks und Granaten benutzen, die Rüstungsfabrikanten wollen auch zu Geld kommen.41

Auf diese nüchterne Einschätzung folgte jedoch der abwehrende Kommentar des Romantikers: »Ach, man darf nicht mehr nachdenken.«42

Mitte August 1938 verließ Weiss Warnsdorf und die Eltern und begab sich auf eine zweite Wanderung ins Tessin. Diesmal war er nicht allein. In Zürich traf er auf Robert Jungk, der schon im Mai von Prag dorthin gezogen war, und dessen Freund Hermann Levin Goldschmidt, einen Philosophiestudenten aus Zürich. Am 10. September erreichten die drei Montagnola. Jungk und Goldschmidt kehrten nach zwei Tagen nach Zürich zurück. Weiss mietete ein kleines Atelier und blieb. Nach den Erfolgen in der Akademie konnte er sich Hesse nun als richtiger Maler vorstellen. Ende Oktober berichtete dieser an den bekannten Grafiker Alfred Kubin: »Zur Zeit ist in unserer Nachbarschaft ein junger tschechischer Künstler, den ich schon vor einem halben Jahr näher kennenlernte […]. Er ist hochbegabt, besonders als Zeichner, und machte mir kürzlich, da ich ihn etwas unterstützen wollte, Illustrationen zu einer kleinen Dichtung«.43 Für zwei Aufträge bekam Weiss je 100 CHF, ein beachtliches Honorar. Er konnte es gut brauchen. Unmittelbar nach der deutschen Besetzung des Sudetenlandes flohen seine Eltern aus Warnsdorf zu einem Geschäftskollegen in die schwedische Kleinstadt Alingsås. Dank des Honorars von Hesse konnte Weiss bis auf weiteres im Tessin bleiben. Weihnachten 1938 schilderte er in einem langen Brief an die Eltern seinen Tagesablauf in der Nähe des »Zauberers«. Er sei glücklich und dankbar, doch mache er sich gleichzeitig Sorgen darüber, wie sich seine unmittelbare Zukunft gestalten würde. Ob die beiden Stiefbrüder, Arwed und Hans, »immer noch in ihren alten Anschauungen« verharrten, erkundigt sich Weiss, »haben sie sich trotz allem nicht umstellen können (innerlich – denn äußerlich ist es ja leider unmöglich!)?«44 Die beiden waren überzeugte Nazis. Arwed arbeitete im politisch einflussreichen Geopolitischen Institut, Hans war leitender Angestellter im Luftfahrtministerium. Haben sie ihre Anschauung nicht geändert, fuhr Weiss fort, »dann tuen sie mir leid, ich werde mit ihnen wohl nie mehr in Konnex kommen können. Denn wer heute noch ehrlich u. überzeugt mitmachen kann, ist in meinen Augen erledigt.« Für ihn ist es vorläufig nicht denkbar, schreibt er, sich in Deutschland aufzuhalten, ihn »würde das Kotzen ankommen, beim Überschreiten der Grenze«.45 Dennoch überschritt er jene Grenze. Ende Januar 1939 verließ Weiss das Tessin und reiste über Berlin nach Schweden, um seine Eltern zu besuchen. Eigentlich wollte er anschließend weiter nach Prag, um sein Studium fortzusetzen, aber als Deutschland im März in die Tschechoslowakei einmarschierte, war er gezwungen, in Schweden zu bleiben.

Als »lästiger Ausländer« fühle er sich unwillkommen in dem neuen Land, beklagte er sich Anfang April in einem Brief an Hesse, vor allem, wenn man als Fremder auch noch »mit dem Makel einer künstlerischen Begabung ausgestattet« ist. Es gelte, »wenn mir nicht der Tod des Verhungerns wünschenswert war, irgendeine Tätigkeit zu suchen, die mir, wenn auch kein Glück, so doch das Am-Leben-Sein ermöglicht«.46 Er trat als Textildrucker in jene Fabrik ein, die sein Vater in Alingsås aufbaute. Vor ihm lag ein ungewisser Übergang, eine harte Probezeit:

Die eigene Welt, die ich mir geschaffen hatte, ersteht vor mir im neuen Licht, sie wird zum fernen Ziel, das ich einmal – das ist gewiss – wieder erreichen werde. Es gab keinen anderen Ausweg, als die stille Abgeschiedenheit zu verlassen, ich muss dieses Los auf mich nehmen; ewig wird es nicht währen. […]

Und dies ist nur ein Übergang. Tot und arm wird die Zeit nicht sein. Sie wird mich härten, schmieden. Einmal werde ich sie hinter mir liegen wissen. Einmal werde ich alles das malen und schreiben können, was sich in dieser Zeit formt und bildet und unaufhörlich wächst, dann werde ich frei sein.47

»… so musste ich zumindest meine Schuld tragen«

Die Erzählung in Fluchtpunkt beginnt am 8. November 1940, Weiss’ vierundzwanzigstem Geburtstag, mit seiner Ankunft in Stockholm, wo er die Prager Freunde Max Barth und Endre Nemes wiedertrifft, die zuerst nach Norwegen geflohen waren und nach der deutschen Besetzung in Schweden gelandet sind. Im Unterschied zu Barth und Nemes kam Weiss nicht als Asylsuchender, nicht als mittelloser Flüchtender, der Schutz vor den braunen Horden suchte, die ein Land nach dem anderen eroberten.

Ich kam nach Stockholm, um hier als Maler zu leben, und für den Beginn hatte ich Geld, das ich mir jeden Monat während der Fabrikarbeit zurückgelegt hatte. Es gab keine verlorene Heimat für mich und keinen Gedanken an eine Rückkehr, denn ich hatte nie einem Land angehört.48

Für ihn bedeutete die Emigration keine politische Stellungnahme, die »politischen und ideologischen Forderungen waren belanglos neben der Arbeit, die mich erwartete«.49 Dass der Kampf, der da draußen geführt wurde, auch seine Existenz anging, berührte ihn nicht. Er hatte nie »Stellung genommen zu den umwälzenden Konflikten der Welt. Die Anstrengung, einen Ausdruck für mein Dasein zu finden, hatte keine andere Aufmerksamkeit zugelassen.«50

Ende 1943 schienen die Kriegsgeschehnisse jedoch erste Risse in dem narzisstischen Kokon verursacht zu haben, den er zum Selbstschutz um sich gewoben hatte. Am 18. Dezember berichtete er Hesse, dass er es die ersten Jahre in Schweden »recht schwer gehabt und erst in der letzten Zeit etwas festeren Fuß gefasst« habe. Er habe viel gemalt und auch mehrmals ausgestellt. Aber trotz dieser äußeren Erfolge, die er sich durch eine gewisse Anpassung an den herrschenden provinziellen Kunstgeschmack erkauft hatte, sehe er jetzt, »wo es draußen dunkler wird«, ein, dass er »andere Wege gehen« müsse. Viele seiner früheren Freunde, klagt er, leben nicht mehr, außerdem sei es so, dass er ihnen »schon seit langem entfremdet gewesen« sei und »wohl kaum mehr den Weg zu ihrem Boden zurückfinden« werde. »Wir entwurzelten Europäer können doch nirgendwo mehr zu Hause sein, wenn wir es nicht in uns selbst sein können. Dies zu lernen, versuche ich.«51 Als Weiss dies mehr als ein Jahrzehnt später in Fluchtpunkt rückblickend berichtete, war dieser schmerzvolle Lernprozess noch immer nicht abgeschlossen.

Glaubt man der biografischen Konstruktion in Fluchtpunkt, dann erwacht der Erzähler/Weiss im Frühjahr 1945 aus seiner politischen Lethargie, als er mit den ersten bewegten Bildern aus einem befreiten Vernichtungslager konfrontiert ist. Auf der blendend hellen Bildfläche sieht er »den Endpunkt der Entwicklung, in der ich aufgewachsen war«. Er sieht sich konfrontiert mit den Stätten, für die er »bestimmt gewesen war«, mit den Gestalten, zu denen er hätte gehören sollen.

Wir saßen in der Geborgenheit eines dunklen Saals und sahen, was bisher unvorstellbar gewesen war, wir sahen es in seinen Ausmaßen, die so ungeheuerlich waren, dass wir sie zu unsern Lebzeiten nie bewältigen würden. […]. Dort vor uns, zwischen den Leichenbergen, kauerten die Gestalten der äußersten Erniedrigung […].52

Der weitere Bericht über diesen erschütternden Anblick offenbart, dass nicht die Originalstimme von 1945 zu uns spricht, sondern der Autor Peter Weiss zu Beginn der 1960er-Jahre. Was er jetzt auf der Filmleinwand sieht, deutet er nicht mehr – wie er es damals getan hätte – als einen unbegreiflichen mythologischen Kampf zwischen dem ewig Guten und dem ewig Bösen im Menschen, sondern:

Dies war eine Welt, die von Menschen errichtet worden war. Und dann sahen wir sie, die Wächter dieser Welt, sie trugen keine Hörner, keine Schwänze, sie trugen Uniformen, und geängstigt scharten sie sich zusammen und mussten die Toten zu Massengräbern tragen.53

»Zu wem gehörte ich jetzt, als Lebender, als Überlebender«, fragte er sich, »gehörte ich wirklich zu jenen, die mich anstarrten mit ihren übergroßen Augen, und die ich längst verraten hatte, gehörte ich nicht eher zu den Mördern und Henkern«. Er hatte ja diese Welt geduldet, die all dies möglich gemacht hatte. Und er hatte sich »abgewandt von Peter Kien und Lucie Weisberger, und sie aufgegeben und vergessen«.54 Peter Kien und Lucie Weisberger waren zwei jüdische Freunde, die Weiss in Prag kennengelernt hatte. Kien hatte ihm im Herbst 1941 aus Theresienstadt geschrieben. In dem Brief erwähnte er auch Lucie Weisberger, die »in seiner Nähe wohnte«, in einer anderen Baracke. Weiss versuchte, sich Lucies Gesicht zu vergegenwärtigen, und »plötzlich wurde dieses Gesicht, und ihre ungewisse Gestalt, zu einer Forderung, es war mir, als hätte ich sie betrogen und verlassen, und ich begann jetzt mit langwierigen Versuchen, ihre Freigebung zu erwirken«.55 Er kontaktierte die Behörden, sammelte Geld und bot an, sie zu heiraten. Seine Petitionen wurden zwar nie abgeschlagen, blieben aber letztlich unbeantwortet, und nach der Mitteilung von Peter Kien, »dass Lucie nach unbekanntem Ort verzogen sei, und dass auch er bald weiterreisen werde, bestand nur noch das endgültige Schweigen«.56 Peter Kien wurde im Oktober 1944 nach Auschwitz verfrachtet. Als Funktionshäftling an der Rampe wurde er vom SS-Arzt Josef Mengele aussortiert und starb durch eine Injektion. Lucie Weisberger wurde nicht in Auschwitz ermordet, wie Weiss befürchtete. Ihr gelang die Flucht und sie lebte nach dem Krieg als Grafikerin in Prag.57

Weiss kam später noch mehrmals darauf zurück, dass er Lucie Weisberger im Stich gelassen habe. Im Stück Inferno, das er 1964 schrieb, handelt der siebte und achte Gesang von diesem Schuldkomplex. Er hatte sie in sicherem Abstand geliebt und verherrlicht; doch sie »war nicht auserwählt für hohe Liebe / sie wurde durch die Luft geschmissen / in den Wagen der schon voll war«.58 In »Vorübung zum dreiteiligen Drama divina commedia« bezeichnete er sich selbst als »Heuchler«:

Denn Beatrice [Lucie], die in unsrer Welt umkam, hatte er verraten. Aus Furcht / vor jeder Bindung hatte er sich von ihr abgewandt, und nur / sich selbst verherrlicht, indem er sie, die Körperlose, als Kunst / verherrlichte. / […] / Er ließ sie wo sie war, und dort war sie ihm / zu Gebeten gut, während ihr Leib verblutete.59

Im Frühjahr 1945, »mit diesen unauslöschlichen Bildern vor Augen« und mit dem wiedererweckten Gefühl von Schuld und Versagen, schien es »nicht mehr möglich, weiterzuleben«.60 Und dennoch ging es. Aber diese Bilder »gehörten fortan zu unserm Dasein, sie waren nie wieder wegzudenken«. Wie konnte, wie durfte er weiterleben? »Lange trug ich die Schuld«, bekennt er in Fluchtpunkt,

dass ich nicht zu denen gehörte, die die Nummer der Entwertung ins Fleisch eingebrannt bekommen hatten, dass ich entwichen und zum Zuschauer verurteilt worden war. Ich war aufgewachsen, um vernichtet zu werden, doch ich war der Vernichtung entgangen. […] und wenn ich nicht gefangen und ermordet, oder auf dem Schlachtfeld erschossen worden war, so musste ich zumindest meine Schuld tragen, das war das letzte, was von mir verlangt wurde.61

Wie aber sollte er diese Schuld tragen? Was machen mit dieser Schuld? War dieses Schuldsyndrom, wie manchmal behauptet wird, die hauptsächliche Triebkraft für seine literarische Aufarbeitung der faschistischen Vergangenheit, ja für sein ganzes literarisches Werk und für sein politisches Engagement? Theodor W. Adorno analysierte 1959 in seinem Aufsatz »Was bedeutet Aufarbeitung der Vergangenheit?« Tendenzen zur Verdrängung und Individualisierung von Schuld im damaligen Deutschland. Er kritisierte die virulente »Rede vom Schuldkomplex«. Ist etwa das »Gefühl der Schuld krankhaft«, fragte er, oder »sollte gar Schuld selber überhaupt nur ein Komplex, sollte es krankhaft sein, mit Vergangenem sich zu belasten, während der gesunde und realistische Mensch in der Gegenwart und ihren praktischen Zwecken aufgeht?«62 Nach dem Zivilisationsbruch, den Auschwitz bedeutete und der es, laut Adorno, unmöglich machte, zur Normalität zurückzukehren, erlaubte es die Pathologisierung der Schuldfrage dem Durchschnittsdeutschen, das Recht auf eine Art Normalität einzufordern, in der Auschwitz nicht mehr vorkommt. Adornos Aufsatz erschien 1963 im Suhrkamp Verlag. Vermutlich hatte Weiss ihn gelesen, ehe er im Jahr darauf sein Stück Inferno schrieb, das gerade die Verdrängung, Individualisierung und Pathologisierung von Schuld und das aktive Streben der westdeutschen Gesellschaft nach Zerstörung der Erinnerung zum Thema hat. In Adornos Sinn weigerte sich Weiss, die Rolle des »Renommier-Juden« zu spielen, der jenen, die auf verschiedene Weise schuldig geworden waren, zum »Abtragen der Schuld« dienen sollte.63 Wenn Peter Weiss in Fluchtpunkt und Inferno vom Tragen der Schuld spricht, dann steht das im Imperfekt, es handelt sich für ihn – Anfang der 1960er-Jahre – um ein abgeschlossenes Kapitel: »Lange trug ich die Schuld…« und »Lange trug ich daran / dass es mich nicht erlangte / was mich doch treffen sollte / und was so viele andre traf«.64 Später bezeichnete er sie als ein »atavistisches Schuldgefühl«.65 Dass ihm von anderen die Rolle eines potenziellen Opfers »aufgezwungen worden war«, schreibt er in Inferno, galt nicht mehr. Er ließ die passive Opferrolle hinter sich und trat als selbstbestimmtes, nach vorne schauendes Subjekt auf die geschichtliche Bühne: das Einzige, das zählte, war »das, was ich jetzt daraus machte«, und »die schwerste Aufgabe« war, »aus diesem Aufschub« – dass er zufällig überlebt hatte – »etwas Bleibendes zu machen«.66 In einem der vielen »Lehrgespräche«, die der Erzähler in Fluchtpunkt mit Hoderer/Hodann67 führt, erklärt Letzterer: »Der Sinn deines Überlebens könnte sein, dass du erkennst, wo das Übel liegt und wie es zu bekämpfen ist.«68 Als Weiss Anfang der 1960er-Jahre Fluchtpunkt schrieb, war diese mögliche Zukunftsperspektive zu einer Selbstverpflichtung und zur Basis einer tragfähigen persönlichen und künstlerischen Haltung geworden. In »Gespräch über Dante« schrieb er 1965:

Dante suchte nach dem Sinnvollen. Für uns ist das Sinnvolle die Ergründung jedes Zustands und die darauf folgende Weiterbewegung, die zu einer Veränderung des Zustands führt. Das ist der Freispruch von der eigenen Verschuldung.69

Im Herbst 1964 bat der Verleger Klaus Wagenbach mehrere deutschsprachige Autoren, über »ihren« Ort zu schreiben, jenen Ort, ob Geburtsort, Wunschort oder Bestimmungsort, der für sie der wichtigste sei. Die Beiträge sollten in eine Anthologie mit dem Titel Atlas eingehen.70 Die meisten Beiträge schilderten Orte der Kindheit oder Jugend, die mit denkwürdigen Erlebnissen verbunden waren. Auch Peter Weiss plante, über seinen Geburtsort Nowawes zu schreiben. Doch nach einem Aufenthalt im Vernichtungslager Auschwitz, das er im Dezember 1964 im Zusammenhang mit dem ersten Auschwitzprozess in Frankfurt am Main besuchte, konnte er nicht mehr über seinen Geburtsort schreiben, auch nicht über Bremen oder Berlin, wo er auf aufgewachsen war, nicht über die anderen Stationen London, Prag oder Stockholm und auch nicht über den romantischen Zufluchtsort Montagnola. Keiner dieser Plätze konnte für wert befunden werden, »einen festen Punkt in der Topographie meines Lebens zu bilden«. Als »Meine Ortschaft« wählte er Auschwitz, »eine Ortschaft, für die ich bestimmt war und der ich entkam«.71 Diese Wahl zeigt, welche Bedeutung er immer noch seiner conditio iudaica zuschrieb; es war ein Eingeständnis dafür, dass die persönliche Leidensgeschichte – bedingt durch eine Identität, die ihm von außen zugeschrieben worden war – ein weiterwirkender Bestandteil seiner individuellen Existenz und eine Triebkraft seines Schreibens blieb. Aber für seine selbstgewählte Verpflichtung musste er eine eigene Identität mit einer entsprechenden Perspektive wählen.

Anfang der 1960er-Jahre arbeitete Weiss in mehreren Versuchen an einem »Welttheater« mit der Struktur der Göttlichen Komödie: Inferno, Fegefeuer und Paradies. Dabei war sein Ausgangspunkt, dass die gesellschaftlichen Strukturen, die unter bestimmten geschichtlichen Bedingungen Auschwitz möglich gemacht hatten, nicht mit dem Sieg über den Hitler-Faschismus untergegangen waren. »Das faschistische Regime in Deutschland wurde besiegt«, notierte er 1965, »doch das Prinzip der Verfolgung und Ausbeutung großer Bevölkerungsgruppen, bis zur Vernichtung, besteht weiter.«72 Die programmatischen Sätze, mit denen Weiss die Begehung seiner Ortschaft Auschwitz abschließt, müssen vor diesem Hintergrund verstanden werden:

Ein Lebender ist gekommen, und vor diesem Lebenden verschließt sich, was hier geschah. Der Lebende, der hierher kommt, aus einer andern Welt, besitzt nichts als seine Kenntnisse von Ziffern, von nieder geschriebenen Berichten, von Zeugenaussagen […]. / Jetzt steht er nur in einer untergegangenen Welt. Hier kann er nichts mehr tun. Eine Weile herrscht die äußerste Stille. / Dann weiß er, es ist noch nicht zuende.73

Durch die Erforschung des herrschenden Zustands und durch den damit geleisteten Beitrag dazu, dass dieser Zustand irgendwann einmal sein Ende finden würde, schreibt er in »Gespräch über Dante«, könne er sich von der eigenen Mitschuld freisprechen. Aber welchen Beitrag konnte er, als Künstler und Schriftsteller, für diesen Aufklärungs- und Veränderungsprozess leisten?

Wie der Erzähler im Fluchtpunkt berichtet, führte die Einsicht, dass er seine Schuld zu tragen habe, zunächst zu einer persönlichen und künstlerischen Lähmung. Zwei Jahre später jedoch, im Frühjahr 1947, erlebte er in Paris den »Augenblick der Sprengung«,

der Augenblick, den ich mir gewünscht hatte, der Augenblick, in dem die Welt offen vor mir lag. Jetzt konnte ich zeigen, wer ich war, was das für ein Ich war, das ich durch die Jahre der Flucht getragen hatte, das ich vor der Vernichtung auf dem Schlachtfeld und in der Gaskammer gerettet hatte, das ich gehütet und gepflegt hatte, jetzt war der Augenblick gekommen, in dem ich erklären konnte, wozu all diese Mühe aufgewandt worden war und was ich erwartete.74

Die Sprache, »die mich während der letzten Jahre umgeben hatte«, verlor sich in der polyglotten Metropole, »ihre Worte entglitten mir«. Die schwedische Sprache »wurde hier, in diesem Schmelztiegel, weggewaschen, es zeigte sich, wie locker sie an mir hing, wie wenig sie mir bedeutete«.75 Der Augenblick der Sprengung war ein Augenblick der absoluten Freiheit, in der er sich verlieren oder wiederfinden konnte:

[I]ch konnte alles aufgeben, alle Bestrebungen, alle Zusammengehörigkeit, und ich konnte wieder beginnen zu sprechen. Und die Sprache, die sich jetzt einstellte, war die Sprache, die ich am Anfang meines Lebens gelernt hatte, die natürliche Sprache, die mein Werkzeug war, die nur noch mir selbst gehörte, und mit dem Land, in dem ich aufgewachsen war, nichts mehr zu tun hatte. Diese Sprache war gegenwärtig, wann immer ich wollte und wo immer ich mich befand. […] Alles was geschehen war, lag noch da, doch wir konnten uns darüber äußern, nichts mehr brauchte verborgen zu werden. […] An diesem Abend, im Frühjahr 1947, auf dem Seinedamm in Paris, im Alter von dreißig Jahren, sah ich, dass ich teilhaben konnte an einem Austausch von Gedanken, der ringsum stattfand, an kein Land gebunden.76

Hier endet der Roman Fluchtpunkt. Dieser Passus wird gern zitiert als geradezu idealtypisches Beispiel der Selbstfindung eines modernen Erzählers in seiner Sprache. Es ist ein allzu verführerisches Bild: Ein verzweifelter und schreibunfähiger Autor, der in Paris, der Stadt der Künste und der Liebe, zur Freiheit erwacht, dessen Unzugehörigkeit ihm gerade die Möglichkeit eröffnet, überall zu Hause zu sein, verbunden mit der Welt durch das Werkzeug der wiedergefundenen Kindheitssprache. »Schade nur«, bemerkt Jens-Fietje Dwars in seiner 2007 erschienenen Peter-Weiss-Biografie Und dennoch Hoffnung lakonisch, »dass es den Abend auf dem Seinedamm im Frühjahr 1947 nie gegeben hat«.77

Der Schluss von Fluchtpunkt ist Fiktion. Es ist nicht nur die Tatsache, dass Peter Weiss erst im Herbst 1950 zum ersten Mal in Paris war. Weiss selbst bemerkte einige Monate nach Erscheinen des Buches 1962, dass der fiktive Schluss, den er als »aufgepfropft« bezeichnet, »um dem Buch einen Abschluss zu geben«,78 ein deutlicher Ausdruck für einen problematischen Zug in der ganzen Erzählung sei. Weiss war so unzufrieden mit dem fertigen Buch, dass er darüber nachdachte, noch ein Buch zu schreiben, um alle Schwächen und Entstellungen zu korrigieren. Der optimistische Schluss sollte darin durch die Schilderung einer äußerst prekären Situation dementiert werden. An Stelle der Schilderung seiner »Wahnvorstellungen und Verirrungen, was es eigentlich hätte sein sollen, wurde das Buch zu einer Beweisführung meiner vermeintlichen Ausdauer und Stärke und der Folgerichtigkeit meiner Handlungen«, schrieb Weiss in seinen Notizbüchern. Das Bemühen »um eine Geschlossenheit, um das Erreichen eines neuen, festen Ausgangspunkts, gehört auch zu meinem Dasein, doch bemühe ich mich immer wieder, die Grenzzustände, in denen der Zerfall, die Auflösung des Ich lauerte, vor mir zu verstecken«.79 Der Augenblick der Sprengung, der in Fluchtpunkt als ein komprimiertes kathartisches Ereignis beschrieben ist, war im wirklichen Leben des Peter Weiss ein langwieriger Prozess. Während der letzten Kriegs- und der ersten Nachkriegsjahre, konstatierte er später, war er »aus allen Zusammenhängen herausgerissen, und es dauerte fast ein Jahrzehnt, bis sich diese Notlage, diese totale Nutzlosigkeit überwinden ließ«.80

Es bleibt die Frage nach Peter Weiss’ Flucht vor der katastrophischen Wirklichkeit der 1930er-Jahre und des Zweiten Weltkriegs hinein in ein romantisches Niemandsland. Lebte er in einer Art autistischer Abgeschiedenheit von dem, was rings um ihn vor sich ging? Würde man dies annehmen, wäre dann sein späterer Weg versteh- und erklärbar? Würde die Katharsis – die wirkliche und nicht die fabulierte vom Frühjahr 1947 –, durch die Weiss gegangen ist, dann möglich und plausibel? Es gibt wenige Zeugnisse, die so gedeutet werden können, dass das, was in der Welt geschah, ihn wirklich berührte. Am deutlichsten ist in dieser Hinsicht ein Brief, den er im Dezember 1942 an Hermann Hesse schrieb. Er schildert darin den vergangenen, wunderbaren Sommer mit seiner zukünftigen Frau Helga Henschen.81 Das Leben lächelte den beiden Verliebten zu und sie »konnten zeitweise die ganze Welt draußen vergessen«. Er bekannte:

Viel öfter aber lähmt jene Welt. Man blickt hinaus in diese furchtbare Nacht, vermag nicht mehr zu arbeiten und möchte sich selbst mitten in das Verderben stürzen. Sinnlos erscheint es einem da, weiter zu arbeiten, still und unbeachtet an irgendeiner Sache zu bauen, die wie ein Kinderspiel aussieht, wenn man sie mit dem Draussen vergleicht.

Und doch wird man weiter arbeiten müssen.82

Es ist wohl keine nachträgliche Beschönigung der eigenen Haltung, wenn er im Dezember 1964 – auf der Fahrt nach Auschwitz – in seinem Notizbuch festhält:

Zwar bin ich geflohen und habe mich verkrochen / aber das vor dem ich geflohen bin und vor dem ich mich verkrochen habe / war ständig gegenwärtig / Ich habe mich nicht davon abgewandt / meine Ohnmacht war keine Taubheit und Blindheit / es war ständig in meiner nächsten Nähe / Ich habe es gespürt gehört gerochen / ich war davon durchtränkt.83

»Bilder begnügen sich mit dem Schmerz, Worte wollen vom Ursprung des Schmerzes wissen«

Als Weiss im April 1965 den Lessingpreis der Freien und Hansestadt Hamburg entgegennahm, dankte er mit der Rede »Laokoon oder Über die Grenzen der Sprache«. Wie Gottfried Ephraim Lessing zwei Jahrhunderte früher, benutzte Weiss die antike Skulptur als Metapher, um das Ringen um eine geeignete künstlerische Ausdrucksform zu beschreiben, das Suchen nach einer Möglichkeit, sich mitzuteilen und in Dialog zu treten. »Während Laokoon und sein jüngerer Sohn völlig in ihrem Untergehen eingeschlossen sind und sich niemandem mehr bemerkbar machen können«, interpretiert Weiss die Skulptur, »weist der ältere Sohn noch auf das Geschehen hin. Er kann es überblicken. Sein Gesichtsausdruck zeigt Ekel und Furcht. Mit seiner nach außen gewandten Haltung gibt er seine Absicht kund, der Umschnürung zu entfliehen.«84

Der Schriftsteller, Maler und Filmemacher Weiss musste zunächst das geeignete Ausdrucksmittel für eine »nach außen gewandte Haltung« finden. Seine beiden Hauptalternativen waren Sprache und Bild. Die Sprache betreffend, befand er sich in einem Dilemma. Für ihn bedeutete die Vertreibung aus Deutschland auch »die Verstoßung« aus der deutschen Sprache, die sein »Mittel zum Denken, Träumen, Phantasieren« gewesen war. Erst als die Emigration ihn nach Schweden verschlug, »begann die Wahl der Sprache zu einem Problem, einem Konflikt zu werden«.85 Abgetrennt vom Deutschen als Umgangssprache, versuchte er, sich nun in der Sprache auszudrücken, die ihn täglich umgab. Die Wahl der Sprache hat zwei Aspekte: Erstens verzichtete Peter Weiss anfangs bewusst auf die deutsche Sprache, in der »verhöhnt und erniedrigt«86 worden war. Während des Krieges und noch einige Jahre danach spürte er einen »Hass gegen alles Deutsche«, und er versuchte, »die deutsche Sprache ganz zu unterdrücken. Ich habe kaum Deutsch gelesen, war vielmehr bemüht, mich zu assimilieren und schwedisch zu schreiben.«87 Dieser Hass ging so weit, dass er sich, als er 1947 zum ersten Mal wieder in Deutschland war, weigerte, Deutsch zu sprechen und sich als Schwede ausgab. Zweitens wurde ihm die Wahl der schwedischen Sprache dadurch erleichtert, dass es damals eine Richtung in der schwedischen Literatur gab, die Gruppe Fyrtiotalisterna (die Generation der vierziger Jahre), mit der er sich »verwandt fühlte«. In diesem »natürlichen Milieu« konnte er schwedisch schreiben.88 Hier fand er, was ihn damals interessierte: Psychoanalyse, Surrealismus und Existenzialismus. Die Fyrtiotalisterna hoben sich vom selbstgenügsamen Provinzialismus ab, der das damalige kulturelle Leben Schwedens prägte. Weiss stieß 1943 zu der Gruppe und schrieb nur ein Jahr später sein erstes Buch auf Schwedisch, Från ö till ö (Von Insel zu Insel), das 1947 im Bonnier Verlag erschien. Im folgenden Jahr wurde sein Prosatext De besegrade (Die Besiegten) veröffentlicht und 1950 das Hörspiel Rotundan (Der Turm) uraufgeführt. Für seinen Prosatext Duellen (Das Duell) fand Weiss keinen Verlag; er erschien 1953 als Privatdruck mit eigenen Federzeichnungen.

In den 1950er-Jahren änderte sich die Situation. »Da wurde alles anders. Da war die Isolierung auf eine ganz andere Weise spürbar«, erklärte er 1963 in einem Interview.89 Im sich verschärfenden Klima des Kalten Kriegs sah man die Fyrtiotalisterna »als Splitter einer unangenehmen Vergangenheit an, mit der man nichts zu tun haben wollte«. Die Frage der Sprache war wieder aktuell, sie überschattete seine gesamte Tätigkeit. Er begann zu verstehen, dass das Wechseln der Sprache ein tiefgreifender Prozess ist, der einem Wechsel der Identität gleichkommt. Der Versuch, die schwedische Sprache als Ausdrucksmittel zu gewinnen, war missglückt: »Was ich zustande brachte, war nur Sekundäres, es waren Übersetzungen aus tieferen, originalen Schichten.«90

Die größere Offenheit gegenüber der äußeren Wirklichkeit machte seine Lage in vielem schwieriger als zu der Zeit, da »der Schreibende verkrochen lag in seiner Abseitigkeit«, erklärte Weiss in seiner Lessingpreis-Rede.91

Das Wissen, dass alles, was sich rundum abspielte, zu einem Erkennen geführt werden konnte, stellte Anforderungen an ihn, denen er ausgewichen war, als er noch die Entschuldigung zur Hand hatte, es sei ihm der Boden unter den Füßen weggerissen worden. In den äußersten Zonen, in denen die Erscheinungen verschwammen, ließ sich »eine Tugend daraus machen, dass nichts Haltbares gefunden werden konnte und dass die Begriffe sich verwirren. Die Poesie, die dort entstand, erhob Anspruch darauf, weiterblicken zu können, als es die Grenzen des Bewusstseins gestatteten. In Wahrheit aber machte sie weit vor diesen Grenzen halt. Sie begnügte sich mit dunklen Worten und täuschte Magie vor, weil sie zu müde war und zu bequem, sich mit dem Sachverhalt, der sich bis zum absoluten Grenzpunkt erstreckte, zu befassen.92

Das Provisorium als Lebensform, das ihm früher als Entschuldigung gedient hatte »für alles Halbfertige, alles Missglückte, sowohl in der Arbeit als auch in den menschlichen Beziehungen«, zeigte sich nun plötzlich »in seiner Sinnlosigkeit und Hohlheit«.93 Die schwedische Sprache, die sich nun auch als Teil dieses Provisoriums erwies, genügte nicht mehr.

Auch in der Bildkunst war Peter Weiss an seine Grenzen gestoßen. Was er in Bildern von sich mitteilte, hatte eine andere Dimension als das Geschriebene:

Das Sprechen, Schreiben und Lesen bewegt sich in der Zeit. Satz stößt auf Gegensatz, Frage auf Antwort, Antwort auf neue Frage. Behauptetes wird widerrufen, Widerrufenes wird neuen Bewegungen unterzogen. Der Schreibende und Lesende befinden sich in Bewegung, sind ständig offen für Veränderungen.94

Eine Bildfläche könne zwar auch Perspektiven nach zahlreichen Richtungen hin aufweisen, die gemalten Formen konnten sich aus Widersprüchen zusammensetzen, zu sehen sei jedoch nur »die Schlusswirkung des Dramas«.95 Worte enthielten immer Fragen, bezweifelten die Bilder, umkreisen ihre Bestandteile und zerlegten sie, erklärte Peter Weiss in seiner Rede zur Verleihung des Lessingpreises und fasste zusammen: »Bilder begnügen sich mit dem Schmerz. Worte wollen vom Ursprung des Schmerzes wissen.«96

Zeitweilig waren Experiment- und Dokumentarfilme ein Versuch, einen Ausweg aus dem Dilemma zwischen Wort und Bild zu finden, aber dies erwies sich nicht als dauerhafte Lösung. Das Bedürfnis, sich schreibend auszudrücken, wurde immer drängender, während die Wahl der Sprache lange unentschieden blieb. Immer wieder schwankte Weiss, bei der Bemühung, den Stoff zu einem seit langem in ihm »herum getragenen Buch zu bewältigen«, zwischen der schwedischen und der deutschen Sprache. 1952 unternahm er mit den beiden Texten Der Schatten des Körpers des Kutschers und Die Versicherung zwei Versuche, »mir das Deutsch gewaltsam zurückzuerobern«.97 Er schickte die Manuskripte an mehrere deutsche Verlage, konnte sie jedoch nicht unterbringen. 1956 kehrte er mit Situationen zum Schwedischen zurück, blieb aber auch hier erfolglos in seinem Bemühen um einen Verlag. Als Weiss Ende der 1950er-Jahre an Abschied von den Eltern zu arbeiten begann, schrieb er die beiden ersten Entwürfe abwechselnd auf Deutsch und auf Schwedisch. Erst als der Suhrkamp Verlag 1960 das Manuskript Der Schatten des Körpers des Kutschers annahm, wurde Weiss, im Alter von 43 Jahren, endlich »ein Dasein als deutschsprachiger Schriftsteller bestätigt«.98 Als ihm dann aufgrund seiner beiden Bücher Abschied von den Eltern und Fluchtpunkt öffentliche Anerkennung zuteilwurde, gelang es ihm, seine Erfahrungen »aus dem subjektiven Kreis zu lösen und auf eine breitere gesellschaftliche Ebene zu übertragen«.99