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Der sechste Band der »Philosophischen Schriften« enthält die aristotelische Physik und die Schrift »Über die Seele« (De anima). In der Physik wird die Empirie als Voraussetzung jeder Naturerfahrung sowie die Lehre von Ursache und Zweck als Begründer der Wissenschaft untersucht. Ebenso erläutert er die vier Kategorien Bewegung, Raum, Zeit und Kontinuität als Notwendigkeit menschlicher Erkenntnis des Naturgeschehens. Die Schrift De anima untersucht die Natur der Seele. Unter ›Seele‹ ist dabei jedoch nicht das subjektive Zentrum unseres mentalen Lebens zu verstehen, sondern dasjenige Prinzip, dessen Vorhandensein lebendige von leblosen Körpern unterscheidet. Es umfasst alle Formen des Lebendigen, also pflanzliches, tierisches und menschliches Leben. Ziel der Schrift ist es, die Seele zu definieren, d.h. zu erklären, was es für diese Formen des Lebendigen jeweils heißt, lebendig zu sein. Diskutiert werden: der vegetative Selbsterhalt, Wahrnehmung, menschliches Denken sowie die Ortsbewegung der Lebewesen. De anima gehört zu den faszinierendsten, philosophisch lohnendsten, aber auch schwierigeren Schriften des Aristoteles.
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Seitenzahl: 551
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ARISTOTELES
PHILOSOPHISCHE SCHRIFTEN
INHALTSÜBERSICHT
1EINFÜHRUNG IN DIE KATEGORIEN(PORPHYRIOS)KATEGORIENHERMENEUTIKERSTE ANALYTIKZWEITE ANALYTIK
2TOPIKSOPHISTISCHE WIDERLEGUNGEN
3NIKOMACHISCHE ETHIK
4POLITIK
5METAPHYSIK
6PHYSIKÜBER DIE SEELE
FELIX MEINER VERLAG
ARISTOTELES
PHILOSOPHISCHE SCHRIFTEN
in sechs Bänden
Band 6
FELIX MEINER VERLAGHAMBURG
ARISTOTELES
PhysikVorlesung über Natur
Übersetzt vonHANS GÜNTER ZEKL
Über die Seele
Übersetzt vonKLAUS CORCILIUS
FELIX MEINER VERLAGHAMBURG
PHILOSOPHISCHE BIBLIOTHEK BAND 726
Bibliographische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet abrufbar über http://portal.dnb.de.
ISBN gesamt print: 978-3-7873-3550-3
ISBN einzeln print: 978-3-7873-3601-2
ISBN gesamt ePub: 978-3-7873-3595-4
ISBN einzeln ePub: 978-3-7873-3613-5
Die Bekkerzählung der Druckausgabe wird hier in eckigen Klammern im fortlaufenden Text wiedergegeben.
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INHALT
Physik
1. Buch
2. Buch
3. Buch
4. Buch
5. Buch
6. Buch
7. Buch
8. Buch
Über die Seele
1. Buch
2. Buch
3. Buch
Zu diesem Band
1. Da Wissen und Verstehen bei allen Sachgebieten, in denen [184a] es Grund-Sätze oder Ursachen oder Grundbausteine gibt, daraus entsteht, daß man eben diese kennen lernt – denn wir sind überzeugt, dann einen jeden Gegenstand zu erkennen, wenn wir seine ersten Ursachen zur Kenntnis gebracht haben und seine ersten Anfänge und (seinen Bestand) bis hin zu den Grundbausteinen –, deshalb ist klar: Auch bei der Wissenschaft von der Natur muß der Versuch gemacht werden, zunächst über die Grundsätze Bestimmungen zu treffen. Es ergibt sich damit der Weg von dem uns Bekannteren und Klareren zu dem in Wirklichkeit Klareren und Bekannteren. – Denn was uns bekannter ist und was an sich, ist nicht dasselbe. – Deshalb muß also auf diese Weise vorgegangen werden: Von dem der Natur nach Undeutlicheren uns aber Klareren hin zu dem, was der Natur nach klarer und bekannter ist. Uns ist aber zu allererst klar und durchsichtig das mehr Vermengte. Später erst werden aus diesem bekannt die Grundbausteine und die Grund-Sätze, wenn man es auseinandernimmt. Deswegen muß der Weg von den Ganzheiten zu den Einzelheiten führen. Denn nach der Sinneswahrnehmung ist immer das Ganze bekannter, Ganzheit bedeutet aber doch so ein Ganzes; denn die allgemeine Ganzheit umfaßt viele Einzelmomente als ihre Teile. – Ganz ähnlich geht es ja doch auch den Wörtern[184b] im Vergleich zur Begriffserklärung: Sie sagen unbestimmt ein Ganzes aus, z. B. »Kreis«, die Bestimmung des Kreises nimmt ihn dann in seine einzelnen Bestandsstücke auseinander. So machen es ja auch die Kinder: Anfangs reden sie jeden Mann mit »Vater« an und mit »Mutter« jede Frau, später unterscheiden sie hier ein jedes genauer.
2. Notwendigerweise muß nun der Anfangsgrund entweder einer sein, oder es gibt mehrere; und wenn es einer ist, so nimmt er entweder Veränderung nicht an sich, wie Parmenides und Melissos sagen, oder er nimmt sie an sich, so lehren die Naturphilosophen, wobei die einen sagen, (dieser erste Grund) sei Luft, die anderen, es sei Wasser. Wenn es nun mehrere sind, muß ihre Anzahl entweder begrenzt oder unbegrenzt sein; und wenn sie begrenzt sind, aber mehr als einer, dann müssen es entweder zwei oder drei oder vier oder irgendeine bestimmte Anzahl sein; und wenn sie unbegrenzt sind, so sind sie entweder, wie Demokrit lehrt, der Gattung nach eins, nur in der Gestalt ❬unterschieden❭, oder sie sind auch der (begrifflichen) Art nach unterschieden, ja entgegengesetzt. Ganz ähnlich verfahren auch die, welche untersuchen, wieviel Seiendes es gibt: Sie suchen nämlich die ersten Bestandsstücke der vorhandenen Dinge auf und fragen dann, ob das eines ist oder viele, und wenn viele, ob eine begrenzte oder unbegrenzte Anzahl. Also auch sie tun nichts anderes: bei den anfänglichen Bausteinen fragen sie nach Ein- oder Mehrzahl.
Die Untersuchung, ob das Seiende eines und unwandelbar[185a] ist, ist keine Untersuchung im Bereich der Naturforschung. Wie ja auch der Geometer demjenigen keine Erklärungen mehr geben kann, der seine Grund-Sätze aufhebt, sondern dies entweder Sache einer anderen Wissenschaft ist oder einer Allgemeinwissenschaft, nicht anders verhält es sich bei der Frage nach den Anfängen: Es gibt nämlich gar keinen Anfang mehr, wenn nur eins und in diesem Sinne eines da ist. Denn »Anfang« ist immer Anfang »von etwas«, einem oder mehrerem. Die Untersuchung also, ob in diesem Sinne eines ist, gleicht dem Versuch, gegen eine x-beliebige These zu argumentieren von der Sorte, was nur um der bloßen Behauptung willen gesagt wird – z. B. die Heraklitische These, oder wenn jemand behaupten wollte, das Seiende sei ein Mensch –, oder dem Versuch, eine eristische Argumentation aufzuklären; – was denn auch beide diese Erklärungen an sich haben, sowohl die des Melissos wie die des Parmenides: Sie machen erstens falsche Annahmen und sind zweitens in sich nicht schlüssig. Dabei ist die des Melissos besonders billig und enthält gar keine wirkliche Schwierigkeit, sondern wenn nur eine einzige Ungereimtheit zugegeben wird, so folgt daraus der Rest. Das ist nun wirklich nichts Schwieriges.
Für uns dagegen soll die Grundannahme sein: Die natürlichen Gegenstände unterliegen entweder alle oder zum Teil dem Wechsel. Das ist klar, wenn man von der Einzelerscheinung ausgeht. Außerdem ist es auch nicht sinnvoll, alles aufklären zu wollen, sondern nur bei solchen Fehlern, die jemand von Grundsätzen aus herleitend macht; wo das nicht so ist, dort ist es nicht sinnvoll; z. B. die Kreisquadratur mittels der Schnitte – diesen Versuch zu diskutieren, ist Aufgabe eines Geometers, für den Versuch Antiphons aber gilt das nicht.
Indessen, da sie zwar nicht über Natur handeln, es ihnen aber doch geschieht, für die Naturwissenschaft kennzeichnende Schwierigkeiten auszusprechen, so mag es wohl erlaubt sein, sich kurz in eine Auseinandersetzung über sie einzulassen. Denn diese Untersuchung hat es zu tun mit Philosophie.
Die angemessenste Anfangsfrage von allen, da der Ausdruck »seiend« nun einmal in vielen Bedeutungen gebraucht wird, ist: In welchem Sinn verwenden ihn diejenigen, die die Gesamtheit des Seienden für eins erklären? Meinen sie mit dieser Gesamtheit ein Ding oder So-und-so-vieles oder So-und-so-beschaffenes? Und noch einmal: Meinen sie mit dieser Gesamtheit ein einziges Ding, so wie man von einem Menschen, einem Pferd oder einer Seele sprechen kann, oder soll dies eine bestimmte Eigenschaft sein, wie »weiß«, »warm« oder anderes derart? Das alles unterscheidet sich doch sehr, ja man kann gar nicht sagen, wie sehr. Wenn sie sowohl Ding als auch irgendwie-beschaffen und irgendwie-viel ist, und dies entweder unabhängig von einander oder nicht, so wäre das Seiende eine Vielheit. Wenn aber diese Gesamtheit ein »irgendwie-beschaffen« oder »irgendwie-viel« ist, einerlei ob es nun ein Ding wäre oder nicht, dann ist das seltsam – wenn man denn das Unmögliche »seltsam« nennen darf. Denn keine der übrigen Bestimmungen, außer dem Ding, kann für sich vorkommen: alle anderen werden doch nur von dem Ding als ihrer Grundlage ausgesagt.
Melissos behauptet, das Seiende sei unbegrenzt; dann wäre das Seiende etwas So-und-so-vieles, denn (der Begriff) »unbegrenzt« findet sich innerhalb des (Bereichs) »irgendwie-viel«. Daß aber ein Ding oder etwas So-und-so-beschaffenes [185b] oder ein Vorgang unbegrenzt wäre, ist nicht möglich, außer nur in dem beiläufigen Nebensinn, wenn sie zugleich auch irgendetwas So-und-so-vieles wären. Die Begriffserklärung von »unbegrenzt« benutzt jedenfalls den Begriff von »so-und-so-viel«, nicht jedoch den von »Ding« und »so-und-so-beschaffen«. Wenn also dieses Seiende sowohl ein Ding als auch ein So-und-soviel wäre, so wäre es nicht mehr eines, sondern es wären schon zwei. Wäre es aber nur Ding, dann kann es nicht unbegrenzt sein, und es kann dann auch keine Größe besitzen, denn dann wäre es schon wieder ein So-und-so-viel.
Weiter, da auch der Begriff »eins« in mehrfacher Bedeutung ausgesagt wird, wie »seiend« auch, so ist zu prüfen, in welcher Bedeutung denn der Ausdruck »eines (ist) das Ganze« aufzufassen ist. »Eins« läßt sich nun sagen entweder von Zusammenhängendem oder von dem Nicht-Auseinandernehmbaren oder von (Gegenständen), deren Begriffserklärung eine und dieselbe ist, z. B. bei »Rebensaft« und »Wein«. – Sollte es im Sinne von Zusammenhang gemeint sein, so wird das Eine zu einer Vielheit; denn das Zusammenhängende ist ins Unendliche teilbar. – Es gibt auch noch eine Schwierigkeit bezüglich des Verhältnisses von Teil und Ganzem, – vielleicht gehört sie nicht zu dieser Untersuchung, aber sie besteht an und für sich: Sind Teil und Ganzes eins oder mehreres? Und wie können sie diese Einzahl oder Mehrzahl sein? Und wenn sie eine Mehrzahl sind, wie können sie diese Mehrzahl sein? Und (ebenso gilt das) von nicht zusammenhängenden Teilen. Und wenn ein jeder einzelne Teil als unabtrennbar dem Ganzen zugehört, dann müßte dies ja auch für die Teile untereinander gelten.
(Sollte es) andrerseits (gemeint sein) im Sinne von Nichtaus-einandernehmbarkeit, so wird das Seiende nichts als so-und-soviel oder so-und-so-beschaffen Bestimmbares, und somit ist es auch nicht unbegrenzt, wie Melissos doch sagt, und andrerseits auch nicht begrenzt, wie Parmenides (will). Denn es ist die Grenze, die nicht weiter zu teilen ist, nicht das Begrenzte.
Andrerseits, wäre alles Seiende dem Begriffe nach eines, wie z. B. »Kleid« und »Gewand«, so geschieht es ihnen, den Satz des Heraklit zu sagen: dann wird »gutsein« und »schlechtsein« das Gleiche, und »gutsein« mit »nicht-gutsein«, – so daß dann dasselbe würden »gut« und »nicht-gut«, »Mensch« und »Pferd«, und die Untersuchung dann nicht mehr um das Einssein des Seienden ginge, sondern um das Nichtssein –, und ebenso würden »so-beschaffen-sein« und »so-viel-sein« dasselbe. Die Nachfahren dieser Alten waren voller Sorge, daß es ihnen nicht geschehe, daß ein und derselbe Gegenstand zugleich eines und vieles würde. Deshalb schlossen die einen den Gebrauch des Wortes »ist« aus, wie z. B. Lykophron, die anderen formten die Ausdrucksweise um und sagten dann nicht mehr »der Mensch ist weiß«, sondern »er weißt«, und nicht mehr »er ist unterwegs«, sondern »er wegt«, – und das alles, damit es ihnen nicht geschehen sollte, indem sie ein »ist« setzten, aus Einem Vieles zu machen, – in der Annahme, daß die Begriffe »eins« und »seiend« nur eine Bedeutung hätten. Das Seiende ist aber eine Vielfalt, und zwar entweder dem Begriffe nach – z.B. »Weißsein« und »Gebildetsein« sind unterschieden, dennoch kann ein und derselbe Gegenstand beides sein; so ist das Eine auch Vieles –, oder der Teilung nach, wie z.B. das Ganze und seine Teile. An dem Punkt wußten sie nicht [186a] weiter und gaben schließlich zu, daß das Eine Vieles sei, – als ob es nicht möglich wäre, daß ein und dasselbe Ding sehr wohl eins und vieles ist, nur nicht Widersprechendes gleichzeitig. Denn die Einheitsbestimmung tritt auf sowohl in der Weise der Möglichkeit wie der Wirklichkeit.
3. Wenn man auf diese Weise herangeht, erscheint die Behauptung unmöglich, das Seiende sei eines. Und die Beweismittel, deren sie sich bedienen, aufzulösen, ist nicht schwer: Beide ziehen ihre Schlüsse auf eristische Weise, sowohl Melissos wie Parmenides [sie machen erstens falsche Annahmen, und zweitens sind ihre Darlegungen nicht schlüssig. Dabei ist die des Melissos besonders billig und enthält gar keine wirkliche Schwierigkeit, sondern wenn nur eine einzige Ungereimtheit zugegeben wird, so folgt daraus der Rest. Das ist nun wirklich nichts Schwieriges]. Daß Melissos falsch schließt, ist klar, glaubt er doch folgende Annahme machen zu dürfen: Wenn alles Gewordene einen Anfang hat, so hat das Nicht-Gewordene keinen! Sodann ist auch dieses unverständlich: Von allem soll es einen Anfang geben, von jedem Ding, – von der Zeit aber nicht; und beim Werden nicht nur vom absoluten Entstehen, sondern auch von der Eigenschaftsveränderung, – als ob es nicht in zahlreichen Fällen den plötzlichen Umschlag gäbe! Dann: Weswegen soll es unbewegt sein, wenn es eins ist? So bewegt sich doch auch eine einheitliche Teil-Menge, z.B. dies Wasser hier, in sich selbst; warum soll dies das All nicht können? Dann: Warum soll es an ihm nicht Eigenschaftsveränderung geben können?
Aber es ist ja auch nicht möglich, daß es der Art nach eines ist, außer wenn man nur den Stoff ansieht – in diesem Sinne behaupten auch einige der Naturdenker eine Einheitlichkeit des Alls, in dem anderen aber nicht –; »Mensch« ist doch von »Pferd« der Art nach verschieden, und einander entgegengesetzte Dinge auch.
Auch gegen Parmenides kann man dieselben Überlegungen vorbringen, und noch andere besondere dazu. Auch hier liegt die Auflösung einerseits darin, daß die Annahme falsch ist, andrerseits, daß das Vorgehen nicht schlüssig ist: Im Irrtum ist er damit, daß er annimmt, »seiend« habe einen einfachen Sprachgebrauch, wo es doch in vielen Bedeutungen angesprochen wird. Einen falschen Schluß zieht er damit: Nähme man einmal allein die als »weiß« bestimmten Gegenstände heraus, dann würden, wenn »weiß« eine einzige Bedeutung hätte, diese weißen Dinge durchaus nicht weniger viele und schon gar nicht eins. Denn weder durch beständigen Zusammenhang wird das Weiße hier eins werden noch dem Begriffe nach: »Weiß-sein« (als Begriff) und »als Gegenstand »weiß« an sich haben« ist immer noch zu unterscheiden. Und es wird neben dem, was da weiß ist, nichts Für-sich-Bestehendes geben; denn »weiß« und »weißer Gegenstand« sind nicht als Für-sich-Bestehende, sondern der Seinsart nach voneinander unterschieden. Aber dies konnte Parmenides noch nicht sehen. Notwendig geriet er also auf die Annahme, der Ausdruck »seiend« habe nicht nur eine einzige Bedeutung und übertrage sie auf alles, wovon er ausgesagt wird, sondern er mache dies zum Begriff von »seiend« und »eins«. Denn das nebenbei Zutreffende wird von etwas Bestehendem ausgesagt, so daß dasjenige, dem die Bestimmung »seiend« nur nebenbei zutrifft, nicht sein wird – denn es war doch von »seiend« verschieden! Dann müßte also sein etwas, das nicht ist! Der Begriff »seiend« kann [186b] also nicht an etwas Anderem bloß vorgefunden werden; denn »Sein« selbst kann doch nicht ein einzelnes Seiendes sein, oder »seiend« müßte eben doch viele Bedeutungen haben, so daß ein jedes Einzelne sein kann. Nun war aber doch die Grundannahme: »seiend« hat eine Bedeutung. Wenn nun also der Begriff »seiend« keinem Anderen zukommt, sondern umgekehrt ❬alles Andere❭ ihm, wieso bezeichnet dann der Begriff »seiend« mehr das Seiende als Nichtseiendes? Wenn nämlich einmal der Begriff »seiend« auch weiß sein soll, das »weiß-sein« aber nicht wirklich seiend ist – denn die Bestimmung »seiend« kann ihm ja nicht zutreffen: nichts ist seiend, was nicht dieser Begriff »seiend« ist –, so ist das Moment »weiß« also nichtseiend; aber nicht in dem Sinne wie »etwas Nichtseiendes«, sondern »überhaupt nichtseiend«. Dann kommt also heraus: Der Begriff »seiend« ist nichtseiend; denn es war ja als wahrer Satz von ihm angenommen, er sei »weiß«, dieses »weiß« aber bedeutete »nichtseiend«. Also wird »weiß« auch noch den Begriff »seiend« bedeuten müssen. Somit hat also »seiend« doch mehrere Bedeutungen. – Und auch eine Größe wird dieses Seiende nicht haben können, wenn »seiend« immer den Begriff »seiend« meint; denn für jeden seiner Teile wäre sein Sein ein verschiedenes.
Daß aber diese Bestimmung »seiend« in noch anderes in Form der Bestimmung Seiendes auseinanderfällt, ist auch dem Begriff nach klar: Z.B. wenn »Mensch« ein solcher für sich seiender Begriff ist, dann müssen notwendig auch »Lebewesen« und »zweifüßig« solche an sich seienden Begriffe sein. Wenn sie nämlich ein Ansichseiendes nicht wären, so werden sie zu bloßen Zusatzbestimmungen; und dann kommen sie entweder dem Menschen zu oder irgend einem anderen Gegenstand. Aber das ist unmöglich: »Nebenbei zutreffend« ist doch so bestimmt: Entweder etwas, das beliebig an einem Gegenstand zutreffen kann oder auch nicht, oder solches, in dessen Begriff das, dem es nebenbei zutrifft, schon vorhanden ist [oder solches, in dem der Begriff dessen, dem es zutrifft, schon vorhanden ist], – z.B. die Bestimmung »sitzen« besteht als unabhängig für sich, hingegen in der Bestimmung »stupsnasig« ist enthalten der Begriff der Nase, von der man sagt, daß diese Stupsnäsigkeit nebenbei auf sie zutrifft.
Weiter, was an Stücken in der bestimmenden Begriffserklärung enthalten ist oder woraus sie besteht, in deren Begriff ist nicht enthalten der Begriff des Ganzen, z.B. in »zweifüßig« nicht die Bestimmung »Mensch«, und in »weiß« nicht die Bestimmung »weißer Mensch«. Wenn sich das nun so verhalten sollte und dem Menschen die Eigenschaft der Zweifüßigkeit nur nebenbei zuträfe, dann müßte notwendigerweise diese Bestimmung von ihm abtrennbar sein, so daß es möglich würde, daß »Mensch« auch einmal »nicht zweifüßig« wäre, – oder es müßte andrerseits in dem Begriff von »zweifüßig« der Begriff von »Mensch« schon enthalten sein. Aber das war ja unmöglich: es verhielt sich doch umgekehrt.
Wenn aber die Bestimmungen »zweifüßig« und »Lebewesen« einem Anderen nebenbei zutreffen und beide nicht ein an sich Seiendes sind, dann würde auch die Bestimmung »Mensch« zu etwas, was an einem Anderen nur nebenbei vorkommt. Aber das an sich Seiende soll doch bei nichts nur nebenbei vorkommen; und das, wovon sie beide zusammen oder einzeln ausgesagt werden, soll »das aus ihnen Gebildete« genannt werden. Soll also das All aus nicht-auseinandernehmbaren (Stücken) bestehen?
[187a] Einige haben den beiden Überlegungen Zugeständnisse gemacht, dem Satz »alles ist Eins«, wenn »seiend« eine einzige Bedeutung hat, gaben sie zu, daß »nichtseiend« (doch) ist, der Beweiskette mit der Zweiteilung gaben sie nach, indem sie unteilbare Größen ansetzten. Es ist aber klar, daß folgender Schluß nicht richtig ist: »Wenn ›seiend‹ eine einzige Bedeutung hat und nicht zugleich auch das Gegenteil davon bedeuten kann, dann wird es nichts Nichtseiendes geben«; denn es steht der Annahme nichts entgegen, daß »nichtseiend« zwar nicht schlechthin existiert, wohl aber als bestimmtes einzelnes Nichtseiendes. Die Behauptung also, wenn es neben dem Seienden selbst nichts anderes gebe, dann müsse alles eins sein, ist nicht stimmig. Denn wer begreift schon diesen Ausdruck »das Seiende selbst«, wenn er sich dabei nicht ein bestimmtes begrifflich Seiendes vorstellt? Ist das so, dann besteht nun wirklich kein Hinderungsgrund dafür, daß das Seiende eine Vielheit ist; so war es behauptet worden.
Daß also in diesem Sinne das Seiende unmöglich eins sein kann, ist klar.
4. Wie andrerseits die Naturdenker (darüber) sprechen, (davon) gibt es zwei Richtungen: Die einen setzen den zugrundeliegenden Körper als einen an, entweder einen von den drei (Grundstoffen) oder einen anderen, der dichter als Feuer, aber weniger dicht als Luft ist, alles übrige bringen sie hervor durch Verdichtung und Verdünnung und machen eine Vielheit daraus. – Diese beiden sind Gegensätze, allgemein gefaßt ist es: Übermaß und Mangel; so wie Platon spricht von dem Großen und dem Kleinen, nur mit dem Unterschied, daß er dies beides zum Stoff macht, die Einheit aber zur Form, wohingegen umgekehrt diese (Denker) das Eine Zugrundeliegende zum Stoff machen, die Gegensätze aber zu Unterschieden und Formen. –
Die anderen lassen aus der Einheit die darin enthaltenen Gegensätze sich herausbilden, so wie es Anaximandros sagt und alle die, welche in ihrer Lehre Eins und Vieles setzen, wie Empedokles und Anaxagoras; denn auch diese lassen aus der Mischung das übrige sich herausbilden. Der Unterschied zwischen ihnen liegt nur darin, daß der eine daraus einen Umlauf macht, der andere es nur einmal ablaufen läßt, und der Letztere die Anzahl der gleichartigen Stoffe und der Gegensätze als unendlich ansetzt, der Erstere aber nur die sogenannten (vier) Grundstoffe. Anaxagoras scheint zu seiner Unendlichkeitsvermutung auf dem Wege gekommen zu sein, daß er die gemeinsame Annahme der Naturdenker für zutreffend hielt, wonach aus Nichtseiendem nichts entstehen kann – deswegen gibt es ja solche Sätze (bei ihm) wie: »Zusammen war alles« und »das Entstehen eines bestimmten Einzeldings erweist sich als Eigenschaftsveränderung«; andere nennen das dann »Vermischung« und »Entmischung« –. Sodann auf Grund (des Satzes), daß Gegensätze auseinander entstehen; dann müssen sie also vorher darin enthalten gewesen sein. Wenn doch alles Entstehende notwendig entsteht entweder aus Seiendem oder aus Nichtseiendem, davon aber die Entstehung aus Nichtseiendem unmöglich ist – in dieser Annahme sind alle, (die) über Natur (geschrieben haben) einer Meinung –, so müsse sich, meinten sie, der Rest mit Notwendigkeit ergeben, nämlich daß das Entstehen aus Seiendem, schon darin Vorhandenem erfolge, das uns allerdings auf Grund der Kleinheit der Massen mit den Sinnen unerkennbar sei. Daher kommen sie zu der Aussage, alles sei in allem gemischt, weil sie doch alles aus allem [187b] hervorgehen sahen; die Dinge erschienen allerdings als unterschiedlich und würden als verschieden von einander angesprochen auf Grund des Bestandteils, der in dieser Mischung zahlloser Stoffe wegen seiner bloßen Menge das Übergewicht besitze. In absoluter Reinheit gebe es nämlich Weißes oder Schwarzes, Süßes, Fleisch oder Knochen gar nicht, nur wovon ein jeder Gegenstand am meisten enthalte, das erscheine als die natürliche Beschaffenheit dieses Dings.
Wenn nun also das Unendliche, insofern es unendlich ist, unerkennbar ist, so ist das hinsichtlich Menge oder Größe Unbegrenzte ein unerkennbares So-und-so-viel, das hinsichtlich der Form Unbestimmte ist ein unerkennbares So-und-so-beschaffen. Wären nun die Anfangsgründe unendlich, sei es der Menge, sei es der Art nach, so wäre es unmöglich, über das, was sich aus ihnen ergibt, ein Wissen zu gewinnen. Denn wir nehmen doch an, über ein Zusammengesetztes dann ein Wissen zu haben, wenn wir wissen, aus welchen und wievielen Bestandteilen es besteht.
Weiter, wenn (Folgendes mit) Notwendigkeit (gilt): Etwas, dessen Teil nach Größe und Kleinheit von ganz beliebigen Ausmaßen sein kann, muß diese Eigenschaft auch selbst haben – ich meine hier einen von solchen Teilen, in welche als ursprünglich schon vorhandene das Ganze auseinandergenommen wird –: wenn es daher unmöglich ist, daß ein Tier oder eine Pflanze nach Größe und Kleinheit von beliebigen Ausmaßen sein kann, so ist es offenkundig, daß dies auch für keinen seiner Teile gelten kann; denn sonst verhielte sich ja das Ganze ähnlich. Fleisch, Knochen und dergleichen sind nun solche Teile eines Tiers, und Früchte die von Pflanzen. Es ist somit klar, daß Fleisch, Knochen oder anderes derart unmöglich von beliebiger Ausmessung der Größe nach sein kann, weder nach oben noch nach unten.
Weiter, einmal angenommen, alles Derartige wäre von Anfang an ineinander enthalten, und es entstünde nichts wirklich, sondern es bildete sich nur das darin schon Enthaltene heraus, und es würde nach dem überwiegenden Anteil benannt, und es könnte aus jedem Beliebigen jedes Beliebige werden – z.B. aus Fleisch würde sich Wasser herausbilden und Fleisch aus Wasser –: wenn aber jeder begrenzte Körper von einem begrenzten Körper ausgeschöpft werden kann, so ist es offenkundig, daß nicht alles in allem vorhanden sein kann. Wenn man nämlich das aus dem Wasser sich bildende Fleisch wegnähme und wenn aus dem übriggebliebenen Wasser erneut weiteres durch Entmischung sich bildete – wenn dies sich Herausbildende auch immer weniger sein wird –, so wird es dennoch nach der Seite der Geringfügigkeit hin eine bestimmte Größe nicht unterschreiten. Wenn dann also entweder die entmischende Herausbildung zum Stillstand kommt, dann ist nicht alles in allem enthalten – denn in dem restlichen Wasser ist dann kein Fleisch mehr vorhanden oder wenn andrerseits kein Stillstand eintritt, sondern immer weiteres Ausschöpfen stattfindet, dann werden in einer begrenzten Größe gleichartige Anteile von begrenzter Größe, aber unbegrenzt an Menge enthalten sein. Das ist aber unmöglich. – Außerdem, wenn jeder Körper durch Wegnahme von etwas notwendig kleiner werden muß, das Wieviel aber von (z.B.) Fleisch nach Größe und Kleinheit begrenzt ist, so ist offenkundig, daß aus dem kleinsten Fleischteil sich kein Körper mehr herausbilden wird; [188a] denn der wäre ja noch kleiner als der kleinste.
Weiter, in den unendlich vielen Körpern müßte auch von Anfang an schon unendlich viel Fleisch, Blut, Gehirn (u.s.w.) enthalten sein, zwar ❬nicht❭ sorgsam voneinander getrennt, doch deshalb nicht weniger vorhanden, und ein jedes in unbegrenzter Menge. Das ist aber unsinnig.
Die Behauptung, daß die Entmischung nicht bis zum Ende durchgehe, ist zwar ohne Einsicht ausgesprochen, sagt dennoch Richtiges; Zustände sind nämlich nicht abtrennbar. Wenn nun Farben und Beschaffenheiten sich in Mischung befinden, und wenn die dann entmischt werden, so wird es etwas Weißes und etwas Gesundes geben, das nicht ein unterschiedenes Etwas ist, aber auch nicht nur an einem Gegenstand vorkommt. So benimmt sich dieser (Welt-)Geist sonderbar: Er versucht sich an Unmöglichem, wenn er nämlich die Entmischung zwar will, diese aber unmöglich durchzuführen ist, sowohl nach Seite des So-und-so-viel wie nach der von So-und-so-beschaffen; u. z. der Vielheit nach nicht, weil es keine kleinste Größe gibt, der Eigenschaft nach nicht, weil die Zustände nicht für sich sein können. –
Nicht richtig ist es auch, wie er die Entstehung der gleichartigen Stoffe annimmt. Es gibt zwar so eine Art der Zerteilung wie Dreck zu Dreck, es gibt aber auch ganz andere; und es ist durchaus nicht die gleiche Art und Weise, wie Ziegelsteine aus einem Haus entnommen werden könnten oder ein Haus aus Ziegeln gebaut ist, und so auch Wasser und Luft auseinander bestünden und entstünden!
Besser ist es, weniger und eine begrenzte Anzahl von Grundstoffen anzunehmen, wie es Empedokles tut.
5. Alle machen sie also Gegensätze zu Anfangsgründen, sowohl die, welche sagen, das All sei eins und unterliege keinem Wandel – Parmenides macht ja auch Warmes und Kaltes zu Prinzipien, er gibt diesen nur die Namen »Feuer« und »Erde« –, wie auch die, welche Lockeres und Dichtes setzen, und Demokrit, der das Volle und Leere nimmt, von denen das eine, wie er sagt, als Seiendes, das andere als Nichtseiendes vorkommt; außerdem (unterscheidet er noch) nach Lage, Gestalt, Anordnung; diese drei sind wieder Oberbegriffe von Gegensätzen: die von »Lage« sind: oben – unten, vorn – hinten; die von »Gestalt«: gewinkelt – winkellos, gerade – rund. Daß also alle die Anfänge irgendwie als Gegensätze ansetzen, ist klar. Und das aus gutem Grund: denn Anfänge dürfen weder auseinander herkommen noch aus Anderem, und umgekehrt muß aus ihnen alles herleitbar sein. Den ersten Gegensätzen kommen nun (genau) diese (Bestimmungen) zu: Wegen der Tatsache, daß sie die ersten sind, (stammen sie) nicht aus Anderem; auf Grund ihrer Gegensätzlichkeit sind sie nicht auseinander herleitbar.
Aber dies muß man auch auf der Begriffsebene untersuchen, wie es denn zustandekommt. Als erstes ist aufzustellen (der Satz): Nichts unter allem, was es gibt, ist von der Art, daß es Beliebiges entweder bewirkt oder Beliebiges von Beliebigem erfährt: und es entsteht auch nicht Beliebiges aus Beliebigem, außer man nähme das im Sinn des Nebenbei-Zutreffens. Wie sollte denn aus einem »gebildet« ein »weiß« werden, wenn nicht zusätzlich dem »nicht-weiß« oder »schwarz« das »gebildet« nebenbei zuträfe? Hingegen, weiß wird etwas nur aus einem nicht-weißen Zustand, wobei hier nicht jede Bestimmung möglich ist, sondern es kommt nur in Frage »schwarz« oder ein Mittelwert (zwischen schwarz und weiß); und »gebildet« wird [188b] etwas aus »nicht-gebildet«, nur wieder nicht aus allen möglichen Zuständen, sondern aus »ungebildet« oder aus Mittelzuständen, wenn es sie hier geben sollte. Aber auch umgekehrt, nichts geht unter in das erste Beliebige; z.B. »weiß« nicht zu »gebildet«, außer vielleicht einmal nebenbei zutreffend, sondern immer nur in »nicht-weiß«, und nicht in Beliebiges, sondern in »schwarz« oder eine Mittelfarbe; ebenso verfällt »gebildet« zu »nicht-gebildet«, und auch hier nicht wieder in einen beliebigen Zustand, sondern in »ungebildet« oder einen etwa vorhandenen Mittelzustand.
In gleicher Weise gilt das auch bei allem Übrigen, da sich auch das Nicht-Einfache, sondern Zusammengesetzte unter dem, was es gibt, nach dem gleichen Verhältnis verhält. Nur wegen der Tatsache, daß die entgegengesetzten Zustände nicht immer einen Namen haben, bleibt verborgen, daß dies geschieht. Es muß doch notwendig alles Wohlgefügte aus Ungefügtem entstehen, und umgekehrt das Ungefügte aus Gefügtem; und untergehen muß das Gefügte in eine Ungefügtheit, und dies darf nicht eine beliebige, sondern muß die entgegengesetzte sein. Und es macht hier keinen Unterschied, ob man von »Wohlgefügtheit« redet oder von »Ordnung« oder von »Zusammensetzung«; es ist klar, daß (es sich jedesmal um) das gleiche Verhältnis (handelt). Aber nun, auch so ein Ding wie »Haus«, »Standbild« und anderes derart entsteht auf die gleiche Weise: Ein Haus entsteht aus dem Vorzustand des Nicht-Zusammengesetztseins, sondern vielmehr Getrennt-Herumliegens von diesem und jenem (Baustoff); ein Standbild, und überhaupt etwas formend Gestaltetes entsteht aus dem Zustand der Ungestaltetheit. Und ein jedes von diesen ist entweder Anordnung oder eine Art Zusammensetzung.
Wenn dies nun alles stimmt, so kann man sagen: Jedes Entstehende entsteht und jedes Vergehende vergeht entweder aus Gegenteiligem oder zu Gegenteiligem, und in die Mittelzustände dazwischen. Nun sind aber diese Mittelzustände ihrerseits aus den Gegensätzen herleitbar, z. B. Farbschattierungen aus Weiß und Schwarz. Also: Alles natürlich Entstehende wäre entweder selbst Gegensatz oder aus Gegensätzen (herleitbar).
Bis so weit sind etwa auch von den Anderen die Meisten mitgefolgt, wie wir früher sagten. Sie alle sprechen ja die Grundbausteine und die von ihnen so genannten »Anfänge«, wiewohl ohne Begriff setzend, doch als Gegensätze an, als ob sie von der Wahrheit selbst dazu gezwungen wären. Sie unterscheiden sich untereinander darin, daß die einen grundsätzlichere, die anderen nachgeordnete Gegensätze annehmen, und die einen solche, die dem Begriffe nach bekannter sind, die anderen der Wahrnehmung nach bekanntere, – die einen setzen Warm und Kalt, die anderen Feucht und Trocken, wieder andere Ungerade und Gerade oder Streit und Liebe als Ursachen des Werdens an; dies unterscheidet sich voneinander in der besprochenen Weise –; so daß sie irgendwie das Gleiche sagen und auch wieder Unterschiedliches: untereinander Unterschiedliches, wie es den meisten (von ihnen) ja selbst so scheint; das Gleiche aber, insofern dies alles entsprechend ist. Sie nehmen es sich ja aus der gleichen Anordnung. Die einen [189a] unter diesen Gegensätzen sind bekanntermaßen umfassend, die anderen werden umfaßt. Insoweit also reden sie sowohl gleich wie auch verschieden, und schlechter und besser auch, und die einen fassen Bekannteres nach dem Begriff, wie soeben gesagt, die anderen solches nach der Wahrnehmung – das Allgemeine ist dabei das nach dem Begriff Bekannte, das Einzelne das nach der Wahrnehmung; denn der Begriff ist auf das allgemeine Ganze gerichtet, die Wahrnehmung auf den einzelnen Teil –; z.B. das »Große-und-Kleine« ist bekannter nach dem Begriff, das Lockere und das Dichte nach der Wahrnehmung.
Daß also die Anfangsgründe gegensätzlich sein müssen, ist klar.
6. Anschließend wäre darüber zu sprechen, ob es zwei oder drei oder mehr sind. Ein einziges sein kann es ja nicht, weil die Gegensätze nicht einer sind; aber auch unendlich viele nicht, weil dann das Vorhandene nicht erklärbar würde und weil es einerseits innerhalb einer jeden einheitlichen Gattung nur eine einzige Entgegensetzung gibt – »Dasein« ist aber so eine einheitliche Gattung – und andrerseits weil eine Herleitung aus einer begrenzten Anzahl möglich ist, und zwar besser aus einer begrenzten Anzahl – so Empedokles – als aus unendlich vielen; er meint ja, alles das auch leisten zu können, was Anaxagoras aus seinen unendlich vielen herleitet. Des weiteren sind einige Gegensätze grundsätzlicher als andere, und andere entstehen auseinander, z.B. süß und bitter, weiß und schwarz; die Grundanfänge dagegen müssen immer bestehen.
Daß es also weder ein einziger ist noch unendlich viele, ist daraus klar. Indem es somit eine begrenzte Anzahl ist, so hat es einen guten Grund, nicht nur zwei anzusetzen. Man kann ja wirklich in Schwierigkeiten kommen bei der Frage, wie denn entweder die Dichte in der Verfassung sein soll, an der Dünnheit etwas zu bewirken, oder umgekehrt diese an der Dichte. Das gilt gleicherweise auch von jedem beliebigen anderen Gegensatz: Weder bringt die Liebe den Streit zusammen und macht etwas aus ihm, noch der Streit aus ihr, sondern beide zusammen bewirken ein Drittes, von ihnen Verschiedenes. Einige nehmen noch mehr Anfänge an, aus denen sie die Beschaffenheit des Seienden errichten.
Außerdem könnte man auch noch an folgendem Punkt in Schwierigkeiten kommen, wenn man den Gegensätzen nicht einen von ihnen verschiedenen Naturgegenstand zugrundelegte: Wir sehen die Gegensätze bei keinem Seienden als dessen Wesen vorkommen; ein Grund-Satz darf aber nicht von etwas schon Vorliegendem ausgesagt werden, denn dann gäbe es ja einen Grund des Grundes. Das Zugrundeliegende ist doch der Anfang, und es scheint vor dem von ihm Ausgesagten zu liegen.
Weiter, wir behaupten, daß ein Ding nicht einem Ding entgegengesetzt sein kann. Wie sollte dann aus Nicht-Dingen Ding (herleitbar) sein? Oder, wie sollte Nicht-Ding grundsätzlicher sein als Ding?
Also: Wenn jemand die frühere Beweisführung für richtig halten will, und diese nun auch, so ist es notwendig – wenn [189b] man sie doch beide retten will –, etwas Drittes zugrunde zu legen, in dem Sinne, wie jene sprechen, die da behaupten, das Welt-Ganze sei ein einziger Naturstoff, z.B. Wasser oder Feuer oder ein Stoff, der mitten zwischen ihnen liegt. Dabei spricht mehr für dieses Mittlere; denn Feuer, Erde, Luft und Wasser sind bereits mit Gegensätzlichkeiten verflochten. Deswegen handeln nicht unvernünftig die, welche das Zugrundeliegende als verschieden von diesen ansetzen; von den übrigen die, welche Luft annehmen; denn die Luft hat unter den übrigen Grundstoffen noch am wenigsten sinnlich wahrnehmbare Besonderheiten. Danach käme das Wasser. Alle aber bilden dieses Eine mit Hilfe der Gegensätze zur Form, durch Dichte und Lockerheit, durch Mehr und Weniger; dies bedeutet aber, verallgemeinert, ganz klar Übermaß und Mangel, wie früher schon gesagt. Und sie scheint alt zu sein diese Lehrmeinung, daß das Eine verbunden mit Übermaß und Mangel die Anfangsgründe des Seienden sind, nur wurde sie nicht auf gleiche Art vertreten, sondern die Alten ließen die Zwei aktiv handeln, das Eine passiv erleiden, von den Späteren sagen einige, im Gegenteil, das Eine handle eher, die Zwei verhielten sich passiv.
Die Behauptung also, die Grundbestandteile seien drei, scheint, wenn man sie mit Hilfe dieser und anderer derartiger Überlegungen nachprüft, einige Vernunft für sich zu haben – wie schon gesagt –, die Ansetzung von mehr als dreien aber nicht mehr. Als erleidender Gegenstand der Wirkungen reicht doch das eine völlig aus. Wenn aber, angenommen, es seien vier, dann zwei Gegensatzpaare auftreten werden, so wird einem jeden Paar für sich ein von ihnen verschiedenes Mittelding zukommen müssen; wenn sie aber auseinander das Werden hervorbringen können, da sie doch zwei sind, dann wäre eines dieser Gegensatzpaare überflüssig. Zugleich ist es aber auch unmöglich, daß die ersten Gegensatzpaare eine Mehrheit sein sollten. Denn »Dasein« ist eine einheitliche Gattung des Seienden, so daß sich die Anfangsgründe allein der größeren oder geringeren Grundsätzlichkeit nach von einander unterscheiden werden, aber nicht durch ihre Gattung; denn in einer Gattung findet sich immer nur eine Entgegensetzung, und alle Entgegensetzungen scheinen auf eine einzige hinzuführen. –
Daß also der Grundbaustein weder ein einziger ist, noch mehr davon als zwei oder drei vorhanden sind, ist klar. Was aber von diesen beiden gelten soll, das zu entscheiden enthält, wie gesagt, viel Schwierigkeit.
7. Folgendes wollen nun wir selbst darüber sagen, indem wir den gesamten Begriff des Werdens durchgehen. Es ist ja der Natur gemäß, das Allgemeine zuerst zu sagen, danach gesondert die Einzelheiten anzuschauen. Wir sagen also: »Es entsteht aus Einem ein Anderes, oder aus einem Verschiedenen ein Verschiedenes«, und wir sprechen damit entweder ein Einfaches an oder ein Zusammengesetztes. Damit meine ich Folgendes: Es gibt doch solche Sätze wie »ein Mensch wird gebildet« oder »das Nicht-Gebildete wird gebildet« oder »der nicht-gebildete Mensch wird ein gebildeter Mensch«. Hierbei [190a] nenne ich »einfach« auf der Seite des Werdenden die Bestimmungen »Mensch« und »nicht-gebildet«, einfach auf der Seite des Gewordenen steht »gebildet«. Zusammengesetzt aber ist sowohl das Gewordene wie das Werdende, wenn wir die Aussage machen, der »nicht-gebildete Mensch« werde ein »gebildeter Mensch«. Hiermit sagt man im einen Fall nicht nur »das wird es«, sondern auch »daraus wird es«, z. B. »aus nicht-gebildet gebildet», aber das wird nicht in allen Fällen so gesagt: denn es ist noch keiner »aus einem Menschen« »ein Gebildeter« geworden, sondern »ein Mensch« ist »gebildet« geworden.
Von den Dingen, die, wie wir sagen, als Einfache ihr Werden vollziehen, beharren die einen bei diesem Veränderungsablauf, die anderen beharren dabei nicht; »Mensch« bleibt ja erhalten, wenn ein Mensch gebildet wird, und es bleibt dabei; hingegen, »nicht-gebildet« und »ungebildet« beharrt weder bei einfachem noch bei zusammengesetztem Auftreten.
Nachdem dies so bestimmt ist, kann man, wenn man es so ansieht, wie wir sagen, aus allem, was da wird, folgende Annahme herleiten: Es muß immer etwas als das, was da wird, zugrunde liegen, und dieses, mag es auch der Zahl nach einheitlich sein, so ist es doch der Art nach nicht eins – mit »der Art nach« und »dem Begriff nach« meine ich dasselbe –; denn »Menschsein« und »ungebildet-sein« ist begrifflich nicht dasselbe, und das eine bleibt erhalten, das andere nicht. Das, was (bei diesem Werdensverlauf) kein Gegenteil hat, bleibt erhalten – »Mensch« bleibt ja erhalten –, hingegen »nicht-gebildet« und »ungebildet« beharrt nicht; und auch nicht das aus beiden Zusammengesetzte, wie z.B. »ungebildeter Mensch«. Der Ausdruck »aus etwas wird etwas« – und nicht: »etwas wird etwas« – wird in größerem Umfang bei nicht-beharrenden Bestimmungen gebraucht, z.B. »aus ungebildet gebildet werden«, »aus einem Menschen« aber (wird man) nichts. Indessen, auch bei Beharrendem spricht man bisweilen genauso: »aus dem Erz« wird eine Statue, sagen wir, und nicht: »das Erz« wird zur Statue. Im Falle des Werdens aus einem Gegensätzlichen und Nicht-Beharrenden gibt es beide Aussageweisen, sowohl »aus diesem wird das« und »das wird das«, also sowohl »aus einem Ungebildeten« wie auch »der Ungebildete« wird ein Gebildeter. Und bei der Zusammensetzung genauso: Sowohl »aus einem ungebildeten Menschen« als auch »ein ungebildeter Mensch« wird, wie man sagt, ein gebildeter.
Nun hat »werden« ja viele Bedeutungen, und von Vielem kann man nicht einfach sagen »es wird«, sondern immer nur »es wird etwas Bestimmtes«; im strengen Sinne werden – das können nur Dinge: so ist es nun bei allen übrigen Bestimmungen offenkundig, daß ihrer Veränderung etwas, was da wird, zugrunde liegen muß – denn »irgendwiegroß«, »irgendwiebeschaffen«, »in Beziehung zu etwas«, »irgendwann« und »irgendwo« können veränderliche Bestimmungen nur an etwas Zugrundeliegendem sein wegen der Tatsache, daß allein das Ding von nichts anderem als seinem Zugrundeliegendem ausgesagt werden kann, sondern umgekehrt nur alles übrige von dem Ding –; daß aber auch die Gegenstände und was sonst noch [190b] im einfachen Sinne ist, aus einem gewissen Zugrundeliegenden entstehen, dürfte für einen, der genau hinsieht, offenkundig werden. Immer ist ja schon etwas da, was zugrunde liegt, woraus das Werdende entsteht, z.B. die Pflanzen und Tiere aus Samen. Es entsteht das im einfachen Sinn Werdende teils durch Umformung, z. B. ein Standbild; teils durch Hinzutun, z.B. Dinge, die wachsen; teils durch Fortnehmen, z.B. wenn aus dem Stein eine Hermesfigur wird; teils durch Zusammenfügung, z.B. ein Haus; teils durch Eigenschaftsveränderung, z.B. bei Dingen, die sich in ihrem Stoff wandeln. Alles, was so entsteht, entsteht ganz offenkundig von Grundlagen aus. Es ist also aus dem Gesagten klar, daß jedes Werdende immer ein Zusammengesetztes ist: es gibt das Etwas, das da wird, und das, wozu dieses wird, und dies auf doppelte Weise: Entweder das Zugrundeliegende oder das Gegensätzliche. Mit Gegensätzlichkeit meine ich dergleichen wie »ungebildet«, mit Zugrundeliegen so etwas wie »Mensch«; und »Ungestaltetheit«, »Formlosigkeit« und »Ungeordnetheit« sind Gegensätzliches, »Erz«, »Stein« oder »Gold« dagegen sind Grundlage.
Es ist also klar: Wenn es Ursachen und Anfangsgründe des von Natur aus Vorhandenen gibt, aus welchen als den ersten es ist und geworden ist, und zwar nicht in der Nebenbedeutung der Worte, sondern ein jedes, das ausgesagt wird, nach seinem Wesen, dann entsteht alles aus dem Zugrundeliegenden und der Form(gebung). Denn der Ausdruck »gebildeter Mensch« setzt sich doch wohl aus »Mensch« und »gebildet« zusammen; man kann ihn ja in deren Begriffe auflösen. Es ist damit klar, daß das Werdende aus diesen (Stücken) entsteht. Das Zugrundeliegende ist aber der Zahl nach eins, der Art nach zwei – denn »Mensch«, »Gold« und überhaupt jedes zählbare Stoff-(Stück) ist eher ein bestimmtes »Dieses-da«, und es ist nicht nur so nebenbei, daß das Werdende aus ihm entsteht; hingegen ist »Fehlen der Bestimmtheit« und »Entgegensetzung« ein nur nebenbei Eintreffendes –; eines ist jedoch die Form, z.B. »Anordnung« oder »Bildung« oder etwas anderes, das so ausgesagt werden kann. Deswegen ist es einerseits erforderlich, die Anfangsgründe als zwei anzusprechen, andrerseits aber auch als drei. Und man kann sie auch als die Gegensätze bestimmen, wie wenn z.B. jemand »gebildet und ungebildet« oder »warm und kalt« oder »wohlgefügt und ungefügt« nennen wollte, – andrerseits kann man es auch wieder nicht; denn die Gegensätze können unmöglich von einander Einwirkung erfahren. Aber auch das klärt sich auf Grund der Tatsache, daß das Zugrundeliegende ein Anderes ist: dies ist nämlich kein Stück eines Gegensatzes.
Also: Auf gewisse Weise sind die Prinzipien nicht mehr als die Gegensätze, sondern – zahlenmäßig bestimmt – zwei; sie sind aber auch wieder nicht durchaus nur zwei – wegen der Tatsache, daß ihnen das »sein« auf verschiedene Weise zutrifft –, [191a] sondern drei; denn verschieden voneinander ist »Mensch-sein« und »ungebildet-sein«, und »ungeformt-sein« und »Erz-sein«.
Wie viele Anfangsgründe der im Werdensverlauf befindlichen Naturgegenstände es gibt, und in welchem Sinne [191a] diese Anzahl zu nehmen ist, darüber ist nun gesprochen. Und klar ist: Es muß etwas den Gegensätzen zugrunde liegen, und die Gegensätze müssen zwei sein. Auf eine bestimmte andere Weise ist das aber nicht notwendig; dann wird es reichen, wenn das eine der Gegensatzglieder durch seine bloße Abwesenheit und Anwesenheit den Umschlag bewirkt.
Das zugrundeliegende Naturding wird der Erkenntnis zugänglich mittels einer Entsprechung: Wie sich zum Standbild das Erz, zur Liege das Holz oder zu anderen Dingen, die Gestaltung (erfahren) haben, das Ungestaltete verhält, bevor es die Gestaltung an sich genommen hat, genauso verhält sich dies (der Grund-Stoff) zum bestimmten Dasein, zum Dieses-da, zum Seienden. Ein Anfang ist also dies – allerdings ist es nicht in dem Sinne eins und seiend wie das Dieses-da –, (ebenfalls) einer die (Form), auf die der Begriff zielt, und schließlich das diesem Entgegengesetzte, das Fehlen-der-Bestimmtheit.
In welchem Sinn dies zwei, in welchem mehr (als zwei) sind, darüber ist in den obigen Ausführungen gesprochen. Zuerst wurde gesagt, daß Anfangsgründe allein die Gegensätze seien, später dann, daß notwendig ein Anderes ihnen zugrunde liege und es also drei seien. Aus den jetzigen Ausführungen ist klargeworden, welches der Unterschied unter den Gegensätzen ist. Ob freilich die Form das Wesen ist oder das Zugrundeliegende, ist noch nicht klar. Wie viele Anfangsgründe es sind und welche, das soll nun als einsichtig gemacht gelten.
8. Daß sich allein auf diese Weise auch die Schwierigkeit der Alten löst, wollen wir danach darlegen: Auf der Suche nach der Wahrheit und nach dem natürlichen Wesen alles Seienden gerieten die Ersten in der Wissenssuche gewissermaßen vom Wege ab und wurden infolge von Unwissenheit auf einen anderen Weg gestoßen; und so sagen sie denn, etwas Seiendes könne weder entstehen noch vergehen wegen der Notwendigkeit der Annahme, Entstehendes müsse entstehen entweder aus Seiendem oder aus Nichtseiendem, – beides aber sei unmöglich: Seiendes entstehe nicht – es sei ja schon –, und aus Nichtseiendem gehe ja wohl nichts hervor; denn da müsse schon etwas vorhanden sein. Und was sich im Anschluß daran ergibt, das verstärkten sie noch und sagen also, Vielheit gebe es gar nicht, sondern allein das »Seiende selbst«.
Sie faßten also diese Meinung, aus den angeführten Gründen. Wir aber behaupten dagegen: (Ausdrücke wie) »aus Seiendem oder Nichtseiendem entstehen« oder »Nichtseiendes [191b] oder Seiendes bewirkt oder erfährt etwas« oder »etwas wird das« unterscheiden sich auf eine Art durchaus nicht von Sätzen wie »der Arzt tut oder erfährt etwas« oder »durch den Arzt ist oder entsteht etwas«; weil also dies in zweifacher Bedeutung ausgesprochen wird, so klarerweise auch die Ausdrücke »aus Seiendem« und »Seiendes bewirkt oder erfährt«. (Beispiel:) »Ein Haus baut der Arzt«, – nicht als Arzt, sondern als Bauherr; und: »weiß wird er«, – nicht als Arzt, sondern insofern er vorher schwarz war; aber: »er heilt« und »er geht seiner ärztlichen Eignung verlustig«, – dies als Arzt. Da aber Sätze wie »der Arzt tut oder erfährt etwas« oder »infolge der Einwirkung des Arztes tritt etwas ein« in ganz besonders eigentlicher Bedeutung dann von uns ausgesagt werden, wenn er als Arzt dies alles erfährt, tut oder werden läßt, so ist klar: Auch der Ausdruck »aus Nichtseiendem entstehen« bezeichnet dieses »in-welcher-Hinsicht-es-nichtseiend-ist«. Jene machten diesen Unterschied nicht, gerieten auf den Abweg, und durch diese Unkenntnis vermehrten sie den Irrtum so sehr, daß sie zu der Meinung gelangten, nichts entstehe oder sei von allem Übrigen, sondern daß sie das gesamte Werden aufhoben. Wir selbst sagen ja auch: Aus Nichtseiendem kann strenggenommen nichts entstehen, allerdings (sagen wir dazu:) in irgendwie bestimmter Hinsicht kann sehr wohl etwas aus Nichtseiendem entstehen, z.B. in nebenbei zutreffender Bedeutung – aus einer nicht vorhandenen Bestimmung, was rein für sich »nichtseiend« ist, nicht aus einem vorher darin schon Vorhandenen wird etwas; das ist es, was so erstaunlich erscheint und das Entstehen von etwas als unmöglich erscheinen läßt, als aus Nichtseiendem –. Ebenso aber (sagen wir): Auch aus Seiendem kann Seiendes nicht entstehen, außer nebenbei zutreffend; in diesem Sinne kann aber auch es, das Seiende, entstehen, auf die gleiche Weise wie wenn z.B. aus einem Tier ein Tier entsteht, und aus einem bestimmten Tier ein bestimmtes Tier, etwa ein Hund ❬aus einem Hund oder ein Pferd❭ aus einem Pferd, entsteht. Ein solcher Hund stammt dann ja nicht nur aus einem bestimmten Tier ab, sondern auch aus (der Gattung) »Tier« – nur freilich nicht, insofern sie diese Gattung ist –, denn dies ist schon von vornherein zutreffend. Wenn andrerseits etwas »Tier« nicht in diesem nur nebensächlichen Sinn werden soll, dann kann das nicht aus »Tier« sein; und wenn etwas »seiend« werden soll, dann nicht aus Seiendem; aber auch nicht einfach aus Nichtseiendem; der Ausdruck »aus Nichtseiendem« ist ja von uns seiner Bedeutung nach bestimmt als »insofern es nichtseiend ist«. Im übrigen heben wir den Satz »alles muß entweder sein oder nichtsein« nicht auf.
Das ist also eine Weise (der Lösung), eine andere liegt darin, daß es möglich ist, ein und dieselbe Aussage unter dem Blickwinkel der Möglichkeit und dem der Wirklichkeit zu machen. Dies ist in anderen Zusammenhängen mit Genauigkeit näher bestimmt. Also, wie wir schon sagten: Die Schwierigkeiten lösen sich, durch welche gezwungen sie (die Alten) einiges des oben Aufgestellten aufheben wollten. Das sind die Gründe, weswegen die Früheren so sehr abgekommen sind von dem Weg, der zu Werden und Vergehen und überhaupt zu Wechsel führt. Diese Beschaffenheit der Dinge, wäre sie gesehen worden, hätte ihre ganze Unkenntnis aufgehellt.
9. Berührt haben zwar auch andere sie schon, jedoch nicht hinreichend (erfaßt). Zunächst einmal stimmen sie nämlich der uneingeschränkten Behauptung zu, entstehen könne etwas nur aus Nichtseiendem, insoweit spreche Parmenides ganz richtig. Sodann scheint ihnen, wenn sie denn der Zahl nach [192a] eine einzige ist, so sei sie auch nach ihrer Leistung nur eine. Das ist aber ein gewaltiger Unterschied: Wir sagen ja, Stoff und fehlende Bestimmtheit seien verschieden von einander, und das eine davon sei nichtseiend in nebensächlicher Bedeutung, der Stoff, – die fehlende Bestimmtheit aber an und für sich; und er, der Stoff, liege nahe bei dem gegenständlichen Ding, ja sei in gewissem Sinne eines, die fehlende Bestimmtheit keinesfalls. Diese dagegen setzten »nichtseiend« und »das Groß-und-Kleine« ganz ähnlich, und zwar entweder als beide zusammengenommen oder als jedes getrennt für sich. Daher ist diese Art von Dreiheit ganz und gar verschieden von jener. Bis hierhin sind sie ja vorangekommen, daß irgendein Naturding zugrunde liegen muß, dieses machen sie allerdings zu einem einzigen. Wenn man auch eine Zweiheit daraus macht, indem man es »groß-und-klein« nennt, so tut man nichtsdestoweniger dasselbe; die andere (Seite) hat man dabei ja übersehen. Denn das beharrende Moment ist Mitursache des Werdenden zusammen mit der Gestaltung, so wie eine Mutter; hingegen, die eine Seite des Gegensatzes möchte oft, wenn man die Vernunft streng auf das Mangelhafte an ihr richtet, so erscheinen, als ob sie ganz und gar nicht sei. Wenn es doch etwas Göttliches und Gutes und Erstrebenswertes gibt, so sagen wir, daß das eine das Gegenteil dazu ist, ein anderes ist aber das, welches von der Art ist, nach diesem zu streben und zu greifen, soweit es dazu von sich aus in der Lage ist. Ihnen aber passiert es, daß das Gegenteil nach seiner eigenen Vernichtung strebt. Es kann aber doch weder die vollendete Form selbst nach sich selbst streben wegen der Tatsache, daß sie nach nichts mehr verlangt, noch das Gegenteil (nach seinem Gegenteil) – denn Gegensätze sind in bezug aufeinander vernichtend –, sondern dies (Strebende) ist der Stoff, so wie wenn Weibliches nach Männlichem und Häßliches nach Schönem (begehrt); nur, nicht die Bestimmung (häßlich) an und für sich, sondern etwas, dem dies nebenbei zutrifft, und ebenso nicht »weiblich« (an und für sich), sondern (ein Wesen), dem dies zutrifft. Dem Vergehen und dem Entstehen unterworfen ist er (der Stoff) in einer Hinsicht wohl, in anderer aber nicht. Wenn man ihn nämlich nimmt als das »an welchem«, so geht er im eigentlichen Sinne unter – ist doch das Vergehende »an ihm«, nämlich die fehlende Bestimmtheit –; nimmt man ihn aber nach seiner Leistung, so geht er nicht im Wortsinn unter, sondern ist dann notwendig unvergänglich und ungeworden. Wenn er nämlich entstünde, dann muß schon wieder etwas Erstes ihm zugrunde liegen, aus dem als schon in ihm Vorhandenen (er entstünde). Das ist aber doch eben dieses Wesen, so daß es dann schon wäre, bevor es würde: ich nenne eben »Stoff« das Erste einem jeden Zugrundeliegende, aus dem etwas als in ihm schon Vorhandenen wird, und zwar nicht nebenbei zutreffend. Wenn er andrerseits untergeht, so kommt man auf ihn zu allerletzt herunter, so daß er untergegangen sein wird, bevor er untergegangen ist.
Was aber den Anfangsgrund »nach der Form« anbetrifft (und die Fragen), ob er eines ist oder viele und welches oder welche, dies in Genauigkeit abzustecken, ist Aufgabe der »Ersten Philosophie«, so daß es denn bis zu der Gelegenheit zurückgestellt sein soll. Was aber die in der Natur vorkommenden und vergänglichen Formen angeht, so werden wir in [192b] unseren späteren Darlegungen darüber sprechen.
Daß es also Anfangsgründe gibt und welche es sind und wie viele der Zahl nach, das soll uns nun so bestimmt sein. Und nun beginnen wir an anderer Stelle nochmal und wollen von Anfang an vortragen.
1. Unter den vorhandenen (Dingen) sind die einen von Natur aus, die anderen sind auf Grund anderer Ursachen da. Von Natur aus: Die Tiere und deren Teile, die Pflanzen und die einfachen unter den Körpern, wie Erde, Feuer, Luft und Wasser; von diesen und Ähnlichem sagen wir ja, es sei von Natur aus. Alle diese erscheinen als unterschieden gegenüber dem, was nicht von Natur aus besteht. Von diesen hat nämlich ein jedes in sich selbst einen Anfang von Veränderung und Bestand, teils bezogen auf Raum, teils auf Wachstum und Schwinden, teils auf Eigenschaftsveränderung. Hingegen, Liege und Kleid, und was es dergleichen Gattungen sonst noch geben mag, hat, insofern ihm eine jede solche Bezeichnung eignet und insoweit es ein kunstmäßig hergestelltes Ding ist, keinerlei innewohnenden Drang zu Veränderung in sich; insofern es aber diesen (Gegenständen) nebenbei auch zutrifft, aus Holz oder aus Erde oder aus Stoffen, die aus einer Mischung beider sind, zu bestehen, haben sie (ihn), und zwar genau so weit; denn Naturbeschaffenheit ist doch eine Art Anfang und Ursache von Bewegung und Ruhe an dem Ding, dem sie im eigentlichen Sinne, an und für sich, nicht nur nebenbei, zukommt. – Mit »nicht nur nebenbei« meine ich folgendes: Es kann ja wohl vorkommen, daß jemand selbst zum Urheber von Gesundung an sich selbst werden kann, wenn er nämlich ein Arzt ist; aber doch nicht insoweit er gesundet, besitzt er die Heilkunst, sondern es trifft hier nur nebenbei zusammen, daß dieselbe Person Arzt und gesundender (Patient) ist; deswegen treten ja auch beide Bestimmungen getrennt voneinander auf. – Ganz ähnlich verhält sich auch ein jedes von allem übrigen, was hergestellt ist; keins von diesen Dingen enthält ja in sich den Anfangsgrund seiner Herstellung, sondern die einen haben ihn in Anderem und außerhalb ihrer, z.B. ein Haus und jeder übrige mit Händen hergestellte Gegenstand, die anderen haben ihn zwar in sich, aber nicht als eben diese, – etwa was nebenbei zutreffend Ursache für sich selbst werden könnte.
Naturbeschaffenheit ist also das Gesagte. Naturbeschaffenheit hat alles, was einen solchen Anfang hat. Und alles dieses sind Wesen; denn dies ist etwas Zugrundeliegendes, und Naturbeschaffenheit kommt immer an Zugrundeliegendem vor. Naturgemäß ist dieses und alles, was diesem, insofern es dies ist, zukommt, z.B. dem Feuer der Auftrieb nach oben. Von einer solchen Bestimmung kann man nicht sagen: »sie ist Naturbeschaffenheit«, auch nicht »sie hat eine«, aber: »sie ist von [193a] Natur aus« und »ist naturgemäß«. Was nun also »Naturbeschaffenheit« bedeutet, ist vorgetragen, und auch die Bedeutung von »von Natur aus« und »naturgemäß«.
Daß es Naturbeschaffenheit gibt, das nachweisen zu wollen, wäre ein lächerlicher Versuch. Es liegt doch auf der Hand, daß Vieles unter dem Vorkommenden von der Art ist. Offensichtliches aber mit Hilfe von Nichtoffensichtlichem zu erweisen, das ist Eigenschaft eines, der nicht beurteilen kann, was aus sich selbst und was nicht aus sich selbst erkennbar ist – daß es jemandem so gehen kann, ist nicht unbekannt: es kann ja auch einer, der von Geburt an blind ist, über Farben klug daherreden –, so daß solche Leute notwendig nur über Bezeichnungen reden, dabei aber nichts begreifen.
Naturanlage und eigentliches Wesen der von Natur aus vorhandenen Dinge scheint aber bei einigen (Leuten) bestimmt zu werden als das erste in einem jeden Vorfindliche, an und für sich noch ungestaltet: Z.B. wäre von einer Liege die Naturanlage das Holz, von einem Standbild das Erz. Zum Beweis dafür führt Antiphon an: Wenn man eine Liege in die Erde eingrübe und die Verrottung die Kraft bekäme, einen Sproß herauswachsen zu lassen, dann würde der nicht eine Liege, sondern nur Holz; komme doch die eine Bestimmtheit ihm nur nebenbei zu, dieser durch willkürlichen künstlichen Eingriff gesetzte Zustand (Liege), das eigentliche Wesen aber sei dasjenige, welches bei allen diesen Ereignissen durchweg sich erhalte. Und wenn ein jeder solcher Stoff sich zu einem anderen ebenso verhielte – z.B. Erz und Gold zu Wasser, Knochen und Holz zu Erde und ähnlich jedes beliebige andere –, dann sei eben jenes die Naturbeschaffenheit und das Wesen von ihnen. Deswegen sagen die einen, Feuer, andere, Erde, andere, Luft, andere Wasser, andere, Einiges davon, andere, alles dieses zusammen sei die Naturbeschaffenheit des Vorhandenen. Was davon einer nun als solches angenommen hat, sei es eins oder mehrere, dies und so vieles, sagt er dann, sei das ganze Sein, alles andere demgegenüber nur Ereignisse, Zustände und Anordnungen davon; und von diesen sei ein jedes ewig in seinem Bestand – denn es gebe bei ihnen keine gegenseitige Verwandlung das andere hingegen entstehe und vergehe in unermeßlicher Zahl.
Das ist die eine Weise, in der man von »Naturbeschaffenheit« spricht, nämlich: Der erste, einem jeden zugrundeliegende Stoff der Dinge, die Anfang von Wandel und Veränderung in sich selbst haben. Auf eine andere Weise ist es die Gestalt, die in den Begriff gefaßte Form. So wie nämlich »Werk« genannt wird das, was nach handwerklichen Regeln gefertigt ist, das Handwerkliche, ebenso wird »Naturding« genannt das Naturgemäße und Natürliche; aber weder im ersten Fall würden wir wohl sagen, etwas sei »nach handwerklichen Regeln gefertigt«, wenn es nur der Möglichkeit nach (z.B.) eine Liege ist, aber noch nicht die volle Form der Liege besitzt, oder so etwas sei ein »Werk«, noch auch entsprechend bei den von Natur bestehenden Dingen: Was der Möglichkeit nach Fleisch oder Knochen ist, hat ja weder schon sein eigenes Wesen, bevor es an sich genommen hat die begriffsgemäße Form, mittels derer wir es genau bestimmen und sagen »was Fleisch oder Knochen [193b]ist«, noch ist es »von Natur aus«. Auf andere Weise wäre also die Naturbeschaffenheit der Dinge, die Anfang von Veränderlichkeit in sich selbst haben, dies: Die Gestaltung, die Form, welche sich (von dem Ding) nicht abtrennen läßt, außer nur in Gedanken. – Das »aus diesen« (scil. Stoff und Form) ist nicht Naturbeschaffenheit, wohl aber »von Natur aus«, z.B. so etwas wie »Mensch«.
Und diese (Form) ist in höherem Maße Naturbeschaffenheit als der Stoff; ein jedes wird doch dann erst eigentlich als es selbst angesprochen, wenn es in seiner zweckhaft erreichten Form da ist, mehr als wenn es bloß der Möglichkeit nach ist. Sodann: Ein Mensch entsteht aus einem Menschen, nicht aber eine Liege aus einer Liege. Deswegen sagen sie ja auch, nicht das äußere Aussehen sei die Naturanlage, sondern (in diesem Fall) das Holz, weil daraus, wenn es sproßte, nicht eine Liege würde, sondern Holz. Wenn das also Naturbeschaffenheit sein soll, dann ist es auch die Gestalt; denn aus einem Menschen entsteht ein Mensch.
Ferner, »Naturanlage«, aufgefaßt als ein Werdevorgang, ist ein Weg hin zum (vollendeten) Wesen. Es ist ja hier nicht so wie beim Heilen: davon sagt man nicht, es sei ein Weg zur Heilkunst, sondern einer zur Gesundheit; das Heilen muß ja notwendig von der Heilkunst herkommen, nicht zu ihr hinführen; nicht so allerdings verhält sich »Naturanlage« zu »eigentlichem Wesen«, sondern: Was da natürlich aus etwas erwächst, geht, insoweit es sich natürlich weiterbildet, auf etwas anderes zu. Was nun wird natürlich gebildet? Nicht das »aus dem«, sondern das »zu dem hin«. Die (erreichte) Form ist also das natürliche Wesen.
»Gestalt« und »Naturbeschaffenheit« werden in doppelter Bedeutung ausgesagt: auch die fehlende Bestimmung ist in gewissem Sinne Form. Ob aber fehlende Bestimmung und Gegensatz bei dem strenggenommenen Entstehen etwas bedeuten oder nicht, das ist später zu untersuchen.
2. Nachdem bestimmt ist, wie viele Bedeutungen »Naturbeschaffenheit« hat, ist hierauf zu untersuchen, worin sich der Mathematiker vom Natur-Forscher unterscheidet – Flächen und Raumformen haben die natürlichen Körper ja auch, und Längen und Punkte, womit sich eben der Mathematiker befaßt –; zweitens (ist zu untersuchen), ob die Gestirnkunde eine von der Natur-Wissenschaft verschiedene Wissenschaft ist oder ein Teil von ihr. Wenn es doch Aufgabe des Natur-Forschers ist zu wissen, was Sonne oder Mond wirklich sind, sollte er sich dagegen um die ihnen wesentlich zukommenden Eigenschaften nicht kümmern, so wäre das unsinnig, zumal doch ganz offenkundig die Naturdenker über die Form von Mond und Sonne sprechen, und auch über die Frage, ob die Erde oder die ganze Welt kugelförmig ist oder nicht. Hiermit befaßt sich nun auch der Mathematiker, allerdings nicht insoweit dies alles Begrenzung eines natürlichen Körpers ist; und auch die Eigenschaften betrachtet er nicht, insofern sie ihnen als eben derartigen zutreffen; deswegen verselbständigt er sie auch, denn sie sind im Denken von der allgemeinen Veränderung der Dinge abtrennbar, und das macht überhaupt keinen Unterschied, und es ergibt sich nichts Falsches, wenn man sie abtrennt.
Ohne es zu wissen, machen auch die das Gleiche, welche sagen, daß es Ideen gibt: Sie verselbständigen nämlich die natürlichen Bestimmungen, die doch weniger abtrennbar sind als [194a] mathematische. Daß dies so ist, dürfte klarwerden, wenn man die Begriffsbestimmung beider Sorten von Gegenständen zu geben versuchte, und zwar sowohl der Gegenstände selbst wie auch ihrer Eigenschaften: dann werden nämlich »ungerade« und »gerade« »geradlinig« und »gekrümmt« schließlich auch »Zahl«, »Linie« und »Gestalt« ohne den Begriff »natürliche Veränderung« begegnen; »Fleisch«, »Knochen« und »Mensch« aber nicht mehr, sondern dies wird so in der Rede behandelt wie »Stupsnase«, aber nicht wie »gekrümmt«.
Dies belegen auch die mehr naturbezogenen unter den mathematischen (Lehren), wie Lehre vom Sehen, vom guten Klang, Gestirnkunde: sie verhalten sich gewissermaßen umgekehrt zur Geometrie. Die Geometrie betrachtet ja eine tatsächlich hingezeichnete Linie, aber eben nicht insofern sie diese Beschaffenheit hat; umgekehrt, die Lehre vom Sehen untersucht eine mathematische Linie, aber nicht insofern sie mathematisch ist, sondern insofern sie ein Naturverhältnis darstellt. Nachdem nun »Naturbeschaffenheit« zweifach zu fassen ist, nämlich einmal die Form (aussagt), und auch den Stoff, so ist die Untersuchung so zu führen, wie wenn wir bezüglich der Stupsnäsigkeit nachsuchten, was sie denn ist, also: Weder ohne Stoff (ist) solches, noch aber auf den Stoff beschränkt. Und nun könnte einer ja auch folgende Streitfrage aufwerfen: Da die Naturbeschaffenheiten also zwei seien, mit welcher von beiden sich wohl der Natur-Forscher zu befassen habe? Oder etwa mit dem aus beiden Zusammengesetzten? Aber, wenn mit dem Zusammengesetzten, dann auch mit jedem von beiden (Stücken)! Ist es nun Aufgabe einer und derselben (Wissenschaft) oder verschiedener, jedes der beiden zur Erkenntnis zu bringen? – Wenn man auf die Alten hinsieht, dann scheint der Gegenstand ja wohl der Stoff zu sein – denn nur zu einem kleinen Teil haben Empedokles und Demokrit die Form und das »was es wirklich ist« berührt –; wenn hingegen die Kunstfertigkeit der Naturbeschaffenheit nacheifert und es Aufgabe eines und desselben Wissens ist, Form und Stoff bis zu einem gewissen Grade zu kennen – z.B. beim Arzt ist es die Gesundheit einerseits und Galle und Schleim andrerseits, in deren Zusammensetzung Gesundheit besteht, und ähnlich auch beim Baumeister der Plan des Hauses und die Baustoffe, wie Ziegel und Holz; ebenso auch in den anderen Fällen so wäre es Aufgabe auch der Naturwissenschaft, beide Begriffe von Naturbeschaffenheit zur Erkenntnis zu bringen.
Weiter: Das »Weswegen« und das Ziel sind Aufgabe des gleichen (Wissens), und die derentwegen eingesetzten Mittel auch. Die Naturbeschaffenheit aber ist Ziel und Weswegen: welche Gegenstände nämlich, bei fortlaufend erfolgender Veränderung, ein Ziel haben, bei denen ist eben dieser letzte Punkt auch das Weswegen. Daher ist es lächerlich, wenn sich der Dichter dazu hinreißen ließ zu sagen: »Er nahm das Ende, dessentwegen er geboren ward«; denn es will nicht jeder Schlußpunkt Ziel sein, sondern nur der beste Zustand.