Pilgern mitten im Leben - Michael Kaminski - E-Book

Pilgern mitten im Leben E-Book

Michael Kaminski

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Beschreibung

Welche Richtung will ich meinem Leben geben und wonach sehne ich mich wirklich? Am Anfang des Pilgerns steht die Sehnsucht danach, das Leben neu auszurichten. Aus seinem reichen Erfahrungsschatz schöpfend, beschreibt der Theologe und Pilgerbegleiter Michael Kaminski in diesem Buch, wie Pilgern in Zeiten von Lebensumbrüchen heilsame Veränderungen herbeiführen kann. Neben kurzen Impulsen und Inspiration für den Weg enthält dieser Band zahlreiche Praxistipps. Ein wertvolles Begleitbuch für spirituelle Pilgerreisen.

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Aktualisierte und vollständig durchgesehene Neuausgabe 2020© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2016Alle Rechte vorbehaltenwww.herder.de

Umschlaggestaltung: Gestaltungssaal, RosenheimUmschlagmotiv: © Jürgen Fälchle – Fotolia.comFotos im Innenteil: Michael Kaminski

E-Book-Konvertierung: Newgen Publishing Europe

ISBN E-Book 978-3-451-81941-4ISBN Print 978-3-451-03226-4

Inhalt

Vorwort

Ich traf mich selbst – und wurde ein anderer

Phänomen Pilgern

Geschichtliche Facetten

Pilgern heute: spirituelles Wandern

Wandern oder Pilgern?

Gründe, sich heute aufzumachen

Beruf

Beziehung

Gesundheit

Suche nach Gott

Suche nach sich selbst

Selbstvergewisserung und biografische Deutung

Generationenverständigung

Initiation

Was Lebensübergänge eint

Sehnsucht

Abschied nehmen

Aufbrechen

Neues wagen

Wichtige Entscheidungen

Pilgern – welcher Weg soll’s denn sein?

Spanien

Frankreich

Schweiz

Deutschland und Österreich

Norwegen und Italien

Die richtige Begleitung: Pilgern zu zweit, allein, in der Gruppe, mit Rad, Esel oder Hund?

Wann das Pilgern beginnt – und wie es noch lange nicht endet

Wie viel Zeit will ich investieren?

Wie lang sollen die Etappen sein?

Das Zielerlebnis gestalten

Die Komfortzone verlassen

Das eigene Gepäck selbst tragen

So weit die Füße tragen – oder auch nicht

Keine Einzelzimmer?!

Sich aufmachen – Wege und Impulse

Baustelle Pilgern

Am Anfang war die Sehnsucht

Wandelbar – Pilgern zur Neuorientierung in der Mitte des Lebens

Stein um Stein – sich leicht pilgern

Gehen – trauern – wandeln

Mitten im Leben – biografisches Dekadepilgern

Das Pilgern geht weiter

Dank

Literatur

Ich traf …

Liza

Marc

Wolfgang und Marcel

Laurance

Núria und Sílvia

Melanie

Christina

Beate

Benjamin

Jonas

Elsebeth

Si has perdido el camino, busca las flechas …Están en tu corazón.

Wenn du den Weg verloren hast, suche die Pfeile …Sie sind in deinem Herzen.

Vorwort

Liebe Leserin, lieber Leser –liebe Weggefährtinnen und Weggefährten!

Im Moment kennen wir uns noch nicht. Aber das könnte sich schnell ändern. Denn ich lade Sie ein, mit mir einen Weg durch dieses Buch zu gehen. Es ist ein persönliches Buch, denn es handelt von mir, von Ihnen und von vielen anderen Menschen, die wir auf unserem Pilgerweg treffen.

Vielleicht befinden Sie sich gerade in einer Situation in Ihrem Leben, in der Sie auf der Suche sind, weil Sie nicht so recht wissen, wie es weitergeht. Aber eines wissen Sie schon: So wie bisher auf jeden Fall nicht. Deshalb suchen Sie nach einem neuen Weg – es könnte ein Pilgerweg sein.

Vielleicht waren Sie aber auch schon pilgernd unterwegs, dann wissen Sie ein wenig, was auf Sie zukommt. Wir werden auf diesen Seiten einige Zeit miteinander verbringen – und es wird wesentlich werden, denn es geht um unser Wesen, unseren Kern, es geht um Seele.

Ich möchte mit diesem Buch Lust machen, das Pilgern auszuprobieren, und ein paar Ideen und Anregungen geben, wie es gut gelingen kann, aufzubrechen und auch anzukommen – äußerlich und innerlich. Auf den ersten Seiten werde ich mich mit meiner eigenen Pilgergeschichte selbst ein wenig vorstellen, damit nachvollziehbar wird, welche Tradition und welche Erfahrungen mir wichtig sind. Ich sage es gleich: Weil es die Pilgertradition der Jakobswege ist, die mich in erster Linie geprägt hat, wird sich vieles in diesem Buch direkt oder indirekt auf das Pilgern auf Jakobswegen beziehen. Und dennoch sind viele Erkenntnisse auf einfache Weise auch auf andere Pilgerwege und -traditionen übertragbar.

Ich werde kurz das Phänomen Pilgern in seiner geschichtlichen und religiösen Entwicklung skizzieren, die Motivationen des Pilgerns der Menschen im Mittelalter beleuchten und dann ausführlicher auf die unterschiedlichen Hintergründe und Motivationen eingehen, aus denen heraus sich Menschen heutzutage auf den Weg machen. Die Erfahrung zeigt, dass es fast immer ein Lebensumbruch, eine Krise oder zumindest eine bestimmte außergewöhnliche Situation ist, vielleicht auch eine existenzielle oder spirituelle Suche, die Menschen zu Pilgerinnen oder Pilgern werden lässt. Ich zeige, was viele dieser Motivationen, so unterschiedlich sie auch sind, verbindet und auf welche Weise das Pilgern darauf einwirkt.

Wer zum Pilgern aufbrechen will, muss einige Entscheidungen treffen: Welchen Weg will ich gehen, wo soll er beginnen und enden? Will ich allein, zu zweit oder in der Gruppe pilgern? Hierzu gibt das Buch ganz praktische Entscheidungshilfen. Denn es kann, muss aber nicht gleich die ganz große Pilgerreise sein. Ich will dazu ermuntern, auch kleinere Pilgererfahrungen zu sammeln, deren inneres Erleben und auch ganz praktische Erkenntnisse vielleicht einmal in größere und längere Pilgerreisen einfließen können.

Verschiedene Lebenssituationen und -umbrüche sind mit unterschiedlichen Fragestellungen verbunden. Ich werde dazu im zweiten Teil des Buches einige Wegbeispiele anbieten, die anregen können, sich vertieft mit dem eigenen Thema auseinanderzusetzen, auch wenn man nur ein paar Tage unterwegs ist. Es geht bei diesen Wegideen um Themen wie Sehnsüchte und Aufbrechen, Vergangenheit und Zukunft, neue Orientierung und wichtige Entscheidungen, trauern und Abschied nehmen, wertschätzen und Bilanz ziehen.

Ich beschreibe dabei die Entwicklungen auf Wegen über mehrere Tage hinweg, wobei die Anregungen so verfasst sind, dass sie sich von ihrem inneren Spannungsbogen her auf jeden beliebigen Pilgerweg anwenden lassen. Die Impulse und Fragestellungen sind jeweils so gestaltet, dass sie auf eine bestimmte Lebenssituation oder eine Suche bezogen einen Entwicklungsprozess anregen, der sich im Rahmen einer mehrwöchigen Pilgerreise von ganz allein ergeben würde. Wer sich zunächst nur ein paar Tage aufmachen möchte oder sich auf einem Teil seines Weges mit einem bestimmten Thema beschäftigen will, bekommt also ganz konkrete Anregungen dazu.

An verschiedenen Stellen des Buches sind Beschreibungen von Begegnungen, die ich auf meinen Wegen hatte, eingeflochten. Mal heiter und kurios, mal nachdenklich und berührend beschreiben sie, welchen Menschen man auf Pilgerwegen so über die Füße laufen könnte. Weil es sich um sehr persönliche Begegnungen handelt, sind konkrete Namen und Orte oft nur Schall und Rauch, aber alle Menschen habe ich selbst getroffen. Zunächst aber – und damit beginnt auch dieses Buch – bin ich mir selbst begegnet.

Wenn Sie noch nie gepilgert sind, hoffe ich, dass ich Sie mit diesem Buch neugierig machen kann. Sie werden vielfältige Ideen und Entscheidungshilfen finden. Sollten Sie bereits gepilgert sein, finden Sie motivierende Anregungen, wie Sie beim nächsten Mal ein bestimmtes Thema oder eine Frage neu angehen könnten. So oder so, sicherheitshalber möchte ich folgenden Warnhinweis an den Anfang stellen: Achtung! Pilgern kann süchtig machen und wird Ihr Leben verändern.

Jetzt aber los, wir starten mit einem fröhlichen Wunsch, mit »Guten Weg!«, mit »Buen Camino!«, wie man auf dem Jakobsweg in Spanien zu sagen pflegt, und mit dem alten spanisch-lateinischen Pilger-Mutmach-Wort Ultreia, das so viel bedeutet wie »Immer weiter!«, besonders dann, wenn’s mal schwierig wird.

Auf zu neuen Abenteuern!

Ultreia!

Ich traf mich selbst – und wurde ein anderer

Ich traf auf irgendeinem Jakobsweg einen Pilger, der schon öfter unterwegs gewesen zu sein schien. Typisch deutsch mit kariertem Wanderhemd steht er da, dazu jedoch unrasiert und mit einem Kopftuch, das die Idee aufkommen lässt, es hier mit einem gestrandeten Piraten zu tun zu haben. Aber der große Rucksack, der markante Wanderstab und schließlich die Wade des Pilgers, auf der eine tätowierte Jakobsmuschel zu sehen ist, lassen keinen Zweifel daran: Das muss ein waschechter Pilger sein! Ich bin neugierig, lächele ihm zu und spreche ihn bei nächster Gelegenheit an einem Rastplatz an.

»Was treibt dich auf den Weg?«, frage ich – ein klassischer Einstieg zwischen Pilgernden, wenn man sich nicht lange mit Smalltalk aufhalten will. Wir stellen uns einander vor: woher, wohin? Ich erfahre, dass es sich um Michael aus München handelt. »Also, wie ging es bei dir los?«, frage ich, und Michael fragt zurück: »Hast du Zeit? Das ist eine etwas längere Geschichte …«

Ich traf …

Weil es sich gehend besser plaudert, legen wir wieder los. Michael beginnt zu erzählen. »Eigentlich bin ich in das Pilgergeschehen hineingerutscht. Zwei Kollegen bei der Evangelischen Jugend wollten 2007 einen dreitägigen Pilgerweg für junge Männer anbieten. Die Reise wurde ausgeschrieben, aber beiden kam etwas dazwischen. Und ich bin eingesprungen. Als Religionspädagoge traute ich mir zu, eine Gruppe auf einem Weg zu begleiten. Aber ich hatte noch keine Ahnung vom Pilgern, mal abgesehen davon, dass auch ich wie viele andere Hape Kerkelings Pilgererfahrungen gelesen hatte. Ich wanderte eigentlich nicht gern, aber ich hielt es doch für klug, den geplanten Weg schon mal allein abzulaufen, damit ich mich orientieren konnte und wusste, wo Pausen angebracht sind oder wo man vielleicht einen Impuls zum Nachdenken geben könnte. Es sollte der Jakobsweg sein, der von München aus in Richtung Bodensee führt. Wenn man ihn komplett geht, führt er auf 2600 Kilometern von München durch das Allgäu, weiter durch die Schweiz zum Genfer See, mitten durch Frankreich und schließlich durch Spanien nach Galicien zum Pilgerziel Santiago de Compostela.«

»Aber du wolltest mit den Jungs schon nur in Bayern pilgern, oder?«, frage ich sicherheitshalber nach.

»Ja«, antwortet Michael, »mir war wichtig, dass wir dort mit dem Pilgern beginnen, wo wir zu Hause sind. Mit vier mehr oder weniger jungen Männern und einem Freund, dem Diakon Tobias Rilling, bin ich dann aufgebrochen. Eine fröhliche Truppe war das! Aber unterwegs fiel mir auch auf, dass alle nicht nur einen Rucksack, sondern auch ein inneres Päckchen zu schleppen hatten: die Trennung der Eltern, die Frage nach dem richtigen Studium, sich beruflich selbstständig zu machen oder angestellt zu bleiben, solche Dinge. Jedenfalls war keiner dabei, der einfach nur neugierig auf eine Pilgererfahrung war.«

»So habe ich das auf den Wegen auch wahrgenommen«, bestätige ich, »fast niemand bricht so zum Pilgern auf, als würde er einfach in den Urlaub gehen. Die Menschen sind auf der Suche, bringen ihre Lebensthemen mit, oft auch einen Umbruch oder eine Krise.«

Michael erzählt weiter: »Es war eine tolle Erfahrungen, mit den jungen Pilgern am Ziel, an der Jakobskirche in Schondorf, anzukommen. Aus heutiger Sicht kann ich sagen, dass es bereits dort um mich geschehen war: Der Pilgervirus, von dem viele sprechen, hatte mich schon infiziert. Ich wusste, ich muss von diesem Ort aus weitergehen. Von hier aus Richtung Santiago. Aber beim nächsten Mal für mich allein. Dabei war ich mir gar keines Umbruchs oder einer Krise in meinem Leben bewusst. Aber ich spürte, es würde mir guttun, einfach nur für mich zu sein. Ich wollte mich auf dem Weg schlicht besser kennenlernen.«

Jetzt will ich’s aber wissen: »Und, was hast du herausgefunden?«

»Ich brach noch im selben Jahr wieder auf, pilgerte zum Bodensee, was für mich damals als unerfahrener Wanderer schon eine Herausforderung war. Gerade deshalb war ich jedoch immer wieder stolz auf mich. Zunächst dachte ich, ich müsse abends unbedingt jemanden anrufen und erzählen, welche anstrengenden Wege ich gelaufen bin, wie viele Kilometer ich geschafft habe. Aber ich merkte bald, dass es überhaupt nicht darauf ankam, dass ich Lob von anderen hörte. Ich erkannte vielmehr, dass es darum ging, dass ich selbst auf mich stolz war.«

»Das klingt, als wärst du überheblich geworden.« Ich schaue Michael skeptisch an.

Er lächelt zurück: »O nein. Es war kein Stolz auf Kosten anderer, ich erlebte, was ich leisten konnte, körperlich und mental, konnte mich selbst besser sehen und klopfte mir anerkennend auf die Schulter. Solltest du auch mal probieren!«

»Darauf trinken wir einen Schluck.« Ich suche im Rucksack nach meinem Flachmann und reiche ihn rüber.

Michael nippt: »Lecker, ein Birnenschnaps. Ein Willi, oder? Wo ein Willi ist, ist auch ein Weg – alter Pilgerspruch.«

»Na, dann los!« Wir haben ja noch ein gutes Stück Weg vor uns.

Und er fährt fort: »Ich musste allerdings bald lernen, dass ich auch nicht alles schaffe. Im Gegenteil, ich brauchte unterwegs immer wieder Unterstützung und Hilfe. Das letzte Stück zum Bodensee zum Beispiel, den Pfänder hinab, musste ich mich sogar im Auto mitnehmen lassen. Ich lernte schmerzhaft, dass ich zwar viel schaffen kann, aber dass ich das Ziel nicht nur aus eigener Kraft und ohne Hilfe erreichen werde. Ein wenig Unterstützung und eine Portion Gnade gehören auch dazu.«

»Gnade?«

»Na, göttlicher Beistand. Auf dem Pilgerweg bist du nie ganz allein.«

»Aha … Du hast also den Bodensee erreicht. Wo ging es dann weiter? In Spanien?«, will ich schon wissen.

»Nein, nachdem ich den Weg an der eigenen Haustür begonnen hatte, wollte ich nun auch in der richtigen Reihenfolge weiterpilgern. Und jedes Mal, wenn ich an dem Ort aufbrach, den ich auf der letzten Pilgerreise erreicht hatte, lernte ich wieder Neues über mich. In der Schweiz erfuhr ich, dass ich manchmal gern allein bin und auch Zeit für mich brauche. Das wusste ich vorher nicht, es war ungewohnt für mich. Und erst recht für meine Lieben zu Hause.«

»Stimmt schon, Pilger kommen verändert, manchmal seltsam zurück, das ist für die Daheimgebliebenen nicht immer einfach nachzuvollziehen. Aber davon steht in den meisten Pilgerbüchern nichts. Erzähl doch weiter, Michael.«

Achtung: Pilgern kann Ihre Haltung verändern!Vorher Nachher

»In Frankreich lernte ich zum Beispiel, dass ich ein Mensch bin, der in Spannungsbögen denkt und lebt: Es gibt immer wieder zeitliche oder örtliche Bezugspunkte in der Zukunft, an denen ich mich orientiere.«

»Du bist also kein Pilger, der einfach in den Tag hineinläuft und mal schaut, wo er abends ankommt?«

»Nein, ich will zwar auch nicht alles durchplanen, aber es tut mir schon gut, morgens mögliche Zielorte des heutigen Pilgertages zu definieren.«

»Und wie hast du die anderen Menschen auf den Pilgerwegen erlebt?«

»In Deutschland sind mir damals keine anderen Pilger begegnet. Das änderte sich in der Schweiz, und in Frankreich und Spanien erst recht. Und es bestätigte sich meine Anfangsbeobachtung: Fast alle Menschen auf Pilgerwegen haben ein Lebensthema oder mehrere Lebensthemen, und sie glauben, sie würden auf den Wegen wichtige Impulse bekommen, die sie weiterbringen. Mit dieser Erkenntnis begann ich, meine private Pilgerleidenschaft mit meiner beruflichen Tätigkeit zu verbinden. Erwachsenenbildung muss ja nicht immer in Räumen in Form von Vorträgen, Kursen oder Seminaren stattfinden.

Was würde passieren, fragte ich mich, wenn ich Menschen mit ähnlichen Lebensthemen zusammen auf einen Pilgerweg bringen würde? Könnte das eine neue Form von Bildungsarbeit sein? Etwas, bei dem sich Bildung, Seelsorge und Spiritualität begegnen, was deshalb gut in mein Tätigkeitsfeld innerhalb der evangelischen Kirche passen könnte?«

»Du arbeitest bei der Kirche?« Ich staune, so sieht er gar nicht aus.

»Du wirst lachen, ich bin Religionspädagoge und Kirchenbeamter!«, grinst Michael. »Ich entschied mich, es auszuprobieren, und gleich mit einem anspruchsvollen Projekt: Ich wollte mit Trauernden, die einen geliebten Menschen verloren haben, zum Pilgern aufbrechen. Für dieses Thema brauchte ich natürlich noch andere, die sich in Trauerbegleitung auskennen. Da kam wieder Tobias, mein Begleiter beim ersten Mal, ins Spiel, der sich bei ›Lacrima‹ mit seinem Team für trauernde Kinder und deren Angehörigen engagiert. Gemeinsam gelang das Projekt wunderbar, wir hatten und haben bis heute mit unseren Gruppen sehr intensive Zeiten auf dem Münchner Jakobsweg.«

»Das war bestimmt ziemlich anstrengend?«, frage ich nach.

»Nun, natürlich berührten mich die Lebensgeschichten sehr, aber wir waren in der Natur, in Bewegung und in tragender Gemeinschaft. Ich fühlte mich danach immer erfüllt, weil ich das Gefühl hatte, etwas sehr Sinnvolles zu tun. Und deshalb blieb es auch nicht bei diesem Thema. Während ich auf meinem persönlichen Pilgerweg immer weiter vorankam, entwickelte ich in meiner Arbeit weitere Angebote für bestimmte Lebenssituationen: Pilgern zur Neuorientierung in der Lebensmitte; rund um den Ruhestand; Dreikönigspilgern für Männer, um das alte Jahr abzuschließen und kraftvoll ins Neue zu schreiten. Über die Jahre kamen Themen hinzu, die in bestimmten Lebenssituationen eine Rolle spielen: Aufbrechen; Loslassen; Licht und Schatten; Wunder; Leben in Fülle; Sehnsuchtspilgern. Oder einfach Angebote, die durch ihre Sinnlichkeit gut mit der Ganzheitlichkeit des Pilgerns korrespondieren: vier Elemente; fünf Sinne … solche Aspekte«, zählt Michael auf. »Und weil ich leidenschaftlicher Pädagoge bin, möchte ich mein Wissen und meine Erfahrungen auch teilen. Deshalb bilde ich mittlerweile selbst Pilgerbegleiter und -begleiterinnen aus.«

»Sag mal, wie oft bist du denn dann unterwegs?« will ich wissen.

»Mittlerweile sind es sicher 80 bis 90 Pilgertage im Jahr. Denn ich muss die Wege alle vorher abgehen, um die Themen auf die Wegsituationen beziehen zu können. Und dann möchte ich auch noch für mich persönlich unterwegs sein. Ich sag’ mal so: Um die Schale zu füllen, aus der ich für andere schöpfe. Und außerdem will ich ja auch meine eigenen Themen bearbeiten.«

»Das heißt also, das Pilgern bewegt in dir selbst noch immer etwas?«

»Sicher. Als eine langjährige Beziehung auseinanderging, fragte ich mich, weshalb ich das, was ich mit anderen auf Wegen tue, nicht auch für mich versuche. Und so bearbeitete ich meine Trennungserfahrung unterwegs. Gefühle, Erinnerungen hatten hier Platz, durch die Bewegung setzte sich aber nichts fest. Ich konnte gut Abschied nehmen.«

»Oder«, fährt Michael fort, »auf einem Weg in Portugal hinterfragte ich in ein paar Tagen alle wichtigen Entscheidungen in meiner Biografie und sortierte so mein Leben neu.«

Ist die Sehnsucht am Ziel?

»Portugal?«, wundere ich mich. »Mittlerweile bist du also in Santiago angekommen?«

»Ja, nach vier Jahren erreichte ich 2010 über den Küstenweg Santiago. Ein großer Augenblick! Davon erzähle ich dir gern bei anderer Gelegenheit mehr. Und als ich nach ein paar Tagen und gebührender Feier noch drei weitere Tage nach Finisterre weiterging, verstand meine Seele dort am Kap, dass der Weg nun zu Ende ist. Es ging ja wirklich nicht mehr weiter. Klippen. Meer. Auf dem Meilenstein dort steht 0,00 km.«

»Da könnte man ja sagen, jetzt ist gut. Aber ich treffe dich hier wieder auf einem Weg«, wundere ich mich.

»Ja, das Pilgern lässt mich nicht mehr los, ich bin inzwischen fast alle großen Jakobswege in Spanien gegangen, war in Portugal, wieder in Frankreich, der Schweiz, Österreich, auch in Deutschland bin ich immer wieder unterwegs.«

»Ein bisschen verrückt ist das aber schon?«, ich schüttele den Kopf.

»Du kannst mir glauben, manchmal wundere ich mich selbst über mich. Ich habe verstanden, dass das Pilgern für mich ein Initiationsweg ist. Als ich das dritte Mal in Santiago ankam, habe ich mir dort eine Jakobsmuschel auf die Wade tätowieren lassen. Zu einer Initiation gehören immer auch Schmerzen und Narben. Natürlich erlebte ich auf all meinen Wegen viele körperliche und auch innere Schmerzen. Und die Muschel auf der Haut ist für mich so etwas wie eine ritualisierte Narbe.«

»Du hattest vorhin mal gesagt, dass du eigentlich nicht gern wanderst. Das kannst du inzwischen nicht mehr behaupten, oder?«

»Doch, tatsächlich gehe ich immer noch nicht gern einfach zum Wandern. Aber ich bin leidenschaftlich gern Pilger. Ich glaube, das ist ein Teil meiner Persönlichkeit geworden. Deshalb muss ich immer wieder los. Ich genieße einfach die Gemeinschaft mit mir und mit Gott, aber auch die Gemeinschaft mit den Menschen auf den Wegen und am Wegesrand. Unterwegs trifft man Engel – und manchmal wird man selbst zu einem. Ich durfte viele Menschen auf ihren Wegen unterstützen. Und brauchte selbst immer wieder die Hilfe anderer.«

»Das habe ich auch schon erlebt, echte Wunder können da geschehen.« Ich bleibe stehen, bin durstig geworden. Und dort vorn ist eine Bar. »Sag mal«, frage ich noch, »hast du schon mal darüber nachgedacht, über all das, was du mit dem Pilgern machst, ein Buch zu schreiben?«

»Hm, ja, das ist eine gute Idee. Vielleicht sollte ich damit mal anfangen«, sagt Michael, winkt mir zu und zieht weiter auf seinem Weg.

Phänomen Pilgern

Geschichtliche Facetten

Pilgern scheint ein menschliches Grundbedürfnis zu sein. Deshalb gibt es diese spirituelle Form in jeder großen Religion. Alle Religionen kennen besondere Orte, die sich von anderen unterscheiden. Es sind »heilige« Orte, zu denen man in besonderer Weise reist. Im Judentum war schon vor 2000 Jahren der Tempel in Jerusalem das Pilgerziel, heute sind es seine Überreste, besser bekannt als die Klagemauer. Muslime pilgern nach Mekka und Medina, im Buddhismus und Hinduismus sind heilige Berge wie der Kailash oder auch Flüsse wie der Ganges Pilgerziele. An allen diesen Orten werden bestimmte Rituale, traditionelle Handlungen vollzogen, um Anteil am Heil zu erlangen. Auf welche Weise die Pilgernden diesen besonderen Ort erreichen, ist eher von geringer Bedeutung. Es ist etwa völlig gleichgültig, auf welche Weise ein Muslim Mekka erreicht, solange er die dem Ort entsprechenden Rituale ausübt, gilt sein Hadsch, also seine Pilgerreise, als erfüllt.

Für Christinnen und Christen wurden schon im 4. Jahrhundert Gräber zu solchen besonderen Orten, zu Pilgerstätten. Das Grab Jesu in Jerusalem, die Gräber von Petrus und Paulus in Rom waren lange Zeit die wichtigsten Pilgerziele. Immer wieder entstanden neue Orte, an denen Reliquien verehrt wurden: Gegenstände oder Körperteile, die von Heiligen stammten. Im Mittelalter glaubte man, durch das Annähern oder gar Berühren der Reliquie Anteil am Heil des oder der Heiligen zu erlangen. Denn die Menschen trieb die Angst vor Fegefeuer und Hölle um. Es war eine sehr greifbare, existenzielle Angst vor ewigem Leiden, die sich als Schatten über das ganze irdische Leben legte. Der Pilgergang zu einer Reliquie versprach Abhilfe. Einige Traditionen hielten den möglichst mühevollen und schmerzhaften Bußgang für besonders wirksam, woraus sich Formen des Pilgerns barfuß, auf Knien oder mit Erbsen im Schuh ausbildeten. Je schmerzhafter die Kasteiung, desto größer konnte das Seelenheil werden.

Weil Pilger und Pilgerinnen Geldeinnahmen versprachen, wollten möglichst viele Kirchen und Klöster eine Reliquie in ihrem Besitz haben. Daraus entwickelte sich ein reger Handel mit heiligen Überresten, Körperteilen oder Gegenständen, manchmal hatten sie auch unrechtmäßig den Besitzer gewechselt. So wurde es für Kirchen und Klöster wichtig, mit einer Reliquie besonderer Qualität aufzuwarten, um möglichst viele pilgernde Gläubige und auch deren Geld an den jeweiligen Ort zu locken.

Dem Heiligen folgen

Pilgerreisen aufgrund von Gelübden waren ebenfalls sehr häufig: wegen einer Rettung aus Krankheit und Not oder der Erfüllung eines Herzenswunsches war es den Menschen ein tiefes Bedürfnis, sich bei den angeflehten Heiligen zu bedanken und sich deshalb zu diesen besonderen Orten aufzumachen.

Straftäter zum Bußgang zu verurteilen hatte den Vorteil, dass sie erst einmal aus der Gegend fort waren und dieses »Gesindel« zumindest vor Ort kein weiteres Unheil anrichten konnte. Auch Auftragspilger soll es gegeben haben: Manche reichen Menschen, die sich für ihre Seele Besserung versprachen, bezahlten Arme dafür, dass sie an ihrer Statt die Pilgerreise absolvierten. Ob das Stellvertreterpilgern half? Jedenfalls werden auch heute noch Pilgerinnen und Pilger gebeten, am Pilgerziel für einen anderen Menschen eine Kerze zu entzünden oder ein Gebet zu sprechen, das an diesem heiligen Ort eine besondere Wirkung verheißen mag.

In jedem Fall war dieser Weg ein riskantes Vorhaben, denn man war schließlich zu Fuß unterwegs. Kaum jemand aus dem gemeinen Volk konnte sich das Reisen zu Pferd, Kutsche oder Schiff leisten. Auf den Wegen nach Jerusalem, Rom oder Santiago de Compostela vergingen schnell einige Monate oder gar Jahre, und die Rückkehr war ungewiss. Da die Risiken unwägbar blieben, machten angehende Pilger vor ihrer lebensgefährlichen Reise ihr Testament, sie beglichen ihre Schulden, ordneten ihre Beziehungen. Schließlich bekamen sie von der örtlichen Geistlichkeit einen Geleitbrief ausgestellt, der die Reisenden als Pilger auswies und ihnen die nötige Unterstützung von Menschen am Wegesrand angedeihen lassen sollte. Aus diesem Dokument wurde später der abgestempelte oder abgezeichnete Nachweis, die beabsichtigte Pilgerreise auch wirklich absolviert zu haben und am Ziel angekommen zu sein.

Im 9. Jahrhundert, 812 nach Christus, sagt man, will der Einsiedler Pelagius am nordwestlichen Zipfel Spaniens dank einer Sternenerscheinung das Grab eines berühmten Heiligen entdeckt haben. Der Apostel Jakobus selbst, also ein leibhaftiger Jünger Jesu, soll dort begraben liegen. Nach Begutachtung der Knochen durch den ortsansässigen Bischof Theodemir erklärte jener den Fund für glaubhaft und bestätigte die Heiligkeit der Gebeine. Damit bekamen Jerusalem und Rom als Pilgerziele echte Konkurrenz. Die Legende dazu lautet so: Nach Jesu Tod teilten die Jünger die damals bekannte Welt in Missionsgebiete auf, in denen sie wirken wollten. Jakobus der Ältere bekam Spanien zugeteilt, sollte dort predigen und Menschen für das Christentum begeistern. Besonders erfolgreich schien er dabei jedoch nicht gewesen zu sein. Es heißt, ganze zwei Jünger bekannten sich zu ihm und dem christlichen Glauben. Als Jakobus nach Jerusalem zurückkehrte, soll er als erster christlicher Märtyrer hingerichtet worden sein. Seine beiden Jünger nahmen den Leichnam und verschifften ihn zurück nach Nordspanien. Dort ist der Sarg mit den Gebeinen des Jakobus in der Nähe der Stadt Padrón auf rätselhafte Weise angelangt. Das Schiff war bei seiner Ankunft über und über mit Jakobsmuscheln bedeckt gewesen – so lautet einer der wunderbaren Ursprünge des Symbols der Jakobsmuschel. Nicht weit von diesem Ort wurde der Leichnam des Apostels Jakobus schließlich begraben. So weit die Legende.

Pilgershopping: die ganze Palette im Angebot

Dass Pelagius etwa 750 Jahre später dieses Grab wiederentdeckte, traf sich kirchenpolitisch hervorragend. Denn just in dieser Zeit war die iberische Halbinsel von Süden her von den Mauren, den Muslimen Nordafrikas, bewohnt – aus christlicher Sicht: besetzt. Ein unhaltbarer Zustand!, entschied man. Gläubige Christen mussten her, in möglichst großer Zahl, Pilger, dazu Ritter, die deren Weg in Nordspanien sichern und schützen sollten. So konnte man das Christentum präsent halten und gleichzeitig die Rückeroberung starten. Da passte es gut ins Konzept, dass ein Grab eines echten Jüngers Jesu entdeckt wurde. Ein paar Jahre später war schon der erste »Promi-Pilger«, Alfonso II., König von Asturien, auf dem Weg, ihm folgten unzählige Pilgerinnen und Pilger aus den genannten Gründen. Kein Wunder, denn der Gang zu den Gebeinen eines leibhaftigen Jüngers Jesu versprach praktisch den direkten Einzug ins Himmelreich, ohne Umweg über die Hölle und ohne jahrelanges Fegefeuer erleiden zu müssen.

Der heilige Jakobus – spanisch: San Tiago, also Santiago – wirkte, so heißt es, bei so einer steilen Karriere auch aktiv mit: bei den Rückeroberungsschlachten zwischen Christen und Mauren wurde er zum prominenten Mitkämpfer auserkoren und soll bei verschiedenen Kämpfen Sieg bringend mitgewirkt haben. Dieser Facette der Jakobusfigur, des sogenannten Matamorus, des Maurentöters, wurde lebhaft mit großen Festen gedacht.

Noch heute gibt es in vielen Kirchen Spaniens entsprechende, politisch völlig unkorrekte Darstellungen eines Schwert schwingenden Jakobus auf weißem Pferd, auf orientalisch anmutende Unterlegene einschlagend. In der Kathedrale von Santiago de Compostela werden die maurischen Figuren zu Füßen des reitenden Jakobus schamhaft von Blumenschmuck verdeckt – es könnte sonst zu heiklen Verwicklungen mit dem Islam kommen.

Mit diesem Matamorus-Jakobus haben die Pilgerinnen und Pilger, die sich heute auf einen der vielen Jakobswege machen, wenig im Sinn, und auch die meisten Jakobusdarstellungen kommen deutlich sympathischer daher. Noch heute gehört es zu einer der beliebtesten Rituale in der Kathedrale von Santiago de Compostela, eine freundlich dreinschauende metallene Statue des Jakobus über dem Altar zu umarmen und der darunter befindlichen Schmuckkiste, in der sich die Gebeine befinden sollen, also dem vermeintlichen Grab selbst die Ehre zu erweisen.

Aber schon seit der Reformation und der schmähenden Worte Martin Luthers über Santiago de Compostela – »Lass gehen dorthin, wer mag, du bleib daheim, denn keiner weiß, ob dort ein Jakobus oder die Knochen eines toten Hundes oder Pferdes begraben liegen« – war die Pilgerreise nicht mehr in dieser Weise populär. Denn sich durch Buße, gute Taten und Ablasszahlungen den Weg in den Himmel zu erhandeln, war nach der neuen reformatorischen Theologie völlig unnütz. Heil versprach nach der neuen Lehre allein der Glaube, nicht entsprechende Bußtat.

Auch die katholische Kirche favorisierte wieder eher kürzere Wallfahrten zu lokalen heiligen Orten, denn mit einer Prozession betender und singender Menschen ist leichter umzugehen als mit jenen Pilgern und Pilgerinnen, die aus der Ferne zurückkamen. Sie waren dann, sofern sie die Reise überlebt hatten, weitgereist und weltoffen – das hieß oft auch, der örtlichen geistlichen Obrigkeit eher widerborstig zu begegnen. So geriet das große Pilgern ab dem 16. Jahrhundert immer mehr aus der Mode.

Pilgern heute: spirituelles Wandern

Das änderte sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Seit den 1980er-Jahren geriet vor allem der berühmteste Teil des Jakobswegenetzes wieder in den Blick. Pilger und Pilgerinnen machten sich auf zur Kathedrale über dem vermuteten Grab des Jakobus in Santiago de Compostela. Viele brachen zu Hause auf, andere reisten zu traditionellen Knotenpunkten des Jakobswegenetzes, um ihren Weg dort zu beginnen. Die Pilgerinnen und Pilger der Neuzeit fühlten sich zwar auch vom berühmten Ziel angezogen, aber sie merkten doch, dass auch Entscheidendes auf dem Weg passiert, wenn man sich zu einer spirituellen Wanderung aufmacht. Das Wort »Der Weg ist das Ziel« spiegelt die Beobachtung wider, dass heutzutage bei einer mehrwöchigen Reise in den Tagen des Unterwegsseins Wichtigeres geschieht als beim verhältnismäßig kurzen Ankommen. Natürlich war das Ziel auch weiterhin wichtig, denn ohne den besonderen Ort gäbe es den konzentrierten Weg nicht. Aber das Ankommen und auch die Bedeutung des Heiligtums waren eben nicht mehr so spektakulär wie im Mittelalter. Was auch daran liegen mag, dass die Ausgangssituation eine andere ist: Der Mensch von heute hat bereits verschiedenste Reisen hinter sich, damals kam man aus seinem Dorf kaum heraus. Die Praxis des Urlaubmachens war noch nicht erfunden. Entsprechend eng blieb für viele der Erfahrungshorizont. Heute hat man Reiseführer und Landkarten, man kennt das Ziel von Fotos und aus den Medien. Das Ankommen muss immer mit aus dritter Hand gespeisten Quellen abgeglichen werden, damals war es völlig unmittelbar. Was jedoch überraschte und bis heute immer wieder verwundert: dass auf einem Weg, den man mit einem inneren Anliegen, einer Suche, einer Sehnsucht angeht, über Tage und Wochen etwas ganz Besonderes geschieht.

Sicher gehört die Unabhängigkeit und Individualität auf Pilgerwegen, insbesondere auf Jakobswegen, zu den Gründen, die das Pilgern heute wieder so populär machen. Bewegung und körperliche Herausforderung in freier, oft schöner Natur, in Freiheit und Selbstbestimmtheit bei gleichzeitigem Gefühl von Geborgenheit in jahrtausendealter Tradition und ganz gegenwärtiger Gemeinschaft von Pilgerinnen und Pilgern machen es jährlich für mittlerweile 300 000 Menschen aus aller Welt attraktiv, am Pilgerziel Santiago de Compostela anzukommen. Wobei in dieser Zahl nur jene Pilgerinnen und Pilger eingerechnet sind, die mindestens die letzten 100 Kilometer zum Ziel nachweislich zu Fuß, zu Pferd oder 200 Kilometer per Drahtesel zurückgelegt haben. Menschen, die kürzer pilgern oder nicht das Ziel erreichen, sowie jene, die sich schlicht kein Nachweisdokument, die sogenannte Compostela, im Pilgerbüro von Santiago abholen, sind noch nicht eingerechnet – die »Dunkelziffer« der Pilgernden auf Jakobswegen ist also sicher doppelt so hoch.

Dem Schimmer folgen

Viele erleben den Weg als spirituell, aber nicht zu kirchlich. Das kommt dem Freiheitsbedürfnis der Menschen entgegen, die sich ihre spirituelle Welt gern selbst zusammenstellen. Der Nachteil an einer individuell kreierten Glaubenswelt mit persönlich gewichteten Werten ist, dass sie im Alltag keine Gemeinschaft, keinen sozialen Rückhalt gewährt, wie er gerade in kritischen Lebensphasen notwendig ist. Dieses Problem taucht auf den besonders stark frequentierten Jakobswegen in Frankreich oder Spanien jedoch eher nicht auf: Innerhalb weniger Tage entsteht eine Weggemeinschaft von Menschen, die unterschiedlichsten spirituellen Bedürfnissen nachgehen, die gleichzeitig Geborgenheit vermittelt, ohne einzuengen. Die verschiedenen Glaubensvorstellen werden gleich-gültig auf dem gemeinsamen Weg, verschwinden hinter den geteilten Leiden, den geteilten Freuden. Hier kann jeder er selbst, jede sie selbst bleiben und ist trotzdem in die Gemeinschaft eingebunden, die das selbe (äußere) Ziel und den gleichen Weg zu gehen hat.

Dabei ist auch das gemeinschaftliche Leben in den Herbergen ein wichtiger Faktor. Weshalb tun sich Menschen die Enge von Schlafsälen an, in denen zum Teil 8, 20 oder 90 Pilger und Pilgerinnen nächtigen, fragen ungläubig die Daheimgebliebenen. Und tatsächlich, jeder Pilger, jede Pilgerin weiß Gruselgeschichten von nächtlichen Schnarchkonzerten zu erzählen. Aber selbst dieses gemeinsame Leiden, über das man sich am nächsten Tag noch kollektiv aufregen kann, stiftet Gemeinschaft.