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Pit Mattes, erfolgreicher Schriftsteller von Beruf und Hobbykriminalist aus Leidenschaft, steht wieder einmal vor großen Herausforderungen. Sein Freund Werner, Inhaber eines Lebensmittelgeschäftes, wird erpresst. Er bittet Pit um Hilfe. Kurz darauf benötigt Kriminalkommissarin Sommer von der Hamburger Polizei Mattes´ besondere Fähigkeiten bei der Lösung kniffliger Mordfälle. Weiß sie doch, dass sie sich auf seine Begabung, um die Ecke zu denken, verlassen kann. In seinem Privatleben hat sich Pit in die schöne Bibliothekarin Mio Takahashi verliebt, die mit der ebenso jungen wie flippigen Konditorin Susanne im selben Haus lebt. Es gibt in diesem Hamburg-Krimi für Pit Mattes viele Antworten zu suchen und Geheimnisse zu enthüllen. Aber nicht umsonst hat eine frühere Freundin ihn einmal als Kopfmenschen beschrieben ...
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Seitenzahl: 287
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Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
DIENSTAG, 20.12.2016, 10:30 UHR, ALSTERDORF, BRUNO-GEORGES-PLATZ:
»Herr Mattes, verstehen Sie doch: Frauen morden mit Gift oder einer Schusswaffe, aber doch nicht mit einem Schwert.«
»Es war ein Dolch. Außerdem eine entsprechende Statistik über Mordwerkzeuge, die von Frauen oder Männern benutzt wurden, kenne ich nicht. Wäre mir auch in unserem Fall egal. Der Mord wurde von der Ehefrau durchgeführt. Sie ist diejenige, die im Winter-Haushalt das Regiment führt. Der Ehemann ist lediglich der Knabe, der als Rechtsanwalt fürs Geldverdienen zuständig ist.«
»Herr Mattes, wollen wir wetten, dass ich recht habe?«
»Wenn Ihre Glückseligkeit davon abhängt, und Sie unbedingt verlieren wollen, dann meinetwegen.«
Ihm waren diese ewigen Streitereien, wer recht hat, wer hat die bessere Spürnase und so weiter, leid.
›Es werden doch keine Fleißpunkte verteilt. Nur das Ergebnis zählt‹, überlegte er und schmollte.
»Okay, die Wette gilt«, fauchte sie ihn an.
»Wie sollen wir Ihrer Meinung nach vorgehen?«
»Herr Mattes, der beste Weg ist immer der, der direkt zum Ziel führt. Lassen Sie uns zu den Winters fahren.«
Frau Sommer und der Schriftsteller verließen das Polizeipräsidium. Die Kommissarin steuerte ihr Auto durch den verstopften Hamburger Verkehr.
Es regnete in Strömen. Der Scheibenwischer schaffte nicht die Wasserflut, die vom Himmel fiel. Der Wetterbericht im Autoradio versprach keine Besserung. Die beiden Insassen stritten mal wieder, wie so oft in den letzten Tagen. Sie erreichten den Ballindamm und parkten das Fahrzeug im Halteverbot.
Sie klingelten an der Wohnungstür. Der Rechtsanwalt machte die Tür auf. Gabriele Sommer, die Kommissarin, betrat zuerst den Flur.
Auf den ersten Blick sah sie zwei reisefertige Koffer neben der Garderobe stehen. Sie nickte in die Richtung des Reisegepäcks.
Pit Mattes schloss hinter sich die Wohnungstür. Aus dem Augenwinkel sah er, wie Kurt Winter die Polizistin mit einem schweren Revolver niederschlug. Die Frau fiel und schlug mit dem Kopf auf. Er richtete das Schießeisen sofort auf Mattes. Es war eine neun Millimeter Ruger Blackhawk Flattop 357 Magnum. Damit hält man jeden PKW an. Der Rechtsanwalt brauchte beide Hände, um den Hahn zu spannen. Bei dieser Handhabung konnte Mattes erkennen: Winter hatte mit dieser Schusswaffe wenig Erfahrung. So eine Waffe kann man nicht mit einer Hand abfeuern.
Der Hobbykriminalist nahm versteckt eine Glaskugel vom Sideboard in seine Hand.
»Sie haben Ihren Bruder nicht getötet. Es war Ihre Frau – stimmt’s?«, fragte er.
Der Rechtsanwalt sah Mattes überrascht an. In diesem Augenblick schlug Pit ihm seine Glaskugelfaust ins Gesicht, mit der zweiten Hand drückte er das Schießeisen zur Seite. Die Kugel bohrte ein fünf Zentimeter großes Loch in den Holzfußboden, nachdem sich der Schuss löste. Kurt Winter klappte wie ein Taschenmesser zusammen. Den Revolver nahm Mattes ihm sofort ab. Der Jurist lag wie die Kommissarin bewegungslos auf dem teuren Teppich. Mattes ging zu ihr, untersuchte ihre Wunde und küsste sie. Der Sprecher im Radio quasselte von Gewitter und anhaltenden Regenschauern.
MONTAG, 02.10.2017, 11:00 UHR, EPPENDORFER LANDSTRAßE: Mio Takahashi hörte auf vorzulesen und legte das Buch in ihren Schoß.
»Das ist gut – das ist ganz große Klasse«, schwärmte sie. »Und was ist jetzt so schlimm daran?«, fragte sie weiter.
»Ja – seitdem Frau Sommer das Buch gelesen hatte, redet sie nicht mehr mit mir.«
»Ha, ha! Und das haben Sie wirklich geschrieben?«, wollte sich die Bibliothekarin noch einmal vergewissern.
»Ja, das habe ich. Ich schrieb den Handlungsablauf sachlich, korrekt und retrospektiv auf.«
Pit Mattes: Am liebsten schreibt er Krimis, sogenannte Hamburg-Krimis. Wenn es sich ergibt, arbeitet er mit der Hamburger Kriminalpolizei an kniffligen Kriminalfällen. Er selber bezeichnet sich scherzhaft als Hobbykriminalist.
In Hamburg gibt es, neben den öffentlichen Büchereihallen, eine Handvoll private Bibliotheken oder Büchereien. Seit vielen Jahren ging Mattes regelmäßig in so eine kleine Bücherei. Nicht, um sich ein Buch auszuleihen, sondern er liebte die Atmosphäre in den Räumlichkeiten. Dazu kommt, dass er die hübsche Bibliothekarin mag. Er setzte sich mit seinem Laptop an einen Lesetisch und schrieb dort. Frau Takahashi, die Bibliothekarin, versorgte den Schriftsteller mit schwarzem, friesischem Tee.
»Darf ich Ihnen noch einen Tee bringen, Herr Mattes?«
»Gerne, sehr gerne trinke ich noch eine Tasse von Ihrem Tee«, schmeichelte er.
Da sie seine Antwort kannte, hatte sie bereits die Kanne geholt und goss Tee nach.
»Danke! Frau Takahashi.«
»Und was ist passiert?«
»Na ja – das Buch wurde vorige Woche veröffentlicht. Als die Kommissarin darin las, dass ich sie geküsst hatte, rief sie an und machte mir die Hölle heiß. Ich habe noch nie einen Menschen erlebt, der so viele Schimpfwörter innerhalb von dreißig Sekunden abgefeuert hat.«
»Wieso dreißig Sekunden?«
»Wahrscheinlich hat sie mich noch länger angeschrien. Ich drückte nach einer halben Minute auf den roten Telefonhörer. Das war mehr als genug!«
Frau Takahashi legte ihre Hand auf Pits Oberarm und grinste ihn kopfschüttelnd an.
›Ich hätte gerne mit der Kommissarin getauscht‹, überlegte die Bibliothekarin. Dabei fiel ihr die Absage ein, die sie per Mail bekommen hatte.
»Herr Mattes, Sie wissen doch, dass wir hier in der Bücherei Lesungen veranstalten. Heute Morgen hat Hein Knutzen abgesagt, er muss dringend nach Itzendorf fahren. Würden Sie für ihn einspringen?«
»Verstehe – klar – natürlich mache ich das. Schon weil Sie’s sind!«
Die Nachrichten im Radio berichteten: »Ex-LKA-Chef findet nach achtundzwanzig Jahren Überreste seiner Schwester.«
Mio Takahashi: Sie ist neunundvierzig. Ihr Vater war japanischer Konsul, ihre Mutter stammt aus einer deutschen Reederfamilie. Sie lernten sich auf der Köhlbrandbrücke kennen. Takahashi () heißt auf Deutsch ›Hohe-Brücke‹.
Die schlanke, große Frau trägt eine Bubikopffrisur. Sie bringt ihr asiatisches Flair durch ihre schwarzen, mit grauen Strähnchen versetzten Haare und durch ihre tiefschwarzen Augen zum Ausdruck.
Germanistik und Journalismus studierte sie in Hamburg und arbeitete seit achtundzwanzig Jahren als Bibliothekarin in der Bücherei. Seit langer Zeit betreibt sie Aikido, eine Kunst der Harmonie der Kräfte. Das ist ein japanischer sehr defensiv ausgerichteter Kampfsport. Sie ist eine immer höfliche Frau, die sich nicht so schnell in die Karten gucken lässt.
»Ihr Problem mit der Kommissarin wird sich wieder einrenken. Warten Sie mal ab, in drei, vier Wochen hat sie das vergessen!«, tröstete Mio, und sie sollte damit recht behalten.
Währenddessen wurde die Eingangstür aufgerissen. Wie ein Wirbelwind stürmte Susanne Offner in die Bücherei.
»Moin zusammen!«, rief sie in den Raum und marschierte direkt zum Kaffeeautomaten. Sie befüllte ihren mitgebrachten ›To-go-Becher‹.
»Tschüss Leute!«, rief sie noch, bevor sie genauso schnell verschwand, wie sie gekommen war.
»Sie hat es wie immer eilig!«, stellte Mio fest. »Wenn sie doch nur hin und wieder mal den Filterkaffee bezahlen würde«, ergänzte sie.
»Ich bezahle ihren Kaffee, sie hat kein Geld. Sie finanziert die Ausbildung ihres Bruders«, erwähnte Mattes.
Susanne Offner: Das flippige, blonde Mädchen war zweiundzwanzig Jahre alt. Sie hatte eine Ausbildung zur Bäckerin und Konditorin erfolgreich abgeschlossen. Schon 2012 zog sie in die zwanzig Quadratmeter große, Studentenbude im oberen Stockwerk ein. Der jederzeit bunt gekleidete Wirbelwind arbeitet in einem Ladengeschäft einer Großbäckerei. Sie brauchte das Geld, weil sie das Studium ihres jüngeren Bruders finanzierte. Viel lieber würde sie in einem Café oder einer kleinen Bäckerei wirken und individuelle Backwaren herstellen und verkaufen.
»Und Herr Mattes, haben Sie schon ein neues Projekt? Was kommt als Nächstes?«
»Ich habe gestern einen Jahresbericht eines Konzerns ausgefeilt, komplettiert und versendet. Dann arbeite ich noch an einem Nachruf für einen Schauspieler. Der ist zwar noch nicht tot, aber Auftrag ist Auftrag. Ein Krimiprojekt in dem Sinne liegt leider nicht an.«
»Da findet sich bestimmt noch was ein«, versuchte sie, den Schriftsteller aufzumuntern.
Pit Mattes: Eigentlich heißt er Peter Johannes Mattes. Seine Mutter nannte ihn Hannes, während alle anderen ihn Pit nennen. Er ist einen Meter und dreiundachtzig groß, grau auf dem Kopf und trägt nicht nur einen grauen Lippenbart, sondern auch eine moderne Hornbrille und oft einen schwarzen Stetson-Hut.
Der nicht schlanke, aber sportliche zweiundfünfzigjährige Mann studierte Betriebswirtschaft und Mathematik. Bei einer Versicherung arbeitete er in der Marketingabteilung und schrieb dort die Jahresberichte. Vor zwanzig Jahren stellte er fest, dass andere Unternehmen auch Geschäftsberichte brauchen. Er machte sich als Schriftsteller selbstständig.
Heute schreibt er Krimis und Romane. Er ist Ghostwriter für Prominente aus Wirtschaft und Politik und fertigt ihre Biografien oder Memoiren an.
Tatsächlich ist Mattes ein ruhiger, maulfauler, nachdenklicher Zeitgenosse. Er ist nicht der Schnellste, dafür aber neugierig, präzise und besitzt eine schnelle Auffassungsgabe.
Um fit zu bleiben, praktiziert er seit seinem Studium Judo. Ein- oder zweimal in der Woche nimmt er an einer Trainingsstunde teil.
Seit über dreißig Jahren wohnt er in einer zweihundert Quadratmeter Wohnung im ersten Stock eines alten dreistöckigen Hauses an der Eppendorfer Landstraße. Verheiratet ist er nicht, hatte hin und wieder eine Liebschaft. »Die Richtige habe ich noch nicht gefunden!«, sagt er, wenn man ihn darauf anspricht.
Ein Mobiltelefon machte sich bemerkbar. Pit Mattes stand auf und angelte es aus seiner Umhängetasche. Er mochte solche Störungen nicht, hatte aber vergessen, das Ding aus oder leise zu schalten.
Werner Rede war am Telefon. Er stotterte was von Erpressung und Polizei, von Verzweiflung und so weiter.
Pit verabredete sich mit ihm für dreizehn Uhr in der Innenstadt.
Werner Rede: Der durchaus große Mann ist knapp fünfzig Jahre alt. Der gemütliche Bauchmensch hatte graue Stoppelhaare und konnte keiner Fliege etwas zuleide tun. Sein Spitzname ist ›Were‹. Das kommt von dem Laden, den seine Eltern besaßen. Es handelte sich um einen Lebensmittel-Einzelhandel. Neben dem REWE-Reklameschild stand schon immer eine Tafel mit der Aufschrift WERE für Werner Rede. Sein Vater und sein Großvater hießen ebenso Werner. Sehr einfallsreich! Macht aber in vielen Sachen das Leben einfacher. Als Folge dessen bekam Werner zur Schulzeit den Spitznamen Were.
Werner Rede junior besuchte mit Pit Mattes das gleiche Gymnasium in Wandsbek. Sie waren Spielkameraden und später Freunde. Aus dem Auge hatten sie sich verloren, als Pit zur Universität ging und Werner seine Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann in Köln absolvierte.
Vor etwa acht Jahren trafen sie sich zufällig wieder, als Pit im Stadtteil Wandsbek in einen REWE-Laden schritt, um ein paar Brötchen zu kaufen.
Seitdem tranken sie hin und wieder mal ein paar Bier im ›Blockbräu‹.
Im Radio berichteten sie, dass der Medizin-Nobelpreis an die drei US-Wissenschaftler Jeffrey C. Hall, Michael Rosbash und Michael W. Young verliehen wurde. Sie erforschten den inneren Rhythmus von Lebewesen.
MONTAG, 02.10.2017, 13:30 UHR, JUNGFERNSTIEG:
Sie trafen sich am Jungfernstieg, gegenüber Apple. Es regnete in Strömen. Werner zeigte sich aufgewühlt und berichtete unstrukturiert.
Sein REWE-Lebensmittelladen wurde erpresst. Eines Morgens fand seine Ehefrau einen Erpresserbrief, den jemand über Nacht unter die Eingangstür geschoben hatte.
Der Übeltäter hatte in acht Joghurtbecher mit einer Spritze Olivenöl gespritzt. In seiner Nachricht verlangte der Erpresser fünftausend Euro. Die Polizei und die Spurensicherung untersuchten den gesamten Laden, ohne Anhaltspunkte zu finden. Herr Rede entschloss sich, das geforderte Geld zu zahlen.
Die Übergabe wurde von der Polizei begleitet. Das Geld deponierte Werner Rede auf dem Hamburger Rathausmarkt am Heinrich-Heine-Denkmal. Ein Fahrradfahrer holte das Geld ab. Die Ordnungshüter konnten nicht rechtzeitig zugreifen und so entkam der Radfahrer oder die Radfahrerin.
Allerdings wurde das Erpressergeld präpariert und die Geldscheinnummern notierte man. Das Geld tauchte in der vorigen Woche in Belgien auf.
»Freitagmorgen wurde nochmals ein Erpresserbrief unter unsere Ladentür geschoben. Erneut werden fünftausend Euro gefordert.
Ich suchte am Freitagvormittag die Kripo auf. Ich habe nicht den Eindruck, dass von denen Unterstützung kommt. Pit, ich brauche deine Hilfe.«
»Verstehe – ich habe noch ein paar Fragen. Du hast doch eine Videoüberwachung im Laden. Wurde die Manipulation der Joghurtbecher aufgenommen?«
»Nein, die Polizei hat die Aufzeichnungen. Und die schauten sich alle Videosequenzen mehrmals an. Es wurde keine Person entdeckt, die am Kühlregal die Becher anfasste oder manipulierte.«
»Kann es sein, dass die Becher mit dem Olivenöl schon geliefert wurden?«
»Auch das wurde geprüft. Die Ware wurde am Nachmittag um siebzehn Uhr ausgeliefert und gleich von meiner Frau ins Kühlregal gestellt. Ich schließe eine Manipulation der Ware bei der Lieferung und bei der Beladung aus.«
»Gut!«
»Mir fällt noch was ein. – Der Schuft muss einen Becher Joghurt mitgenommen haben.«
»Wie kommst du darauf?«
»Meine Frau ist sich bis heute sicher, dass die obere Palette vollständig war. Am anderen Morgen fehlte ein Joghurt. Aber verkauft wurde keiner. Das habe ich kontrolliert.«
»Und der fehlende Becher wurde auch nicht woanders im Laden gefunden?«
»Nein.«
»Dann gehst du davon aus, dass der Übeltäter den Becher Joghurt mitgenommen hat?«
»Ja, wird wohl so sein. Denn er kann sich ja nicht in Luft auflösen.«
»Werner, ich komme heute Nachmittag zu dir in den Laden. Ich möchte mir alles vor Ort anschauen. Darüber hinaus möchte ich deine Frau kennenlernen.«
»Einverstanden, Pit – wir werden dich erwarten.«
Werner Rede: Er ist verheiratet und hat mit seiner Frau Bettina zwei Kinder, acht und zehn Jahre alt. Seine Ehefrau ist täglich im Geschäft. Die Familie Rede wohnt in einer großen Wohnung über dem Ladengeschäft.
MONTAG, 02.10.2017, 18:30 UHR, WERE WANDSBEK:
Mattes nahm die U-Bahn bis Wandsbek. Den Weg zum Lebensmittelgeschäft legte er zu Fuß zurück. Schon von Weitem konnte er die REWE-Reklame sehen und auch das WERE-Schild daneben ausmachen.
Gleich nachdem er das Ladengeschäft betrat, begrüßte ihn Werner: »Schön, dass es geklappt hat. Komm, ich zeig dir den Laden. Und dann möcht ich dich mit meiner Frau bekannt machen.«
»Moin Were, das ist ja ein riesiges Geschäft. Na, das sind bestimmt zweitausend Quadratmeter.«
»Ja, zweitausendeinhundertzwölf Quadratmeter Verkaufsfläche und fünfhundertsechzig Lager- und Bürofläche.«
Werner Rede führte Mattes durch den Laden. An vielen Stellen blieb er stehen und zeigte und erklärte etwas.
Beim Kühlregal blieben die beiden besonders lange stehen.
Die Führung dauerte eine dreiviertel Stunde. Erst dann ging er mit Pit in den hinteren Bereich. Dort präsentierte er kurz das Lager und die Büroräume. Hier hielt sich auch Bettina Rede, seine Frau, auf.
Werner Rede schritt auf seine Frau zu und gab ihr einen Kuss. Dann stellte er sie Pit vor.
»Hallo Frau Rede, schön, dass ich Sie endlich mal kennenlerne. Bisher hat Werner immer nur von Ihnen geschwärmt. Ich sehe, er hat nicht übertrieben.«
»Danke für die Blumen! Darf ich Ihnen einen Kaffee oder einen Tee anbieten? Were erwähnte, dass Sie gerne Friesentee trinken«, kam von Frau Bettina Rede.
»Ja – sehr gerne, ich trinke mit Vergnügen einen Friesentee.«
»Dann kommen Sie bitte mit in unseren Aufenthaltsraum. Ich vermute, Were wird Sie dort auch den Mitarbeitern vorstellen wollen.«
Bettina Rede: Mattes schätzte sie auf fünfzig Jahre. Die kräftig und stabil gebaute Frau, zirka einen Meter siebzig groß, hatte ein hübsches Gesicht. Ihre blonden Haare ließ sie sich kurz schneiden.
»Unser Laden schließt um neunzehn Uhr. Dafür öffnen wir allerdings schon um sechs Uhr morgens. Abends räumen wir die verderblichen Sachen weg, machen den Kassenabschluss und setzen uns noch für eine halbe Stunde in den Pausenraum. Wir sind wie eine große Familie«, erklärte Werner.
»Kommen Sie, Herr Mattes, dort entlang«, ergänzte Frau Rede und tänzelte voran.
Sie betraten einen ansprechenden Aufenthaltsraum. Mattes war überrascht, denn mit so vielen Personen hatte er nicht gerechnet. Werner Rede nahm das wahr und erwähnte, dass sie im Geschäft und in der Verwaltung fünfzehn Mitarbeiter beschäftigten. Davon einige nur halbtags.
Auf dem Sideboard stand eine Tortenplatte. Zwei Stücke Schwarzwälder Kirschtorte befanden sich noch auf dem Teller. Ein eingewickelter Blumenstrauß und ein verpacktes Geschenk lagen daneben.
»Ah – hier hatte jemand Geburtstag! Wem darf ich gratulieren?«, fragte der Hobbykriminalist.
»Heute hat Bettina Geburtstag«, antwortete Werner. »Ja, und du hattest gestern!«, entgegnete seine Frau.
»Herzlichen Glückwunsch, Frau Rede. Und dir, Were, auch ein Happy Birthday!«, gratulierte Mattes. Nach dem Alter brauchte er nicht zu fragen, denn er entdeckte ein goldenes Fünfzig-Jahre-Emblem.
Bettina Rede bemerkte seinen Blick und grinste: »Ja, Herr Mattes wir sind einhundert Jahre alt geworden! Wir gehören jetzt zu den Fünfzigern.«
Es entstand eine Pause. Bei Mattes prägte sich der Begriff ›Fünfziger‹ ein.
»Hallo, bitte einmal herhören«, begann Werner und machte eine Pause, bis alles ruhig war.
»Ich möchte euch Pit Mattes vorstellen. Er ist Schriftsteller und will über uns schreiben. Dafür wird er in der nächsten Zeit hin und wieder hier im Geschäft sein. Er wird Kundenverhalten beobachten und unsere Arbeitsabläufe studieren. Wenn er Fragen an euch hat, bitte unterstützt ihn«, informierte Werner seine Belegschaft.
Sie saßen etwas länger als eine halbe Stunde im Raum. Mattes bekam seinen Becher Tee. Nach einer Weile wurde über die Bundestagswahl diskutiert, über den Busunfall vorm Laden und natürlich über das Wetter. Nach und nach verabschiedeten sich die Damen und Herren und machten sich auf den Weg nach Hause.
Frau Rede und Werner hielten sich zum Schluss mit Pit Mattes alleine im Aufenthaltsraum auf. Der Fünfziger stand auf, verließ den Raum und kam kurz darauf mit einem Zettel wieder.
»Das ist eine Kopie vom Erpresserbrief. Das Original hat die Polizei mitgenommen. Sie wollten das Ding nach Fingerabdrücken checken! Morgen, um sechzehn Uhr soll die erneute Geldübergabe stattfinden. Ich habe heute fünftausend Euro von der Bank geholt. Das Geld wurde präpariert und die Geldscheinnummern sind dokumentiert worden. Die Kripo legt großen Wert darauf, dass wir nicht das Geld aus unseren Tageseinnahmen benutzen.«
»Verstehe!«, kam von Mattes.
»Werden Sie dabei sein? Ich meine, bei der Geldübergabe«, fragte Frau Rede und schaute Mattes an.
»Ja, ich schau mir das an. So wie ich Were verstanden habe, wird die Übergabe durch die Polizei gesteuert. – Na ja, der Erpresser machte ganz konkrete Angaben in Hinsicht Ort und Zeit. Ich werde als Tourist vorher dort sein und mir alles anschauen.– Mich interessiert, wann und wo sie den Erpresserbrief gefunden haben.«
»Das geschah vorige Woche Donnerstag. Meine Frau kam damit an, nachdem sie die Kundentüren geöffnet hatte.«
»Ja, Ruth, Ruth Müller, sie war mit mir nach vorn gegangen, das müsste so drei Minuten vor sechs gewesen sein. Sie half mir, die Glastüren zu öffnen und zur Seite zu schieben. Das macht man besser zu zweit. Ich schloss auf und öffnete das erste Element. Da sah ich einen Zettel auf dem Boden liegen. Zuerst dachte ich, es wäre ein Lieferschein, der sich aus irgendeiner Kiste selbstständig gemacht hat. Während ich mich bückte und den Zettel aufnahm, wusste ich sofort, dass es sich wieder um einen Erpresserbrief handelte.«
»Verstehe! Das bedeutet, dass diese Frau Ruth Müller auch von der Erpressung weiß.«
»Ja, davon ist auszugehen und alle anderen Mitarbeiter, die hier arbeiten, wissen das genauso. Wir haben ein sehr gutes Betriebsklima. In den Pausen wurde darüber diskutiert. Das Geheimnis bleibt aber unter uns«, warf Werner ein.
»Wie lief es bei dem ersten Erpresserschreiben ab?«
»Fast genauso. Bloß ich half meiner Frau, die Tür zu öffnen«, antwortete Werner.
»Hast du das Dokument noch oder eine Kopie?«
»Nein, das liegt bei der Polizei. Aber der Text ist der Gleiche, lediglich die Übergabe fand am Rathausmarkt am Heinrich-Heine-Denkmal statt. Und unten auf dem Zettel stand ›PS: Schaut euch den Joghurt an, ich mache keine leeren Versprechungen!‹«, erwiderte Werner.
»Wie viel Öl befand sich in den Bechern?«
»Pit, das haben wir nicht gemessen, das Olivenöl schwamm oben. Die Oberfläche war bei den meisten Bechern ganz bedeckt. Ich habe ein Bild mit dem Handy fotografiert. Das kann ich dir zusenden.«
»Verstanden – es ist schon kurz vor neun. Ich will euch nicht länger aufhalten. Ich werde morgen nach der Geldübergabe wieder hier vorbeikommen.«
Pit stand auf und gab Frau Rede zum Abschied die Hand.
»Da fällt mir noch eine Frage ein. Wie heißt euer Ansprechpartner bei der Polizei oder Kripo?«
»Das ist Walter Engelmann. Kriminalhauptkommissar Engelmann. Hier ist seine Karte«, sagte Werner, nachdem er sie aus dem Portemonnaie zog.
Pit nahm die Visitenkarte, prägte sich die Adresse und Telefonnummer ein und gab sie zurück. Kurz darauf verließ er den Lebensmittelladen.
MITTWOCH, 04.10.2017, 10:00 UHR, EPPENDORF, BÜCHEREI:
Die Temperaturen über Nacht wurden schon recht herbstlich. Es stand neun Komma drei Grad auf dem Außenthermometer.
Das Radio spielte ›Good Vibrations‹ von ›The Beach Boys‹, als der Schriftsteller kurz vor zehn die Bücherei betrat.
Mattes trank seinen Tee und suchte im Internet den Geldübergabeort. Bereits um neun versuchte er das erste Mal, Kontakt mit KHK Engelmann aufzunehmen – ohne Erfolg. Das änderte sich auch nicht um halb zehn, um zehn und um halb elf Uhr.
Mio Takahashi hatte an diesem Morgen nicht so viel Zeit für Pit Mattes. Ganz unangemeldet kam ein älterer Herr aus der Zentralbücherei. Er stellte sich als Wilfried Geisterklein vor und wollte mit ihr stichprobenartig eine Bestandsaufnahme oder Inventur der Bücher durchführen. Die Bibliothekarin war aufgeregt und nervös. Bisher hatte noch nie jemand von der Zentrale sie überprüft.
Mattes beobachtete das Geschehen skeptisch und konnte sich auf seinen Erpresserfall nicht recht konzentrieren. Erst als der Prüfer verschwand, sich Frau Takahashi zu ihm an den Tisch setzte und er ihre Entspannung wahrnahm, atmete auch er auf.
»Er hat nichts gefunden, obwohl er sich sehr angestrengt hat. Und dass er ein Buch verstellte, hatte ich mitbekommen. Als er das dann suchte, habe ich ihm knallhart ins Gesicht gesagt: ›Das hatten Sie doch eben noch in der Hand.‹ Er fühlte sich überführt und hatte es auf einmal eilig zu gehen. Ein Protokoll, wie er es am Anfang andeutete, hat er mir nicht ausgehändigt.«
»Frau Takahashi, ich weiß nicht, was das zu bedeuten hat, aber komisch ist das schon«, waren Mattes’ Worte. Er versuchte noch einmal, den Kriminalhauptkommissar zu erreichen. Auch dieses Mal vergeblich.
»Herr Mattes, wo waren Sie denn am Sonntag? Ich hatte Sie vermisst«, fragte sie, um vom Thema wegzukommen.
»Sonntag – ach ja! Da war ich mit meinem Freund Harald Rechtler im Tennistreff in Halstenbek. Harald hatte Geburtstag. Wir feierten bei Anke Ehmke und nahmen am Bayrischen Schmankerl-Buffet teil.«
Nach ein paar Minuten stand sie auf und ließ ihn in Ruhe arbeiten.
Gegen fünfzehn Uhr kam Frau Takahashi an den Tisch, an dem Mattes immer noch arbeitete.
»Hier lesen Sie mal diesen Artikel im Abendblatt!«, forderte sie ihn auf.
Er schaute auf und griff nach der Zeitung und rückte seine Brille zurecht.
»Wie wir aus sicherer Quelle erfahren haben, wird ein REWE-Laden in Wandsbek erpresst. Der Straftäter manipulierte Joghurtbecher, die von der Polizei sichergestellt wurden. Eine gesundheitliche Gefährdung bestand nicht, da den Bechern Olivenöl zugesetzt wurde.
Die Polizei wollte gegenüber dem Abendblatt den Fall weder dementieren noch bestätigen, da die Ermittlungen nicht abgeschlossen sind«, las Pit laut vor.
»Interessant, sehr interessant und sogar aufschlussreich«, grummelte der Schriftsteller in sich hinein und kratzte sich am Hinterkopf.
MITTWOCH, 04.10.2017, 16:30 UHR, WANDSBEK, SCHLOßSTRA-ßE:
Über eine halbe Stunde vor der Übergabezeit war der Hobbykriminalist am Wandsbeker Markt. Der Übergabepunkt wurde gut beschrieben: ›Vor dem Postamt, zwischen den beiden Aufgängen aus der U-Bahn-Station sind Schaltkästen. Deponieren Sie das Geld in einem Umschlag auf einen der Verteilerkästen.‹
Pit stellte sich gelangweilt an das Gitter zum U-Bahn-Eingang. Daneben stand bereits ein Mann, der ›Hinz und Kunz‹-Zeitschriften verkaufte. Mattes verwickelte ihn in ein Gespräch. Nebenbei beobachtete er das gesamte Umfeld. Fünf Polizisten in Zivil konnte er identifizieren. Als Werner Rede kam, zog er seinen schwarzen Hut tief ins Gesicht. Er wurde von seinem Schulkameraden nicht erkannt. Der Ladenbesitzer legte das Kuvert auf den verabredeten Platz und verschwand gleich darauf.
Nichts passierte. Nach einer halben Stunde verabschiedete sich der Schriftsteller von dem Zeitungsverkäufer. Er ging in die Commerzbank. Von dort konnte er das Geschehen auf dem Vorplatz weiter gut beobachten. Nichts geschah. Gegen achtzehn Uhr schlenderte ein Kriminalbeamter zum Schaltkasten und stellte den Geldumschlag sicher.
Pit kam aus der Bank und sprach den Einsatzleiter an. Es war KHK Walter Engelmann. Mattes schätzte ihn auf fünfunddreißig Jahre. Er war eine beeindruckende sportliche Erscheinung. Einen Meter und fünfundneunzig groß, schätzte Mattes.
»Das habe ich mir gedacht! Ich habe nicht damit gerechnet, dass jemand erscheint und das Geld abholt.«
»Bei der letzten Geldübergabe ist der Gangster Ihnen mit dem Geld auf einem Fahrrad entwischt«, gab Mattes zu bedenken.
»Das war bestimmt genauso initiiert. Meines Erachtens ist das alles nur ein Werbegag. Warum lässt er denn sonst die Erpressung in die Zeitung setzen und gibt Interviews mit dem NDR? Alles bloß Reklame! Und wir fallen darauf rein. Vielleicht ist hier irgendwo eine Filmkamera versteckt.– Versteckte Kamera, oder so was. Und die Polizei macht sich wieder lächerlich! – Ich würde am liebsten wegen Missbrauch gegen Werner Rede vorgehen.«
»Warten wir’s ab. Ich glaube nicht an Ihre Werbetheorie. Für mich geht es hier um Erpressung. Es ist doch denkbar, dass der Übeltäter will, dass es nach Werbung aussieht. Jedenfalls ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Hier ist meine Visitenkarte. Wenn Sie mich brauchen, rufen Sie bitte an«, erklärte Mattes selbstsicher und verabschiedete sich.
MITTWOCH, 04.10.2017, 19:30 UHR, WERE WANDSBEK:
Zum REWE-Laden ging der Hobbykriminalist zu Fuß.
›Da passt so vieles nicht zusammen:
Die Erpresserbriefe, warum genau fünftausend Euro und nicht zehn oder gleich zwanzig? Der Geldbetrag irritiert mich.
Wie kommt das Öl in die Joghurtbecher und wie konnten die Becher manipuliert werden?
Zu viele offene Punkte!‹, überlegte er.
»Wer hat Kontakt zum Hamburger Abendblatt aufgenommen?«, fragte Pit Mattes im Gemeinschaftsraum. »Warum sind heute so wenig Mitarbeiter hier?– Werner, und warum gibst du ein Interview mit dem NDR und der Zeitung?«, wollte er gleich wissen, als er ins Büro schritt.
»Hallo Pit! – Von uns hat keiner das Abendblatt eingeschaltet. – Andrea Kolwaski konnte heute nicht kommen, ihre Oma ist in der vergangenen Nacht gestorben. – Und der NDR fuhr hier vor, baute die Filmkamera auf und wollte mit mir sprechen. – Mir blieb nichts anderes übrig, als ihre Fragen zu beantworten«, antwortete der Fünfziger leicht entrüstet.
»Were, die Polizei glaubt, dass diese Erpressung eine Reklameaktion oder ein Werbegag von dir ist.«
»Nein! Die Sache wird immer schlimmer. Ich habe inzwischen schon drei Interviews gegeben!«
»Werner, du solltest Herrn Mattes die gesamte Geschichte erzählen!«, forderte seine Frau ihn auf.
»Ja, momentan ist sowieso schon alles egal! – Der Erpresser hat sein Ziel erreicht. Wir sind ruiniert!«, verkündete er.
»Aber hallo, jetzt bleib mal auf den Teppich. Und wenn du was zu sagen hast, dann raus damit!«
»Tu’s«, bestärkte seine Gattin.
»Okay! – Es begann vor zwei Jahren, damals bekamen wir den ersten Erpresserbrief. Mein Vater lebte noch. Er bestand darauf, dass wir nicht die Polizei einschalten und die Summe bezahlten. Wir entrichteten Monat für Monat fünftausend Euro.
Stell dir vor, wir haben zwei Jahre jeden Monat fünftausend Euro abgeliefert. Die einhundertzwanzigtausend Euro fehlen im Geschäft. Die Folge ist, dass wir unsere Rechnungen nicht mehr pünktlich bezahlen können. Wir werden nicht mehr vorrangig bedient und die Rabattsätze veränderten sich zu unseren Ungunsten.
Vor drei Monaten ging dann gar nichts mehr. Wir stellten die Erpresserzahlungen ein. Darauf kam der Erpresserbrief, den jetzt die Polizei hat. Denn dieses Mal schaltete ich die Kripo ein. Das Ergebnis kennst du ja. Den Erpresserbrief, der danach folgte, habe ich dir Montag gezeigt.«
»Verstehe!«
»Erzähl ihm auch den Rest!«, kam von Bettina Rede.
»Ja, ich wollte mir Geld von der Bank leihen. Die gaben mir nichts, weil ich keine Sicherheit habe. Ich bin faktisch pleite. Wir haben über zweihunderttausend Euro Außenstände.«
»Verstehe!– Deine Vermutung geht in die Richtung, dass ein Konkurrenzunternehmen dahintersteckt?«
»Ja, diese Betriebsstätte, also der Standort ist ein idealer Standort. Hier kommen jeden Morgen tausende Menschen auf dem Weg zur U-Bahn vorbei.«
»Verstehe! – Werner, ich muss das erst einmal verdauen und darüber nachdenken. – Zuerst werde ich dir Geld leihen, damit deine Existenz gesichert ist. Einen entsprechenden Vertrag müssen wir allerdings abschließen. Du kennst das Prozedere.«
»Das würden Sie für uns tun?«, fragte Bettina Rede.
»Ja, einem Freund hilft man in der Not. Were, und dann werde ich deine These mit dem Wettbewerb durchdenken. Außerdem interessiert mich, wer die Zeitung und den NDR informiert hat.«
Pit Mattes verabschiedete sich. Auf dem Weg zur U-Bahn rief er bei seinem Freund Harald an.
Doktor Harald Rechtler war Jurist und hatte sich als Anwalt selbstständig gemacht.
Mattes und er studierten in Hamburg und lernten sich auf einer Uni-Fete kennen. Sie befreundeten sich.
Haralds Eltern kamen bei einem Autounfall um, sodass er bei seiner Oma aufwuchs. Als sie 1987 starb, fand er bei Mattes Halt.
Seit mehreren Jahren unterstützt Mattes ihn bei kniffligen Nachforschungen oder Ermittlungen. Dafür kümmert sich Harald um alle rechtlichen Angelegenheiten von Pit.
Beide spielen sie gerne Schach, Fernschach. An jedem Tag ist ein Schachzug fällig. Die Kommunikation erfolgt per Mail. Da der Doktor laufend verlor, kaufte er sich einen Schachcomputer und lässt sich von dem unterstützen.
Regelmäßig treffen sie sich, unternehmen etwas oder gehen gemeinsam essen und trinken ein paar Biere.
Der ledige Rechtsanwalt ist fünfundfünfzig Jahre alt, einen Meter und achtzig groß, hat braune lange Haare und besitzt eine sportliche Figur.
Harald versprach, dass er noch am gleichen Tag einen Mustervertrag an Pit und Werner Rede, per Mail, verschicken würde. Mattes war zufrieden. In der U-Bahn durchspielte er die neue Konkurrenz-Variante.
DONNERSTAG, 05.10.2017, 10:00 UHR, EPPENDORF, BÜCHEREI:
Als Mattes am Morgen in die Bücherei kam, merkte er sofort, dass an diesem Tag alles anders war als sonst.
Es waren keine Kunden in der Bibliothek. Im Radio wurde eine Sturmwarnung angesagt. Mio Takahashi stand nicht, wie sonst immer, hinter ihrem Tresen. Sie war auch nicht in den Büchereiräumen.
Pit Mattes setzte sich an seinen Stammplatz und packte sein MacBook aus. Er rief die Karten-App auf, machte eine Hardcopy von der Wandsbeker Gegend, den REWE-Laden im Mittelpunkt. Das Bild transferierte er nach Keynote. Anschließend suchte er die Standorte der Konkurrenzunternehmen, die ihm Werner nannte. Jeder Lebensmittelladen im Umkreis von zwei Kilometern bekam einen roten Punkt.
Aber richtig konnte sich Pit nicht auf seine Arbeit konzentrieren. Er schaute stets wieder auf, um nach Mio Takahashi Ausschau zu halten.
Nachdem sie nach zwanzig Minuten immer noch nicht auftauchte, machte Mattes sich Sorgen. Er stand auf und latschte in den hinteren Bereich der Bücherei. Hier befand sich der Zugang zu ihrer kleinen Wohnung, in der sie seit Jahren wohnte. Er erreichte noch nicht die Tür, als sie aus ihrer Wohnung trat. Mattes erkannte ihre rot unterlaufenen Augen. Er lief auf sie zu und nahm sie in den Arm. Pit umfasste mit seiner Hand ihren Kopf und drückte ihn an seine Schulter. Sie schluchzte. Die beiden standen drei, vier Minuten so zusammen, bis ihre Atmung ruhiger wurde.
»Haben Sie schon einen Tee bekommen, Herr Mattes?«, fragte sie und drehte sich aus seiner Umarmung.
»Das hat Zeit, erzählen Sie, was ist passiert?«, forderte er sie auf. Er ging zu seinem Platz zurück und zog sie mit. Sie setzten sich auf die Bank. Erwartungsvoll schaute er sie an.
»Ich bekam heute einen Anruf von der Zentralverwaltung. Die wollen diese Filiale schließen. Die Räumlichkeiten sollen abgemietet werden und ich sollte ins Sekretariat wechseln. Das habe ich sofort abgelehnt. Ich bin doch keine Tippse. Jetzt bekomme ich eine betriebsbedingte Kündigung.
Herr Mattes, was soll ich machen? Wo soll ich hin? Ich wohne doch hier in der kleinen Wohnung. Ich muss schon zum 31. Oktober raus.«
»Das darf doch wohl nicht wahr sein. Was fällt denen denn ein? Sind die total verrückt geworden?«, kam es entrüstet von ihm. »Okay – Frau Takahashi, wir werden eine Lösung finden.«
Frau Takahashi schaute ihn fragend an.
»So viel Zeit bleibt nicht für einen Ausweg.«
»Verstehe – wir brauchen eine schnelle Problembewältigung oder eine Übergangslösung«, begann Pit Mattes.
Nach einer Weile, sie schaute ihn immer noch erwartungsvoll an, verkündete er: »Ich hätte da einen Vorschlag: Ich wohne ja hier über der Bibliothek und lebe dort allein in einem zweihundert Quadratmeter großen Appartement. Da ist Platz für uns beide.«
»Was? Sie wollen mir Asyl in Ihrer Wohnung gewähren? Das hätte ich mir nicht träumen lassen. Sie wollen, dass ich bei Ihnen einziehe?«
»Ja! Warum nicht?«, antwortete er und lächelte sie an.
Ihm gefiel dieser Gedanke.
»Herr Mattes, ich habe Sie unterschätzt. Meinen Sie, Sie kommen damit klar, wenn ich bei Ihnen einfalle?«
»Ja, warum nicht!«
»Gerne! Ich nehme Ihr Angebot sofort und gerne an!«, erklärte sie und ihr Gesichtsausdruck hellte sich auf.
»Okay – bekomme ich jetzt einen Tee?«
Natürlich bekam er Tee. Frau Takahashi setzte sich zu ihm und legte ihre Hand auf seine: »Danke!«
Draußen tobte der Orkan Xavier.
DONNERSTAG, 05.10.2017, 13:00 UHR, GROßER BURSTAH, ABENDBLATT:
Um fünf vor eins war Mattes am Großen Burstah, dem Standort vom Hamburger Abendblatt.
»Ich möchte von Ihnen lediglich wissen, wer Ihre ›sichere Quelle‹ ist. Ich vermute, dass es sich dabei um den Übeltäter handelt.«
»Herr Mattes, Sie müssen verstehen, dass wir Ihnen das nicht verraten können. Wenn wir unsere vertrauten Quellen preisgeben würden, dann werden uns in Zukunft die Informanten nicht mehr bedienen.«
DONNERSTAG, 05.10.2017, 15:00 UHR, WANDSBEKER MARKT:
Der Weg von der Redaktion zum REWE-Laden gestaltete sich knifflig. Schuld daran war der Herbststurm Xavier, der über Norddeutschland tobte. Einige S- und U-Bahnen fuhren nicht. Die Straßen waren verstopft. Viele Feuerwehrgerätewagen mit Blaulicht und Sirene waren im Hamburger Straßenbild vertreten.
Mattes besaß kein schlüssiges Konzept für seinen Besuch im Laden. Außerdem hatte er immer noch nicht das Problem mit dem Olivenöl im Joghurt gelöst.
Der Schriftsteller besuchte nicht direkt den REWE-Laden, sondern legte einen Zwischenstopp ein. Er ging in ein Café am Wandsbeker Markt und bestellte sich einen schwarzen Tee und ein Stück Käsekuchen.
›Das Konkurrenzmodell von Were passt nicht so recht in das Erpresserbild‹, überlegte er und holte die Karte mit den Konkurrenzpunkten hervor. ›Eigentlich ist das hier Quatsch! Warum sollte ausgerechnet ein Unternehmen aus der unmittelbaren Gegend das Lebensmittelgeschäft verdrängen wollen. Nur, um den Standort zu bekommen? Das könnte genauso jeder andere, der hier Fuß fassen will, bezwecken. –
Außerdem kann ich mir nicht vorstellen, dass ein Mitbewerber sich so etwas leistet. Wenn das herauskommt, ist das das Aus für den Konkurrenten. So ein Risiko ist viel zu groß. Ganz unabhängig davon:
Jemand hat den Erpresserbrief geschrieben.
Jemand hat Olivenöl in die Joghurtbecher gespritzt.
Jemand hat die Medien eingeschaltet.
Jemand hat zwei Jahre Monat für Monat Geld kassiert‹, überlegte Mattes.
›Ich muss unbedingt an diesen offenen Punkten arbeiten. Und nicht an Punkten auf dieser Karte.‹
Nach einer Stunde, und einer weiteren Tasse Tee, zahlte er und marschierte zu Fuß zum REWE-Laden. Der Sturm hatte sich inzwischen gelegt.
DONNERSTAG, 05.10.2017, 16:30 UHR, WERE WANDSBEK:
»Danke, Pit.«
»Wofür?«
»Für das Geld. Für deinen Kredit.«
»Das kritische Problem haben wir beseitigen können, den Rest werden wir auch schaffen. – Werner, bitte sei mir nicht böse, ich habe die ganzen Zusammenhänge nicht komplett durchdenken können. Um ehrlich zu sein, ich bleibe immer an dem Olivenöl im Joghurt hängen. Egal, aus welchem Motiv heraus die Erpressung zustande gekommen war, es bleibt die Frage: Wie und wann kam das Öl-Zeug in den Joghurt?«
»Natürlich!«, sagte Werner Rede.