Pit Mattes - Havarie - Hein Ennak - E-Book

Pit Mattes - Havarie E-Book

Hein Ennak

0,0

Beschreibung

Juni 2022: Der Schriftsteller und Kriminalist Pit Mattes wird von Politiker Niels Zwink gebeten, bei der Suche nach dessen verschwundener Lebensgefährtin Gabi zu helfen. Doch bevor sie Fortschritte machen können, wird Zwink ermordet und Mattes angeschossen. Zusammen mit seiner Partnerin Mio Takahashi und der Kriminalpolizei muss Mattes all seine analytischen Fähigkeiten einsetzen, um den Fall von Entführung, Mord und versuchtem Totschlag aufzuklären.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 269

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Hamburg-Krimi

Ich möchte die Welt in einem besseren Zustand verlassen, als ich sie vorgefunden habe.

Niels Zwink

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9: Epilog

1
DIENSTAG, 21. JUNI 2022, 11:00 UHR,LUDOLFSTRAßE:

Es war ein schöner sonniger Tag. Mio bummelte über den Eppendorfer Marktplatz und bog rechts in die Heinickestraße ab. Sie war mit Pit verabredet, der wollte vorher bei Niels vorbeischauen. Mio erreichte die Ludolfstraße und konnte Pit schon sehen, wie er über die Straße marschierte. Sie winkte ihm zu und freute sich auf die Umarmung und den Begrüßungskuss, den sie in jeden Augenblick bekommen würde. Pit winkte zurück, er hatte die andere Straßenseite fast erreicht und befand sich schon im Schatten der Straßenbäume. Ein Auto hupte und Pit drehte sich um.

Da knallte es – ein Schuss. Gleich darauf ein zweiter und ein dritter Schlag. Und Mattes verlor sein Gleichgewicht. Er knickte nach hinten. Mit überraschtem Gesichtsausdruck brach er auf dem Bürgersteig zusammen. Er verkrampfte sich vor Schmerzen. Mio erstarrte, riss ihre Augen weit auf, sie konnte nicht begreifen, was sie sah. Alles lief in Zeitlupe ab. Sie ließ die Einkaufstaschen fallen und rannte los, sie war bei ihm und kniete sich neben ihn. Blut! Überall sah sie Blut – Mio schrie – Pit reagierte nicht mehr.

DIENSTAG, 21. JUNI 2022, 12:00 UHR,HAMBURG, RISSEN, LEUCHTTURMWEG:

»Da muss was bannig in die Büx gegangen sein.«

»Was? Ist der Steuermann wieder schlecht drauf?«

Der sechsundsechzigjährige, kahlköpfige Markus Saller rümpfte die Nase: »Jo, sieht so aus. David, mach den Glimmstängel aus, dat stinkt. Du weißt genau, dass du hier nicht schmöken sollst.«

»Schon gut!«, raunte David und winkte mit den Händen ab. »Sag mal, hast du jemals den Boss gesehen?«

»Nee, nee, dat mutt ik nich. Annermanns Good is annermanns Sörg.«

»Sprich deutsch!«

»Das muss ich nicht! Wir machen unseren Job, die Kohle kommt, und mehr will ich lieber nicht wissen.«

»Is’ schon gut! Komm mit nach draußen, ich brauche Nikotin.«

Die beiden staksten die Treppe zum Garten hinunter und setzten sich unter dem Apfelbaum auf die Bank. Ihr Blick lag auf der alten schilfbedeckten Kate. Sie genossen die Wärme der Sonne, die durch die Blätter fiel.

»Aaach, sag mal, David, was hast du vor diesem hier getrieben? Du bist doch verheiratet? Kannst du so einfach weg von zu Hause?«

»Meine Frau kennt das, sie vermisst mich nicht. Ich war im Jugendstrafvollzug auf dem Segler Andresen als Bootsmann tätig. Ein Zweimastschoner, oben zwei Gaffeltoppsegel, darunter jeweils ein Gaffelsegel, vorne vier Vorsegel. Für einen Schoner ein schnelles Schiff. Es war eine gute Zeit«, erklärte David.

»Verstah man nich, dat du keen Platt versteihst.«

»Das habe ich nie gelernt.

Markus, und was ist mit dir? Du warst doch auch verheiratet.«

»Jo, ist eine Weile her. Ich bin 1956 hier in Hamburg-Barmbek geboren, Volksschule, Gymnasium, Militärzeit, Maschinenbau studiert und dann zur See. Bin immer als Maschinist auf Containern gefahren. Bei einem Landurlaub habe ich Isabell kennengelernt. Sie hatte in Altona eine Bude. Ein Dreivierteljahr später, beim nächsten Landgang in Hamburg, haben wir geheiratet. Das war 1975 und fünf Monate darauf kam Gerhard zur Welt.«

»Hast du mal nachgerechnet?«

»Jo, ich weiß, was du meinst. War mir aber im Vorwege klar. Ich liebte sie und ihre Art war so fröhlich, so sorglos, so lebendig, so aufgedreht und so liebenswert, ich konnte nicht anders. Und es war eine gute Zeit. Bis 1986, dann fing sie an zu saufen und starb im Februar 2001. Wir waren gerade in Höhe Kap Horn, als ich das Telegramm bekam.«

»Hast du Kontakt zu deinem Sohn?«

»Zu den Geburtstagen und Weihnachten. Er lebt in Frankreich, hat seine eigene Familie. Ich war vor vier Jahren mal da. Bin nach zwei Tagen wieder abgereist, wir waren uns zu fremd.«

DIENSTAG, 21. JUNI 2022, 13:35 UHR,EPPENDORF, UKE:

»Er hatte einen Schutzengel. Das Projektil aus der Schulter haben wir herausbekommen. Die Kopfverletzung resultiert aus einem Streifschuss. Ein weiterer Schuss traf seinen Thorax. Sein Handy hat die Kugel aufgehalten. Das wird ein riesiges Hämatom, das ihn ein paar Wochen begleiten wird. Er hatte einen verdammt fleißigen Schutzengel. Frau Takahashi, er verlor reichlich Blut und braucht jetzt Ruhe, Ruhe und Ruhe. Und es wird Zeit dauern.«

»Danke! Herr Doktor, darf ich bei ihm bleiben?«

»Dies ist eine Intensivstation und sie wissen doch – Covid-19, Covid-19 und noch mal Covid, tut mir leid. Dort hinten im Glaskasten, in der Sitzecke, dürfen sie sich aufhalten, aber bitte nur mit FFP2-Mund- und Nasenschutz.«

DIENSTAG, 21. JUNI 2022, 13:40 UHR,HAMBURG, RISSEN, LEUCHTTURMWEG:

»Heute Nacht landet das Paket an, so um dreiundzwanzig Uhr. Das kommt dann wieder in den Bulli und die Karre stellen wir dieses Mal in der HafenCity ab. Du fährst wie immer hinter mir her und sammelst mich auf.«

»Wollen wir nicht mal den VW-Bus beobachten? Mich interessiert, wer das Päckchen abholt.«

»Nee, nee, warum, ich bin doch nicht lebensmüde.«

Drrrrrrsch, machte das Mobiltelefon in Markus’ Gesäßtasche.

»Oh, wieder eine Nachricht vom Steuermann?«

»Moment!«, kam vom Markus, während er sein Handy aus der Hose zog.

»Jo! Wir sollen den Bulli abholen, auftanken und wat zu eten köpen – ah: Lebensmittel einkaufen!«

»Okay, ist besser als hier abhängen. Was machen wir mit der Braut im Keller?«

»Dat geiht uns nix an, dat is dat Speeltüüg vun ’n Stüermann1.«

»Wie bist du denn drauf. Ich war vorhin unten. Die ist vollgedröhnt bis über die Ohren.«

»Dat heff ik ok faststellt. Dat is en smucke Deern.«

»Gut – nicht gut. Dann lass uns in die HafenCity fahren, den Bulli holen. Die Einkäufe erledigen wir auf dem Rückweg.«

DIENSTAG, 21. JUNI 2022, 14:20 UHR,HAMBURG, REDAKTION DER TAGESZEITUNG:

»Habe eben erfahren, dass der SPD-Fritze Zwink erschossen wurde. Kommst du mit in die Ludolfstraße und fotografierst den Schauplatz und den Polizeieinsatz?«

»Sorry, Tobias, ich bin mit dem Artikel zu Rocky beschäftigt. Das macht Spaß, darüber zu berichten. Unsere Behörden, da kann man mal sehen, was für Trantüten wir bei der Polizei haben.«

»Und?«

»Rocky … hat hahaha … Er hat gestern drei Gangstern, die einen Geldtransporter überfallen haben, das gestohlene Geld abgenommen. Perfekt getimt. Ich könnt mich totlachen, die Augen der Bullen hätte ich gern gesehen … hahaha.«

»Was ist nun?«

»Ein oder zwei Pictures wirst du mit deinem Mobilteil hinbekommen. Machst ja sonst auch laufend Bilder mit dem Ding.«

»Schade, wollte mit dir einen Kaffee in Eppendorf trinken.«

»Nee, und nur zur Info, der Schriftsteller Mattes wurde ebenfalls dort angeschossen. Haben sie eben im Radio berichtet. Du bist wieder spät dran. Ich habe genug zu arbeiten und heute mal ausnahmsweise keinen Außendienst. Also los, hurtig, Herr Tobias Kleingeist!«

DIENSTAG, 21. JUNI 2022, 16:00 UHR, HAMBURG, ALSTERDORF, POLIZEIPRÄSIDIUM:

»Hallo, Herr Engelmann, prima, dass ich sie treffe. Haben sie etwas von Mattes gehört? Natürlich – natürlich haben sie was gehört. Wie geht es ihm?«, rief Polizeirat Biestmann über den Flur, als er Kriminalhauptkommissar Engelmann auf dem Weg zur Kaffeeklappe sah. Bewaffnet mit einem Becher und einer Müslischale stürmte er auf den Polizisten zu.

»Noch wenig erfahren, er liegt auf der Intensivstation im UKE.«

»Und Frau Takahashi? Wie hat sie es aufgenommen?«

»Ist bei ihm im Krankenhaus. Ich habe mit ihr telefoniert.«

»Herr Engelmann besteht ein Zusammenhang zwischen den beiden Fällen?«, erkundigte sich der Polizeirat, kratzte sich nachdenklich hinterm Ohr und schob den Mundschutz unter sein Kinn.

Der Ermittler ging einen Schritt rückwärts, um den Mindestabstand einzuhalten. »Mattes war definitiv bei Zwink im Haus. Die beiden waren befreundet. Ich gehe aber nicht davon aus, dass er Zwink erschossen hat.«

»Was ist mit der Waffe, die neben Mattes gefunden wurde?«

»Ist die Dienstwaffe von Kriminalhauptkommissarin Gabriele Sommer.«

»Was, Gabi? Definitiv?«

»Ja, und mit der wurde geschossen. Drei Patronen fehlen. Und genauso viele Schüsse wurden auf den Politiker abgefeuert. Die Projektile werden zurzeit überprüft. Ich bin mir aber sicher, dass Zwink mit Gabis Waffe getötet wurde.«

»Fingerabdrücke?«

»Negativ.«

»Wir haben uns die Kleidung von Mattes geben lassen. Die SpuSi wird sie auf Schmauchspuren untersuchen. Er hatte keine Handschuhe dabei.«

»Was sind ihre nächsten Schritte?«

»Ich fahre gleich ins Krankenhaus, und da Gabi vermisst wird, verabredete ich einen Termin mit ihrem Abteilungsleiter. Aber zuerst will ich noch einmal mit Mattes’ Frau reden.«

»Gabi vermisst – oh – mmh. Dann viel Erfolg. Ah – Moment – ja, genau, ich habe da eine Idee, kommen sie bitte in fünfzehn Minuten in mein Büro.«

DIENSTAG, 21. JUNI 2022, 17:45 UHR, HAMBURG, REDAKTION DER TAGESZEITUNG:

»Herr Kleingeist, wir nehmen ihren Artikel auf die erste Seite. Bitte auf sechzig Wörter kürzen. Und keine Spekulationen, nur ermittelte Fakten.«

»In Ordnung, was darf ich …«

»Der SPD-Politiker Niels Zwink wurde in seiner Wohnung erschossen, einen kurzen Abriss, was der Berufspolitiker erreicht hat, und so weiter«, unterbrach der Chefredakteur. »Alle Hypothesen, wer der Täter ist, will ich nicht an dieser Stelle sehen. Schreiben sie zusätzlich einen Kommentar für den Hamburg-Teil, da lassen sie ihren Vermutungen freien Lauf. Halten sie sich aber an Tatsachen.«

»Ja, gern, mach ich!«

»Ich erwarte ihre beiden Texte in fünfundvierzig Minuten.«

1 Das geht uns nichts an. Die ist das Spielzeug vom Steuermann.

2
MITTWOCH, 22. JUNI 2022, HAMBURGER TAGESZEITUNG:

Lokale Nachrichten aus Hamburg:

Hamburg, 21.06.2022, 11:15, Hamburg-Eppendorf, Ludolfstraße. Der SPD-Politiker Niels Z. wurde in seinem Appartement erschossen. Die Haushälterin Darja N. fand den Toten, als sie die Räumlichkeiten betrat. Die Mordkommission (LKA 41) und die Staatsanwaltschaft haben die Ermittlungen übernommen. Die Nachforschungen zu den Hintergründen dauern an. Die Strafverfolgungsbehörden bitten Zeugen, die Hinweise geben können, sich beim Hinweistelefon der Polizei oder bei einer Polizeidienststelle zu melden.

Hamburg, 21.06.2022, 11:02, Hamburg-Eppendorf, Ludolfstraße. Der Schriftsteller Pit M. wurde, während er die Ludolfstraße in Eppendorf überquerte, lebensgefährlich angeschossen. Der Täter konnte nicht ermittelt werden. Die Polizei sucht nach Zeugen, die dazu beitragen können, den Fall aufzuklären. Das Opfer liegt im UKE und ist aus dem Koma nicht aufgewacht. Die genauen Umstände und Motive des Verbrechens sind derzeit unklar.

Hamburg – der Kommentar: Nun, das ist eine Schlagzeile, die wir jeden Tag lesen – »Polizei hat versagt«. Wie viele weitere Male müssen wir uns das noch anhören, bevor wir die Augen öffnen und erkennen, dass unser System nicht mehr funktioniert? Der Mord an SPD-Politiker Niels Z. in seiner eigenen Wohnung ist nur ein zusätzliches Beispiel dafür, wie die Gewaltkriminalität in unserer Gesellschaft eskaliert.

Natürlich, wir können der Polizei nicht die Schuld geben, wenn jemand beschließt, einen Mord zu begehen. Aber es ist ihre Aufgabe, uns vor Verbrechen zu bewahren. Was ist mit all den Überwachungskameras und den Patrouillen, die uns angeblich schützen sollten? Wo war all das, als Z. in seiner Wohnung ermordet wurde?

Es ist erstaunlich, wie die Polizei ihre Arbeit nicht ernst nimmt, oder? Oder vielleicht ist es etwas anderes. Vielleicht fehlt es an Ressourcen, an Personal, an Technologie oder an einer gründlicheren Ausbildung. Vielleicht ist es ein strukturelles Problem, ein politisches Problem, ein soziales Problem.

So oder so, eines ist sicher: Die Polizei hat versagt. Und wir alle haben versagt. Wir haben versagt, uns um unsere Gesellschaft zu kümmern, um unsere Mitmenschen, um unsere Zukunft. Wir haben versagt, unseren Kindern eine Welt zu hinterlassen, die sicher und gerecht ist. Wir haben versagt, eine Welt zu schaffen, in der Gewalt und Kriminalität keinen Platz haben. Und wir werden weiterhin versagen, solange wir nicht handeln.

(c) Tobias Kleingeist

MITTWOCH, 22. JUNI 2022, 9:30 UHR,EPPENDORF, UKE, INTENSIVSTATION:

»Er ist hier gut aufgehoben. Frau Takahashi, machen sie sich keine Sorgen«, beruhigte sie Kriminalhauptkommissar Engelmann.

Mio Takahashi ist vor dreiundfünfzig Jahren in Hamburg geboren. Ihr Vater war japanischer Konsul, ihre Mutter stammte aus einer deutschen Reederfamilie.

Takahashiheißt auf Deutsch »hohe Brücke«.

Die schlanke, mittelgroße Frau trägt einen Bubikopf und ihre schwarzen, mit grauen Strähnchen versetzten Haare und die tiefschwarzen Augen bringen ihr asiatisches Flair zum Ausdruck.

Germanistik und Journalismus hat sie in Hamburg studiert und achtundzwanzig Jahre als Bibliothekarin gearbeitet. Im Oktober 2017 gründete sie mit Susanne Offner und Thomas Eberhardt ein »Bücher&Lese-Café« an der Eppendorfer Landstraße. Dabei übernimmt sie den Bücher-und-Lese-Teil der kleinen Gesellschaft. Außerdem lektorierte Frau Takahashi für den Schriftsteller Pit Mattes.

Schon lange befasste sie sich aktiv mit Aikido – Kunst der Harmonie der Kräfte und defensiv ausgerichteter japanischer Kampfsport.

Mio Takahashi ist eine immer höfliche Frau, die sich nicht so schnell in die Karten schauen lässt. Sie wohnt seit Oktober 2017 bei Pit Mattes in der Eppendorfer Landstraße in dem Mietshaus, in dem auch das Café ist. Sie sind ein Paar.

»Sie können ihn nicht befragen. Er schläft.«

»Das hat mir eben der Stationsarzt schon gesagt. Aber ich bin ihretwegen hier. Ich war bereits bei ihnen zu Hause. Sie waren die ganze Nacht über hier?«

»Ja, Susanne brachte mir ein paar Sachen. Ich habe dort drüben im Sessel geschlafen. Heute kommt Pit von der Intensivstation. Dann kann ich vielleicht ständig bei ihm bleiben.«

»Kommen sie, ich gebe einen Kaffee in der Kantine aus. Ich glaube, den vertragen wir jetzt beide. Und dann erzählen sie mir, was passiert ist.«

MITTWOCH, 22. JUNI 2022, 10:00 UHR,EPPENDORF, UKE, INTENSIVSTATION:

»Herr Mattes, Herr Mattes, hören sie mich?«

Pit Mattes öffnete seine Augen nur einen kleinen Schlitz, denn es war hell. Ich liege in einem Bett. Ich bin verkabelt.

»Wo bin ich?«

»Sie sind im Universitätskrankenhaus Eppendorf. Sie wurden gestern angeschossen. Mein Name ist Doktor Jan Aaschas und neben mir steht Schwester Sandra. Herr Mattes, wann sind sie geboren?«

»Ich geboren, ja, bestimmt, warum fragen sie?«

»Wir wollen nur wissen, ob sie sich an ihr Geburtsdatum erinnern können.«

»Ich bin am 10. Juli 1965 hier in Hamburg zur Welt gekommen.«

»Gut, das ist ebenso unser Stand.«

»Wo ist Mio? Wie geht es Mio?«

»Alles gut – ihre Frau ist hier. Mit ihr ist alles okay. Sie verbrachte die Nacht auf dem Flur in einem Sessel. Sie war immer da«, flüsterte die Krankenschwester.

Schwester Sandra – eine kraftvolle, stämmige und mittelgroße Frau mit einem blonden Bubikopf und grünen Strähnchen im Haar. Ihr weißer Schlupfkasack ist eine Nummer zu eng und zu kurz.

Sie hat mit ihrem Mann in Norderstedt eine Dackelaufzucht, aufwendig und zeitintensiv, hauptsächlich der Ehemann. Die Arbeit im Krankenhaus ist mehr oder weniger ihr Ausgleich. Die zweiundzwanzigjährige Sandra Habig ist eine liebenswerte Frau, der keine Aufgabe zu schwer ist.

»Und – was fehlt mir?«, wollte Pit wissen.

»Sie haben eine große Wunde an ihrer rechten Schulter«, erklärte Dr. Aaschas. »Dort haben wir ein Projektil entfernen müssen. Am Kopf bekamen sie einen Streifschuss. Den hat mein Kollege gestern genäht.« Er zeigte mit seinem Finger auf die Kopfwunde.

»Davon bleiben nur eine kleine Narbe am Haaransatz übrig und ein paar Tage Kopfschmerzen. Auf ihrer Brust haben sie ein großes Hämatom. Die Kugel traf ihr Telefon. Welches, nur mal so nebenbei, ihr Leben gerettet hat. Der blaue Fleck durchläuft alle Farben und ist in zwei oder drei Wochen weg.«

»Verstehe. Und wozu brauche ich diese Verkabelungen?«

»Die gehören zur Überwachung von Herz, Atmung, Sauerstoffgehalt und so weiter. Die nimmt ihnen gleich Schwester Sandra ab. Durch die Kanüle an ihrem Unterarm bekommen sie eine Infusionslösung. Sie haben Blut verloren, das kann Schockzustände und Kreislaufversagen auslösen. Das fehlende Blutvolumen ersetzen wir durch diese Infusionslösungen, die auf der Basis von Hydroxyethylstärke, kurz HES, hergestellt wird. Sie bekommen heute fünf und morgen drei Infusionen. Morgen Abend oder spätestens übermorgen sind sie damit durch.«

»Herr Mattes«, begann die Schwester, »ich werde sie nachher von der Intensivmedizin auf eine normale Station verlegen. Dort erhalten sie eine genauso gute Betreuung wie hier.«

»Danke!«

Pit Mattes: Eigentlich heißt er Peter Johannes Mattes. Seine Mutter nannte ihn Hannes, während alle anderen ihn Pit nennen. Er ist einen Meter dreiundachtzig groß, grau auf dem Kopf und trägt nicht nur einen grauen Lippenbart, sondern auch eine moderne Hornbrille und oft einen schwarzen Stetson-Hut.

Der nicht schlanke, aber sportliche sechsundfünfzigjährige Mann studierte Betriebswirtschaft und Mathematik. Bei einer Versicherung arbeitete er in der Marketingabteilung und schrieb dort die Jahresberichte. Vor zwanzig Jahren stellte er fest, dass andere Unternehmen auch Geschäftsberichte brauchen. Er machte sich als Schriftsteller selbstständig.

Heute schreibt er Krimis und Romane. Er ist Ghostwriter für Prominente aus Wirtschaft und Politik und fertigt ihre Biografien oder Memoiren an.

Tatsächlich ist Mattes ein ruhiger, maulfauler, nachdenklicher Zeitgenosse. Er ist nicht der Schnellste, dafür aber neugierig, präzise und besitzt eine rasche Auffassungsgabe.

Um fit zu bleiben, praktiziert er seit seinem Studium Judo. Ein- oder zweimal in der Woche nimmt er an einer Trainingsstunde teil. Für Wettkämpfe hat er nichts übrig, obwohl er durchaus die Chance auf einen Titel hätte. Zumindest sein Trainer behauptete das immer. Ab März 2020 war das durch die Coronavirus-Pandemie nicht mehr möglich, so trainierte er mit Mio zu Hause. Schon über dreißig Jahre lebt er in einer ZweihundertQuadratmeter-Wohnung im ersten Stock eines alten dreistöckigen Gebäudes an der Eppendorfer Landstraße. Verheiratet ist er nicht. Seit Oktober 2017 wohnt die hübsche Mio Takahashi, seine Lebensgefährtin, bei ihm. Er ist verliebt.

Seit der ersten Coronaphase gibt es Überlegungen, sich zu verloben. Der Verlobungstag wurde einige Male verschoben, weil eine Feier unter Coronabedingungen nicht sinnvoll war. Der aktuelle Termin ist am Sonnabend, 25. Juni.

MITTWOCH, 22. JUNI 2022, 10:15 UHR, EPPENDORF, UKE, KANTINE:

»Dort hinten ist ein Tisch frei. Kommen sie, Frau …«

»Danke für den Kaffee«, sagte Mio und nahm den Mundschutz ab.

»Keine Ursache!«

»Was wollen sie von mir wissen?«

»Wir sprachen gestern von dem Überfall. Sie haben eine sehr gute Beobachtungsgabe. Ich will den gesamten Tathergang erneut mit ihnen durchgehen«, kam von KHK Engelmann.

»Muss ich das jetzt alles noch einmal erzählen?«, und man sah es ihr an, dass es ihr schwerfiel. Sie hatte sich die ganze Nacht im Sessel vor der Intensivstation gedanklich damit beschäftigt.

»Ja! Das wäre mir am liebsten.«

Walter Engelmann: Der blauäugige, sehr große fünfunddreißigjährige Kriminalhauptkommissar hat eine sportliche Statur, trägt schwarze, kurze Haare und ist stets lässig gekleidet. Er ist ein geselliger, sympathischer Kriminalpolizist. Privat beschäftigt er sich mit Motorradfahren und spielt ausgezeichnet Tennis.

MITTWOCH, 22. JUNI 2022, 10:35 UHR, EPPENDORF, UKE, INTENSIVSTATION:

Was ist gestern passiert? Ich erinnere mich an nichts. Was? Wo? Warum? Normal ist das nicht. Ich werde den Arzt fragen, was los ist.

Pit schaute auf die Uhr, die gegenüber an der Wand hing. Zwanzig nach zehn. Mio kommt bestimmt zur Besuchszeit um sechzehn Uhr.

Die Tür zum Krankenzimmer öffnete sich einen Spalt. Der Doktor oder Schwester Sandra?, überlegte Pit.

Blitz! Pit erschrak. Was war das?

Schon gleich darauf schloss sich die Tür wieder. Was war das denn?, grübelte Pit.

Die Tür öffnete sich etwa zwanzig Minuten später erneut. Dieses Mal ging sie weiter auf. Krankenschwester Sandra kam mit einer Kollegin ins Zimmer.

»Hallo Herr Mattes. Das ist Schwester Vanessa von der H9. Wir verlegen sie jetzt auf eine andere Station.«

»Ich bin im Bilde, sie sprachen bei der Visite davon«, grummelte Mattes.

»Stimmt, ihr Zustand ist stabil und so brauchen sie nicht mehr auf der Intensivmedizin liegen. Wir bringen sie zur Station H9. Ihrer Frau habe ich eine SMS geschrieben, damit sie sie findet.«

»Verstehe! Was ist mit meinem Kram?«

»Ihre Sachen nehmen wir gleich mit. Ihre Kleidung hat nebenbei bemerkt die Polizei abgeholt. Ihr T-Shirt und die Hose waren auf jeden Fall nicht mehr brauchbar, total blutverschmiert. Frau Takahashi weiß Bescheid und bringt geeignete Kleidung mit.«

MITTWOCH, 22. JUNI 2022, 10:35 UHR, EPPENDORF, UKE, KANTINE:

»Oh entschuldigen sie, Herr Engelmann. Ich bekomme gerade eine Nachricht auf mein Handy. Es könnte was Wichtiges sein.«

»Keine Ursache, wir haben Zeit!«, murmelte er, und man sah deutlich, dass es ihm nicht passte.

»Eine SMS von Schwester Sandra: Ihr Mann wurde auf Station H9, Zimmer 126, verlegt. Es geht ihm gut! Ich soll Grüße ausrichten. Bringen sie bitte weite Kleidung für ihn mit. LG Sandra«, las Mio vor.

»Das ist erfreulich, dann können sie ihn jederzeit besuchen. Soviel ich weiß, gibt es dort keine festen Besucherzeiten. Ach nein, durch Corona ist alles anders geworden.«

Mio lächelte den Kriminalhauptkommissar an, sie würde jetzt lieber mit Pit reden: »Entschuldigen sie die Unterbrechung. Wo waren wir stehen geblieben.«

»Gerne, Frau Taka…«, druckste Engelmann herum. »Ich habe ihnen etwas mitgebracht. Aber zuvor muss ich was erklären: Sowohl mein Chef, der Kriminalrat Biestmann, als auch ich sind der Meinung, dass sie uns bei diesem Fall unterstützen sollten. Herr Mattes hatte vor einiger Zeit meinem Vorgesetzten das Angebot unterbreitet, wieder im Falschgeldfall zu ermitteln. Das aber nur unter der Bedingung, dass sie genauso einen Beratervertrag bekommen wie er. Und das war dann auch das Problem, Behörde usw., sie verstehen?«

»Ach so«, kam von Mio, während sie ihre Schultern hochzog. Sie war überrascht und musste in sich hineinlächeln.

»Und da ihr – Entschuldigung, sind sie inzwischen verlobt?«

»Nein, das planten wir für das kommende Wochenende.«

»Na ja, da er jetzt nach seiner Havarie für unbestimmte Zeit, nennen wir es mal, außer Gefecht gesetzt ist, frage ich sie, ob sie mit uns den Fall lösen?«

Pause.

Mio musste erst einmal ihre Gedanken sortieren. Pit hat mir nichts von dem erzählt. Das bedeutet, er will mich zum gleichwertigen Partner bei seinen Ermittlungen haben. Ein Grinsen huschte über ihr Gesicht.

Jetzt verstehe ich, deshalb bekam er so lange keinen neuen Auftrag von der Polizei, ich hatte mich schon gewundert, überlegte sie weiter.

»Einverstanden, wenn es primär um diese Angelegenheit geht.«

»Natürlich. Wir haben das schon vorbereitet. Hier ist ihr Beratervertrag in doppelter Ausfertigung und hier ist ihr Dienstausweis.«

»Danke!«, flüsterte Mio, unterschrieb und steckte die Dokumente, ohne darauf zu schauen, in ihre Handtasche. Sie trank den letzten Schluck des kalten Kaffees und schmunzelte: Danke, Pit!

»Wie wollen wir anfangen? Wobei oder womit kann ich sie unterstützen?«

»Okay! Fangen wir mit dem Überfall auf ihren Mann an und mit der Ermordung von Niels Zwink. Wir wissen, der Politiker wurde laut der vorläufigen Angabe der Rechtsmedizin zwischen Viertel vor und Viertel nach elf mit der Dienstwaffe von Gabriele Sommer erschossen.«

Gabriele Sommer: Die neunundvierzigjährige Kriminalhauptkommissarin ist mittelgroß, hat eine normale Statur, trägt braune, lange Haare und ist immer sportlich gekleidet. Die impulsive, schnell aufbrausende Dame war verheiratet, ist allerdings seit etlichen Jahren geschieden. Seitdem hatte sie mehrere Verhältnisse mit Kollegen, die jedoch scheiterten. Sie war mit dem Lebemann Felix Gerber zusammen und seit guten vier Jahren mit dem Politiker Niels Zwink. Pit Mattes half ihr immer wieder bei Kriminalfällen. Nachdem sie mit ihm den »Falsche-Fünfziger-Fall2« löste, wurde sie zur Kriminalhauptkommissarin befördert und in ein länderübergreifendes Falschgeldbekämpfungsprojekt bei der Bundespolizei versetzt. Seitdem reist sie durch Europa und verfolgt internationale Gangster, die falsche Zahlungsmittel in Umlauf bringen.

»Pit war um halb elf mit Niels verabredet. Und wie wir wissen, ist Pit immer pünktlich.«

»Davon gehen wir aus. Den Termin haben wir auf dem Kalender auf Niels’ Schreibtisch gefunden – ›zehn Uhr dreißig mit Pit‹ stand darauf.«

»Wissen sie, was Pit bei Herrn Zwink wollte?«

»Ja, umgekehrt, Niels rief Montagabend an. Er sorgte sich um Gabi – ihre Kollegin Gabriele Sommer. Niels und Gabi sind seit vier Jahren ein Paar. Er war am Wochenende in Berlin. Weiterentwicklung der SPD-Konzepte mit den unterschiedlichen Parteiflügeln verhandeln. Dabei spielen der Ukrainekonflikt, die Energieversorgung und das Dauerthema Corona und natürlich die Umweltziele eine Rolle. Niels ist Umweltpolitiker, ach so, ja, er war Politiker. Die lokale Umwelt war sein Fachgebiet. Und darin war er klasse, sehr weitsichtig. Nicht nur von zwölf bis Mittag.«

»Bin im Bilde. Was ist oder war er für ein Mensch? Und woher kennen sie ihn?«

»Seit zehn oder zwölf Jahren war der zweiundfünfzigjährige SPD-Politiker Mitglied des Deutschen Bundestages. Der ständig gestresste blonde Volksvertreter beauftragte Pit vor ein paar Jahren, seine Biografie zu schreiben. Die beiden trafen sich über Monate hinweg alle drei Wochen sonnabends in unserer Wohnung. Niels hat eine Marotte, er kommt immer eine Viertelstunde zu spät. Sogar damals bei seiner eigenen Hochzeit soll er nicht pünktlich gewesen sein. Die Ehe funktionierte nicht, was nicht an ihm lag. 2015 ließen sie sich scheiden. Gabi und Niels sind seit Oktober 2018 ein Paar und wohnen zusammen in der Wohnung in der Ludolfstraße.«

Mio legte eine Pause ein, sie schaute sich schnell in dem fast leeren Kantinenraum um: »Niels hatte schon am Wochenende mehrmals versucht, Gabi zu erreichen, ohne Erfolg. Am Montagnachmittag fuhr er wieder nach Hamburg zurück. Sie war nicht im Appartement und Niels erreichte sie immer noch nicht auf ihrem Mobiltelefon. Er sorgte sich und rief am Montag gegen zweiundzwanzig Uhr dreißig bei uns an.«

»Okay, was passierte dann?«

»Niels hatte schon bei Gabis Dienststelle und mit ihrem Vorgesetzten telefoniert. Die sorgen sich anscheinend nicht um Frau Sommer.«

»Gibt es weitere Anhaltspunkte?«

»Soviel ich weiß, nicht. Niels hatte Gabis Adressbuch und ihr Notizbuch auf ihrem Schreibtisch gefunden. Er wollte einige Telefonnummern nach Gabi abtelefonieren.«

»Okay, dann werden wir mal die Nummern checken, die er angerufen hat.«

»Pit hatte darauf genauso versucht, Gabi telefonisch zu erreichen. Der Teilnehmer ist vorübergehend nicht erreichbar, war die Ansage. Pit sorgte sich ebenfalls. Die Polizistin ist impulsiv, oft in ihrer Art nervig und ja, ich traue ihr zu, mal ein paar Tage unterzutauchen. Jedoch würde sie sich bei Niels melden. Ihr lag viel an dieser Beziehung.«

»Frau …, sie sind der Meinung, dass der Tod von Niels und die Attacke auf Herrn Mattes zusammenhängen?«, fragte Walter Engelmann.

»Das ist naheliegend. Ich kann mir ansonsten nicht erklären, warum man Pit auf offener Straße angreift.«

»Ich muss unbedingt mit Herrn Mattes sprechen. Nur er kann uns weiterhelfen.«

»Tut mir leid, Pit kann sich an nichts erinnern. Unser gemeinsames Frühstück hatte er vorhin noch drauf. Aber alles, was später passierte, ist weg.«

»Scheiße – Entschuldigung!«

»Sie wissen, dass die Presse zurzeit gegen Pit Mattes wettert. Man hat neben ihm die Waffe gefunden, mit der Zwink getötet wurde«, erläutert Kriminalhauptkommissar Engelmann.

»Thomas, ein Freund von uns, hat mich vorhin angerufen. Er berichtete, was im Radio erzählt wurde, dass ein Schriftsteller aus Eppendorf Niels Zwink erschossen hat. Und bei uns zu Hause stehen einige Reporter vor der Haustür und stellen sehr persönliche Fragen.«

»Die Zeitungen werden das morgen groß herausbringen.«

»Können wir das verhindern?«

»Biestmann wird es versuchen. Auf der Waffe sind keine Fingerabdrücke und Schmauchspuren sind nicht auf Herrn Mattes Kleidung zu finden. Ich zumindest gehe davon aus, dass eine weitere Person im Spiel ist.«

»Logisch, die Person, die auf Pit geschossen hat!«

»Richtig, möglich, wäre, äh, ist plausibel.«

»Wir haben fünf Zeugenaussagen zum Attentat auf Pit Mattes. Welchen Wert die haben, können sie selbst beurteilen. Ich gehe sie mal durch«, startete der Polizist und holte seinen Notizblock aus der Jackettasche. »Der erste Zeuge war auf Gassitour mit seinem Dackel. Er sah einen schwarzen oder dunkelblauen BMW. Am Steuer saß seiner Meinung nach eine Frau. Sie schoss mit der linken Hand aus dem Fahrzeugfenster bei langsamer Fahrt. Nach der dritten Schussabgabe beschleunigte das Fahrzeug. Das Kennzeichen erkannte er nicht, obwohl er am dichtesten dran war. Sein Dackel hatte durch die Schüsse Panik bekommen. Dabei verhedderte sich die Hundeleine um die Beine des Zeugen und er stürzte.«

»Das sind doch schon eine ganze Menge Anhaltspunkte.«

»Ja richtig, warten sie bitte ab, bis sie die anderen Aussagen hören. Nummer zwei ist eine Zeugin. Sie hat einen roten Audi gesehen. Im Auto saß ein großer schwarzbärtiger Mann mit Migrationshintergrund. Die Schüsse wurden schnell hintereinander abgegeben, ich zitiere: wie aus einer Schnellfeuerwaffe. Die Person hielt die Waffe, während sie schoss, mit der rechten Hand weit aus dem Fenster. Das Auto fuhr nicht langsam. Das Fahrzeugkennzeichen fing mit SE an.«

»Segeberger Kennzeichen. Ist die Zeugin vielleicht farbenblind?«

»Nein, war auch die Idee meiner Kollegin, die den Bericht aufnahm. Aber es wird noch verwirrender mit dem Zeugen Nummer drei. Das Fahrzeug war ein oranger oder roter Sportwagen. Der Fahrer war männlich, hatte eine Glatze und trug einen Oberlippenbart. Geschossen hat er aus dem Fenster mit der rechten Hand. Das Weitere erspare ich ihnen. Ach ja, das Fahrzeugkennzeichen fing mit [HH HH 4??] An. Die beiden letzten Ziffern konnte der Zeuge nicht mehr erkennen.«

»Ist das immer so, dass sich die Zeugenaussagen so widersprechen?«

»Oft, leider ja. Und je länger der Zeitraum zwischen Tat und Aussage ist, desto fehlerhafter ist die Beschreibung.«

»Hätte ich so nicht gedacht. Was ist mit Nummer vier?«

»Die Zeugin ist die Person, die bei der Polizei anrief. Sie war bei ihnen und Herrn Mattes nach dem Tathergang.«

»Ich erinnere mich an die Frau. Sie hatte die ganze Zeit ihr Handy in der Hand und fuchtelte damit rum.«

»Wir hatten über sie bereits gesprochen. Die Zeugin sah ein dunkelrotes Auto. Den wahrscheinlich männlichen Fahrer, sie wollte sich nicht festlegen, schätzte sie auf fünfunddreißig Jahre. Der Täter trug eine dunkle Sonnenbrille und schoss mit der linken Hand. Die Waffe konnte die Zeugin nicht sehen und auf das Kennzeichen hatte sie nicht geachtet. Wir haben ihr Mobiltelefon untersucht. Es waren viele, aber leider keine verwertbaren Fotos darauf.«

»Das wird immer verworrener«, flüsterte Mio und fasste sich an die Stirn.

»Jo, eine Zeugin habe ich noch. Bei ihr war das Auto dunkelgrün. Auf das Geschlecht des Fahrers wollte sie sich nicht festlegen. Wahrscheinlich ein Jugendlicher, habe ich mir notiert. Ich lese weiter: Der Täter fuhr mit hoher Geschwindigkeit, bremste ab, schoss und gab dann wieder Gas. Ob er mit der linken oder mit der rechten Hand die Schüsse abgab, konnte sie nicht angeben.

Ach, noch was, alle fünf Zeugen und Zeuginnen haben ausgesagt, dass ihr beobachtetes Fahrzeug aus der Hudtwalckerstraße kam und die Ludolfstraße weiterfuhr.«

»Zumindest eine Übereinstimmung, ach ja, und die Autos sind alle dunkel. Und jetzt?«

»Wir ermitteln weiter. Ich werde gleich Frau Sommers Abteilungsleiter aufsuchen und ihn befragen, ob er sich Gedanken gemacht hat, wo sich Frau Sommer befinden könnte. Zumindest ist mit ihrer Waffe Zwink erschossen worden.«

MITTWOCH, 22. JUNI 2022, 14:00 UHR, HAMBURG, RISSEN, LEUCHTTURMWEG:

»Ich bin es gar nicht mehr gewohnt, nachts zu arbeiten. Todmüde bin ich.«

»Ich glaube nicht, dass heute noch viel passieren wird.«

»Wie kommst du darauf?«

»Der Steuermann hätte schon nach dem Bulli geschickt.«

»Was ist eigentlich in den Paketen?«

»Das ist gewiss nichts, was man so bei Karstadt oder Aldi kaufen kann.«

»Meist du Rauschgift? Kokain? Spannend!«

»Vermutlich! Deshalb geht uns das nichts an. Solche Fragen darf man in diesem Job nicht stellen. Wir bekommen die Ladung vom Blender und bringen es zu einem vereinbarten Ort. Mehr nicht! – Kapiert! – Mehr brauchen wir nicht zu wissen. Ich hoffe, dass werden jetzt deine drei Gehirnzellen abspeichern. Ein für alle Mal – alles andere geht uns nichts an!«

»Und was ist mit der vollgedröhnten Schnalle im Keller?«

»Das geht uns auch nichts an. Wir wissen nicht einmal, dass sie da ist! Kapiert!«

»Okay – klaro – kapiert. Dann gehe ich jetzt schlafen. Du kannst mich ja wecken, wenn was anbrennt. Ach, noch was! Meine drei Gehirnzellen wissen nicht, was ein Blender ist.«

»Ein Blender ist ein Schmugglerschiff.«

»Ah, kapiert! Aber so was von kapiert. Tschüss, bis dann.«

MITTWOCH, 22. JUNI 2022, 14:30 UHR, HANNOVER; BUNDESPOLIZEIDIREKTION HANNOVER; MÖCKERNSTRAßE:

»Und wo befindet sich Kriminalhauptkommissarin Sommer zurzeit?«, fragte Polizeidirektor Schreck.

»Das kann ich ihnen nicht sagen. Sie wurde am Freitag zum letzten Mal gesehen.«

»Zu welcher Abteilung gehört sie? Und seit wann?«

»Seit dem 1. Januar 2018 zum BPOLI KB HH3«, antwortete Polizeirat Grau.

»An welchem Fall arbeitet sie?«

»Internationale Falschgeldorganisation.«

»Von Erfolg gekrönt?«

»Sagen wir mal so, wir setzen in Europa seit mehreren Jahren dreißig Beamte ein, um diese Geldfälscherorganisation zu bekämpfen. Sie ist die Einzige, die bisher erfolgreich war. Sie entschlüsselte einen komplizierten Code und verhinderte eine Geldübergabe. Es wurden fünf Millionen Euro Falschgeld sichergestellt und die Personen, die die Übergabe abgewickelt hatten, festgenommen.«

»Wer arbeitet von unseren Leuten in ihrem Team und wer vertritt sie?«

»Keiner, sie werkelt allein ohne Vertretung. Es will niemand mit ihr zusammenarbeiten. Sie ist zu impulsiv und zu hektisch, nicht teamfähig.«

»Warum wurde diese Pressemeldung herausgegeben?«

»Der SPD-Politiker Niels Zwink wurde gestern Vormittag mit der Waffe von Frau Sommer erschossen.«

»Nun lassen sie sich doch nicht alles aus der Nase ziehen. Erzählen sie!«