Pittys Blues - Julia Gäbel - E-Book

Pittys Blues E-Book

Julia Gäbel

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Beschreibung

Ein Debüt voll eigenwilliger Charaktere, märchenhaft leicht erzählt mit einer Prise Komik

Julia Gäbel erzählt eine wundersame Liebesgeschichte, deren origineller Sound den Leser davonträgt in eine Welt voller Magie. Damit weckt der Roman in uns ein fremd-vertrautes Lebensgefühl, und keiner weiß mehr, ob er weinen oder lachen soll.

In Rickville verläuft das Leben in geordneten Bahnen. Jeder brennt seinen eigenen Whiskey, mittags geht man zu Vera in den Diner und abends trifft man sich bei Tulipe im Sugarclub. Doch urplötzlich taucht Dicks alter Pickup wieder auf, der seit zehn Jahren spurlos verschwunden war. Und mit ihm ein geheimnisvolles Mädchen: Pitty. Auf einmal ist nichts mehr, wie es war. Es schneit, obwohl dies sonst nie passiert. Jeder in der Stadt weint einmal in diesen Tagen, der eine wegen eines hinkenden Huhns, der andere wegen eines verkohlten Abendessens. Auf wundersame Weise lösen sich alte Rätsel. Und eine zauberhafte Liebesgeschichte entspinnt sich zwischen Pitty und Dick.

Der Sound Julia Gäbels, ihre skurrilen Orte und schrägen Charaktere machen diesen Erstling zu etwas ganz Besonderem.

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EPUB
MOBI

Seitenzahl: 207

Veröffentlichungsjahr: 2010

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Inhaltsverzeichnis
DREI TAGE SCHNEE
DER ERSTE TAG
DER ZWEITE TAG
DER DRITTE TAG
Copyright
DREI TAGE SCHNEE
Als sie auftauchte, war Pitty für alle ein Rätsel. Ein Rätsel, das schnell gelöst werden musste, eine Frage, die eine Antwort brauchte, denn unbeantwortete Fragen werfen nur neue Fragen auf, und Fragen machen Knoten im Kopf, und Knoten im Kopf machen Kopfschmerzen. Kopfschmerzen wollte keiner, und so hatte man schnell Antworten zur Hand.
Man sagte, Pitty Pruitt sei nicht ganz richtig im Kopf, irgendwie verdreht. Und er, er sei ein fauler Hund, der den Tag damit verbringen würde, auf dem Sofa zu liegen und den Holzwürmern in der Decke seiner alten Hütte beim Arbeiten zuzusehen. Pitty war vielleicht wirklich nicht ganz richtig im Kopf, aber niemand nahm sich die Zeit, das herauszufinden.
Denn sie war nur kurz da. Während dieser drei Tage passierten merkwürdige Dinge. Dann war sie wieder weg. Von diesen drei Tagen Schnee erzähle ich.
Ich meine nicht, dass Pitty komisch geguckt hätte oder mit den Augen gerollt oder so was, nein. Sie war einfach nur langsamer als alle, die ich kannte und kenne. Da konnte man schon mal vergebens auf eine Antwort warten, ja, so war sie. Ich finde, sie haben toll zusammengepasst, Pitty und der faule Hund. Aber andere waren da anderer Meinung. Der faule Hund hatte den Namen Dick. Das alles ist schon lang her. Ich war noch ein Junge damals. Und ich, ich mochte Pitty auf Anhieb.
Dick, also genauer Richard III. TreLuke, so hieß er mit vollem Namen, benannt nach seinem Großvater. Sie haben sich im Schnee kennengelernt, Pitty und er. Und ich war dabei. Bei uns schneit es eigentlich nicht, auch nicht im Winter. Ich glaube, es war der erste Schnee überhaupt in Rickville. Rickville, die Stadt meiner Väter, war eigentlich keine Stadt, sie war ein Kaff. Den Unterschied zwischen einer Stadt und einem Kaff erkennt man daran, dass in einem Kaff jeder seinen eigenen Whiskey brennt, während es in einer Stadt eine Destille gibt. Die nächste Destille war in Jampaign, fünfzehn Meilen entfernt. Für ihre Einwohner war Rickville trotzdem eine Stadt.
Der Whiskey war eine große Sache bei uns, vielleicht aus dem Grund, dass sich mindestens einmal pro Jahr jemand mit seiner illegalen Brennbutze in die Luft jagte, so dem Bestatter ein nettes Zubrot bescherte und allen anderen einen Anlass, sich herauszuputzen. Mein Dad war der erste Schwarze gewesen, der sich derart zu den Engeln gesellen durfte. Das war eine große Ehre. Zumal er für die meisten in Rickville ein Nichts gewesen war. Aber das ist eine andere Geschichte.
Es fing also an zu schneien. Erst kleine feine, dann richtig dicke Flocken. Mit den Schneeflocken ist es wie mit den Fettaugen auf der Suppe. Je dicker sie sind, desto schöner ist es.
Der Schnee und Pitty kamen damals als Fremde in unsere Stadt. Der Schnee nach Pitty. Weiß, erst tänzelnd, dann schwer erkundete er die Straßen, Häuser und Menschen. Alle beäugten ihn argwöhnisch. Das will nichts heißen, das machen sie hier mit allen Neuankömmlingen. Ist wahrscheinlich noch eine Macke aus dem Bruderkrieg. Aber dieses Mal war es anders. Es war tatsächlich etwas Merkwürdiges an diesem Neuling. Ich habe in meinem Leben seitdem oft Schnee fallen sehen. Aber nur dieses eine Mal in Rickville. Und ich bin fast achtzig Jahre alt.
Die Kälte ließ uns frösteln damals, aber nicht, weil die Temperaturen absackten. Man hatte das Gefühl, als würde sie direkt in unsere Seele greifen und uns etwas nehmen, das uns wichtig war. Sie ließ sich Zeit, wühlte gemächlich in unseren Herzen herum, schmiss Erinnerungen durcheinander, wirbelte längst vergessene Schmerzen auf und holte sie an die Oberfläche. Ich habe gesehen, wie Jack Griffins, der Krämer, aus seinem Laden kam, mit einer Konservenbüchse in der Hand. Er schaute in die schwebenden Flocken und fing an zu weinen. Er weinte nicht laut, es kullerten nur Tränen über seine fleischigen, grobporigen Wangen, während die kleinen Eiskristalle auf seiner Halbglatze schmolzen.
Es schneite drei Tage lang ohne Unterbrechung. Und fast jeder in Rickville hat im Laufe dieser Tage mindestens ein Mal geweint. Um eine verpasste Gelegenheit, eine verlorene Liebe oder ein verkohltes Abendessen. Wie zum Beispiel Gladie Lucas, die um ihre hinkende Hannah weinte. Aber nur, weil die das einzige Huhn war, das immer Eier mit zwei Dottern gelegt hat.
Es gibt Menschen, die kommen besser mit Veränderungen klar als andere. Und es gibt Menschen, die mögen es am liebsten, wenn alles bleibt, wie es immer war. So ist es bei uns in Rickville.
DER ERSTE TAG
Das Zittern wanderte von oben nach unten durch Ben Simmons’ krötigen Körper, von den Haarwurzeln bis zu seinem linken großen Zeh. So hilflos hatte er sich lange nicht mehr gefühlt. Es stand ein paar Meter entfernt vor ihm, dieses Ding. Es versperrte ihm den Weg. Nirgends war Platz genug, sich vorbeizuzwängen. Wie ein Pilz war es über Nacht zwischen den beiden dicken Eichen aus dem Boden geschossen. Es sah genauso ungesund aus und war bestimmt so durchlöchert wie diese schwabbeligen, stinkenden Teile. Mit Respekt und Kennerblick musterte er den vor ihm aufragenden Pick-up. Totgefährlich, das stand für Simmons fest. Wenn er sich keine Blutvergiftung holen wollte, musste er sehr vorsichtig sein. Handschuhe. Er brauchte Handschuhe. Um sich zu schützen. Sonst würde dieser Ort ihn das Leben kosten. Umkehren konnte Simmons jetzt nicht mehr, es war erst morgens, und vor mittags ging er nie nach Hause. Er musste einen Weg an dem Pick-up vorbei finden. Ob er wollte oder nicht. Kalter Schweiß breitete sich auf Simmons’ Stirn aus. Ausgerechnet ihm musste das passieren, ihm, der doch, seitdem er denken konnte, ordentlich und korrekt gewesen war. Ihn sollte also die chaotische Lebensweise anderer Menschen frühzeitig das Leben kosten?
Ben Simmons ging morgens immer um sieben Uhr aus dem Haus. Frisch rasiert, mit gestärktem Hemd und einem durchdringenden Duft nach Eau de Cologne, der den Rest des Tages um ihn herumwaberte. Er war auf die Einhaltung von Regeln bedacht, besonderes Augenmerk legte er darauf, dass vor allem andere seine Regeln einhielten. Die aber scherte das einen Dreck.
Blutvergiftung, ganz klar. Simmons sog die Luft zischend durch die Zähne ein. Er hatte sich sein Ende weniger profan vorgestellt, und nur, weil jemand seine rostige Scheißkarre hier hingestellt hatte, würden seine Vorstellungen, wie es mit seinem Leben enden sollte, über den Haufen geworfen werden.
Über ein normales Auto hätte er noch drüberklettern können. Aber das hier war ein ausgewachsener, fetter Pick-up, der seinen Weg blockierte. Er spürte, wie der Rost sich durch seinen Organismus fraß, man würde Stück für Stück die Gliedmaßen seines Körpers amputieren müssen, bis nur noch der Torso übrig blieb. So würde er garantiert nie eine Frau finden. Aber darüber müsste er sich auch keine Gedanken mehr machen, dieser Wagen würde ihn ohnehin vorher das Leben kosten.
Simmons spuckte verächtlich aus. Wählte er den Weg durch die Dornen, vorbei an dem Pick-up, würde das Ergebnis nicht anders ausfallen, da war er sich sicher. Seine Beine würden vollkommen zerkratzt. Aber er bräuchte immerhin keine Handschuhe. Das war ein Argument. Er könnte natürlich auch unter dem Auto durchkrabbeln. Simmons hockte sich umständlich hin, stützte den rechten Arm auf seinem Oberschenkel ab und lugte unter dem Gefährt durch. Krabbeln war unmännlich, keine Frage. Und Ben Simmons war vieles, aber unmännlich war er nicht.
Und wenn er durch den Wagen kletterte? Ganz schnell Tür auf, über die Bank, Tür auf und raus. Simmons trat einen großen Schritt zurück und betrachtete den Truck aus der – seiner Meinung nach – halbwegs sicheren Entfernung von ungefähr drei Metern.
Ja, das ließe sich machen. Simmons beglückwünschte sich zu seiner Idee und schnalzte mit der Zunge.
Augen zu und durch, dachte er, holte tief Luft und beugte seinen Oberkörper vor. Er hatte keine Ahnung, wozu das gut sein sollte, aber er hatte das mal auf einem Foto gesehen, das von Läufern gemacht worden war.
Erster Schritt, zweiter Schritt, dritter Schritt, er schien nicht vorwärtszukommen. Nach fünfzehn Trippelschritten war er noch eine Armlänge vom Truck entfernt. Es roch modrig, dreckig, feucht. Ein Nährboden für unsäglich viele Krankheiten. Simmons reckte sich und warf mit langem Hals einen Blick ins Wageninnere. Er erschrak. Sein Herz setzte aus. Alles hatte sich gegen ihn verschworen.
Der einzig akzeptable Weg war ihm verbaut. Denn ebenso wie der Pick-up sich gedacht hatte, dass dieser Ort ein guter Ort war, um Ben Simmons im Weg zu stehen, hatte sich wiederum jemand anders die Sitzbank des Pick-ups zum Schlafplatz erkoren. Da lag jemand! Am liebsten wäre Ben Simmons weggelaufen, aber das ging ja nicht. Seine Neugier gewann die Oberhand, er lugte noch einmal durchs Fenster. Das war nicht nur ein Mensch, das war eine junge Frau.
Was sollte er bloß tun? Sollte er sie wecken? Er kannte dieses Wesen nicht, aber es konnte mit Sicherheit hexen, es war böse, alle Frauen waren das im Grunde. Sie würde ihn sicher verfluchen. Er musste abwägen: Was war schlimmer als ein qualvoller Vergiftungstod? Ganz klar: ein verfluchtes Leben!
Es blieb ihm nur eine Möglichkeit, den Rest seines Lebens ohne Fluch zu verbringen: Er musste es wagen, über die Ladefläche zu klettern. Und das so leise wie möglich.
Die Rickviller lebten ein ruhiges Leben. Was außerhalb ihrer Stadt passierte, interessierte sie nicht. Es sei denn, um sich sagen zu können, dass man es ja so viel besser im Leben getroffen habe als andere. Das ist besser, als neidisch zu sein, aber gut ist es deswegen noch lange nicht.
An dem Tag, an dem es anfing zu schneien und an dem der alte Pick-up Ben Simmons den Weg versperrte, war Dick, der faule Hund, morgens zum Fluss gegangen.
Er hatte sein altes Ruderboot an dem ruhigeren Flussabschnitt neben dem morschen Steg bei dem großen Schilfdickicht festgemacht. Es war immer Wasser im Boot, das gegen die Planken schwappte, sobald sich der Kahn bewegte. Dick hatte sich nie die Mühe gemacht, das Wasser herauszuschöpfen. Er wusste, es wäre schnell wieder da, die Arbeit lohnte nicht. Dick stieg mit dem linken Fuß in das Boot und stieß sich mit dem rechten am Ufer ab. Es war Mittwoch, und mittwochs ging er immer angeln. Er wusste selbst nicht mehr, warum, es hatte sich einfach so ergeben. Für sich zu sein und seine Ruhe zu haben. Das war’s.
Deswegen war er alles andere als begeistert, als der knorzige Scott McClure, wild mit den Armen fuchtelnd und irgendetwas Unverständliches brüllend, auf ihn zugerannt kam.«Ach du Scheiße!»Angst kroch sein Rückgrat hoch und setzte sich im Nacken fest. Sein Angeltag war in Gefahr. Er legte sich richtig in die Riemen. Als McClure am Steg ankam, war Dick schon in der Mitte des Flusslaufs. Unerreichbar für den alten Stinker, wie er zufrieden dachte.
«Dick, warte verdammt noch mal», war alles, was McClure herausbrachte, er nahm sein zerknautschtes Basecap in die rechte Hand-ein Überbleibsel aus seiner ebenso kurzen wie erfolglosen Zeit im Profi-Baseball – und kratzte sich, schwer atmend, mit der Linken an der Stirn.
«Was willst du? Mach, dass du wegkommst, du vertreibst mir meinen Hecht!»
«Aber der sitzt doch nicht hier.»
«Wer von uns beiden ist hier der Angler? Zur Hölle, was willst du?»Der Tag war hin, da gab es für Dick keinen Zweifel. Wenn etwas schon so anfängt, sollte man eigentlich nach Hause gehen, sich auf sein Sofa legen und darauf hoffen, dass es schnell dunkel wird. All die Jahre hatte ihn niemand an seinem Angeltag gestört. Das lag daran, dass niemand davon wusste, offiziell zumindest nicht. Dicks Schultern sackten nach vorn, er vergrub sein Gesicht kurz in den Händen und schüttelte den Kopf. Er konnte es einfach nicht glauben.«Hey, du Stinkstiefel, gerade eben war der Morgen noch schön. Und wenn du nicht gekommen wärst, dann hätte ich mit Sicherheit dieses Mistvieh gefangen!»
«Dick», brüllte Scott McClure,«dein Pick-up ist wieder da!»
Nachdem Ben Simmons, wie er immer wieder gern erzählte, es unter Einsatz seines Lebens geschafft hatte, die Ladefläche des Pick-ups ohne Handschuhe zu überqueren, war er in einem Heidentempo in die Stadt gerannt. Er hatte seinen Lauf erst im Sprechzimmer von Doctor Forks mit einer Vollbremsung und einem verzweifelten, gellenden«Ich bin vergiftet!»beendet. Es war ihm gleichgültig, dass der Arzt gerade den Bauch der hochschwangeren Annie Drake abhörte. Es war ihm egal, dass Schwester Agnes sich unter lautem Fluchen vom Empfang hinter ihm herwuchtete.
Und es war ihm ebenso egal, dass Annie Drake einen schrillen Schrei losließ und Doctor Forks Kopf rot anschwoll. Simmons ließ sich auf den Boden fallen. Einerseits, weil ihn die schiere Wucht von Schwester Agnes’ Körpergröße einschüchterte, andererseits, weil er sich wirklich sehr schwach fühlte.
«Ben Simmons, jetzt reicht’s mir mit dir!»Agnes packte Simmons am Kragen und schleifte ihn auf seinem Hintern aus dem Sprechzimmer.
«Aber es geht um Leben und Tod!», wimmerte Simmons, um sie für sein Anliegen zu gewinnen. Er ließ sich ohne Widerstand auf den frisch gewischten Fliesen durch die Praxis ziehen.
«Das ist noch lange kein Grund, einfach so an mir vorbeizurauschen, hast du mich verstanden?»Sie ließ Bens Kragen los und verwies den Störenfried mit einem energischen Fingerzeig auf einen Stuhl gegenüber ihres Anmeldetresens. Simmons gehorchte. Dass es gegen Schwester Agnes kein Ankommen gab, wusste er, wenn er erst einmal halbwegs bei Verstand war. Sie ging hinter den Tresen und ließ sich auf ihren Stuhl krachen.
«Schwester Agnes, wenn ich Ihnen sage...»Ihr drohender Blick brachte Simmons dazu, seine Rede noch einmal zu überdenken. Aber da Denken nicht seine Stärke war, probierte er es noch einmal, Agnes auf die drohende Gefahr einer Seuche aufmerksam zu machen. Einer Seuche, deren Mutterschiff er war. Er, Ben Simmons. Es lag allein in seinen Händen, das Unheil von Rickville abzuwenden. Es brütete in ihm, dessen war er sich sicher.
«Schwester Agnes, Sie müssen mir zuhören!»
Agnes, die Ben Simmons seinerzeit mit auf diese Welt gezerrt hatte, hatte schon mehr als einmal bereut, ihm bei dieser Gelegenheit nur einen Klaps auf den Hintern und nicht auch auf den Kopf gegeben zu haben. Es hätte den armen Jungen garantiert vor allerhand bewahrt. Nur ein kleiner Klaps, und alles, was in Bens Hirn verdreht war, wäre wieder an seinem Platz gewesen.
Agnes seufzte und blickte Simmons streng an:«Ben, ich bin es wirklich leid. Jede Woche kommst du mit einer neuen Krankheit, die es gar nicht gibt. Was mach ich bloß mit dir?»
«Schwester Agnes, ich bin über den Pick-up geklettert, und dabei habe ich mir die Haut aufgerissen an Stellen, an die ich gar nicht rankomme. Sie müssen mich behandeln!»
«Ben, was für ein Pick-up?»Ein Pick-up, über den Simmons geklettert war? Das irritierte sie, das hatte er sich nicht ausgedacht. Das Letztere interessierte sie nicht im Geringsten, sie war sich sicher, dass Ben Simmons nicht den winzigsten Kratzer hatte, und wenn doch, wäre sie die Letzte, die es ihm sagen würde. Sie waren schon seit Jahren über das Stadium hinaus, in dem sie seine imaginären Wunden mit Jodtinktur behandelt hatten. Irgendwann war es ihr zu blöd und Doctor Forks zu aufwendig geworden.
«Ben, was für ein Pick-up?»wiederholte sie nachdrücklich, als sie merkte, dass Simmons immer weiter vor sich hinbrabbelte. Simmons hielt inne und sah sie an.
«Ben, was für ein Pick-up?»Agnes war wieder aufgestanden und um den Anmeldungstresen herumgegangen. Sie stand jetzt vor Simmons und blickte ihm geradewegs in die Augen. Er wich ihrem Blick aus. Agnes war nicht sehr geduldig und überlegte, ob sie ihn einfach rausschmeißen oder die Antwort erzwingen sollte, aber da setzte Simmons schon an:«Er stand mir im Weg, auf der Lichtung, und ich konnte doch nicht zurück, und dann war da dieses Weibsbild, und ich wollte doch nur auf meinen Weg, und da bin ich über die Ladefläche und ganz schnell hierher, und das hat mir Angst gemacht Schwester Agnes, ganz dolle Angst.»
«Na danke, Ben. Sieh mich an, ja? Es ist alles in Ordnung, reiß dich zusammen. Wessen Truck war das und was für eine Frau?»
«An der Lichtung. Dicks Truck. Und sie liegt da drin.»
Agnes war verwirrt: Dicks Pick-up war vor zehn Jahren spurlos verschwunden. Niemand wusste, warum oder wohin oder mit wem. Und jetzt sollte der Wagen, als wäre er nie weg gewesen, an der Lichtung des kleinen Laubwäldchens hinter der Stadt stehen? Und von welcher Frau sprach er?
Dick erschien eine Stunde nach der Nachricht, dass seine Karre wieder aufgetaucht war, vor dem Ungetüm. Selbst der einbeinige Justin hätte für den Weg nur zwanzig Minuten gebraucht. Aber McClures Botschaft hatte Dick niedergeschmettert. Er saß bestimmt zehn Minuten lang im Boot und starrte auf das Wasser, als wolle er es allein durch seine Willenskraft zum Kochen bringen. Er bemerkte nicht, dass sich der Himmel zugezogen hatte. Aber er sah, wie die ersten Schneeflocken sanft auf der Oberfläche des Flusses landeten und mit den Wellen verschmolzen.
Der alte McClure erzählte später ungefragt und oft, dass Dick, der faule Hund, nach diesen zehn Minuten so tief Luft holte, als habe er in seinem ganzen Leben noch nie Luft geholt.«Ich dachte, der platzt gleich. Und dann macht er die Augen zu und fängt an zu singen. Ich hab Dick noch nie singen hören, und bestimmt werde ich meine Ohrmuschel nie wieder in seine Nähe bewegen, sollte er es auch nur ansatzweise versuchen.»
Als Dick sich wieder gefangen hatte, packte er die Ruder und schaffte das Boot mit ein paar kräftigen Zügen zurück zum Anleger. Dass Scott immer noch auf ihn wartete, hatte nichts mit Nächstenliebe zu tun. Er wollte Dick begleiten und sein Gesicht in der Sekunde sehen, in der sein Blick auf seinen heißgeliebten Pick-up fallen würde.
McClure bot sich an, ihn mit dem Auto mitzunehmen.
«Das glaubst auch nur du», blaffte Dick ihn an.
«Aber Dick, du weißt doch gar nicht, wo er steht.»
«Du wirst es mir sagen.»
Scott grunzte, schüttelte den Kopf und beschrieb ihm widerwillig, wo der Wagen stand: genau auf dem Weg, der an der Lichtung vorbeiführte. Dort hatte sein Nachbar Mort Cassis mal eine Woche auf dem Hochsitz verbracht. Weiß der Teufel, was er da schießen wollte.
McClure sah in den Himmel und bekam eine klitzekleine Schneeflocke ins Auge:«Was zum Teufel soll das jetzt eigentlich? Schnee! Wenn das mal nicht ein Zeichen ist.»Motzend zog er ab.
Dick hatte es nicht eilig, seinen Pick-up wiederzusehen. Er war so lange weg gewesen, da machten die paar Minuten mehr oder weniger auch nichts mehr aus.
Der Schnee fiel stärker. Die dünne weiße Schicht sammelte sich unter seinen Schuhen, bis sie knarzten und zerbrochene Profilspuren hinterließen. Oben Schnee, unten Erde. In Dicks Bauch grummelte es, und vor seinen Augen flirrten Bilder. Er sah sich als kleinen Jungen den Weg entlanglaufen, mit einem Stock gegen die Zweige der Bäume schlagen. Oft war er tagelang unterwegs, verdreckte und verwilderte zusehends. Zu Hause kümmerte es niemanden, ob er da war oder nicht. Sein Dad hatte eine Menge anderer Dinge im Kopf. Frauen, Poker, Angeln und Whiskey. Das war eine gewagte Mischung, aber Gene TreLuke war ein waghalsiger Mann. Wenn er rumhurte, dann nur mit den schönsten Frauen, und wenn er soff, dann nur den besten importierten Single Malt. Er brachte manchmal ganze Wochen unten in Tulipes Kaschemme zu, pokernd und saufend. Keines seiner Hobbys konnte sich Gene wirklich leisten. Aber er war ehrgeizig, in allem, was er tat. Schade, dass er nie gearbeitet hat. Er hätte es womöglich zu was gebracht.
Gene TreLuke war großartig darin, anderen Leuten mit einem Lächeln ihr Geld aus der Tasche zu ziehen, sei es durch Betrug beim Spiel, mal durch einen ehrlichen Gewinn oder mit seinem Dackelblick, der die Gutgläubigen – und zum Schluss nur noch die Dümmsten – wie in Trance die Börse zücken ließ, um ihm auszuhelfen. Sie hätten ihr Geld auch gleich ins Klo werfen können, es hätte keinen Unterschied gemacht.
Später stellte sich heraus, dass Dick noch fünf Halbgeschwister hatte. Bis auf ihn und seinen kleinen Bruder Elliot war jeder der Geschwister von einer anderen Frau geboren worden. Seine Mutter hatte immer geflucht.«Gene, du räudiger Köter», meist kurz bevor sie einschlief, wie ein Nachtgebet. Dick und Elliot hatten einander oft so genannt, waren durch die Gegend gelaufen und hatten dabei gelacht. Dick war sich der Bedeutung von«räudiger Köter»im Bezug auf seinen Vater durchaus bewusst, aber für ihn und seinen kleinen Bruder war es ein Kosename. Elliot. Er hatte lange nicht mehr an ihn gedacht.
Elliot war vier Jahre jünger als Dick gewesen, immer vorlaut, immer neugierig und unglaublich schnell von Begriff. Wenn er lange genug gelebt hätte, wäre er mit Sicherheit ein kluger Mann geworden.
Dick sah in die tanzenden Flocken, zog die Schultern hoch und stopfte seine Hände in die Hosentaschen. Er war jetzt nur noch ein paar Schritte von seinem Pick-up getrennt, konnte ihn aber trotzdem nicht erkennen. So, wie es aussah, hatten sich alle Einwohner von Rickville hier eingefunden, um Dicks ganz spezielles Wiedersehen mit dem Pick-up zu begaffen. Vera aus dem Diner hatte sogar Thermoskannen mit dampfendem Kaffee mitgebracht. Ja, das sah ihr ähnlich. Sie hätte Politikerin werden können. Aus allem schlug sie ihren Vorteil.
Sie sah Dick als Erste, und obwohl sie gute Augen hatte, bemerkte sie nicht, dass er sich mit jedem Schritt, den er der Lichtung näher kam, unwohler fühlte und am liebsten kehrtgemacht hätte. So etwas sieht man nämlich mit dem Herzen, und darin war Vera nicht wirklich gut. Sie war der festen Überzeugung, dass jeder Anfall von schlechter Laune oder Trauer darauf zurückzuführen ist, dass derjenige, der die Missstimmung empfindet, nicht anständig gefrühstückt hat. Ihr konnte das nicht passieren. Vera stand immer gut im Futter, um es nett auszudrücken.
«Wir haben uns schon gefragt, ob du in den Fluss gefallen bist. Sag mal, willst du einen Kaffee, bist bestimmt ganz durchgefroren. Der Schnee, ist das nicht bezaubernd? Und wir haben gar keine Schneeschippen in Rickville, nicht eine einzige, hm, na, dann komm mal ran, Vera gibt dir was zum Durchwärmen, ja? Sag mal, hast du überhaupt schon was gegessen?»Vera konnte minutenlang reden, ohne zwischendurch Luft holen zu müssen.
Dick winkte nur kurz ab.
Mort Cassis, der Jäger, war ein sechs Fuß großer Kerl mit Flanellhemd, Hosenträgern und knallrotem Haar. Er stand links neben Vera, putzte seine triefende Nase und machte ein gequältes Gesicht. Die beiden verband so etwas wie liebende Abneigung: Sie mochten sich schon irgendwie, kamen aber nicht miteinander aus. Trotzdem sah man sie immer zusammen. Und sie nutzten jede Gelegenheit, ihre Launen aneinander auszulassen:«Vera, heißt es nicht, dass die Stimme von dicken Menschen durch ihren Körper an Volumen gewinnt und unglaublich schön anzuhören ist? Warum ist das bei deiner nicht so?»
«Weil ich nicht dick bin. Ich bin gut gebaut.»
«Ja, sicher, wenn du meinst.»
«Ach, halt die Klappe, Mort.»
Dick ging kommentarlos an Vera und Mort vorbei und drängte sich durch den Haufen Menschen, der sich vor ihm teilte, als wäre er Moses persönlich. Niemand sagte ein Wort, einige sahen ihn aufmunternd an, andere schauten auf den immer weißer werdenden Boden zu ihren Füßen.
Vor dem Wagen stand Jones. Jones hatte Dick an seinem zehnten Geburtstag gezeigt, wie man die großen Ameisen essen konnte, ohne dass sie einen in die Zunge zwickten, und hatte später seine Aufklärung übernommen. Wichtige Sachen halt. Er klopfte Dick mit seiner prankengleichen Hand kurz und väterlich auf die rechte Schulter und zwinkerte ihm aufmunternd zu. Aber auch er sagte Dick nicht, dass da jemand in seinem Wagen lag, den keiner von ihnen kannte.
Sie hatten sich alle um den Wagen versammelt, es aber vermieden, die junge Frau zu wecken, sei es wegen Simmons’ Hexenmär oder weil sie einen Sinn für Dramatik hatten.
Da stand Dick. Das Grummeln in seinem Magen hatte sich auf den letzten Metern zu einem Röhren gesteigert, und er fühlte sich seltsam schwach, als er die Hand ausstreckte, um den im Laufe der Jahre blasig gewordenen Lack zu berühren. Elliot und er hatten damals den Pick-up gefunden auf einem ihrer Streifzüge.
Und dann, kurz darauf, hatte sein kleiner Bruder leblos im Pick-up gelegen. Dick und er hatten sich wegen des Autos gestritten, sich windelweich geprügelt, wie Brüder das eben tun-aber Dick war der Ältere, er hätte bedachter und nicht so aufbrausend sein sollen.
Es hatte damit angefangen, dass Elliot auf dem Fahrersitz hatte sitzen wollen. Dick wollte das nicht. Das lag daran, dass er es für das Recht des Erstgeborenen hielt, überall zuerst hinzugehen, seine Nase zuerst in Dinge zu stecken, die die Brüder nichts angingen, und – natürlich – zuerst auf dem Fahrersitz des Pick-ups zu sitzen, weil da immerhin das Lenkrad war.
Er hatte Elliot noch in den Büschen verschwinden sehen, sich den linken Arm haltend und mit leichter Schlagseite. Dick hatte ihm richtig einen verpasst. Mit dem Verschwinden des kleinen Bruders war seine Wut verblasst und Selbstvorwürfen gewichen. Er wartete, aber Elliot blieb verschwunden. Der kleine Bruder tauchte an dem Tag nicht mehr lebendig auf. Dick war der festen Überzeugung, er habe seinen Bruder totgeprügelt. Er war sich sicher, dass Elliot den Verletzungen, die er ihm zugefügt hatte, erlegen war.