Plagiate in der Wissenschaft - Jochen Zenthöfer - E-Book

Plagiate in der Wissenschaft E-Book

Jochen Zenthöfer

0,0
17,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Jährlich werden in Deutschland 30.000 Personen promoviert. Rund 3.000 davon könnten plagiiert haben. Diese Vergehen werden von der Wissenschaftsplattform VroniPlag Wiki aufgedeckt und dokumentiert. Die Folgen: In Hochschulen jagt ein Aberkennungsverfahren das nächste, Doktorgrade werden entzogen, Politiker*innen müssen zurücktreten, Wissenschaftler*innen ihre Karrieren umplanen. Was hat VroniPlag Wiki außerdem bewirkt? Wie arbeitet die Plattform? Und was sagen ihre Kritiker*innen? Jochen Zenthöfer geht diesen Fragen nach und beschreibt in seinem journalistischen Erfahrungsbericht auch die Arbeitsweisen, Ausreden und Ausraster der Beschuldigten — und weshalb man auf Plagiatssoftware keine große Hoffnung legen sollte.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 244

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Jochen Zenthöfer

Plagiate in der Wissenschaft

Wie »VroniPlag Wiki« Betrug in Doktorarbeiten aufdeckt

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2022 transcript Verlag, Bielefeld

Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen.

Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld

Korrektorat: Jonas Geske, Bielefeld

Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar

Print-ISBN 978-3-8376-6258-0

PDF-ISBN 978-3-8394-6258-4

EPUB-ISBN 978-3-7328-6258-0

https://doi.org/10.14361/9783839462584

Buchreihen-ISSN: 2364-6616

Buchreihen-eISSN: 2747-3775

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff.

Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de

Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

Vorwort

Prolog: Was ist ein Wissenschaftsplagiat?

1.Teil: Deutschlands Doppelplagiate

1.Kampftag in Karlsruhe

2.Eine berufslose Geschäftsführerin

3.Perpetuierung von Plagiaten

4.Prozesse und Pensionsansprüche

5.Angeberei statt alles anzugeben

6.Kuriose Kopierfehler

7.Kontrollen mit Klagewelle

2.Teil: Berlin – Hauptstadt der Plagiate

1.Mehr Schatten als Licht

2.Software gegen Schwindel

3.Europas Wege zur Neuköllner Bürgerin

4.Rote Hilfe

5.Tarnung statt Transparenz

6.Trotz Untragbarkeit getragen

7.Cluster an der Charité

3.Teil: Datenschutz für Bauernopfer

1.Wissenschaftliche Praxis und Urheberrecht

2.Das Verschleierungsverbot

3.Der Übersetzungstrick

4.Schlimmer als Plagiate

5.Noch schlimmer als Plagiate

6.Stumme Hochschulen

7.Sonderfall Slowakei

4.Teil: Kritik an den Kritikern

1.Anonym und Pseudonym

2.Auf der Suche nach Robert Schmidt

3.Ist VroniPlag Wiki links?

4.Ein Wiki aus den USA

5.Auswahlermessen und Zufall

6.Ewige Prangerwirkung

7.Kein Mandat

5.Teil: So urteilen die Gerichte

1.Wie Plagiate vor Gericht landen

2.Streitfragen im Plagiatsrecht

3.Qualitativ oder Quantitativ?

4.Widerstreit der Grundrechte

5.Rechtsfolgen eines entdeckten Plagiats

6.Ausreden der Plagiator(inn)en vor Gericht

7.Übersicht: Etappen eines von VroniPlag Wiki angeregten Prüfverfahrens

6.Teil: Das Versagen von Bibliotheken, Verlagen und Tätern

1.Pflicht zu Entzugshinweisen

2.Realität zu Entzugshinweisen

3.Historische Plagiatsfälle

4.Eine vorbildhafte öffentliche Annullierung im Jahr 1913

5.Die Rolle der Verlage

6.Zur Verantwortung der Presse

7.Ein Opfer kann noch lachen

Selbstversuch: Eine plagiierte Habilitationsschrift melden

7.Teil: Was muss von wem getan werden?

1.Die Verantwortung der Doktoreltern

2.Die Verantwortung der Hochschulen

3.Die Verantwortung der Landespolitik

4.Die Verantwortung der Bundespolitik

5.Die Universität Bayreuth zehn Jahre nach dem Fall KTG

Anhang

Erwähnte Plagiatsfälle in chronologischer Reihenfolge

Statistik der von VroniPlag Wiki untersuchten Fälle

Kommentierte Bibliographie

Kodex »Leitlinien zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis« der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) von 2019

Richtlinien der Österreichischen Agentur für wissenschaftliche Integrität zur Guten Wissenschaftlichen Praxis von 2016

Editorische Anmerkungen

»Immer öfter werden wir mit wissenschaftlichem Fehlverhalten konfrontiert – und rasen direkt auf den Abgrund der Belanglosigkeit und Beliebigkeit zu, ohne dass es eine Notbremse gibt.« (Informatikprofessorin Debora Weber-Wulff, Laborjournal 2019, Heft 7/8, 13-15)

Frage: »Wie viele Doktorarbeiten sind plagiiert?« Antwort: »Ich denke, es sind 10 Prozent. Es gibt Untersuchungen bei Bachelorarbeiten, da sind es 20 Prozent. Es wird sehr viel Pseudowissenschaft produziert, das müllt uns zu.« (Rechtsprofessor Gerhard Dannemann im Interview von Radio Bayern 2, 20. Mai 2021)

»Es werden jährlich zahllose Doktorgrade geräuschlos wegen entdeckter Täuschungen entzogen, für die sich mangels Prominenz der Betroffenen niemand interessiert.« (Rechtsprofessor Klaus Ferdinand Gärditz, Wissenschaftsrecht, Band 54 (2021), 162)

»In einer Zeit, in der ohnehin eine Wissenschaftsfeindlichkeit grassiert, sind plagiierte Arbeiten Wasser auf die Mühlen derer, die Wissenschaft für eine bloße Meinung halten.« (Constanze Kurz, Sprecherin des Chaos Computer Club, netzpolitik.org, 28. März 2021)

»Übernahmen aus der Wikipedia gehören heute zum guten Ton der eiligen Textproduktion, auch und gerade, wenn sie unausgewiesen bleiben.« (Rechtsprofessor Roland Schimmel, Editoral, Neue Juristische Wochenschrift, 29/2021)

Vorwort

Seit rund zehn Jahren schreibe ich in deutschen und luxemburgischen Medien über Wissenschaftsplagiate und die Plattform »VroniPlag Wiki«. In diesem Buch werde ich zusammenfassend berichten, wie Wissenschaft, Politik, Justiz und Betroffene auf das Phänomen reagieren. Manche meinen, die ehrenamtlichen Plagiatefinder betreiben einen Internet-Pranger; andere feiern sie als Aufklärer und Verteidiger ehrlicher Arbeit. In der Tat steht hinter jedem Plagiatstäter auch ein Opfer, dem Meriten vorenthalten werden. Und jeder Plagiatstäter, der in der Wissenschaft tätig ist, nimmt einer ehrlichen Wissenschaftlerin die Stelle weg.

Die in diesem Buch erwähnten Plagiatorinnen und Plagiatoren sind anonymisiert. Zwar hätte ich das Recht, Klarnamen zu nennen, allerdings nach unterschiedlichen Vorgaben, etwa Prominenz des Betroffenen oder Verfahrensstand des Falles. Gegebenenfalls ändern sich diese Umstände im Laufe der Zeit. Um einer Aktualisierungspflicht und möglichen Gerichtsverfahren aus dem Weg zu gehen, überlasse ich der Leserin und dem Leser, Hintergründe mit Hilfe einer Suchmaschine herauszufinden. Es reicht, den Titel einer Doktorarbeit einzugeben. In diesem Zusammenhang nützliche bibliographische Daten habe ich im Anhang zusammengefasst.

Wissenschaftliche Veröffentlichungen über Wissenschaftsbetrug existieren in ausreichender Zahl, einige sind im Anhang genannt. In diesem Buch schreibe ich nicht wissenschaftlich. Deshalb gibt es auch keine Fußnoten. Dieses Buch ist auch kein Rechtsratgeber oder Ratgeber zum erfolgreichen Plagiieren. Entsprechende Tipps gibt es gerne nach Geldüberweisung auf mein luxemburgisches Konto (Scherz!). Dieses Buch ist vielmehr ein journalistischer Erfahrungsbericht, ergänzt um Bewertungen und Empfehlungen. Ich bin kein Teil von VroniPlag Wiki. Während der Recherchen zu diesem Buch habe ich aber gefundene Plagiate dorthin gemeldet.

Jochen Zenthöfer

Prolog: Was ist ein Wissenschaftsplagiat?

»An deutschen Hochschulen steigt die Zahl der Plagiate deutlich an«, schreibt die Universität Speyer auf ihrer Webseite. Und in den Prüfungsinformationen der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg heißt es:

»Allzu häufig wird bei Prüfungsverfahren auf eine eigenständige Leistung des Prüflings bestanden. Diese gängige und oft nicht zu verhandelnde Zumutung kann jedoch durch eine geschickte Suche im Netz oder der Bibliothek (das ist der Aufbewahrungsraum für Bücher, in dem man früher wissenschaftliche Texte abschreiben konnte) leicht umgangen und als unterhaltsamer sportlicher Wettbewerb zwischen Prüfling und Prüfer oder Prüferin gestaltet werden.«

In Deutschland gibt es keine gesetzliche oder sonst verbindliche Definition des Wissenschaftsplagiats. VroniPlag Wiki legt eine Definition von Teddi Fishman, Direktorin des International Center for Academic Integrity, aus dem Jahr 2009 zugrunde:

»Ein Wissenschaftsplagiat liegt vor, wenn jemand- Wörter, Ideen oder Arbeitsergebnisse verwendet,- die einer identifizierbaren Person oder Quelle zugeordnet werden können,- ohne die Übernahme sowie die Quelle in geeigneter Form auszuweisen,- in einem Zusammenhang, in dem zu erwarten ist, dass eine originäre Autorschaft vorliegt,- um einen Nutzen, eine Note oder einen sonstigen Vorteil zu erlangen, der nicht notwendigerweise ein geldwerter sein muss.«

Auch einige Hochschulen verweisen ausdrücklich auf diese Definition, darunter die Universitätsbibliothek Marburg.

Im »European Code of Conduct for Research Integrity« von ALLEA – All European Academies, 2017, heißt es:

»Plagiarism is using other people’s work and ideas without giving proper credit to the original source, thus violating the rights of the original author(s) to their intellectual outputs.«

Die Ombudsstelle für gute wissenschaftliche Praxis der Universität Göttingen veröffentlichte 2019 diese Definition:

»Plagiate liegen dann vor, wenn ohne entsprechende Quellenangabe Textteile, Bilder oder Tabellen verwendet werden, die sich vollständig oder nahezu unverändert in einer früher datierten Quelle finden.«

Nach jeder Begriffsbestimmung verstoßen Plagiate gegen die wissenschaftliche Redlichkeit. Diese Redlichkeit ist ein Grundpfeiler unseres Wissenschaftssystems. Täglich werden an deutschen Hochschulen Plagiate gefunden, in Seminar-, Bachelor- und Masterarbeiten. Glaubt man den nationalen Expertinnen und Experten sowie internationalen Studien, steigt die Zahl seit Jahren an. Ein Grund ist die verführerische Bereitstellung von Informationen im Internet. Ein anderer Grund ist die Inkompetenz junger Menschen zum plagiatsfreien wissenschaftlichen Arbeiten.

Die Bayerische Staatsregierung erklärte 2019 auf eine Anfrage des FDP-Abgeordneten Wolfgang Heubisch, wie Plagiate gefunden werden:

»In der Regel werden Plagiate durch die jeweilige Prüferin bzw. den jeweiligen Prüfer und/oder softwaregestützte Plagiatsprüfung oder durch externe (in der Regel anonyme) Hinweise (z.B. aus Wissenschaftseinrichtungen oder über Internetplattformen wie VroniPlag Wiki) erkannt. Teilweise kommt es auch zu einer Selbstanzeige des/der Betroffenen.«

In den vergangenen Jahren kam es zu öffentlichkeitswirksamen Gradentzügen wegen Plagiaten. Der »Dr.« ist übrigens kein Titel, wie oft geschrieben wird, sondern ein akademischer Grad. Trotz der bekannten Fälle ist ein Teil der Hochschulangehörigen nicht sensibilisiert für das Problem. Zwar schreibt der »Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs 2021«, dass die hohe Bedeutung der Qualitätssicherung der Promotion in der hochschulpolitischen Debatte weiterhin relevant sei. Doch das Plagiatsproblem wird in den alle vier Jahre veröffentlichten Berichten heruntergespielt. So hieß es 2021, dass »Plagiatsvorwürfe bei Dissertationen von Personen des öffentlichen Lebens« in der breiteren Öffentlichkeit thematisiert wurden. Damit gesteht man wohl ein, dass Plagiate innerhalb des Wissenschaftssystems nicht ausreichend diskutiert werden. In dem vom »Konsortium Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs« herausgegebenen Vorgängerbericht von 2017 heißt es lediglich:

»Auch die Diskussion um wissenschaftliches Fehlverhalten bezieht sich nahezu ausschließlich auf Dissertationen, obwohl im Zuge der öffentlichen Plagiatsanalyse auch Plagiate in Habilitationsschriften offengelegt worden sind.«

VroniPlag Wiki ist eine Internet-Plattform, in der jedermann mitarbeiten kann, um Wissenschaftsplagiate zu entdecken und zu melden. Diese werden unter https://vroniplag.wikia.org/de/wiki/Home öffentlich dokumentiert, wenn auch von den Mitwirkenden pseudonym. Deren Zahl schwankt. Die Süddeutsche Zeitung schrieb am 20. Mai 2021:

»Für VroniPlag Wiki arbeiten Profis, unter ihnen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die selbst oft Jahre investiert haben in ihre Doktorarbeit.«

Die Plattform VroniPlag Wiki startete am 28. März 2011, seitdem wurden 213 Plagiatsdokumentationen veröffentlicht. Das Wiki darf nicht mit einem kommerziellen Anbieter von Plagiatsanalysen verwechselt werden, der unter ähnlichem Namen auftritt. »VroniPlag Wiki« hat keine Einnahmen, keine Sprecherin, erhebt keine politischen Forderungen. Ein Mandat für ihre Dokumentationen brauchen sie nicht, denn wissenschaftliche Schriften werden der Öffentlichkeit zur Diskussion und Prüfung übergeben. Insofern ist »VroniPlag Wiki« eine Rezensionsplattform, die sich auf unbelegte Übernahmen konzentriert, was gemeinhin Wissenschaftsplagiat genannt wird.

1.Teil: Deutschlands Doppelplagiate

1.Kampftag in Karlsruhe

Am Eingang erwarten mich Sicherheitsleute und eine Schleuse. Der Bundesgerichtshof in Karlsruhe ist geschützt wie ein Flughafen. Erst nach einer Kontrolle darf ich aufs Gelände. Es ist ein trockener, frischer Märzmorgen. Meinen Fußweg zum Verhandlungssaal kreuzt den fantastisch ausgestatteten Bibliotheksbau, den ein normaler Mensch nicht nutzen darf. Wie viele Plagiate darin einen Platz gefunden haben? Vor dem Saal wirke ich zunächst verloren. Mein Rechtsanwalt eilt in letzter Minute herbei, er musste seinem Sohn im Home Schooling noch bei Religionsaufgaben helfen. Glaube hilft auch mir, nämlich in unser Rechtssystem. Heute wird mich dieser Glaube nicht enttäuschen. Über drei Jahre lief ein Verfahren auf vier Ebenen mit inzwischen fünfstelligen Kosten. Zweimal hatte ich verloren, das dritte Mal gewonnen, nun entscheiden fünf Richterinnen und Richter des obersten deutschen Zivilgerichts endgültig und, wie es so schön heißt, rechtskräftig. Dann habe ich zweimal gewonnen, aber das Spiel geht nicht 2:2 aus, sondern 4:0, weil die oberste Instanz alle unteren Instanzen schlägt. Die Wissenschaftlerin, die mich verklagt hat, wird alle Kosten tragen. Auch meine Anwaltskosten und die Gerichtskosten aus allen Ebenen fallen ihr zur Last. Und es ist nicht ihr einziges Gerichtsverfahren. Hinten im Verhandlungssaal hat der Justiziar der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« Platz genommen. Auch die Zeitung wurde von der Wissenschaftlerin verklagt. Geht es in meinem Fall gut aus, steigen seine Chancen im anderen Fall enorm. Für ihn wird es, wie für mich, ein schöner Tag.

Verklagt hat uns Frau G. Die 1965 in München geborene Juristin ist in die deutsche Wissenschaftsgeschichte als einer von nur zwei aufgedeckten Fällen eines Doppelplagiats eingegangen. Das heißt, sie hatte sowohl in ihrer Doktorarbeit als auch in ihrer Habilitationsschrift fremde Gedanken als eigene Erkenntnisse ausgegeben. In der 1994 veröffentlichen Promotion unter dem Titel »Die Eingliederung der ehemaligen DDR in die Europäische Gemeinschaft unter dem Aspekt der staatlichen Beihilfen« hat VroniPlag Wiki 86 Plagiate gefunden. Teilweise wurden ganze Absätze aus anderen Büchern übernommen. Als G. ihre Schrift an der Universität in Frankfurt a.M. einreicht, hatte sie schriftlich erklärt:

»Ich habe nur die von mir angegebenen Quellen und Hilfsmittel für die Ausarbeitung der vorgelegten Arbeit benutzt und die aus anderen Schriften übernommenen Stellen kenntlich gemacht. Ich habe meine Arbeit selbständig verfaßt.«

Das war, wie man heute weiß, eine Lüge. Die Arbeit hat 188 Seiten im Hauptteil. Auf 77 dieser Seiten wurden Plagiate dokumentiert, was einem Anteil von 41 Prozent entspricht. Auf der allgemein im Internet zugänglichen Dokumentation von VroniPlag Wiki lassen sich die einzelnen Übernahmen leicht erkennen. In einer Synopse steht links der Text von G., rechts das Original, von dem sie abgeschrieben hat. Wörtliche Übereinstimmungen sind farbig markiert. Es ist sehr viel farbig markiert. Zu viel, meinte die Universität Frankfurt, die G. den Doktorgrad nach einer internen Prüfung entzogen hat. Es ist eindeutig, was VroniPlag Wiki herausfand: Der Gedankendiebstahl beginnt auf Seite 1 (»einem Patchwork aus drei nicht genannten Quellen, die leicht umformuliert werden«) und erstreckt sich bis zur vorvorletzten Seite. Bereits die Erläuterungen zum Zuschnitt des Themas sind nicht ganz selbständig formuliert. Laut »Vorwort« wurde G. für die Anfertigung ihrer Dissertation von der Friedrich-Ebert-Stiftung mit einem Stipendium gefördert. In deren Grundsätzen heißt es, man »achte auf fachliche Exzellenz«. Die Erwartung der Stiftung an die von ihr geförderten Doktoranden lautet: »Ihr wissenschaftliches Vorhaben sollte einen bedeutsamen Beitrag zur Forschung leisten.« Die Arbeit von G. hat einen solchen Beitrag geleistet, nur ganz anders, als sie sich diesen vorgestellt hat, nämlich zur Plagiatsforschung und zur Rechtsprechung dazu.

Das gilt auch für die Habilitationsschrift »Das Recht der Europäischen Zentralbank. Unabhängigkeit und Kooperation in der Europäischen Währungsunion«. In dieser 2005 veröffentlichten Arbeit setzte G. ihr eigenwilliges Zitiermodell fort. VroniPlag Wiki fand heraus, dass etwa 25 Prozent des Gesamtumfangs ihres Texts recht nahe an einer einzigen Quelle entlanggearbeitet wurden, nämlich an Jan Endlers 1997 veröffentlichter Schrift »Europäische Zentralbank und Preisstabilität«. Aus dieser Dissertation seien rund 70 Passagen übernommen, häufig mit nicht ausreichender Kennzeichnung, teils ohne Hinweis auf die Quelle. Zwar sei Endler mit 90 Erwähnungen in den Fußnoten die meistzitierte Quelle. Doch bei vielen Übernahmen – die von einem Satz bis zu mehrseitigen Abschnitten variieren – sei Endler gar nicht genannt. »Fast immer ist die sprachliche Form wenigstens kosmetisch verändert, teils werden neue Textteile eingefügt und/oder der Text im Rechtlichen aktualisiert«, heißt es bei VroniPlag Wiki:

»Meist werden die Referenzen mitübernommen; gelegentlich finden sich Indizien für Blindzitate; teils entsteht der Eindruck einer recht eiligen Vorgehensweise. Meist hält sich der Text sehr eng an die Quelle, selten ist die Formulierung eigenständig.«

Den Plagiatefindern sprangen auch viele Tippfehler sowie grammatikalische Unstimmigkeiten ins Auge. Letztere sind wohl entstanden durch die unsorgfältige Anpassung übernommener Passagen an eine geänderte Satzkonstruktion. Auch bei der Habilitation unterschrieb G. eine Erklärung, dass sie die Schrift selbstständig verfasst hat. Sie habe keine andere Literatur als die ausdrücklich angegebene verwendet sowie die wörtlich oder annähernd wörtlich aus fremden Arbeiten entnommenen Stellen als solche »genau kenntlich gemacht«. Wieder eine Lüge. Tatsächlich findet VroniPlag Wiki auf 108 der 282 Seiten im Hauptteil der Arbeit Plagiate, das ist ein Anteil von 38 Prozent. Die Habilitation wird von der Frankfurter Universität aberkannt, eine Entscheidung, gegen die G. klagt. Es ist ein weiteres Gerichtsverfahren, das G. verliert.

2.Eine berufslose Geschäftsführerin

Im Gerichtssaal sitze ich zwar den Richtern gegenüber. Rederecht habe ich aber nicht. Vor dem Bundesgerichtshof (BGH) dürfen nur Prozessvertreter sprechen. Und nur solche, die vor diesem Gericht auch zugelassen sind. Neben meinem Hauptanwalt habe ich nun also auch einen speziellen BGH-Anwalt. Nur er darf sprechen. Deshalb ist mein Hauptanwalt nicht dabei. Auch G. ist nicht da. Sie hat neben ihrem BGH-Anwalt aber auch ihren Anwalt aus den unteren Gerichtsinstanzen geschickt. Doppelschutz gegen Doppelplagiat? Ich lerne die anderen Anwälte vor dem Saal kennen. Die Atmosphäre ist freundlich. Für sie ist es nur ein weiterer Rechtsstreit in einem weiteren Zivilverfahren. Das heißt, niemand hat eine Strafe zu befürchten. Allerdings habe ich Kosten zu befürchten, wenn ich verliere, über zehntausend Euro. Mein Anwalt erkennt die Ungeduld und macht mir Mut: Wenn der Vorsitzende Richter mit seinen vier Kolleginnen den Saal betreten hat, würden wir an seinen ersten Sätzen merken, wohin die Reise geht. Und so ist es auch. Rasch bin ich innerlich erleichtert. Für unsere Seite werden es 90 entspannte Minuten. Die Gegenseite muss argumentieren und kämpfen. Mich überrascht, dass sie dabei viele Argumente aus den ersten Instanzen rasch fallen lässt. Plagiate? Ja, klar, die gibt es, heißt es plötzlich. Plagiate in erheblichem Umfang? Ja, auch das wird nicht mehr abgestritten. Die Bücher von G. seien weiterhin in Bibliotheken auffindbar und ihre Habilitationsschrift wurde sogar jüngst in einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zitiert? In der Tat, und das sei misslich. Die Taktik der Gegenseite ist, alles zuzugeben, was sowieso kaum zu leugnen ist. Danach verweist sie unter anderem auf den Gesundheitszustand von G. Es gehe ihr schlecht. Weitere Berichterstattung könnte die Situation weiter verschlechtern. Sie habe sich nicht einmal über alle Fortschritte der Gerichtsverfahren unterrichten lassen. Die Situation belaste sie.

Das Krankheitsargument hatten bereits die Anwälte der Vorinstanzen vorgebracht. Niemand sollte so etwas ignorieren. Mir gebietet in solchen Fällen die journalistische Ethik, nicht namentlich über eine Person zu berichten. Zwar besteht ein Aufklärungsinteresse der Öffentlichkeit und auch der Wissenschaft, aber sicherlich nicht auf Kosten der Gesundheit eines Menschen. Das habe ich in anderen Fällen so gehandhabt, und auch im Fall von G. hatte ich, sobald ich von der Situation erfuhr, nie mehr namentlich über sie geschrieben. Doch das Problem ist, dass die Behauptung, die Krankheit sei aus der Berichterstattung entstanden, oder die Berichterstattung hätte diese Krankheit vertieft, nie nachgewiesen wurde. Zunächst fehlte jede Bestätigung dazu, und was in letzter Sekunde von G. eingereicht wurde, konnte die Kausalität, zumindest nach Ansicht des Oberlandesgerichtes Frankfurt, nicht belegen. Denn eine Krankheit kann nicht durch Berichterstattung entstanden sein, wenn es die Krankheit schon vor der Berichterstattung gab.

Sicherlich kann eine Krankheit schlimmer werden. So erklärten die Anwälte am 24. Juni 2020, G. würde seit 2017 keinen Beruf mehr ausüben. Durch einfache Internetrecherche war aber ersichtlich, dass G. bereits seit 11. Juni 2020 Geschäftsführerin einer GmbH war, und im Juli und August 2020 Geschäftsführerin zweier weiterer Gesellschaften wurde, darunter einer GmbH & Co. KG, bei der in der Regel Bücher zu führen und Jahresabschlüsse anzufertigen sind. Wenn das keine berufliche Tätigkeit ist, was dann? Die Gegenseite erklärte dazu, die Gesellschaften dienten allein innerfamiliären Angelegenheiten. Nun denn. Erstaunlich ist auch, dass G. zwar gegen meine getätigte und geplante Berichterstattung vorging, nicht aber gegen andere Namensnennungen, etwa in der Dokumentation bei VroniPlag Wiki.

Weshalb hatte sie sich mich als Hauptgegner ausgesucht? Vermutlich wollte sie an einem freien Journalisten ein Exempel statuieren. Und in der Tat hätten viele Kolleginnen und Kollegen kaum Kraft, Zeit und Geld gehabt, diese mehrjährige Auseinandersetzung mit immer neuen Schriftsätzen und immer weiteren Terminen durchzuhalten. Bei mir kamen einige glückliche Umstände zusammen, von denen G. und ihre Anwälte zunächst nichts wissen konnten. Zunächst hat es sicher geholfen, dass mir die Abläufe des Rechtssystems als Volljurist vertraut sind. Zudem erhielt ich Unterstützung aus einem Kreis von Hochschullehrern, die an ihren Universitäten selbst gegen Plagiate vorgehen, und mich mit Erfahrungsberichten und Argumenten versorgen. Mein Studienfreund Christian Rauda ist heute als Partner bei GRAEF Rechtsanwälte in Hamburg einer der besten Presserechtler Deutschlands und hatte mich, anfangs gemeinsam mit Simone Lingens, hervorragend anwaltlich betreut und immer wieder ermutigt, nicht aufzugeben. Solche Signale erreichten mich von vielen Kolleginnen und Kollegen aus dem Journalismus, nicht zuletzt von der F.A.Z., bei der Thomas Thiel das Ressort »Forschung und Lehre« betreut. Für sie alle ist die Freiheit der Berichterstattung wichtig. Aber niemand will natürlich die Vernichtung einer Person, auch wenn sie doppelt plagiiert hat. Das Oberlandesgericht Frankfurt schrieb in seinem Urteil, man könne bei G. – nach Lektüre aller Belege und Atteste – allenfalls von einer »fortwährenden seelischen Belastung« infolge der namentlichen Berichterstattung ausgehen. Mehr ist da also nicht.

Vor dem Bundesgerichtshof spielt diese Frage keine Rolle mehr. Hier wird die Auslegung von Rechtsnormen diskutiert. Unerheblich ist, ob G. krank ist, oder wie sie krank wurde. Diese Tatsachen wurden in den vorherigen Instanzen abschließend geklärt. In der mündlichen Verhandlung äußert sich der Anwalt von G. trotzdem dazu. Das aber dient nur der Show und Stimmungsmache. In meinem Bericht über das Gerichtsverfahren in der F.A.Z. erwähne ich den Namen der Plagiatorin trotzdem nicht. Aus ihren plagiatsbehafteten Werken wird derweil weiterhin zitiert. Der Münchner Hochschullehrer Volker Rieble schrieb dazu am 16. August 2019 in der F.A.Z.:

»Solange Plagiate in der Welt sind, als Bücher oder Zeitschriftenartikel ohne ›Produktwarnung‹ im Bibliothekskatalog vorgehalten werden, so lange wird aus ihnen zitiert. Damit wirken sie infektiös – auf das Wissenschaftssystem und hier auf die Judikatur. […] Eine Felicitas Krull mit ihrer Wissenschaftshochstapelei ist kein taugliches Zitat […]. Vielmehr wird das Plagiat dadurch zur ehrenwerten Quelle auf- und der wahre Autor durch Nichterwähnung abgewertet.«

Nur ein kritischer Umgang mit fehlerhaften Publikationen (neben dem Plagiat sind das vor allem Datenfälschungen) bis hin zum ebenso öffentlichen Rückruf der Veröffentlichung, wie er im angelsächsischen Raum als retraction üblich ist, könnte nach Riebles Ansicht helfen. In Deutschland aber: weithin Fehlanzeige. G. hat ihre Publikationen nicht zurückgerufen, sie hat stattdessen einen Journalisten verklagt.

3.Perpetuierung von Plagiaten

Zuerst hatte ich in meinen Auseinandersetzungen mit G. zwei bittere Niederlagen vor dem Landgericht Frankfurt kassiert. Nach dem Verfahren im vorläufigen Rechtsschutz und dem erstem Hauptverfahren war ich enttäuscht. Doch das Urteil des Landgerichts war fehlerhaft. Dieses Gefühl bestätigten das Oberlandesgericht Frankfurt und der Bundesgerichtshof in der Revision, die G. eingelegt hatte. Im Grunde hat es der Fall nur wegen einer Besonderheit bis nach Karlsruhe geschafft. Die Situation unterscheidet sich von allen früheren Plagiatsfällen, über die berichtet oder Recht gesprochen wurde. Denn nachdem die Plagiatsvorwürfe gegen ihre Doktorarbeit und die Habilitation bekannt wurden, verzichtete G. auf die Führung der akademischen Bezeichnung »Privatdozentin«. Sie wurde auf ihr Verlangen aus dem Beamtenverhältnis auf Lebenszeit entlassen. Aus eigener Wahrnehmung hatte sie sich nicht nur aus dem Wissenschaftssystem verabschiedet, sondern »vollständig aus der Öffentlichkeit zurückgezogen«. Daher sollte auch niemand mehr über ihre beiden Bücher berichten. Jedenfalls nicht kritisch. Gegen positive Berichte oder wohlwollende Zitationen ihrer Arbeiten wehrte sich G. nicht. Auch ging sie wohl nicht dagegen vor, wenn sie, wie auf der englischsprachigen Webseite ihrer alten Universität, weiterhin als Vizepräsidentin geführt wurde.

Nun ist es nicht so, dass jemand, der eine Wissenschaftskarriere beendet, die Debatten über seine Forschungsergebnisse stoppen lassen kann. Die meisten Doktoranden beginnen gar keine Karriere in der Wissenschaft, die sie somit auch nicht beenden können. Ihnen wäre die Möglichkeit, die G. für sich in Anspruch nehmen wollte, verwehrt. Unklar wäre auch, was nach dem Tod einer Autorin oder eines Autors gilt. Darf es dann keine Berichte mehr über möglichen Betrug in wissenschaftlichen Ausarbeitungen geben? Was würde gelten, wenn, wie in der Medizin, Menschenleben davon abhingen? Was, wenn die Forscherin, die ihre Karriere beendet hat, später erneut wissenschaftlich veröffentlicht? Darf dann wieder über ihre frühere Arbeit berichtet werden? Was gilt bei einem erneuten Aufhören? Je länger man über diese Folgeprobleme nachdenkt, desto absurder erscheint die Argumentation von G. Trotzdem stellte sich das Landgericht Frankfurt auf ihre Seite. Eine Identifizierung sollte nach Ansicht dieser Richter nur dann erlaubt sein, wenn der Name einen eigenen Informationswert besitzt und gerade hieran ein öffentliches Informationsinteresse besteht. »Büßt die Berichterstattung nichts von ihrer Bedeutung ein, wenn die daran beteiligten Personen anonym bleiben, kann eine Identifizierung dieser Personen in der Berichterstattung unzulässig sein«, hieß es. Die Richter argumentierten, dass G. ihre berufliche Tätigkeit beendet habe:

»Es besteht nach Verlust der Lehrbefugnis insbesondere kein Konflikt mehr dahingehend, dass dem Lehrpersonal selbst wissenschaftliche Verfehlungen vorzuwerfen sind, die es bei anderen gerade überprüfen und ggf. auch ahnden soll. […] Es geht vorliegend lediglich um die Untersagung einer Berichterstattung unter Nennung des Namens der Klägerin. Es darf nach wie vor über das Thema berichtet werden.«

Das Oberlandesgericht kassierte diese Entscheidung ein. Im Kern geht es um das Allgemeine Persönlichkeitsrecht und die Frage, wann dieses Recht der G. als Betroffener eingeschränkt werden darf. Im Juristendeutsch heißt das dann: »Der Eingriff in das Persönlichkeitsrecht ist nur dann rechtswidrig, wenn das Schutzinteresse des Betroffenen die schutzwürdigen Belange der anderen Seite überwiegt.« Die andere Seite – das bin ich. Meine schutzwürdigen Belange sind die Berichterstattungsfreiheit und die Pressefreiheit. Diese Belange überwiegen. Weshalb? Zum einen, weil bei G. lediglich die Sozialsphäre betroffen ist, also nicht der Kernbereich ihrer Persönlichkeitssphäre oder gar die Intimsphäre. Innerhalb der Sozialsphäre sind Eingriffe, auch durch die Presse, viel eher zu dulden. Das Oberlandesgericht folgerte:

»Auch wenn G. auf die akademische Bezeichnung ›Privatdozentin‹ verzichtet hat, bleiben ihre beiden wissenschaftlichen Arbeiten, die Doktorarbeit und die Habilitationsschrift in der Welt. Sie sind an den Hochschulen und weiteren Bibliotheken vorhanden und dienen der wissenschaftlichen Auseinandersetzung. Dafür – und nicht nur im Interesse eines persönlichen beruflichen Fortkommens – wurden sie geschrieben.«

Der inzwischen meistzitierte Satz dieser Entscheidung ist:

»Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Übernahmen aus fremden Texten, die als solche nicht gekennzeichnet sind, führen zu einer Perpetuierung dieser Plagiate, was gegen wissenschaftliche Interessen verstößt.«

Im Übrigen würden in der Wissenschaft immer Werknamen mit Autorennamen zitiert. Ein Recht auf »Vergessenwerden« habe G. nicht, da ihre Schrift noch im wissenschaftlichen Diskurs steht und große Aktualität hat. Auch dem Gesichtspunkt der Resozialisierung komme nur ein geringes Gewicht zu, weil der Vorwurf keine Straftat betreffe. Alles in allem beurteilten die Richterinnen und Richter des Oberlandesgerichts die Situation komplett anders als das Landgericht. Meine bei Lektüre des ersten Urteils entstandene Enttäuschung verflog. Doch die Entscheidung wurde nicht rechtskräftig. G. klagte noch vor dem Bundesgerichtshof, wo sie erneut unterlag. Diesmal endgültig. Ihre Bücher sind derweil weiterhin in über 100 Bibliotheken weltweit verfügbar und wurden auch im Jahr 2021 in wissenschaftlichen Publikationen zitiert.

4.Prozesse und Pensionsansprüche

Der Doppelplagiatsfall G. unterscheidet sich vom anderen deutschen Doppelplagiatsfall: H. unterrichtet weiterhin an der Universität Mainz im Fach Soziologie und könnte nach einer rechtskräftigen Aberkennung des Doktorgrades, und damit der Lehrbefugnis, ihre Professur und Teile ihrer Pensionsberechtigung verlieren. Doch H. spielt auf Zeit. Nehmen wir an, dass H. ab dem Jahr 2026 ihren Ruhestand genießen darf. Bis dahin sollte also aus ihrer Sicht kein endgültiges Urteil über ihre wissenschaftlichen Qualifikationsarbeiten fallen. Und H. hat Glück, denn ein solches Urteil ist bis dahin nicht zu erwarten. Die Mühlen der deutschen Gerichtsbürokratie mahlen langsam.

Im Jahr 1999 wird H. an der Humboldt-Universität zu Berlin (HU) zum »Wandel von Einstellungen und Werten unter dem Aspekt des Autoritarismus deutscher Eltern im Zeitvergleich« promoviert. Im Jahr 2016 meldet VroniPlag Wiki 127 Plagiate in dieser Arbeit an die HU. Gut zwei Jahre später, Ende 2018, entzieht der Präsident der HU nach einem Prüfungsverfahren den Doktorgrad. Im Dezember 2018 reicht H. gegen die Entscheidung eine Klage ein. Solange diese Klage anhängig ist, wird der Entzug des Doktorgrades nicht bestandskräftig. Jahrelang passiert nun erstmal nichts. Im Sommer 2021 hat das Verwaltungsgericht Berlin noch immer nicht über die Klage entschieden. Der Pressesprecher des Gerichts teilt mir im April 2021 mit, mit einer Entscheidung sei erst Ende des gleichen Jahres zu rechnen. Aber auch 2021 fällt kein Urteil. Eine Verfahrensdauer von drei Jahren ist merkwürdig. In Corona-Zeiten liegt die durchschnittliche Verfahrensdauer beim Berliner Verwaltungsgericht bei 14 Monaten, wie die zuständige Senatsverwaltung erklärt. In diesem Fall ist sie über 150 Prozent länger. Darauf hingewiesen, antwortet der Gerichtssprecher:

»Die durchschnittliche Verfahrensdauer ist ein Mittelwert, den die schwierigeren und zeitaufwändigeren Verfahren oft übersteigen. Dazu zählen Verfahren der vorliegenden Art generell. Im Übrigen musste die zuständige Kammer seit dem Eingang der Klage zusätzlich vorrangige Asylverfahren erledigen, und – last but not least – ist diese seit drei Jahren nicht mit dem vollen Richterpensum besetzt. Das wirkt sich aus. Ich hoffe, dass kann die Dauer einigermaßen erklären. Sonstige Gründe gibt es nicht.«

Das klingt plausibel. Dem Geschäftsverteilungsplan des Gerichts entnehme ich, dass die Kammer nur mit einer Vollzeitstelle und einer Halbzeitstelle besetzt ist, und sich zusätzlich zu Hochschulangelegenheiten auch um Asylverfahren aus dem Herkunftsland Syrien beschäftigen muss. Sollte das Gericht 2022 seine Entscheidung treffen und veröffentlichen und darin den Entzug des Doktorgrades bestätigen, wird H. vermutlich auch dagegen klagen. Dann verhandelt das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, was bei Berufungsverfahren durchschnittlich 15 Monate benötigt. Da das Verfahren zum Doktorgradentzug schwierig und zeitaufwändig ist, wie der Gerichtssprecher sagt, ist mit mehr Zeit zu rechnen. Ende 2024 gibt es dann vielleicht eine Entscheidung, die aber revisionsfähig sein könnte. Ein weiteres Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht könnte noch einmal Jahre dauern, vielleicht bis 2027. Wir erinnern uns: Vermutlich 2026 wird H. pensioniert. Sollte sie den Doktorgrad wider Erwarten vorher rechtskräftig verlieren, bleibt sie aber erst einmal Professorin. Denn in der Habilitationsordnung der Humboldt-Universität ist zwar festgelegt, dass die Lehrbefähigung erlischt, wenn die/der Habilitierte den Doktorgrad nicht mehr führen darf. Die Feststellung des Erlöschens der Lehrbefähigung trifft die Präsidentin/der Präsident der HU auf Antrag des erweiterten Fakultätsrates. »Diese Feststellung durch den/die Präsident/in ist wieder ein Verwaltungsakt, der angefochten werden kann. Da können also nochmal drei Instanzen und weitere vier bis fünf Jahre hinzukommen, bis die Feststellung rechtskräftig ist«, sagt Gerhard Dannemann, Rechtsprofessor und Plagiatsexperte an der HU. Jetzt sind wir schon im Jahr 2031 oder 2032.

Vielleicht könnte die Universität Mainz vorher beginnen, ein förmliches Disziplinarverfahren gegen H. einzuleiten. Aber das dauert, und auch gegen dieses Ergebnis kann sich H. gerichtlich wehren. Erst ganz am Ende entscheidet ein Verwaltungsgericht als Disziplinargericht über die Entfernung der Professorin aus dem Dienst. Denkbar wäre der Vorwurf des Anstellungsbetrugs. Denn der Entzug des Doktorgrads wirkt rückwirkend: H. würde so gestellt, als hätte sie den Grad nie erworben. »Im Falle einer Entlassung verliert ein beamteter Hochschullehrer seine Pensionsansprüche«, erklärte der Beamtenrechtler Ulrich Battis am 19. Januar 2019 in der F.A.Z. Es erfolge dann eine Nachversicherung bei der Deutschen Rentenversicherung. »Das kann im Einzelfall eine Halbierung der Altersversorgung bedeuten.« Battis meint: Auch nach einem Wechsel in den Ruhestand könnte das Disziplinarverfahren weitergeführt werden. Aber ob das tatsächlich geschehen wird? Wird eine Universität gegen eine dann ehemalige Professorin vorgehen und vorgehen wollen? Ich werde 2031 erneut über den Fall berichten.

Ungekrönte Königin der Verzögerung ist die frühere Politikerin M. Sie wird 1986 in Bonn mit dem Thema »Geschichte und Fortschritt im Denken Amerikas: Ein europäisch-amerikanischer Vergleich« promoviert. Zwei Jahre später werden im »Spiegel«