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"So bezaubernd war Insektenkunde noch nie." Nature Die Insekten verschwinden. Dabei hängt der Fortbestand des Planeten von ihnen ab. Sie bestäuben nicht nur unsere Pflanzen und sorgen für fruchtbare Böden – mit ihrer Hilfe wird auch Krebs und Welthunger der Kampf angesagt. Mit seinem fulminanten Ritt durch den Kosmos der Insekten hat David MacNeal den Sechsbeinern ein Denkmal gesetzt.
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Seitenzahl: 480
David MacNeal ist Wissenschaftsjournalist. Seine Artikel erscheinen u.a. in Wired, Arts Technica und VICE. Er lebt in Denver.
Matthias Frings, 1953 in Aachen geboren, war Journalist und Fernsehmoderator und lebt als Schriftsteller in Berlin. Er studierte Anglistik, Germanistik und Linguistik. In den 80er Jahren veröffentlichte er mehrere erfolgreiche Sachbücher, darunter »Liebesdinge. Bemerkungen zur Sexualität des Mannes.« Ab 1986 arbeitete er als Radiomoderator beim SFB. Von 1993 an war er Redaktionsleiter und Fernsehproduzent. Bekannt wurde er als Moderator der Sendung »Liebe Sünde«.
»So bezaubernd war Insektenkunde noch nie.« Nature
Die Insekten verschwinden. Dabei hängt der Fortbestand des Planeten von ihnen ab. Sie bestäuben nicht nur unsere Pflanzen und sorgen für fruchtbare Böden – mit ihrer Hilfe wird auch Krebs und Welthunger der Kampf angesagt. Mit seinem fulminanten Ritt durch den Kosmos der Insekten hat David MacNeal den Sechsbeinern ein Denkmal gesetzt.
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David MacNeal
Planet der Insekten
Zu Besuch bei den wahren Herrschern der Erde
Aus dem Amerikanischen von Matthias Frings
Inhaltsübersicht
Über David MacNeal
Informationen zum Buch
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Einführung
Kapitel 1: Kuriositätenkabinett
Kapitel 2: Unterirdische Städte
Kapitel 3 : »Even Educated Fleas Do It«
Kapitel 4: Das fliegende Gift
Kapitel 5: Vámonos Wanze!
Kapitel 6: Mit Maden auf Mördersuche
Kapitel 7: Sie haben gerade das Heilmittel für Krebs zerquetscht
Kapitel 8: Big in Japan: Business mit den kleinen Brummern
Kapitel 9: Grillen zum Abendessen
Kapitel 10: Dem großen Bienensterben auf der Spur
Epilog
Danksagung
Bibliographie
Anmerkungen
Impressum
Für meine Schwester Kristen & meinen besten Freund Tony Bellah
Wenn die gesamte Menschheit verschwände, würde die Welt zurückkehren zum artenreichen Zustand des Gleichgewichts, der vor zehntausend Jahren herrschte. Würden die Insekten verschwinden, müsste die Welt im Chaos versinken.
E.O. Wilson
All those bugs buzzin’‚ round your head.
The Flaming Lips
Insekten schätzte ich nicht sonderlich, bis ich einem die Innereien herausriss. Okay, es war mehr ein Zupfen. Im Jahr 2011 erhielt ich meine erste Lektion im Nadeln von Insekten. Es handelte sich um eine rosa Heuschrecke alias Lubber Heuschrecke (Brachystola magna) im Labor des Biologen Nick Gutierrez. Mein Freund hatte die rosa Schönheit auf einer seiner Insektenexpeditionen in Arizona für mich gefangen, und ich durfte beim Präparieren helfen, bevor sie in einem Schaukasten ausgestellt wurde. Zurück an der California State University, Northridge, legte Nick Präparationsbesteck und Nadeln bereit, um ihre drei Beinpaare auf eine Styroporplatte zu positionieren. Dann wies er mich lässig an, die Unterseite des rosa Insekts aufzuschneiden und seine Innereien zu entfernen.
Diese Erfahrung hat mich geprägt. Zu meinem Besten.
Nachdem ich den Schnitt gemacht hatte, entleerte ich dieses organische Behältnis, aus dem ein dunkler, stinkender Brei floss. Was ich hier sah, war alles andere als ein belangloser Klecks auf einer Windschutzscheibe. Die Heuschrecke entpuppte sich als kleines Wunder und wies in ihrem Innern eine hohe Komplexität an Organen und anderen Bauteilen auf. Ihr glatter, gegliederter Körper stellte meine eigene leibliche Hülle unbestreitbar in den Schatten. Während ich die jahrhundertealte Tradition des Nadelns praktizierte – Viktorianer liebten es –, erwachte meine Liebe zu Insekten. Und wissbegierig, wie ich bin, fragte ich mich: Was für eine Beziehung haben wir Menschen eigentlich zu Insekten?
Mit dieser Frage begann eine Reise um die Welt. Sie führte mich nach New York, wo ich mein Blut an Bettwanzen in einem Behälter verfütterte, nach Brasilien, wo ich in einem Slum Zika-bekämpfende Moskitos aus einem fahrenden Lkw freisetzte, nach Tokio zu einem Ladenbesitzer, der Käfer als Haustiere verkauft, weiter zum madenwimmelnden Gelände einer Body-Farm, auf der man Verwesungsprozesse von Leichen studiert, und schließlich auf eine Insel in der Ägäis mit drückend heißen Nächten, wo einige Bewohner ihr hohes Lebensalter einem seltenen Honig zuschreiben. Was mich auch motivierte, diese Reise zu unternehmen, war die Erkenntnis, wie sehr sich unsere Ansichten über Insekten im 21. Jahrhundert verändert haben. Jüngste technologische Fortschritte enthüllen mehr über sie denn je. Beispielsweise 3-D-Scans, die uns helfen, den Insektenflug besser zu verstehen und so den Bau von Mikrodronen zu optimieren, staubkorngroße Computer, die das Bienensterben verfolgen, und Apparaturen, die Inhaltsstoffe von Insekten für Antibiotika separieren. Neuerdings interessieren sich Westler sogar für etwas, das ihnen bisher den Magen umdrehte: Insekten auf der Speisekarte.
Hinter diesem Potenzial steht die unsichtbare Kraft, die die Ökologie unseres Planeten zusammenhält.
Menschen neigen zu der Annahme, ein höheres, gottähnliches Wesen veranstalte diese ganze Show hier. Falsch. Die Wahrheit befindet sich unter Ihrem Schuh. Oder in Ihrem Fliegengitter. Oder als Parasit unter Ihrer Haut. Sie erkennen auf den ersten Blick nichts als ganz gewöhnliche Schädlinge. Doch es sind die kleinen Pfeifen, nach denen wir alle tanzen. Sie gestalten unsere Umwelt und das pflanzliche Leben seit über vierhundert Millionen Jahren.
Das Reich der Tiere wird zu 75 Prozent von Insekten eingenommen. Wenn wir es uns als Torte vorstellen, teilen wir uns als Wirbeltiere gerade mal ein Viertel des Kuchens mit Hunden, Kängurus, Faultieren, Quallen, Murmeltieren, Dachsen, Kakadus und dem Rest der Lebewesen. Im Vergleich zu Insekten sind wir nichts als die Krümel einer Schwarzwälder Kirschtorte, Krümel in einer Welt der sich unentwegt erneuernden Masse von 10 Trillionen Insekten. In Ziffern geschrieben sieht das so aus.
Menschen:
7400000000
Insekten:
10000000000000000000
Insekten schlagen uns im Zahlenspiel. Für jeden Einzelnen von uns Menschen gibt es rund 1,4 Milliarden von ihnen. Im Jahr 2013 fragte ein User der Social-News-Plattform Reddit munter: »Was wäre, wenn plötzlich jedes Insekt auf dem Planeten die Mission hätte, Menschen zu killen?« Eine Person mit dem Usernamen Unidan verfasste daraufhin den humorigen Beitrag über ein »Insektenarmageddon«, wobei er nur zwei Arten ins Spiel brachte. Mehr bräuchte es auch nicht. Ameisen allein würden schon ausreichen. Ihre Biomasse ist der menschlichen ebenbürtig, die Tiere könnten in unsere Nasenlöcher krabbeln und uns ersticken.
Erfreulicherweise kann ich Ihnen sagen, dass Insekten sich wohl kaum mit uns anlegen werden – jedenfalls nicht auf diese Weise. Sie verbringen ihre kurze, aktive Lebensspanne damit, Myriaden von Aufgaben zu erledigen, darunter die Bestäubung von 80 Prozent all unser Nahrungspflanzen und das Recyceln toter organischer Stoffe und von Abfall. (Stellen Sie sich den Gestank vor, wenn sie Letzteres nicht täten.) Dies sind nützliche Dienste, die das Leben auf diesem Planeten in Gang halten. Die andere Seite dieser schicksalhaften Medaille ist eine lange Liste von Vorwürfen: Verluste in der Landwirtschaft, Schädlinge in der Wohnung, Befall von Wäldern, außerdem Krankheits- und Todesfälle bei Mensch und Vieh, deren Anzahl über Jahrtausende betrachtet in die Millionen geht.
Wenn wir also schon in einer Welt leben, die von Insekten beherrscht wird, sollten wir dann nicht auch wissen, welchen Einfluss sie haben und warum er so groß ist? Und, genauso wichtig, wer von uns zahlenmäßig Unterlegenen Mut und Grips genug hat, bei der Beantwortung drängender Fragen auf sie zu setzen?
Wie sich herausstellt, sind solche Menschen so ungewöhnlich wie die Insekten, die sie erforschen. Eine Subkultur von faszinierenden Individuen – eine Elite, die nicht mit der Wimper zuckt, wenn ein Insekt sich nähert. Sie sehen über die oben erwähnten negativen Seiten der Insekten hinweg – Phänomene im Übrigen, die wir, was noch zu zeigen sein wird, größtenteils selbst verursachen (globaler Verkehr, Verbreitung von Pestiziden). Während die meisten von uns diese Minimonster hassen und ihnen mit jeder Menge Insektenvernichtungsmittel zu Leibe rücken, sind die Typen, die ich getroffen habe, ganz außergewöhnliche Charaktere, die sich auf besondere Weise mit den Insekten auseinandersetzen, um das komplexe Verhältnis zwischen Mensch und Insekt genauer zu erfassen und die Geheimnisse des scheinbar Alltäglichen zu erforschen. Betrachten Sie sie als Besessene.
Frank Krell, ein deutscher Wissenschaftler und wandelndes Lexikon, ist einer der wichtigsten entomologischen Vermittler zwischen Mensch und Insekt. In erster Linie befasst er sich mit Exkrementen. Oder, um genau zu sein, mit den weltbesten Verwertern von Kot, besser bekannt als Mistkäfer. Als ich ihn im Denver Museum of Nature & Science besuchte, führte er mich zwei Stockwerke tief in den Keller und öffnete eine Doppeltür, die zu einer hell erleuchteten Sammlung führte. Schnurgerade, schier endlose Reihen von weißen Kästen waren hier aufgestapelt, jeder von ihnen 50 Zentimeter tief. Randvoll mit farbenprächtigen Insekten, sahen sie aus wie ein Archiv von hartschaligen Süßigkeiten. Krell zog eine Schublade heraus, um mir ein paar schwarze Mistkäfer zu zeigen, die aus der Gegend von Colorado stammten. Liebevoll blickte er auf seine Sammlung. »Ich kriege dafür ein bisschen Geld«, sagte er. »Also bin ich ein hauptberuflicher Entomologe.«
Er meinte damit, dass Insektenforscher – Menschen, deren Beruf es ist, nach diesen winzigen Wesen zu suchen und ihre Feinheiten zu studieren – meistens unterschätzt werden, aber stets von Leidenschaft beflügelt sind. Krells Untersuchungen konzentrieren sich auf die Frage, wie der Bisonkot die Fauna im Ökosystem des Graslandes beeinflusst. Als ich wissen wollte, woher er all diese Käfer habe, erklärte er mir bereitwillig, wie seine Köderfalle funktioniert.
»Und woraus besteht der Köder?«, fragte ich.
»Scheiße«, grinste er. »Menschliche, weil sie besonders stark riecht.« Und schon war ich hin und weg. Mein erstes Zusammentreffen mit einem Entomologen war eine Wucht und Frank Krell mit Abstand der spannendste Wissenschaftler, mit dem ich in meiner Karriere als Journalist gesprochen hatte. Und meine Nachforschungen würden noch bizarrer, aber auch noch Ehrfurcht einflößender werden. Der Punkt ist nämlich der: Entomologen tun Dinge, um das fabelhafte Innenleben von Insekten zu entschlüsseln, die Sie und ich nie tun würden.
Die Hauptfiguren dieser Geschichte sind hart arbeitende, hochintelligente Menschen, die etwas bewirken. Ich dagegen bin von der schreibenden Zunft. Bis 2011 bestand meine einzige »Berührung« mit Käfern darin, dass ich als Kind ein Brettspiel namens »Splat!« gespielt hatte. Die Götter der Semantik mögen mir vergeben, ich sage manchmal »Käfer«, wenn ich Insekten, Arachniden (Spinnentiere), Würmer oder Myriapoden (Tausendfüßer) meine, wobei Letztere – für alle Fans der Musik von Nine Inch Nails da draußen – Millipeden einschließen.
Darüber hinaus ist dieses Buch ein handgestricktes Kuriositätenkabinett. Diese Menschen, ihre Forschungen und ihre Geschichten vermitteln uns einen Einblick in die Welt der Insekten. Wissenschaftliche Arbeiten zum Thema füllen ganze Bibliotheken, wobei man angesichts der Fachsprache nur mit Mühe die Augen offen behält. Ich habe viel von diesem Material aufbereitet und hoffe, dass Ihnen die Themen, die mein eigenes Interesse geweckt haben, Freude bereiten. Wie die Bienen habe ich auf dieser kleinen Reise Pollen und Nektar gesammelt und bin zu dem Bienenstock zurückgekehrt, den dieses Buch darstellt.
Zwischen Sohos feinen Boutiquen versteckt sich vor aller Augen eine Tür mit leichenblassem Anstrich. Zuerst laufe ich daran vorbei und verpasse das Hausnummernschild »107 Spring« aus angelaufenem Messing. Ich studiere die Klingelbeschriftung, um die Mieter zu identifizieren, und entdecke schließlich den Namen Stevens. Darunter in Großbuchstaben, in der Schrifttype Baskerville: ENTOMOLOGE. Durch dickes Sicherheitsglas sehe ich eine dunkle, schlaksige Person die steile Treppe herunterkommen. Während sie sich nähert, erkenne ich, dass sie Cargoshorts mit Camouflagemuster trägt, dazu ein T-Shirt mit Tintenfisch-Aufdruck und Riemchensandalen. Es handelt sich um Lawrence Forcella oder kurz Lorenzo, der mich in diesen abgelegenen Teil von Lower Manhattan eingeladen hat. Der stylische Glatzkopf, der Bart, die Silberohrringe und sein Charisma erwecken den Eindruck eines modernen Genies – eine durchaus angemessene Assoziation, bedenkt man, was er täglich leistet. Ich erwähne dies, weil wir nach der Begrüßung hinaufgehen und einen etwa vierzig Quadratmeter großen Raum betreten, wo Lorenzo zusammen mit einer Handvoll Kunsthandwerkern toten Käfern Leben einhaucht.
»Wir behandeln jährlich Tausende von Insekten«, sagt er, während wir in der ehemaligen Wohnung an riesigen Setzkästen vorbeilaufen, die mit lebendig wirkenden Exemplaren gefüllt sind. Dieser Schrein der Biodiversität hat einen eingebauten Ekelfaktor. Umsichtige Tierpräparatoren – Insektenbestatter, die die Flügel der Insekten entfalten und ihre Fühler richten, als ob sie einen besseren Funkempfang ermöglichen wollten – bereiten Schmetterlinge, Tausendfüßer und Laubheuschrecken auf. An einem einzigen Tag haben sie mehr Kontakt mit Außenskelettkörpern als Sie und ich in unserem ganzen Leben.
Diese Abteilung gehört zum Evolution Store gleich gegenüber, einem Paradies für viktorianisch orientierte Naturkundler. Sie wollen den ganzen Lebenszyklus einer Fliege in Harz erwerben? Kein Problem. Sie suchen ein afrikanisches Penisfutteral? Welche Größe bitte? Die Klientel reicht von Zeitschriftenfotografen über Achtjährige, die hier ihr Geburtstagsgeld für einen menschlichen Schädel ausgeben, bis hin zu japanischen Geschäftsleuten, die brüsk auf Insekten deuten und gleich die ganze Charge kaufen. Und wenn Lorenzo gut auf sein Team aufpasst, dann blättern Naturenthusiasten wie der Regisseur James Cameron bis zu 10 000 Dollar für einen Schaukasten voller Käfer auf den Tisch.
Dank Lorenzo hat der Evolution Store eine eigenständige Entomologieabteilung aufgebaut. Sechs Monate nach Geschäftseröffnung, im Jahr 1997, schlug er vor, selbst Insekten zu präparieren, statt die Arbeit nach außen zu vergeben. Lorenzo und sein Präparatorenteam arbeiteten nun hausintern. 2005 begann Damien Hirst, Tausende aufgespießter Schmetterlinge zu kaufen, um kaleidoskopische Mandalas in jeweils einem einzigen Farbton zu komponieren. Im selben Jahr bestellte Hirst rund 24 000 Exemplare für seine Kompositionen im Stil von Buntglasfenstern. Hierfür wurden mindestens sechzehn Schmetterlingspräparatoren benötigt, die zusammen rund um die Uhr arbeiteten. Anweisungen, Kosten, Desinfektion und fällige Termine wurden in einem »Bug Log«, einem Insektenprotokoll, festgehalten.
Nach und nach verlagerten die Präparatoren ihre Arbeit in das Apartment des Eigentümers – wo ich mich gerade mit Lorenzo befinde. Irgendwann bestellte Hirst seine Schmetterlinge anderswo, um Kosten zu sparen, aber Evolution hat noch immer seine eigene Entomologieabteilung, mittlerweile seit zehn Jahren. Doch als Lorenzo mir für unsere geplante Lektion eine E-Mail mit Material zum Thema Insektenanatomie schickte, bedeutete er mir, dass die Abteilung aus Kostengründen bald geschlossen würde. Also buchte ich einen Flug. Ich wollte wissen, was genau ein Insekt1 ist.
***
Eine Präparatorin greift nach ihrer Stechkarte und stempelt sich aus, während Lorenzo das heutige Exemplar zum Nadeln vorbereitet. Die Dielen quietschen leise, als ich den schwach beleuchteten Raum durchquere. Neben der Tür stehen Metallkästen, die mit Plastikschubfächern in Schuhkartongröße bestückt sind. Sie enthalten unbearbeitetes Rohmaterial, sämtlich beschriftet mit taxonomischen Bezeichnungen wie ORTHOPTERA, PHASMATIDAE oder HOMOPTERA. Die Klassifikation wird in der Folge immer detaillierter, und ich möchte Sie wirklich nicht mit einer Terminologie langweilen, die sich wie Hogwarts Zaubersprüche anhört.2
In einer Dusche, die zu einer Art Abstellkammer umfunktioniert wurde, liegt eine zusammengerollte Yogamatte. Das Eis im Kühlschrank in der Küche wird gewöhnlich aus einem Getränkeladen besorgt, damit es nicht das Aroma der Kühlschrankbewohner annimmt, den Geschmack von toten Insekten. Lorenzo beugt sich über einen Arbeitsplatz, dessen Umgebung im Laufe der Jahre von den Vorlieben sehr unterschiedlicher Mitarbeiter geprägt wurde: der gekrümmte Fötus eines Außerirdischen in einem Glas, eine Insect-Warrior-Actionfigur von Funtastic, Langstroth-Wabenrähmchen mit verwaisten Honigwaben und eine Pestizidwerbung aus dem späten 19. Jahrhundert mit der Aufschrift »Quick Death«.
Unter einer kegelförmigen Lampe nimmt Lorenzo eine riesige Wasserwanze aus der Plastikschale, die ursprünglich eine Fertigmahlzeit enthielt, in der sie über Nacht eingeweicht wurde. Nicht größer als ein Kazoo, ist dieses braune, eiförmige Ding ursprünglich in einem Dorf in Thailand getrocknet, verpackt und versandt worden. Nun ist es biegsam und bereit, für den Verkauf aufbereitet zu werden. Zwanzig Jahre Arbeit für den Evolution Store haben Lorenzo mit dem Riecher eines Möbelfachverkäufers ausgestattet.
Er weiß, was einer kaufen will, bevor dieser es selbst weiß. Sammler schätzen die Attraktivität eines Insekts auf ganz unterschiedliche, meist ziemlich verschrobene Weise, weiß er, aber der Durchschnittskunde von Evolution geht nach Ästhetik. Liebst du Eiche oder stehst du auf Walnuss oder Mahagoni? Wie sieht deine Wohnung aus?
Jemand mit einem »ausgeprägten Sinn für Design« gefallen die wie mit indischer Tinte gezogenen Linien auf den champagnerfarbenen Flügeln eines Reispapierschmetterlings, wohingegen ein Kunde mit Tattoos und Nasenring eher an einer blutsaugenden Wasserwanze interessiert ist.
Für den Fall, dass die Glieder des heutigen Exemplars sich versteifen, hält Lorenzos Werkzeugkasten eine Spritze bereit, die er mit warmem Wasser füllt, um die jeweiligen Körperteile aufzuweichen. Er hat auch eine Rasierklinge zur Entfernung der Innereien parat und ein Schnupftabaklöffelchen, das er sehr praktisch findet, um allerlei klebriges Zeugs aus Vogelspinnenhintern zu kratzen. Aus den Lautsprechern seines Computers dröhnt die Riot Grrrl Band L7, ein Vorläufer des 80er-Grunge, berühmt dafür, benutzte Tampons ins Publikum zu pfeffern. »Ich bewundere ihren Schneid«, sagt Lorenzo nebenher, als er den Rücken der Wasserwanze mit Alkohol einreibt und mit einem Papiertuch Fettreste entfernt. »Sonst würde das Insekt aussehen, als hätte jemand es in Speiseöl getaucht.«
Für diejenigen, die noch nicht das Vergnügen hatten, eine zu treffen: Eine solche Wasserwanze ähnelt einer Kakerlake mit angespanntem Bizeps. Ihre Vorderbeine können zum Zupacken verwendet werden. Sie krallt sich an Fröschen oder anderen Wassertieren in Teichen und Bächen fest, manchmal auch an Füßen von Menschen – daher ihr Spitzname »Zehenbeißer». Weil New Yorker ihre Kakerlaken gerne als Wanzen bezeichnen, präpariert Lorenzo nun eine davon für unsere heutige Lektion, denn sie könnte sich während des Sommers gut verkaufen. »Besonders in New York City nennt man sie Wasserwanzen«, stellt er ein wenig aufgekratzt klar. »Ich glaube, die Leute möchten nicht daran erinnert werden, dass in ihren Apartments fette Kakerlaken leben. Wasserwanzen klingt hübscher, nehme ich an. Und die Leute in Florida nennen sie Palmettowanzen. A rose by any other name, wie es bei Shakespeare heißt …«
Mein Gastgeber ist wie viele Entomologen etwas versponnen. Menschen, die diesen Beruf ausüben, sind genauso absonderlich und vielfältig wie die Insekten, die sie studieren. Lorenzo gilt als besonders ausgefallenes Exemplar, weil er zu gleichen Teilen frech und charmant und im Gegensatz zu vielen anderen auf diesem Fachgebiet ein kompletter Autodidakt ist.
»Ich mache das nicht aus wissenschaftlichen Gründen«, sagt er. Die meisten Fachleute spezialisieren sich auf einen bestimmten Zweig der Entomologie. Ein medizinischer Entomologe findet vielleicht Möglichkeiten, Überträger von Krankheiten wie Malariamoskitos zu bekämpfen. Ein Agrarentomologe entdeckt natürliche Pestizide, die etwas gegen den Bergkiefernkäfer ausrichten können, der den Wald schädigt. »Meine Spezialität ist es«, sagt Lorenzo, »dass ich mich nicht spezialisiere.« Seine Leidenschaft geht über die Ökologie hinaus. Ihm hat es die Schönheit der Insekten angetan.
Seine Faszination begann, als er im Alter von vier Jahren in der Auffahrt seines Freundes in der Bronx einen toten Hirschkäfer fand, der so lang war wie seine Handfläche. »Eines der Erlebnisse, die sich für immer einbrennen.« Als er ihn später seiner Mutter brachte, zeigte sie ihm eine Schachtel, die einen Riesenkäfer enthielt, den sein Vater gesammelt hatte, als er auf einer Militärbasis in Virginia stationiert war. »Mir wurde klar, dass diese Dinger überall sind … von da an wollte ich jeden Käfer der Welt haben. Jedes Mal, wenn ich Käfer sah, bin ich einfach ausgeflippt.«
Über die Jahre blühte und gedieh seine Sammlung, bis sie schließlich den Speckkäfern zum Opfer fiel: »Das ist die große Ironie beim Insektensammeln«, klagt er. »Wenn du deine Insekten nicht fachgerecht verstaust, werden sie von Insekten gefressen.« Wie ärgerlich.3 Eine gute Sammlung vermerkt Datum und Ort des Fangs, also ist es, um Frank Krells Vergleich zu benutzen, so, als wäre einem das Tagebuch von den Motten weggefressen worden. Nachdem seine Insekten sich in Schmutzhäufchen aufgelöst hatten, war Lorenzo entmutigt und besuchte fünf Jahre lang die Kunstschule, bis er von einem Totalausverkauf von Insekten bei einem New Yorker Händler der Butterfly Company hörte. Momentan besitzt er etwa 500 000 Exemplare, die er in einem gesonderten Apartment in Hastings-on-Hudson verwahrt.
Weil sich sein Talent mit der Erfahrung verbindet, Insekten viele Jahre lang in ihrer natürlichen Beschaffenheit beobachtet zu haben, sehen seine Exemplare nun aus, als würden sie jederzeit vom Tisch hüpfen – wären da nicht die sorgfältig gesetzten Nadeln rund um ihr Außenskelett. Man kann ihre Symmetrie und Anatomie einfach nur bewundern.
Oberflächlich betrachtet weisen alle Insektenkörper eine Struktur aus drei Körpersegmenten auf. Von vorn nach hinten: Kopf, Brust, Hinterleib. Das ergibt Sinn, weil das Wort insectum auch »das Eingeschnittene« bedeutet. Drei Beinpaare sind mit der Brust verbunden. Ein Fühlerpaar übernimmt wichtige Funktionen wie Tasten, Riechen und das Registrieren von Vibrationen. Das Atmungssystem besteht aus einem Geflecht von Röhren. Es saugt durch Atemöffnungen am Hinterleib, Stigmen genannt, Luft an. Ich gehe hier nicht ins Detail, täte ich es aber, gerieten wir in ein Universum der Komplexität.4
»Alles fängt mit der Nadel an«, sagt Lorenzo und sticht freihändig eine Nadel durch den massiven Rückenschild der Wasserwanze, das Scutellum genannt wird. Die durchschnittliche Federstahlnadel, der für das Präparieren benutzt wird, hat einen Durchmesser von 0,45 Millimeter. Sie ist mit schwarzer Emaille beschichtet, um Rost zu vermeiden, und trägt einen Kopf aus Nylon. Den Nylonkopf durchzudrücken, erfordert normalerweise keine Kraft, hat man aber eine Vogelspinne mit Brennhaaren vor sich – nadelartige Verteidigungsborsten –, wird es schmerzhaft. Lorenzo hat es am eigenen Leib erfahren müssen. Während er Vogelspinnen in einem Ofen bei fünfundsechzig Grad Celsius für die Präparation trocknete, stieß er ohne Schutzhandschuhe Nadeln in die Pappe und merkte nicht, dass er sich dabei Bruchstücke der Brennhaare in die Haut trieb. Er schüttelt den Kopf. »Zwei Jahre lang hat mein Daumen gejuckt«, sagt er. »Zwei verdammte Jahre!« Er reibt die Spitze seines Daumens. »Sah aus, als wäre da Pfeffer unter meiner Haut von den vielen Haarsplittern.«
Immer mehr Nadeln schmücken die Wasserwanze auf der porösen Styroporplatte. Sie steckt auf einem Stück Papier. Darunter sammelt sich eine Pfütze von Körpersaft.
»Macht mich stinksauer, wenn Leute das gruselig finden«, sagt er und versieht das Insekt rundum mit Nadeln wie ein Messerwerfer. »Du glaubst gar nicht, wie nervig es ist, wenn die Leute hören, dass ich Entomologe bin, und dann mit diesem ›Oh, wie bei Das Schweigen der Lämmer!‹ kommen.« Er wackelt mit dem Kopf.
»Ja«, sagt er sarkastisch, »ich ziehe Frauen die Haut ab.« Wir lachen. Unsere Unterhaltung wendet sich dem Roman The Collector von John Fowles und seiner Verfilmung zu, in dem der Sammler sich Schmetterlinge hält. »Es gibt eine Menge negativer Klischees über Entomologen und vielleicht sogar allgemein über Tierpräparatoren«, sagt er.
»Nicht wahr?«, stimme ich zu, als er die letzten Nadeln um ein Bein herum platziert. »Wahrscheinlich hat das alles mit Norman angefangen.« »Bates«, sagen wir wie aus einem Mund. Ich erzähle ihm von der ungesunden S/M-Beziehung zweier Insektenforscherinnen in The Duke of Burgundy. Er antwortet mit Woman in the Dunes, einer psychosexuellen Romanze, ebenfalls mit einem Insektenforscher als Opfer. Ich glaube, dass die Gesellschaft generell Schwierigkeiten mit Menschen hat, die sich mit toten Dingen beschäftigen. »Die Briten sehen das deutlich anders als die Amerikaner«, sagt Lorenzo und erwähnt einen weiteren Film, der auf A. S. Byatts Roman Angels and Insects basiert und in der viktorianischen Ära spielt. Ein Händler versorgt Englands Upperclass mit Insektensammlungen. Es war zu dieser Zeit, als die Hauptvermittler zwischen Menschen und Insekten nicht nur beantworteten, was ein Insekt ist, sondern die Forschung auch auf das Breitwandformat von Themen und Fragestellungen ausweiteten, das es heute darstellt. Diese Entomophilen legten das Fundament der Entomologie. Dies geschah in Form von Kabinetten. Der berühmte US-Bankier John Lubbock hielt 1856 seine Einschätzung jener Zeit in einem Artikel für das Entomologist’s Annual fest: »Die Gegenwart wurde das Zeitalter der Insekten genannt; dieses Jahrhundert müsste man zumindest das Zeitalter der Sammlungen von Insekten nennen, denn wir haben Sammlungen von fast allem, von Muscheln und ausgestopften Vögeln, von Farnen und Blumen, Gräsern und Münzen, von Autographen und altem Porzellan, von assyrischen Antiquitäten und sogar von Briefmarken.«
Die Insekten wurden also in sogenannten Kuriositätenkabinetten aufbewahrt. Der Evolution Store setzt diese Tradition genauso fort wie der legendäre Pariser Laden Deyrolle, gegründet 1831, der diese Entwicklung nicht nur in Gang setzte, sondern auch seinen Teil dazu beitrug, bisher unbekannte Arten zu beschreiben, wie ihre Namen bis heute verraten. Die privaten Kabinette der Elite wurden nach und nach zu Museen erweitert. Über diejenigen, die darin lediglich eine viktorianische Version der Beanie-Babies-Sammelmanie sehen, rümpft Lubbock ein wenig die Nase, berührt aber einen wichtigen Punkt: »Eine Insektensammlung, die nicht der Forschung dient, ist genauso unnütz wie Bücher, die nicht gelesen werden … Dennoch gäbe es die Entomologie ohne diese Sammlungen kaum … Eine Spezies zu beschreiben, damit sie von anderen Betrachtern wiedererkannt werden kann, ist eine Kunst, die bedeutend schwieriger ist, als man a priori vermuten würde … [und] hätte man es immer so gehalten, wäre uns viel Durcheinander erspart geblieben.«
Und Durcheinander gab es in diesen frühen Zeiten jede Menge.
***
Kritische Beobachtung und korrekte Beschreibung bilden die Grundlage der Insektenforschung. Dazu gehört auch die Aufbereitung der ältesten Informationen über Insekten, die wir haben. Laut der History of Entomology glaubte Plinius der Ältere beispielsweise, dass Zecken keinen Anus haben. Die Frage nach dem Ursprung von Insekten erwies sich ebenfalls als eine harte Nuss. Frühe asiatische Beschreibungen von Glühwürmchen gehen davon aus, sie würden aus »verfaultem Gras« entstehen. Nach dem Franziskanermönch Bartholomeus Anglicus waren Schmetterlinge »kleine Vögel«, aus deren Exkrementen sich Würmer entwickeln. Die ältesten (unbeholfenen) Abbildungen von Insekten finden sich in Form von Holzstichen im Ortus Sanitatis, einer lateinischen naturhistorischen Enzyklopädie aus dem Jahr 1491. Die Darstellung einer Schnecke gleicht hier einer achtbeinigen Nacktschnecke mit einer Kippa auf dem Rücken. Im Jahr 1602 erscheint schließlich das erste Buch, das nur den Insekten gewidmet ist, De Animalibus Insectis.5 Sein Autor, Ulysse Aldrovandi, gilt als Begründer der systematischen Entomologie. Archaisch und dennoch stilvoll, sind die Holzstiche so detailliert, dass man die Insekten eindeutig identifizieren kann – besser jedenfalls als achtbeinige Schnecken. Einiges ist ein wenig aufgehübscht. Die Gänge in einem Bienenstock beispielsweise sehen aus wie die Kombination aus einem schwedischen Hotel mit einer Ameisenkolonie. Die Abbildung vermittelt eine Atmosphäre wie bei M. C. Escher, und man bewegt sich hier deutlich im Bereich der Vermutung.
Noch im siebzehnten Jahrhundert glaubten Philosophen wie Francis Bacon und René Descartes, dass Insekten Verwesungsprozessen entsprängen und sich nicht reproduzieren könnten. Eine »spontane Erzeugung« jedoch wurde von Francesco Redi im Jahr 1668 widerlegt, als er Käfer unter ein Mikroskop legte und herausfand, dass sie sich aus den Eiern von Weibchen entwickelten. (Diese Prototypen eines Mikroskops erhielten den Spitznamen »Flohgläser«.) Seit jener Zeit gibt es wissenschaftliche Illustrationen von Insekten, die mithilfe von mikroskopischen Ansichten hergestellt wurden. Als Nächstes baute Marcello Malpighi die Entomologie zu einem eigenen Wissenschaftsfach aus, indem er die Stadien der Verwandlung des Bombyx-Seidenspinners dokumentierte. In der Beschreibung solcher Lebewesen erhielt nun die Anatomie den Vorrang.
Jan Swammerdam unterschied die Metamorphosen verschiedener Insekten und entwickelte in der Mitte des siebzehnten Jahrhunderts Klassifikationen von Insekten ähnlich denjenigen, die noch heute im Gebrauch sind.
John Ray trug alle taxonomischen Ideen zusammen und formulierte sie 1710 in seiner Arbeit Historia Insectorum in »systematischer Gesamtheit«.
Wenn ich Lorenzo Forcella frage, wen er als den Vater der Entomologie betrachtet, sagt er: »Ich stelle mir vor, dass der erste Entomologe jemand im Amazonas-Dschungel war.« Er bringt mich zu einem gläsernen Schaukasten, der einen Harlekin-Bockkäfer mit langen Fühlern zeigt – ein rotgeflammter Panzer, den die Stämme am Amazonas auf ihren Kriegschilden nachbildeten. Dann zeigt er mir wunderschöne metallische Käfer, die von Stammesmitgliedern zu Halsketten verarbeitet wurden. »Wir reden hier von Zehntausenden von Jahren! Wenn man sich erst einmal darauf einlässt, ist es, als würde man eine Zwiebel häuten.«
Die ersten Spuren eines Insekts finden sich in Form einer Zeichnung auf einem Bisonknochen aus der Zeit um 18 000 v. Chr. Einer unserer Cro-Magnon-Vorfahren hat sie erstellt, und sie zeigt eine Rhaphidophoridae, auch Höhlenschrecke genannt. Die erste Dokumentation eines Zusammentreffens von Mensch und Insekt datiert aus jüngerer Zeit. In einer der spanischen prähistorischen Höhlen fand man die etwa 8000 bis 15 000 Jahre alte verblichene Zeichnung eines »Honigjägers«, der mit einem Bienenschwarm kämpft. Wir können nur hoffen, dass es sich hierbei nicht um eine Todesanzeige handelte.
Um 3100 v. Chr. bestimmte der Begründer von Ägyptens erster Dynastie, König Menes, die Orientalische Hornisse zum Symbol Unterägyptens. Sie »sollte wahrscheinlich die Verbreitung der Angst vor dem mächtigen Monarchen« symbolisieren, wie die History of Entomology aus dem Jahr 1973 schreibt. Der altägyptische Gott Chepre, der den Kopf eines Skarabäus trug, stand für die Schöpfung und die Wiedergeburt und repräsentierte die Sonne, die über das Land zieht. Diese Symbolik bezieht sich auf den Mistkäfer, der seine Eier in eine Mistkugel legt und vor sich herschiebt. Ägyptische Soldaten trugen oft Skarabäusringe, und wenn sie starben und mumifiziert wurden, legte man häufig einen verhüllten Skarabäus auf ihr Herz.
In der Folklore der Cherokee erschafft ein Käfer aus den schlammigen Tiefen des Ozeans die Gesamtheit der Landmassen auf der Erde. Und der Stamm der Cochiti in New Mexico erzählt die Geschichte eines Käfers, der einen Sternenbeutel mit sich herumträgt.6 Versehentlich lässt er dessen Inhalt über den Himmel kullern und erschafft so die Milchstraße. Verschämt neigt er den Kopf, und deswegen blicken die Käfer bis zum heutigen Tag zur Erde.
In der Bibel spielen Insekten eher eine negative Rolle. Wann immer sie ihren Auftritt haben, werden sie mit dem Zorn Gottes verbunden (Heuschreckenplagen beispielsweise).
In der Antike trugen die Frauen in Athen Haarspangen in Form einer Zikade. Griechische Kinder spielten ebenfalls mit Zikaden. Weil man sie gern wie Spielzeug behandelte, legte man sie manchmal sogar in das Grab von Kindern. Um den bösen Blick abzuwenden, wurde eine Heuschrecke aus Eisen auf die Spitze der Akropolis gesetzt. Überlieferungen aus Neuengland des neunzehnten Jahrhunderts zufolge galten Libellen als »Stopfnadeln des Teufels«. Libellen, so hieß es, suchen Kinder auf, die geflucht, gelogen oder im Schlaf gejammert hatten. Kinder wurden davor gewarnt, dass ihnen die Lippen zusammengenäht würden, sollten sie solcherlei Verstöße begangen haben.
Indem er, wie er es nannte, »blutlose Tiere« vom Rest unterschied, gilt Aristoteles weithin als der Erste, der die Entomologie als eigene Wissenschaft betrachtete. Seine Studie Historia animalium aus dem vierten Jahrhundert v. Chr. wurde jedoch bis zur wissenschaftlichen Revolution im Zuge der Renaissance ignoriert, als es plötzlich so viele »Väter« der Entomologie gab, dass sich ein Vaterschaftstest lohnen würde.
Jeder einzelne Studienschwerpunkt scheint mehrere solcher »Väter« zu haben. Manche werden sogar »Mozart« oder »Schubert« der Entomologie genannt oder wegen ihres leidenschaftlich beackerten Interessenfelds als »Homer der Insekten« bezeichnet. Eine äußerst wichtige, aber unterschätzte Figur war die Künstlerin Maria Sibylla Merian, später die »Mutter der biologischen Naturforschung« genannt.7 Von allen aber war Pierre André Latreille, dessen Leben von einem aasfressenden Käfer gerettet wurde, der Faszinierendste. Der Zoologe und Käfernutznießer Latreille wurde 1762 in Brive in Frankreich geboren und geriet an die Spitze der europäischen Entomologie, als er 1827 einen Posten im Französischen Nationalmuseum der Naturgeschichte antrat. Als junger Mann hatte Latreille mit viel Charme und noch mehr leidenschaftlichem Interesse an der Naturkunde schnell Gönner gefunden. Mit Unterstützung höherer Kreise hatte er das Collège de Paris besucht und überall in den Straßen Insekten gejagt, ausgerüstet mit den wichtigsten Werkzeugen, die auch heute noch von Insektenjägern verwendet werden – Netze, Sammlungsdose, Pinzette und Spannbrett.8
Im Jahr 1792 machte Latreille, der inzwischen als »Prinz der Entomologie« bezeichnet wurde, die Bekanntschaft des angesehenen Naturkundlers Jean-Baptiste Lamarck, der als Erster die Spinnentiere von den Insekten unterschied.
Lamarck führte Latreille im Nationalmuseum der Naturgeschichte ein, wo er begann, die dort ausgestellten Insekten zu katalogisieren. Seine Arbeit gab den Anstoß für seinen berühmtesten Beitrag zur Entomologie, Précis des caractères génériques des insectes, disposés dans un ordre naturel (grob übersetzt »Handbuch der allgemeinen Eigenschaften von Insekten in ihrer natürlichen Ordnung«). Veröffentlicht 1796, wurde es zum Maßstab für die Zusammenfassung von Insektengattungen zu Familien. Er baute auf schon vorhandenen Erkenntnissen auf: Ein Däne hatte über die Augen von Insekten geschrieben, ein Holländer über Fühler, ein Schweizer Gentleman über Genitalien; und Carl Linnaeus, ein Schwede, hatte 1735 die zoologische Nomenklatur vorangetrieben.
Nach und nach trugen Naturforscher zusammen, was ein Insekt ausmacht. Latreille nutzte all diese Erkenntnisse und leitete aus dem, was andere Wissenschaftler an verwandtschaftlichen Beziehungen erkannt hatten, seine Ergebnisse ab.
Klassifizierung ist der Ursprung dieser Wissenschaft. Und selbige kam fast in einer Gefängniszelle um.
Als die römisch-katholische Kirche von der Französischen Revolution verdrängt werden sollte, hatte Latreille, der Priester war, es offensichtlich versäumt, dem Staat gegenüber ein Treuegelöbnis abzulegen. Nachdem er ein Jahr lang in Bordeaux inhaftiert war, wurde er zum Tod durch Ertrinken verurteilt. In seiner Gefängniszelle entdeckte er einen Necrobia ruficollis, der wie ein Aasgeier auf seinen Tod zu warten schien. Der Käfer, der die Farbe von Schinken hatte, war ein Fleischfresser und bevorzugte verwesende Kadaver.
Tage später fand ein Arzt den Prinzen der Entomologie auf allen vieren, hektisch und »gedankenverloren« diesen Käfer beobachtend, wie der Zoologe David Damkaer schreibt. Der Arzt brachte das neu entdeckte Insekten-Exemplar zu einem Freund, dem fünfzehn Jahre alten Bory de Saint-Vincent, einem zukünftigen Naturkundler. Der kannte Latreille und seine wichtigen Beiträge auf diesem Feld und wusste auch, dass dieser spezielle Käfer bisher unbekannt war. Also sandte der inhaftierte Entomologe einen Boten: »Du sagst [Bory], dass ich der Abbé Latreille bin und in Guyana sterben werde, bevor ich mein Examen des Genres de Fabricius veröffentlicht habe.« Borys Vater nutzte seine politischen Beziehungen, und Latreille wurde auf Kaution als »Genesender« entlassen, unter der Bedingung, dass man ihn zurückschicke, sobald die französischen Autoritäten dazu aufforderten. Seine Zellengenossen wurden bald darauf exekutiert. Heute zeigt der Obelisk auf Latreilles Grab auf dem Friedhof Père Lachaise an seinem Sockel das Relief eines Necrobia ruficollis mit der Aufschrift »Latreilles Retter«.
Diesem kleinen Kerl ist es zu verdanken, dass unsere taxonomische Linse sich im Laufe des folgenden Jahrhunderts geschärft hat.
Die große Epoche der Entomologie begann im Jahr 1826. Mithilfe von Latreilles klassifikatorischem System vollendeten die englischen Entomologen William Kirby und William Spence ihren vierbändigen enzyklopädischen Meilenstein An Introduction to Entomology. Ihre Beschreibung der physiologischen und anatomischen Funktionsweisen von Insekten haben die Zeiten überdauert und werden noch heute auf dem Gebiet der Gerichtsmedizin, Seuchenkontrolle, Pharmazie und Waffenentwicklung genutzt. Die minutiöse Beschreibung nahm zehn Jahre in Anspruch und muss für schlimme Migräneanfälle gesorgt haben. Wie William Spence lamentierte: »Als wir uns an Entomology wagten, trafen wir auf das übelste Durcheinander. Dieselben Namen für unterschiedliche Teile und unterschiedliche Namen für dieselben Teile, wichtige Teile ohne Namen etc., etc., so dass für zwei Zeilen manchmal anatomische Untersuchungen nötig sind, die einen ganzen Tag in Anspruch nehmen.« Ziel der beiden Williams beim Verfassen von An Introduction to Entomology war es, »einen attraktiven Zugang für Wirtschaft und Naturkunde« zu schaffen, um »experimentelle Landwirte und Gärtner« anzuregen, mehr über den Nutzen von Insekten zu lernen. In Bugs and the Victorians schreibt der Autor und Historiker J. F. M. Clark über ihre Absichten: »Insekten … lieferten Ideen für den Fortschritt in Kunst und Produktion. Bienen und Ameisen waren Modellarchitekten; der Kokon von Insekten veranschaulichte die Technik und Kunstfertigkeit erfahrener Spitzenklöpplerinnen; und die Wespe demonstrierte die notwendigen Fähigkeiten für die Herstellung von Papier.«
Wir werden später noch sehen, dass William Kirby und William Spence ganz richtiglagen. Auf dieser tragfähigen Grundlage und mithilfe von Sammlern, die überall im Land loszogen, wurde Reverend Kirby zum Vater der britischen Entomologie, und so gründete sich im Jahr 1833 die Royal Entomological Society. Man traf sich in der Thatched House Tavern in London und trug stolz das Abzeichen der Gesellschaft, einen Fächerflügler (Stylops kirbyi)9, der nach ihrem Ehrenpräsidenten benannt war.
Genau wie ich wollte Kirby wissen, welche Geheimnisse die Insekten noch bergen. »Wir sehen und spüren das Unheil, das diese Kreaturen anrichten«, schrieb der weise Reverend, »aber wir sind uns nicht im Klaren darüber, welche Wohltaten sie uns erweisen, die wahrscheinlich viel bedeutsamer sind.«
Die Erkenntnis, wie viel Gutes Insekten tun, kam recht spät, Ende des 20. und im frühen 21. Jahrhundert. Es bedurfte allerdings einiger landwirtschaftlicher Katastrophen, um dorthin zu gelangen. Wegen des Befalls mit Mehltau, der in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts die große französische Schädlingskatastrophe ausgelöst hatte und fast 6,2 Millionen Acres Weinanbaufläche zerstörte, wandte sich die Wissenschaft den entomologischen Erkenntnissen der letzten Jahrhunderte zu. Ab 1854 begannen Staaten Entomologen einzusetzen, der Erste von ihnen war Asa Fitch aus New York. Der Kongress gründete 1876 das, was später zum Bureau of Entomology wurde. Als die Weltbevölkerung wuchs, betrachteten die Landwirte vereinzelte Missernten nicht mehr länger als Zufall.
Um das Jahr 1888 herum stellten Albert Koebele und W. G. Klee die Vorzüge einer biologischen Seuchenkontrolle durch die parasitäre Fliege Cryptochaetum und den Marienkäfer vor, die die Zitrusindustrie von Kalifornien vor Schildläusen rettete. Wie ein Journalist 1919 vermerkte, wurde die Entomologie nicht mehr länger als »harmloses und ein wenig lächerliches Hobby angesehen«. Im Schnellvorlauf ins Jahr 1947: Die USA nutzten erbeutete deutsche V-2-Raketen, um die ersten Tiere in den Weltraum zu schießen – Fruchtfliegen.
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Heutzutage wird der Einfluss von Insekten auf die Ökologie in einer Vielzahl wissenschaftlicher Studien, in Nachrichtenmedien und, besonders wichtig, in entomologischen Gesellschaften behandelt. Etwa zweiundzwanzig solcher Gruppierungen haben sich in den vergangenen rund hundert Jahren gebildet. Diese Vereinigungen werden hauptsächlich von geselligen Typen besucht, die sich mit anderen Käferliebhabern austauschen wollen. Und dennoch können sich diese Gruppen untereinander manchmal geradezu bösartig verhalten.
Im Jahr 1884 gegründet, hat die Entomological Society of Washington (ESW) eine Reihe von Kapazitäten hervorgebracht, wie den Insektizidbefürworter L. O. Howard und so unterhaltsame Mitglieder wie den deutschen Flüchtling und Käferfanatiker Henry Ulke – ein Mann, der Lincoln-Porträts malen und ebenso gut eine Versammlung damit traktieren konnte, dass er Wagner-Musik auf dem Klavier spielte. Der Zweck dieser Gesellschaften? Kontakte pflegen und, unter anderem, Kakerlakengeschichten austauschen. (In einer ging es um eine nikotinsüchtige Kakerlake, wie Howard gern vergnügt berichtete.) Zu den frühen Mythen gehört die Fehde zweier ihrer Präsidenten, dem Schmetterlingsforscher John B. Smith und seinem »Rivalen« Harrison G. Dyar. Obwohl sie gemeinsam an Untersuchungen gearbeitet hatten, entstand um 1890 eine »gegenseitige Abneigung«, wie der ESW-Historiker T. J. Spilman schreibt, bezeugt durch die wissenschaftlichen Namen, die sie ihren jeweiligen Insekten gaben. Um Smith ans Bein zu pinkeln, nannte Dyar »eine besonders fette und hässliche Motte smithiformis«. Laut Spilman parierte Smith dies, indem er eine neue Mottengattung mit einer scatologischen Anspielung versah. Seitdem laufen die Dyaria-Motten rund um die Welt Amok (Dyaria – Diarrhöe).10
Wenn es darum ging, sich die Köpfe einzuschlagen, war kein Mitglied der ESW unverblümter als Alexandre Arsène Girault. Hin und wieder schleichen sich in seine wissenschaftlichen Arbeiten Meinungsfreude und Poesie ein. In einem Papier aus den frühen Nullerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts zahlt er es wegen einer Auseinandersetzung über Schlupfwespen dem ESW-Präsidenten verbal heim:
Von karger Anmut angeweht;
Ah, komm, du feiges, hasenfüßiges Luder,
Süßholz raspelnder, salbungsvoller Bruder
Sieh, was dir auf der Stirne steht!
Ich nehme an, hier handelt es sich um so etwas wie die ausfallenden Kommentare, die wir heutzutage aus dem Internet kennen, Stichwort: Shitstorm. Lorenzo erzählt mir von der Website Entomo-L. Dieses LISTSERV-Diskussionsforum mit seinem Design, das in den Neunzigern stecken geblieben ist, dient als Plattform für entomologische Plaudereien, und obwohl es selten vorkommt, entwickeln sich manchmal Debatten zwischen Wissenschaftlern und Schädlingsbekämpfern. »Wenn die zusammen in einem Raum wären«, sagt Lorenzo, »würden sie sich gegenseitig die Köpfe einschlagen.«
Doch zu der Zeit, als ich mich immer wieder mal durch Entomo-L gescrollt habe, arbeitete das Forum so, wie entomologische Gesellschaften von Anfang an gearbeitet haben: Die Mitglieder helfen einander bei ihren Untersuchungen, verkaufen Exemplare ihrer Sammlungen und verleihen überzählige Fliegen von ihrer Exkursion nach Uganda. Die meisten Fragen dieser Profis und Hobbysammler drehen sich um die Bestimmung von Insekten. Die Nutzer von Entomo-L stellen gerne ihre Fachkenntnisse zur Verfügung, wohingegen einige Gesellschaften – wie eine Umfrage im Jahr 1987 belegte – Amateuren die kalte Schulter zeigten.
Wenn Sie allgemeine Fragen zur Identifizierung von (amerikanischen) Insekten haben, empfehle ich die Michigan State University Diagnostic Services. Deren Experten sind so etwas wie Internetärzte für taxonomische Fragen und werden Ihnen sagen, dass die geheimnisvolle Biene in ihrem Hinterhof sticht. Zur Blütezeit der Insektenkunde im neunzehnten Jahrhundert entschieden die Taxonomen, dass Beobachtung allein nicht genügt. Äußere Merkmale und Farbgebung bei, sagen wir, Schmetterlingsflügeln können schnell in die Irre führen – die gleichen vermaledeiten Patzer, die den beiden Williams unterliefen, als sie An Introduction to Entomology schrieben. Wie der Insektenforscher der USDA, F. Christian Thompson, es ausdrückt: »Wissenschaftliche Namen sind Hypothesen, keine bewiesenen Fakten.« Und deswegen zeigt Lorenzo – der auf seinem Stuhl sitzt und die vierte Nadel neben eine Tropische Riesenameise setzt, die eine Nebenrolle in Hellraiser spielen könnte, auf einen Kasten, der mit dreißig fast identischen Schmetterlingen gefüllt ist. Mit bloßem Auge kann man sie nicht unterscheiden, alle weisen schwarze und orange Merkmale auf. Tatsächlich aber hat sich jeder Schmetterling aus ganz unterschiedlich aussehenden Raupen entwickelt. Zur Gattung Heliconius gehörend, profitieren sie von einer Überlebensstrategie, die als Müllersche Mimikry bekannt ist – das verblüffende Zusammenspiel von Supergenen, welche die Variationen von Farbmustern kontrollieren, um sie in die Lage zu versetzen, giftige Schmetterlinge nachzuahmen. So wehren sich diese Kerle gegen Feinde. Eine genauere Betrachtung der Geschlechtsorgane von Schmetterlingen bringt uns auf die Spur, um welche Spezies es sich jeweils handelt. Aber die fünf verschiedenen Nomenklaturcodes, die Taxonomen zur Einordnung benutzen, können einen kirre machen. »Wenn man sich die Publikationen der letzten zwanzig Jahre anschaut«, sagt Lorenzo, »sieht man die unterschiedlichsten Klassifizierungsstufen. Und sie schieben die Sachen weiterhin von hier nach da, weil sie sich nicht zu hundert Prozent sicher sind, wie alles ineinanderspielt.«
Inzwischen ist die DNA-Klassifikation dabei, das zu ändern. Der kanadische Biologe Paul Herbert hat im Jahr 2003 ein allgemeines Datensystem namens Barcode of Life geschaffen. Indem sie genetische Proben von allen Organismen der Welt nehmen, haben Wissenschaftler, die an diesem Projekt teilnehmen, Strichcodes für 500 000 Arten erstellt. Als ich kürzlich auf der Suche nach frisch codierten Spezies war, entdeckte ich die Molekularanalyse von Buckelfliegen, durchgeführt von schwedischen Biologen. Ihre Befunde zeigten, dass zwei Arten, die 1920 als gleich beschrieben wurden, vollkommen unterschiedlich waren. Für Sie und mich sind das vielleicht Peanuts, aber für die entomologische Forschung sind die Auswirkungen des DNA-Barcodings erheblich. Sogar Lorenzo, der nicht allzu viel Zeit mit Klassifikation verschwendet, findet das aufregend.
»Schon seit Anbeginn der Entomologie hört sich das so an: ›Ach, ich kann sehen, dass die Elytren hier ein ganz klein wenig anders aussehen‹«, sagt er mit einem versnobten Akzent. »›Wir sollten das als neue Art deklarieren!‹« (Elytren sind Deckflügel, wie sie beispielsweise Marienkäfer und andere Käfer tragen.)
Die DNA-Barcodes werden jedoch manche bisherigen Bestimmungen auf den Kopf stellen oder sie zumindest fein säuberlich zutreffender ordnen.
Das Natural History Museum in London hat sich ebenfalls dem digitalen Zeitalter geöffnet. Wissenschaftler haben dort begonnen, ihre etwa achtzig Millionen Exemplare der letzten zweihundertfünfzig Jahre mit QR-Codes zu versehen. Dazu gibt es eine öffentlich zugängliche Datenbank, die das Verständnis für die Veränderung der Arten in Zukunft sicherstellen wird. Beim Anblick eines solchen Systems würden die beiden Williams und die gesamte Ahnenreihe der »Väter« der Entomologie vor Neid platzen.
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Wieder in Lorenzos Insektenabteilung in Soho, lädt er mich ein, ihn in Hastings-on-Hudson zu besuchen, anderthalb Stunden nördlich von dem Haus in Brooklyn, wo ich bei Freunden übernachte. Am Vatertag leitet er dort eine Käfer-Expedition durch den Wald. Natürlich sage ich zu. Vielleicht ist es ja eine gute Gelegenheit, ein paar angehende Entomologen kennenzulernen.
Bizarr und komplex, wie sie sind, können Insekten uns dazu bringen, ebenso zu agieren. Nehmen Sie zum Beispiel im 18. Jahrhundert den »passionierten Sammler« Pierre DeJean. Wie Carl Lindroth in seiner History of Entomology schreibt, diente er in Napoleons Armee, und man erzählt sich, dass er mitten in einem Angriff vom Pferd sprang, weil er einen Cebrio sah. Nachdem er den Käfer gefangen hatte, verstaute er ihn in seinem Helm und zog weiter in die Schlacht. Am Ende war er begeistert, dass sein »kostbarer Cebrio heil war«, obwohl der Helm doch arg mitgenommen war. Die Schlacht haben sie übrigens gewonnen.
Dann gibt es da Charles Darwin. Ein Student zeichnete den großen Fan der Käfer (Coleoptera) auf einem solchen reitend, wie ein kleiner Junge auf einem Pony. Stieß Darwin mit Wein an, rief er oft: »Floreat Entomologia!«, was so viel heißt wie »Möge die Entomologie blühen!«. Einmal benutzte er im Versuch, einen vorbeihuschenden Käfer zu fangen, seinen Mund als Falle, weil er keine Hand frei hatte. Er spuckte ihn allerdings aus, als »dieser eine extrem ätzende Flüssigkeit ausschied«.
Die Dame Miriam Rothschild war bis zu ihrem Tod im Alter von sechsundneunzig Jahren im Jahr 2005 von Insekten fasziniert. Die Naturforscherin aus der berühmten Bankiersfamilie hegte eine große Leidenschaft für kleine Dinge, insbesondere für Flöhe. (Nicht verwunderlich. Ihr Vater, ein Entomologe, identifizierte die Rattenflöhe, Xenopsylla cheopsi, als Auslöser der Beulenpest.) Als komplette Autodidaktin wurde sie eine Expertin für diese Wunder der Natur. Beispielsweise filmte sie ein nur 1,5 Millimeter großes Insekt mit einer Hochgeschwindigkeitskamera, die 3500 Bilder pro Sekunde aufnahm, und entdeckte so zusammen mit einem Kollegen, dass der machtvolle Sprung dieser Flöhe auf ihre Katze eine g-Kraft von 400 g entwickeln kann – »zwanzig Mal so viel wie die Beschleunigung einer Mondrakete bei Wiedereintritt in die Erdatmosphäre«.
David Rockefeller, ein anderer reicher Entomophiler, besaß 90 000 Käfer. Seit er sieben Jahre alt war, liebte er sie abgöttisch. Auch das Topmodel Claudia Schiffer hockte als Kind oft im Matsch auf der Suche nach Insekten, insbesondere aber nach Spinnentieren. Ihre Liebe zu wirbellosen Landtieren zeigt sich auch an den Gemälden, die bei ihr an der Wand hängen, und spiegelt sich in den Spinnweb-Designs ihrer Strickwarenkollektion. Ich will darauf hinaus, dass uns unsere kindliche Faszination für leicht gruselige Krabbeltiere im Erwachsenenalter etwas wunderlich macht. Bei den genannten Personen ist das zwar nicht der Fall, aber wenn man die Beliebtheit von Naturdokumentationen und YouTube-Videos als Anhaltspunkt nimmt, dann scheinen viele von uns immer noch ziemlich im Bann der Insekten zu stehen.
Der ungewöhnlichste Hobbyforscher, den ich getroffen habe, ist ein heftig tätowierter Mechaniker, der während siebenundzwanzig seiner bisher fünfundvierzig Berufsjahre in einer Wurstfabrik Nachtdienst schob. Der Mann aus Wisconsin, Dan Capps, macht die Nachtschicht, damit er die Tage frei hat, um Insekten zu sammeln und seine mehr als dreitausend selbstgebauten Sammelkästen zu füllen, jeder von ihnen etwa einen Meter lang. »Ich muss zugeben, dass das Sammeln fast zur Sucht wurde«, sagt mir der Sechzigjährige am Telefon. »Kann sein, dass ich alleine schon an der Menge Paradichlorbenzol sterben werde, der ich bislang ausgesetzt war.« Die Erwähnung des Begasungsmittels ist sicher nicht ganz unbegründet.11
In den Setzkästen ist die ganze Geschichte seines Lebens festgehalten. Capps hat Tausende Briefe an Insektenhändler und andere Hobbysammler geschrieben, deren Adressen er im Naturalist’s Dictionary gefunden hat, dem Buch, das schon weit vor dem Onlinehandel in Gebrauch war. Seine Korrespondenz reicht bis nach Deutschland, Japan und Australien. Der Austausch mit dem Natural History Museum in London hat ihm einen Ritterfalter aus dem Jahr 1874 eingebracht, und in einem Pariser Auktionshaus erbeutete er einen Rosenkäfer (Mecynorhina oberthuri), »gefunden auf nur einer Seite eines Berges in Tansania«, der heute etwa 20 000 US-Dollar wert wäre.
Typen wie Capps sind selten. Am Telefon hört er sich so entspannt an wie der Radiomoderator eines Bildungsprogramms. Aber ein Foto von ihm aus dem Jahr 1969 könnte genauso gut ein Szenenfoto aus Easy Rider sein. »Früher einmal war ich das Ebenbild von Charles Manson«, scherzt er, was mich wieder an Lorenzos Beteuerung, kein Serienkiller zu sein, zweifeln lässt. Capps sah aus wie ein Biker und ließ sich einen »übel aussehenden« Bart stehen. Die tätowierten Käfer auf seinem Arm sind ein fleischliches Insektarium der Erinnerung. Man sieht sie nur, wenn er ein Muskelshirt anzieht, wie die Motorradfreaks es gerne tragen. Er erklärt, dass jedes Einzelne seiner tätowierten Insekten eine besondere Bedeutung für ihn hat: Odysseusfalter, Herkuleskäfer und Gekrönter Zipfelfalter, Östlicher Tigerschwalbenschwanz, der Falter Agrius und die australische Libelle sind nur einige Beispiele.
Hobbyfreunde aus verschiedensten Ländern besuchen ihn in seiner begehbaren Wunderkammer mit ihren Schaukästen vom Boden bis zur Decke. »Das hier ist ein Denkmal für die Toleranz meiner Exfrau«, sagt er und fügt widerstrebend hinzu, dass seine Obsession wohl auch zur Scheidung beigetragen hat. »Ich habe mich immer sehr darum bemüht, sie und die Opfer, die sie gebracht hat, indem sie mir so viel Zeit für mein Hobby ließ, anzuerkennen.«
Unter anderem deswegen glaubt er, dass es »verdammt selbstsüchtig wäre«, seine Sammlung im Untergeschoss zu verstecken. Also hat er die letzten dreißig Jahre damit verbracht, seinen Trailer mit den Kästen seiner Sammlung vollzupacken und damit durch Schulen, Einkaufszentren und Bildungseinrichtungen des Mittleren Westens zu ziehen, von Los Angeles bis zu Floridas Epcot Center. Er sucht ständig nach neuen Gelegenheiten, seine Schätze zu zeigen, obwohl es nicht genügend Geld einbringt, um seinen Job an der Wurstschneidemaschine an den Nagel zu hängen. Capps hofft, dass sein Sohn Jeff die Sammlung eines Tages fortführen wird, damit sie ihre Betrachter auch weiterhin faszinieren kann. »Das Hobby hat mir eine Menge Lebensfreude gebracht«, sagt er.
Seine größte Leistung ist es, den Guinness-Weltrekord für das Grillenweitspucken zu halten – ungefähr zehn Meter. Der Trick ist nicht, wie Sie vielleicht denken, die Spucke. Die gebogene Zunge stellt eine Art »Spiraleffekt« her, wie er einem Reporter erzählte, und dann richtet man den Kopf wie eine Kanone auf das Ziel aus. Im Rahmen seiner Bemühungen, den ökologischen Nutzen von Insekten bekannt zu machen, bat das St. Louis Science Center ihn, anlässlich der Eröffnung eines IMAX-Kinos vor Publikum Grillen zu spucken. Um Tickets zu gewinnen, kämpften die Kids mit ihm Mann gegen Mann. Das war, wie er sagte, wahrscheinlich das erste Mal, dass Mütter ihre Kinder ermunterten, Grillen in den Mund zu nehmen. All das, um Jugendliche zum Nachdenken anzuregen und sie dazu zu bringen, ihre Einstellungen zu überdenken. »Viele Insekten leben nicht sehr lange«, sagt er abschließend. »Ihre Schönheit kann aber unendlich lange erhalten werden, und das ist mir den Aufwand wert. Außerdem bereichert es mein Leben, und ich glaube, es bereichert ihr Leben ebenfalls.«
***
Die Tunnelausfahrt Nr. 22 der Grand Central Station gibt die Aussicht auf New Yorks Stadtlandschaft frei. Der Zug tuckert eine Weile Richtung Norden weiter, bis sich entlang des Hudson Rivers der Blick zu den üppig bewachsenen New Jersey Palisades öffnet. Sie sehen aus wie eine große dschungelüberwucherte Chinesische Mauer. Immer wieder geht es an verlassenen Fabriken vorbei, während der Zug rhythmisch schaukelt und sein ka-ling, ka-ling wie den metallischen Beat eines Roboterherzens ertönen lässt.
Ich komme auf dem Bahnsteig von Hastings-on-Hudson an. Mit seinen sonnenverwöhnten Holzhäusern und Geschäften, den sanft geschwungenen Hochspannungsleitungen und einem Martinshorn, dass einen Einsatz der Freiwilligen Feuerwehr ankündigt, ist Hastings für den Titel »Dorf des Jahres« wie geschaffen. Ein kleiner Marsch einen steilen Hügel hinauf bringt mich zum Apartment von Lorenzo, der gerade eine Schüssel mit warmem Apfelmus verdrückt. Es ist ein schummriges, nicht kuratiertes Museum mit Lunamotten, Fotos von Außerirdischen, Zeitungsausschnitten und eingefangenen Käfern, die sich an der Klaue eines Hirsches gütlich tun (für den Evolution Store). Ganz besonders mag ich das Post-it mit der Aufschrift INSEKTEN IM OFEN.
Bevor wir zur heutigen Expedition ausrücken, machen wir bei seinem zweiten Apartment Halt. Seine Cornell-Schubladen und Aufbewahrungsboxen aus Pappe enthalten ungefähr 500 000 Exemplare für seinen Insektenhandel namens God of Insects, den er nebenher führt. Kescher mit ihren Fangnetzen lehnen am Türdurchgang wie Angelruten. Lorenzo greift sich ein verschlissenes Exemplar, und wir treten hinaus in einen Nachmittag mit achtzig Prozent Luftfeuchtigkeit. Schweißperlen sammeln sich auf meiner Kopfhaut, und ich ächze hörbar. »Herzlich willkommen in Vietnam, was?«, lächelt Lorenzo, während er den Holzstiel seines Insektennetzes als Wanderstab benutzt. An der Hillside Elementary School treffen wir eine bunte Gruppe aus zweiundzwanzig Kindern und Eltern. Lorenzo ist baff, wie viele gekommen sind. Ein älterer New-England-Gentleman mit brav gescheiteltem Haar namens Stew Wisenberg erzählt mir, dass er seit Pfadfinderzeiten keine Insekten mehr gejagt hat, erinnert sich aber noch an die Tipps der Zeitschrift Boy’s Life. Alle Kids hier sind sichtlich aufgeregt.
»Wir fangen Käääääfer!!«, jauchzt ein Junge mit Basecap und macht auf Anführer.