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Die Erde und ihre Mondkolonie sind dem Untergang nahe. Weder irdische Militärs noch Politiker haben diesen Krieg ausgelöst, sondern der fanatische Beobachter des Galaktischen Rates: Dugal Rahyr sieht in der Erdbevölkerung eine unmittelbare Gefahr für die galaktische Zivilisation. Er befürchtet kriegerische Verwicklungen und flieht. Ferngelenkte Projektile überfliegen aus dem Beobachtungsschiff der Galaktiker die irdischen Radargürtel und lösen das atomare Inferno aus. Nibloc Layc, Rahyrs Kollege, versucht das Geschehen aufzuhalten, aber der Atomtod ist bereits entfesselt. Der Planet stirbt im nuklearen Holocaust. Danach hilft Nibloc der verbliebenen Besatzung der Mondstation, denn er will verhindern, dass die einzigen Zeugen des Untergangs sterben. Er macht sich zum Anwalt der Menschheit und lässt sämtliche Vorräte, Maschinen und Roboter seines Sternenschiffes ausladen und einen Brief an die Lunatier übergeben. Dann fliegt Nibloc Layc ab, um dem Galaktischen Rat Bericht zu erstatten. Der Atomtod hat nur wenige Landschaften und Menschen verschont. Zögernd regt sich neues Leben auf der Erde. Mutationen bevölkern die Zonen mit hoher Sekundärstrahlung. In den Kraterwüsten ist Leben unmöglich. Unter der Asche des Planeten schwelt noch Glut; die Sucher des Feuers wollen sie entfachen und den Schuldigen des planetaren Desasters stellen … Der Doppelband der Heftserie TERRA-Bände 384 und 385 – nach Ideen von G. M. Schelwokat im Jahr 1965 erstmals veröffentlicht und als Taschenbuch der Reihe UTOPIA CLASSIC 1986 wieder aufgelegt, wurde in den Jahren 2007/08 für die Ausgabe des Mohlberg Verlags mit gebührlicher Anhänglichkeit an den ursprünglichen Text stilistisch stark bearbeitet und neu eingerichtet und für die E-Book-Version 2011 vom Autor erneut durchgesehen.
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Seitenzahl: 294
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PLANET
IN
© Copyright Erben Hanns Kneifel
© Copyright 2016 der eBook-Ausgabe bei Verlag Peter Hopf, Petershagen
www.verlag-peter-hopf.de
Cover: © Spectral-Design – Fotolia.com
ISBN ePub 978-3-86305-229-4
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Die in diesem Roman geschilderten Ereignisse sind rein fiktiv.
Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Begebenheiten, mit lebenden oder verstorbenen Personen wäre rein zufällig und unbeabsichtigt.
Der Doppelband der Heftserie TERRA-Bände 384 und 385 – nach Ideen von G. M. Schelwokat im Jahr 1965 erstmals veröffentlicht und als Taschenbuch der Reihe UTOPIA CLASSIC, kaum bearbeitet, 1986 wieder aufgelegt, wurde in den Jahren 2007/08 für die Ausgabe des Mohlberg Verlags mit gebührlicher Anhänglichkeit an den ursprünglichen Text stilistisch stark bearbeitet und neu eingerichtet und für die E-Book-Version Anno 2011 erneut durchgesehen.
»Der größte Missbrauch ist, wenn von der Macht
sich das Gewissen trennt.«
William Shakespeare (engl. Dichter – 1564 bis 1616)
Die junge Frau, siebenundzwanzig Jahre alt und ziemlich hübsch, saß vor dem gekrümmten Fenster der Nachrichtenkuppel und blickte hinaus, ohne zu registrieren, was ihre Augen erfassten. Caroline Mauning wurde überall nur Carol genannt; sie war Erste Nachrichtentechnikerin. Hinter der konkaven Luke der Kuppel erstreckte sich eine unfassbare, von der Schönheit absoluter Leblosigkeit erfüllte schwarze Wüste. Der Mond hatte Erdlicht, und tiefschwarze Schatten streckten sich über die dunkelbraunen und grauen Flächen des Kraters Graham.
In achtundneunzig von hundert Fällen trägt ein Mann die Schuld, wenn ein Mädchen deprimiert ist. So auch hier. Carol verwünschte sich zum hundertsten Mal, dass sie erstens Crouden kennen gelernt und zweitens ihn nicht eher durchschaut hatte und drittens mit ihm zusammen hierher geflogen war. Jetzt war es zu spät, darüber zu grübeln – trotzdem tat sie es.
Draußen, über dem Ringwall des Kraters Graham, leuchtete die grünblaue Vollkugel der Erde. Der Krater, dessen rund 100 000 Quadratkilometer Umgebung dem Meer der Gefahren angehörten, war nichts anderes als eine ringförmige Aufschüttung aus Urgestein. Mitten in dem kleinen Ring lag die irdische Mondstation – fast unsichtbar und zu vielen Teilen in einen Bimssteinfelsen eingeschnitten. Nur die Kuppeln, die sich oberhalb der Mondoberfläche befanden, konnte man mit starken Refraktoren von der Erde sichten, und auch nur dann, wenn ihre Schatten sie hervorhoben.
Die Station war angelegt wie ein Rechteck, das nur zu drei Vierteln ausgefüllt war. Die Gänge und Kuppeln boten, nach einem fast genialen Plan aneinandergereiht und miteinander verbunden, dieses Bild. Es gab zehn Kuppeln unterschiedlicher Größe. Der Rest bestand aus einem mächtigen Teleskop, einer ausgedehnten Funkmastanlage, Sonnenspiegeln und zahlreichen Schleusen, Rampen und kleineren, halb in den Mond eingegrabenen Schuppen und Dächern. Aber das alles sah Carol nicht.
Sie starrte blicklos in die Einsamkeit hinaus, hinter deren Horizont die Berge der Wallebene Cleomedes aufragten. Die zerklüfteten Gipfel waren im Nordosten unterbrochen durch den Einschlag eines Meteors, der vor Jahrmillionen niedergegangen sein mochte und den Krater Talles hinterlassen hatte. Carols Problem war, wie es schien, nicht zu lösen. Wenn sie ihr bisheriges Leben an sich vorüberziehen ließ, passte der Gegenstand ihrer schwermütigen Betrachtungen absolut nicht in die Linie, die sie sich vor neun Jahren errechnet hatte. Aber mit Menschen konnte man nicht rechnen – man verkalkulierte sich zu häufig. Auch mit Crouden hatte Carol sich erbärmlich verkalkuliert.
Er war tüchtig, ehrgeizig, sah sehr gut aus und war ihr erster Liebhaber gewesen, der erste Mann in ihrem Leben, korrigierte sie ihre Gedanken. Es ist nicht schwer, ein Mädchen restlos an sich zu binden, wenn man Unerfahrenheit, Verliebtheit und jene stille Bewunderung ausnützt, die jede Frau – auch wenn sie kritisch veranlagt ist – dem Manne ihrer Wahl zubilligt. Nicht nur das; Crouden war ein geschickter Taktiker. Aber – unter der polierten Oberfläche verbargen sich das Herz und der Verstand eines mittelmäßigen Buchhalters. Ohne Phantasie, ohne diese innere Beweglichkeit, die andere Menschen Romane schreiben, Bilder malen oder irgendein anderes Hobby treiben lässt – was Crouden konnte, war zwar nicht wenig, aber nicht genug.
Und genau das war es, was Carol wütend auf sich selbst machte; deswegen hasste sie ihre eigene Schwäche. Es war diejenige einer Frau, die einem Manne verfallen ist und selbst – bis auf wenige Minuten, in denen der Verstand nicht mehr funktionierte – nicht weiß, weswegen sie diesen Mann nicht wie eine Rakete in den Weltraum schoss.
Die automatische Kamera neben der linken Hand Carols machte »Klick«, schwieg dann und klickte wieder. Auf den schmalen Filmstreifen würden jene Bilder gebannt, die ein Schlepper draußen auf der Mondoberfläche machte und hierher funkte. Carol stand mit dem Schlepper in ständiger Funkverbindung, aber sprach nicht. Nur die Bilder kamen an, wurden aufgenommen und verschwanden wieder, machten anderen Platz.
Ein anderes Gerät schnurrte sanft.
»Hier Elf. Hast du etwas für unseren Routinebericht, Carol?«
Die Stimme gehörte zu Nummer Elf – jeder der vierzehn verschiedenfarbigen Raumanzüge der Stationsbesatzung trug eine Nummer auf Brust und Rücken. Nummer Elf war die Zweite Nachrichtentechnikerin, Corinne Scott. Corry, wie sie hier gerufen wurde, eine sechsundzwanzigjährige Engländerin, saß in der Funkkuppel und stellte die Sendung zusammen, die zweimal täglich zur Erde gestrahlt wurde.
»Nein, Corry – nichts da. Young und Belin fahren mit dem Schlepper im Crisium Patrouille. Sie haben bis jetzt nichts gefunden, was bemerkenswert wäre.«
»Danke«, sagte Corinne Scott und schaltete ab.
Man hatte auf der Erde rund ein halbes Menschenalter Zeit gehabt, diese Station zu planen. Von den Einzelteilen der Ausrüstung bis zum Typ der menschlichen Besatzung war jedes Ding nur Teil einer gigantischen Rechnung, die jetzt langsam aufging. Die Raketen, die man jede Woche hier hinaufschoss, waren nicht nur als Frachtraum zu gebrauchen, sondern konnten restlos zu anderen Maschinen oder zu Dingen umgebaut werden, die der Station hier weiterhalfen.
Die elektronischen Steuergeräte wurden nach einem planvollen Puzzlespiel wieder zu Funkgeräten oder anderen Instrumenten zusammengebaut. Die Tanks – gereinigt und mit anderen Anschlüssen versehen – konnten, in den Mondboden eingebettet, als Vorratsbehälter für Sauerstoff, Wasser, Säuren oder Laugen benutzt werden. Die Leitungen blieben, was sie waren, das Metall der Raketenwände wurde von den Maschinen der Technikergruppe umgeformt und ergab Traktordächer, Schuppen oder luftdichte Türen. Man konnte jede Schraube brauchen – alles war wie ein riesiger Metallbaukasten genormt und aufeinander abgestimmt. Erstaunlich, dachte Carol. Erstaunlich war, dass die Station erst knappe sechs Wochen hier stand. In diesen vierzig Tagen hatten die Männer der Technik die beiden Raumschiffe bis auf die Düsen auseinander genommen und die erste wohl geplante Mondstation gebaut.
Nach einem exakten Plan waren die Schiffe gelandet. Kaum schwiegen die Landedüsen, rollte ein Arbeitsprozess ab, der gewissermaßen den Grundstein der Siedlung gelegt hatte – denn hier war eine ausgedehnte Stadt geplant; Urbs Maris Crisium.
Noch war es aber nicht soweit – erst zehn kleine Kuppeln standen. Die Entwicklung hatte das Stadium des Aufbaues hinter sich gelassen und befand sich jetzt im Ausbau. Die Station wuchs und wurde immer größer und besser eingerichtet.
Die Ladekräne der Schiffe hatten die Frachträume frei gemacht. Die Maschinen, die aus dem Mondgestein und den erforderlichen Mineralien geradezu unerschöpflich scheinende Mengen flüssigen, schäumenden und biegsamen Kunststoff herstellten, liefen gleichzeitig mit dem Aufbau der Kuppeln an. Zuerst wurden die halbkreisförmigen Kuppeln aufgeblasen, dann spritzten die Düsen der langen Plastikschläuche den Schaumstoff auf, der Sekunden später erstarrte. Aus der bereits ausgesparten Schleuse wurden die Hüllen wieder herausgezogen und an anderer Stelle aufgeblasen.
Vorgefertigte Schleusen, transparente Dreifachscheiben mit Blendenflüssigkeit, Röhren der Luftversorgung und zahllose Stromanschlüsse wurden eingebaut, dann besorgten weitere Geräte die Verkleidung der Innenräume. Schallisolation fiel hier wegen des fast vollkommenen Vakuums aus; die Wärmeverluste wurden auf einen derart niedrigen Wert heruntergedrückt, dass später anlaufende Anlagen ihren Strom vollständig an die Maschinen und Geräte abgeben konnten.
So entstand innerhalb von wenigen Tagen in der Schwerkraft des irdischen Trabanten die Station. Vierzehn Menschen konnten nach langjährigem Training und mit den abgestimmten Maschinen diese Arbeit leisten. Sobald die Kuppeln standen, fertigten die Kunststofftechniker die Verbindungsgänge, brachten große Dächer als Meteorschutz und die mechanischen Riegel und Sicherungen der Schleusen und der Luftsicherungsanlagen an. Verlor die Station an einem Punkt Luft, so sorgte eine sinnvolle elektronische Anlage dafür, dass innerhalb von drei Sekunden rund fünfzig verschiedene Schotts und Türen geschlossen wurden.
Bereits einen Monat vor dem projektierten Start hatten die vierzehn Teammitglieder alle diese Arbeiten auf der Erde ausgeführt, von Technikern und Lunarpsychologen mit Stoppuhren und Arbeitsblättern kontrolliert. So wurden Pannen vermieden.
Nummer Zwölf kam herein. Er trug ein Tablett und bediente die Türmechanismen mit seiner Stimme.
Diese zusätzliche Sicherung war eingebaut worden, um eine zweite Möglichkeit zum Eindringen in ein beschädigtes Gebäude sichern zu können. Auf dem Tablett stand das Frühstück für Carol.
»Herzlichen Gruß von Dominique – sie vermisst nur die Eierschalen.«
Zwölf – Michel Naira, ein dreißigjähriger Holländer, der hauptsächlich die Fahrzeugtechnik unter sich hatte, lächelte Carol an und kniff die Augen zusammen, als er ihren melancholischen Gesichtsausdruck bemerkte.
»Ist was los?«, sagte Michel.
»Natürlich nicht.« Carol ließ die Seite des Protokolls auf dem Bildschirm verschwinden.
»Na, Carol?«, zweifelte Michel, »Heimweh nach der Erde?«
Carol schüttelte den Kopf und sah wieder hinaus auf die staubige Ebene, in der sich so wenig ereignete, wie sich auf einer staubbedeckten Fläche eines Jahrmilliarden alten Satelliten ereignen könnte, der außer zufälligen Meteoreinschlagen oder einem bruchlandenden Raumschiffsendstück nichts anderes kannte.
»Hör auf, in Buchtiteln zu reden«, brummte Carol. Michel steckte sich seine dritte der vier täglichen Zigaretten an und stieß den Rauch in die Richtung auf einen Abzugskanal aus.
»So ist's recht«, sagte er nickend. »Miss Mauning, die Verkörperung der guten Laune, die Schönheit unseres kleinen Teams – befindet sich in einer Phase der Niedergeschlagenheit. Soll ich dir Beauregard schicken?«
Carol drehte ihren Kopf und sah Michel Naira an. »Es soll immerhin vorkommen«, sagte sie leise und bedeckte das Mikrophon der Sprechanlage mit einer Hand, »dass es gewisse Stunden gibt, in denen man sich ziemlich verloren vorkommt. Und wenn dann noch ein netter Mann kommt wie du und bissige Bemerkungen von sich gibt, dann könnte man losheulen wie ein kleines Kind. Willst du das mitansehen?«
Naira schluckte, betrachtete das glühende Ende seiner Zigarette und sah dann wieder auf.
»Was soll ich machen?«, sagte er behutsam. »Irgendwen erschießen, einen Teil der Station sprengen oder dir einen doppelten Whisky bringen. Sag's mir, ich laufe sofort.«
»Letzteres, Michel«, sagte Carol. Naira verstand, machte den schwachen Versuch eines Lächelns und ließ das Schott leise hinter sich zugleiten.
Mit nur mäßigem Appetit machte sich Carol an ihr Frühstück. Es war nicht notwendig, dachte sie, dass sie auch zu allem Kummer noch abmagerte. Crouden ...
Wenn ein Staat der Erde ein derartiges Projekt startete, konnte er mit Freiwilligen rechnen, mit denen er Armeen gefüllt hätte. Es war nichts anderes als angewandte Selektionstheorie, was die Psychologen und Ärzte trieben. Und so blieben von einigen Tausend nur achtundzwanzig Raumfahrer und zukünftige Lunatier übrig. Vierzehn Frauen und vierzehn Männer. Jeder Platz in den zukünftigen Raumschiffen war doppelt besetzt.
Sieben Männer und sieben Frauen schnallten sich fest, ehe die beiden Schiffe aus einer riesigen Wolke verbrannter Treibstoffe heraus starteten und sich auf die lange Reise machten. Diese vierzehn Menschen waren in vielerlei Hinsicht gesiebt und ausgewählt worden. Sie verkörperten nicht nur eine wissenschaftliche und technische Elite, sondern besaßen auch in menschlicher Hinsicht die besten Qualitäten. Dazu kam, dass sie mindestens drei Jahre lang die einzigen Menschen auf dem Trabanten der Erde sein würden, bis sich die ersten Großschiffe in Marsch setzten, um Urbs Maris Crisium zu bauen.
Dreimal zweiundfünfzig Mondtage und Mondnächte, dreimal dreihundertundfünfundsechzig Tage. Sie waren als soziale Gruppe getestet und ausgesucht – sie passten zusammen. Nur – einen Punkt konnte die gesamte empirische und praktizierende Psychologie der Erde nicht voraussagen, ausschließen oder steuern. Das waren die zwischenmenschlichen Beziehungen: Hass, Liebe, Zuneigung oder Ablehnung. Keiner, der zahlreichen Psychologen hatte erkannt, wie sehr Carol an Crouden hing und wie sehr McKechnie sie verehrte. Allerdings wusste das nicht einmal Carol selbst, nur die derzeit noch stellungslose Psychologin der Station, Dominique Beauregard, hatte eine leise Ahnung, aber auch sie wusste nichts Bestimmtes.
Jetzt vergingen die Tage, indem die Männer in drei Schichten mit den Exkavatoren arbeiteten, um tiefe Gänge und große Räume in die Mondwelt zu schneiden. Die Maschinen, im Wesentlichen Ultraschallsägen mit verschiedenen Meißeln und Messern darstellten, wühlten sich wie stählerne Maulwürfe unterhalb der Station in den Bimsstein und in das quarzhaltige Gestein. Sie schufen Vorratsräume, ein Wohnzentrum und Unterkünfte, deren Gestaltung in den Händen des Zweiten Leiters, Architekten, Ersten Technikers und Verantwortlichen Leiters der Bauzentrale lag: Ariel McKechnie.
Ariel hatte die Pläne gezeichnet, führte die Exkavatorgruppen an und konstruierte gerade mit Sven Nyevelt, dem Riesen, eine Maschinerie, die das zerstäubte Gestein hinausbeförderte. Lange, bewegliche Schläuche aus Kunststoffgliedern mit großem Querschnitt, die mit Saugdüsen ausgerüstet waren, krochen hinter den Exkavatoren her und wirbelten weißen Staub auf die Mondoberfläche hinaus. Auf der Erde hätte der Wind den Staub in weiten Schleiern davongeweht; hier senkte er sich langsam, geräuschlos und beharrlich auf die Ebene im Inneren des Kraters Graham.
Immer länger wurden die Gänge und zahlreicher die Abzweigungen. Die Höhlen erhielten ebenfalls Kuppelcharakter, nur die Bar, der erklärte Liebling ihres Schöpfers, erforderte die gesamte Kunst des Dänen, der den kleineren Maulwurf steuerte. Demnach musste dieser Raum ein architektonisches Wunderding werden. Jedenfalls verwendeten die beiden Männer – McKechnie und Nyevelt einen Großteil ihrer Freizeit damit, sich über Zeichnungen zu streiten oder zusammen mit Cyriac, der Chemikerin, Farben und die Möglichkeiten zu deren Herstellung durchzusprechen.
Ostrand des Mare Crisium, Kraterhang des Picard. Zeit: Dritter März 2289. Vormittags elf Uhr siebzehn. Patrouille 009 – Mitglieder Vier und Sechs. Ausrüstung: Desertcar Zwei.
Vier und Sechs, Techniker Lee Young und Gustl Belin, saßen mit den Rücken an die Lehnen der Schalensitze gelehnt und aßen. Vor ihnen erstreckte sich der Hang des Kraters Picard im Crisium. Surrend lief die Fernsehkamera hinter dem Kabinenfenster, daneben tickte das Positionsgerät, das einen Dauerpeilimpuls nach der Station sendete.
Young und Belin hatten die Kabine mit Sauerstoff geflutet und die Helme ihrer Schutzanzüge abgenommen. Sie sogen an den Halmen ihrer Trinkflaschen und versuchten, ohne zu bröckeln, die Sandwiches zu essen. In dem Sechstel der Erdschwere konnten herumfliegende Krumen nicht nur Mikroventile verstopfen, sondern auch in Kühlspalten von Computern schlüpfen und dort Verwirrungen anrichten.
»Wie üblich«, sagte Belin und kaute konzentriert, »nichts Besonderes. Kniehoher Staub, einige gefüllte und tückische Spalten und viel Geröll unterhalb des Staubes.«
»Ich weiß.« Young grinste und tippte mit dem behandschuhten Finger gegen den niedrigen Wagenboden, »du hoffst immer noch darauf, die gebleichten Gerippe der Mondbewohner oder eine notgelandete Schaluppe eines extragalaktischen Schiffes zu finden. Pech, mein Lieber!«
Belin schluckte seinen Bissen herunter, zog an dem Halm und räusperte sich. Dann sagte er mit gespieltem, aber nicht restlos unbegründetem Fanatismus:
»Pass auf, Lee: Eines Tages werde ich auf dieser staubigen, geröllbedeckten Kugel ohne Luft und Leben etwas finden, das niemand vermutet. Ich weiß nicht, was es ist. Aber auf alle Fälle wird es etwas Außergewöhnliches sein. Erinnere dich dann meiner Worte.«
»Aber gern, Prophet Jesaias Belin. Wie wäre es, wenn der Herr Hellseher gelegentlich die Kupplung einlegen und diesen Karren an den Hang heranbringen würde?«
»Wir werden pauschal bezahlt, vergiss das nie, wenn du auf dem Mond arbeitest. Ob wir etwas finden oder nicht – unsere dreitausend Dollar in der Woche sind uns sicher.«
Lee Young sah aus dem großen Fenster und starrte den Hang des Kraters an, der von der Vollerde beleuchtet wurde. Der Planet hatte, analog zur irdischen Nacht, fast das Zwölffache der Leuchtkraft des Mondes, so dass helles Zwielicht herrschte, in dem sich ausgezeichnet arbeiten ließ. Die reflektierte Sonnenstrahlung ließ den Abhang wie einen schmutzigen Eisberg erscheinen.
»Ich glaube«, sagte Lee leise, »dass ich nicht wieder zur Erde zurückgehen werde. Jetzt glaub ich es fest – wie es in zweidreiviertel Jahren aussieht, weiß ich nicht. Abwarten!«
»Richtig«, stimmte Gustl zu. »Warten wir. Haben wir eine andere Möglichkeit?«
Der Schlepper steuerte mit flatternden Raupenketten über den Staub der Wallebene auf den Abhang zu. Sacht bis auf knapp zweieinhalbtausend Meter ansteigend, erhob sich der Kraterrand. Der Desertcar brummte zuverlässig. Er sah entfernt aus wie ein irdischer Kriegspanzer, aber war unbewaffnet. Wozu auch, dachte Young.
Zwei Raupenketten, knapp zwei Meter breit, waren über federnden Führungsrädern befestigt. Die Antriebsachsen mündeten versiegelt und absolut dicht ins Differential des Getriebes. Durch eine spezielle Steuerautomatik konnte der Schlepper auf der Stelle drehen. Auf ebener Strecke erreichte er fast hundert Stundenkilometer. Der Antrieb war etwas problematisch gewesen, aber die irdischen Techniker kapitulierten nicht vor solchen Problemen.
Aus einer Reihe von Vorschlägen war endlich der Motor übrig geblieben, der jetzt die Kabine und das Fahrgestell mit dumpfem, vibrierendem Summen erfüllte. Ein chemischer Umkehrprozess wurde von dem heißen Atomgenerator angefacht; die entstehenden Gase verbanden sich und bewegten einen Kreiskolbenmotor, der entsprechend untersetzt worden war.
Die erste Füllung des kleinen Meilers sollte eineinhalb Jahre reichen, bei einer sehr großzügig bemessenen Betriebsdauer. Reparaturen konnten jedoch nur außerhalb der Kuppel vorgenommen werden, denn die Strahlung war zu groß.
Im Vakuum der Mondoberfläche machte es nichts aus, einige heiße Partikel zu hinterlassen, aber in der Nähe der Siedlungen war es gefährlich. Der Schuppen mit den drei Fahrzeugen befand sich zweihundert Meter von der äußersten Schleuse der Kuppeln entfernt. Ein Gang durch den Bimsstein des Mondbodens und eine Sicherheitsschleuse trennten den Schuppen von den Wohnräumen.
Über dem breiten Fahrgestell erhob sich der drehbare Turm mit fünf Sitzen und zahlreichen Instrumenten. Desertcar Zwei war die fahrende Forschungsstation. Bohrgeräte, seismographische Anlagen und Erzsucher waren installiert, drei Funkgeräte und ein Doppelsatz Fernsehkameras, davon je ein Gerät batteriegetrieben. Die irdische Mikrotechnik, auf Luna durch Tonika Shenton kontrolliert, hatte wahre Orgien gefeiert.
Transistoren, Mikrochips, Kaltfunktionsgeräte und gedruckte Schaltungen, winzige Kontaktstellen und wenig Drähte – das Innenleben von Funkgeräten und Fernsehkameras galt als ausgetestet. Sie waren bei den irdischen Versuchen von zehn Metern Höhe ungeschützt auf Betonplatten geworfen worden und funktionierten weiter, obwohl die Montageplatten verbogen waren. Auch im Vakuum und unter direkter Sonnenbestrahlung – dargestellt in langen Laborversuchen – war keinerlei Fading zu bemerken gewesen. Außerdem gab es bereits jetzt, nach dem Eintreffen der zweiten Nachschubrakete, genügend Einzelteile, um komplette Sender zusammenzubauen.
Auf einer riesigen holografischen Mondkarte waren die einzelnen Funde markiert: Hier ein Bimssteinlager, dort ein Meteor, der Eisen und Nickel enthielt, hier obsidianähnliches Gestein. Fundstellen, mit deren Ertrag Glasfabriken jahrhundertelang arbeiten konnten, waren lokalisiert. Die Mondkarte wurde ständig holografisch auf den letzten Stand gebracht – jede Falte, jede Erhöhung wurde vermessen und genau beziffert. Das war die Arbeit der Patrouillen.
»Der Mond ist reicher als die Erde«, sagte Belin in die Gedanken des Technikers hinein, der den Schlepper vorsichtig den Kraterhang hinauf steuerte. Die breiten Spuren der Raupenglieder waren noch zehn Meter hinter dem Fahrzeug zu sehen, aber dann wurden sie von dem ungewöhnlich feinen Pulver des Mondstaubes wieder verwischt; Flugsand ähnlich.
»Ja«, antwortete Lee, während er den Steuerknüppel langsam vorschob. Der Schlepper umrundete brummend einen Felsblock, der hier liegengeblieben war. Die Erschütterung des Bodens ließ Staub von der Oberkante des Steines herunterrieseln.
»Reicher – aber nicht in allem. Vorwiegend Chemikalien und Produkte aus dem Mineralreich werden unsere Fabriken hier produzieren können. Metalle werden eingeführt – hochgeschossen – werden müssen.«
»Wir haben bisher rund viertausend Tonnen Metall gefunden, Lee!«, gab Gustl zu bedenken.
»Wobei alles von Meteoren stammt und vorwiegend der Ferrumgruppe angehört. Kupfer, Gold, Blei, Silber – alles das fehlt.«
»Ich vermute, dass Terra nicht allzu viel Gold oder Silber abgeben wird. Blei ist zu schwer, Kupfer wird vermutlich rationiert werden. Die Damen werden hier kupferne Armbänder tragen, wenn sie den Reichtum ihrer Männer zeigen wollen.«
»Das ist wahrscheinlich, aber dauert noch einige Zeit«, sagte Lee. Dann hielt der Schlepper an. Automatische Geräte fotografierten und vermaßen, stellten Höhenunterschiede und Entfernungen fest, und weit hinten im Osten glühte eine Sternschnuppe durch die hauchdünne Atmosphäre des Mondes. Sie entsprach der irdischen Lufthülle in einem Zehntausendstel, gemessen auf Meereshöhe.
Auch hier stellten die hochempfindlichen Massedetektoren den tief in der Mondoberfläche steckenden Meteor des Kraters fest. Ein Großteil der bisher untersuchten Krater war nachweisbar durch den Einschlag von Meteoriten entstanden – aber auch von Steinmeteoriten, die ihre Bewegungsenergie in winzigen Sekundenbruchteilen in Hitze umgesetzt und tiefe Krater geschmolzen hatten. Erzmeteoriten waren seltener, sie enthielten Ferrum, Nickel und Kobalt. Die schönste Entdeckung des Teams war ein großer, halb eingegrabener Tektitkörper, der Silizium, Aluminium, Kalium und Kalzium, enthielt. Diese Fundstätte lag unweit der Siedlung; später würde man sie gebührend würdigen können.
»Mich interessiert nur, wann wir den Blechschrott der zahlreichen Sputniks, Luniks, Surveyors und ähnlicher Versuche finden. Der Abfallhaufen wird garantiert gigantisch«, sagte Lee lachend.
»Ich werde morgen unser Lesegerät befragen«, versprach Belin. »Ich bin überzeugt, dass wir bisher noch nicht oft daran vorbeigekommen sind. Sie liegen woanders, glaube ich.«
»Lässt sich feststellen. Hinten ist noch Platz«, brummte Lee.
Mit ›hinten‹ meinte er die Schale, die als Ladefläche diente. Sie war oberhalb der Verstrebungen des Fahrgestells befestigt und konnte fast zwei Tonnen Gewicht aufnehmen, ohne den Desertcar zu überlasten.
Eine Viertelstunde später waren die beiden Männer wieder bei dem Schlepper angelangt. Sie waren mit einigen Messgeräten über den Abhang hinaufgeturnt und hatten den Kraterraum vermessen und die Daten in den Speicher übertragen. Das Seil, mit dem sie sich gegenseitig gesichert hatten, wurde losgeknüpft und verstaut. Dann umrundete der Schlepper mit achtzig Stundenkilometern Geschwindigkeit einen kleinen Meteorkrater innerhalb des Schräghanges, glitt durch eine metertiefe Staubpfanne hindurch und richtete sich wieder auf, schleuderte auf einem Geröllfleck und nahm dann am Fuße des Kraterberges Kurs auf die Station.
Krater Graham lag innerhalb des Mare Crisium, so dass nicht mehr als hundertfünfzig Kilometer zu überwinden waren. Seit vier Tagen fuhren die Männer mit dem Schlepper in immer weiter ausholenden Schleifen von der Station weg, um die Umgebung zu erforschen. Immer genauer wurden die Karten, immer vertrauter wurden den Mitgliedern des Teams der Mond, seine Gefahren und – Schönheiten.
Schönheiten?
Eine leblose Welt. Angefüllt mit Staub, schwarz und mit hohem Eisengehalt, durchfurcht von Spalten, verborgenen Fallen und stauberfüllten Senken, nur durch ein winziges Durchhängen der pulverigen Oberfläche zu erkennen. Keine Moose, eine fast nicht mehr feststellbare Lufthülle, Tage und Nächte, die je zwei Wochen dauerten und ein Temperaturdiagramm, das von Plus hundertdreißig bis Minus hundertfünfzig differierte. Gewaltige Ebenen innerhalb der Ringkrater, Berge, die jede Art von Formation aufwiesen, die man kannte – schroff, sacht oder bizarr.
Das war der Mond. Schönheiten?
Doch. Wenn die Sichel der Erde über die Ränder des Cleomedes stieg und die langen Schatten über die Fläche wanderten, wenn die Vollerde ein mildes, warmes Licht über die Staubfelder warf und winzige Diamanten auf den Gipfeln aufgleißen ließ. Das war die Schönheit des irdischen Trabanten. Die absolute Stille konnte heilen. Sie schuf eine Zone des Abstandes zwischen dem Menschen und seinen Gedanken, so dass Zeit blieb zu Überlegungen, zu Gesprächen, zu Auseinandersetzungen und jederzeit zu geistiger Arbeit aller Art.
Die Kuppeln waren sicher. Nur ein Meteor, der die Größe eines Fußballes besaß, konnte tödlich wirken. Aber nur, wenn er einen Mann direkt traf. Die entweichende Luft wurde durch aufquellenden Kunstschaum innerhalb von zwei Sekunden gestoppt, wenn eine Kuppel aufbrach. Alles andere war zweitrangig.
Getrennt von ihren Sorgen – für drei lange, kurze Jahre – konnten die vierzehn Menschen ihr Bestes geben. Sie arbeiteten täglich zwölf Stunden lang, manche noch länger. Das aber war freiwillige Leistung.
Lee Young und Gustl Belin steuerten den Schlepper unter das Dach der Rampe. Sie befanden sich jetzt über hundert Meter von der äußersten Kuppel entfernt und fuhren langsam in die künstlich geschaffene Senke ein. Die Scheinwerfer sprangen an und überschütteten den Teil des vor ihnen liegenden Stollens mit grellem Licht. Über den Köpfen der Männer glitt das Metalldach langsam nach hinten; der Wagen schob sich unter die Platte, auf der Mondstaub, Geröll und das Fördergut der Exkavatoren lagen. Nur ein Riesenmeteor konnte hier die Fahrzeuge zerstören – außerdem waren die Schlepper an drei verschiedenen Orten untergebracht – je zwanzig Meter innerhalb des Schuppens voneinander entfernt. Es war offensichtlich an alles gedacht worden.
Lee schaltete den Antrieb aus, nahm den Datenspeicher aus der Halterung und öffnete die luftdichte Drucktür. Eine Sekunde lang kondensierte sich Nebel neben dem Fahrzeug, dann hatten sich die Sauerstoffatome so weit voneinander entfernt, dass man sie nicht mehr erkennen konnte. Lee stieg aus, warf die Tür zu und wartete in der geringen Schwerkraft, bis Belin auf der anderen Seite heruntergeklettert war. Die beiden Männer gingen knapp achtzig Meter durch einen Stollen, drückten die Knöpfe für die erste Schleuse und traten ein, während sich, das schwere Schott, einst ein Tankoberstück einer Rakete, wieder schloss. Dann kippten die schweren Funkhelme nach hinten.
»Wieder ein Tag, Lee«, sagte Belin und verschloss seine Atemluftflasche.
»Einer von rund tausend, Gustl. Ich fühle mich hier so wohl wie noch nie.«
Gustl sah Lee scharf an, dann glitt ein Lächeln über sein fast schwarz gebranntes Gesicht.
»Uns geht es so verdammt gut, dass es verdächtig ist. Ich hoffe nur, es bleibt so. Bisher verstehen sich alle noch prächtig, aber ständige Nähe erzeugt Spannungen.«
»Deswegen bekommt jeder von uns eine Wohnkuppel oder Höhle, wenn alles fertig ist«, widersprach Lee seinem Partner.
»Ich habe andere Gedanken.«
»Welche?«
Langsam, in weiten Schritten – sie hatten sich längst an die veränderten Schwereverhältnisse gewöhnt – näherten sie sich der zweiten Schleuse, durchschritten sie und kamen in die angenehme Wärme des Zentralganges, der sich unterhalb der Station durch die Felsen zog, von zahlreichen beschilderten Abzweigungen unterbrochen.
»Diese Narren dort unten spielen noch immer mit ihren Bomben. Es herrscht immer noch Spannung. Machen die Falken Ernst oder lassen sie es bleiben – das ist die Frage.«
Mit der sarkastischen Formulierung meinte Lee Young die zentralen Regierungen der Erde, die sich immer noch in einer bizarren Neuauflage des Kalten Krieges befanden.
Die Gründung einer westlich konzipierten Raumstation auf dem Mond hatte nicht mitgeholfen, die Lage zu entspannen. Immer noch arbeitete die UNO daran, die vollständige Kontrolle aller nuklearen Anlagen und aller Abschussrampen der Bombenträger zu übernehmen, aber immer noch wurde die Weltorganisation von einem Veto und wieder einem und einem dritten blockiert.
»Das ist es, Gustl, was mich schlecht schlafen lässt. Stell dir vor – die sprengen sich gegenseitig in die Luft. Kannst du dir denken, was hier oben geschieht?«
Gustl Belin, geradezu ein Muster an Beherrschtheit und echter Ausgeglichenheit, blieb stehen, als hätte ihn eine unsichtbare Hand gepackt. Seine Augen verloren für einen Moment ihre gewohnte Ruhe, als er Lee anstarrte.
»Ich kann es mir vorstellen«, sagte Belin leise, »und ich bete zu Gott, dass es niemals geschieht. Es wäre für uns die Apokalypse. Verhungern, ersticken – gegenseitiger Mord; das alles ist in diesem Begriff mit enthalten.«
»Eben dies!«, sagte Lee. »Komm, vergiss es.« Eine in Bimsstein geschnittene Treppe nahm sie auf und brachte sie in den Wachraum. Hier befanden sich die Raumanzüge, die Geräte zur Säuberung und ein Teil derjenigen Maschinen, die für neuen Sauerstoff, Wasserrückgewinnung und Reinigung sorgten, und ein Teil der Ausrüstung der Patrouillen.
Mit hundertfach geübten Griffen entledigten sich die Männer der Anzüge, schlüpften in weiche und bequeme Dienstkleidung und zogen die dicken Wollsocken aus. Lee trug Texanerstiefel mit Steppverzierungen, Gustl zog weiche Mokassins vor. Individualismus war heute schon eingeschränkt möglich.
»Carol ist etwas niedergeschlagen«, sagte Gustl zu seinem Partner, »gehen wir und heitern sie etwas auf – so es uns gelingt. Sie muss jetzt ...«, er sah auf seine große Armbanduhr, die verschiedene Stoppeinrichtungen und einen Mini-Strahlendosimeter enthielt, »gerade den zweiten Routinebericht für Terra fertig haben. Hören wir, was es heute hier alles gegeben hat.«
Lee nickte, zündete sich seine erste Zigarette an und stieß mit dem Zeigefinger einen blauen, selbst leuchtenden Knopf in ein kleines Armaturenbrett neben der Tür hinein. Geräuschlos öffnete sich ein weiteres Schott, kontrollierte durch eine Selenzelle den Durchgang und schloss dann wieder.
Wieder eine Treppe, diesmal nicht so lang wie die erste. Dann standen die Männer in der großen Zentralkuppel in der Mitte der Station. Die Kuppel war ein technisches Meisterwerk und bestand aus vier Schalen.
Die innerste war durchsichtig, trug die eingepressten Verstärkungsstreben und die Leitungen und Scheinwerfer. Zwischen der inneren und der zweiten durchsichtigen Schale befand sich destilliertes Wasser, hermetisch versiegelt. Der folgende luftleere Raum trennte die dritte Plexikuppel von der zweiten; zwischen den beiden äußeren Schalen befand sich die Abblendflüssigkeit. Die senkrechten, blendenden Strahlen der Sonne wurden gemildert, wenn die braune Spezialflüssigkeit hochgepumpt wurde.
Carry Cyriac, die zierliche Japanerin, half gerade Karen Imbaud dabei, die Hydroponikanlage aufzustellen. Hier, unter den Sonnenstrahlen und in Nährlösungen, größtenteils mit Spurenelementen und Aschen der Mondwelt angereichert, sollten die Algen, Pflanzen und einige Zuchtblumen wachsen.
»Na, ihr Gärtnerinnen, werden bereits Blumenbestellungen entgegengenommen?«
Lee grinste Karen an. Die siebenundzwanzigjährige Schwedin lächelte zurück. Neben ihr steckte Carry ihren Kopf hinter einem aufgebockten Tank hervor.
»Wem willst du Rosen schicken, Lee?«, fragte Carry.
Lee freute sich jedes Mal, wenn er Carry sah. Die junge Frau gefiel ihm mit jedem Tag mehr.
»Dir, Liebling!«, sagte er und zeigte auf die Japanerin. Carry wurde rot und bückte sich wieder hinter die flache Plastikschale.
»He, Texasmann«, brummte Karen, »geflirtet wird nur außerhalb der Dienststunden.«
»Komm«, sagte Gustl lakonisch. »Die Damen sind von einem Arbeitseifer, der auf einen normalen Menschen tödlich wirkt. Lasst uns die Funkkuppel besuchen. Dort werden wir gerngesehene Gäste sein.«
»Raus!«, sagte Karen energisch, aber da öffnete sich bereits die Schleusentür. Die Schlepperfahrer gingen unter dem Bogen der Schleuseneinfassung durch und liefen durch den Verbindungsgang auf der Oberfläche in die Funkkuppel.
Neben der kleinen Kuppel wuchs die Antenne in den Himmel. Ein schlanker Stahlmast mit zehn Verbindungsgelenken, die je vier Meter besten Stahlrohrs hielten, reckte sich die Nadel zu den Sternen empor. Ihre Spitze wies genau auf die Erde, die schräg über der Station schwebte – blau, grün, weiß und unerreichbar fern, so schien es.
Carol Mauning hantierte bereits am Recorderpult, das die Sendung abspulen sollte. Ein Kontrolllautsprecher war zwischen das Kodegerät geschaltet, das den Text in drei Phasen zerhackte und modulierte. Jeden Tag wechselte der Kode zweimal – auf der Erde lief nach dem Empfang der Vorgang rückläufig ab. Elektronische Geräte steuerten den Vorgang. Carol sah auf, bemerkte die Männer, die es sich in Schalensesseln bequem machten, und nickte.
»Es geht gleich los. Wollt ihr mithören?«, fragte sie.
»Es ersetzt die tägliche Morgenzeitung. Besonders die Rücksendung interessiert uns.« Lee Young drückte seine Zigarette aus und wartete.
»Hier.« Carol drehte einen Schalter herum. Der Atomgenerator lief – hundertfünfzig Meter von der Station entfernt und gut eingegraben – und besorgte die Sendeenergie. »Mondbasis Eins – Funkbericht 12/2 – Mauning. Gesamtbefinden: ausgezeichnet. Plan bis Position 197 erfüllt. Alles gesund, keine Schwierigkeiten. Heute: Patrouille Mare Crisium. Vermessung, Bodenproben und Kartographie. Vier und Sechs – Tagschicht Eins ...«
Die Erde konnte anhand der Positionen kontrollieren, was erfüllt worden war. Ebenso erübrigte sich, die Personen mit vollem Namen durchzusagen; Nummern genügten. Eine dreiviertel Stunde lang lief das Band ab. In lange Pausen ohne Ton wurden Funkbilder übertragen. Die ausgewertete Arbeit eines halben Tages, also in diesem Falle von neun Uhr früh bis jetzt, wurde in die Archive des Kennedy-Space-Centers in Kap Canaveral gesendet.
Die Erde revanchierte sich. Sie stellte die halbtäglichen Nachrichten zusammen und strahlte sie, ebenfalls mit Funkbildern, Filmbeiträgen, Kommentaren und Grüßen vermischt, zur Lunarstation. Hier lief die Sendung entweder über Rundspruch oder während des gemeinsamen Essens, so dass jeder wusste, was »unten« vorging. Schweigend hörten die Teamkameraden, was die Menschen der Erde erlebten, was sie dachten und fühlten; Standbilder und Kurzfilme dienten zur Veranschaulichung. Es war fast halb zehn Uhr nachts, als der Summer ertönte.
»Essen«, sagte Lee und stand auf. »Kommt ihr mit?«
»Natürlich.«
Im Gemeinschaftsraum neben dem Krankentrakt – leer bis auf den Operationssaal und die Medikamentenschränke – waren die Tische bereits gedeckt; Faraggi und Scott hatten diese Woche Dienst in der kleinen, hochmodernen Küche. Ihre Kunst erschöpfte sich in den zahlreichen Möglichkeiten, den Inhalt von Konservendosen und Plastikverpackungen in immer neuen Variationen zu servieren, nachdem er erhitzt, gekühlt oder in Portionen aufgeteilt worden war. Der zusammengesetzte Tisch – eine gemaserte Kunststoffplatte aus eigener Produktion mit eingeschmolzenen Leichtmetallstreben aus einem der Raumschiffe – bot Platz für alle Teammitglieder.
Am Kopf der Tafel saß Robert Crouden. Nummer Zwei, Leiter der Station. Ein hellblonder Sechsunddreißigjähriger, der direkt aus einer der Hochglanzanzeigen zu stammen schien, auf denen gut aussehende Männer Elche jagten, harte Getränke hinunterschütteten oder riesige Fische angelten. Crouden sah fast zu gut aus, indessen neigte er dazu, Fett anzusetzen. Der Mond mit seiner geringen Schwerkraft tat nichts dazu, Croudens Arbeit zu unterstützen; der Erfolg war, dass Robert immer weniger aß.
Während die Teamkameraden aßen, lief das Band mit den Erdnachrichten ab. Auf einem Flachbildschirm wurden die Funkbilder gezeigt, Ariel McKechnie brach als erster das Schweigen.
»Uns geht es gut, die Erde dreht sich noch, die UNO hat noch immer nicht die Kontrolle über die Atomwaffen, die nächste Rakete kommt in zwei Tagen, und ich bin satt. Es war fabelhaft, Claudia, was ihr den Dosen entlockt habt!«
Ariel lehnte sich bequem zurück, wartete, während er sich seine Pfeife stopfte, bis alle ihr Besteck niedergelegt hatten und riss ein Zündholz an. Dann stand er auf, holte sich ein Glas und maß eine seiner Getränkerationen ab; schottischer Whisky, der im Individualverkehr heraufgeschickt wurde. Ein Prozent der normalen Ladung wurde aus einer langen Liste von persönlichen Wünschen der Besatzung aufgefüllt und in der Raketennutzlast hochgeschossen.
»Wie wäre es mit etwas Musik?«, fragte Karen Imbaud.
»Gute Idee«, lobte Ariel.
»Bach – Orchestersuite Drei«, brummte Sven Nyevelt, der bereits im Archiv wühlte und den MusiCuby einschob. Robert Crouden hob die Hand.
»Müsst ihr denn immer dieses antike Zeug spielen – es ist ja nicht auszuhalten«, sagte er laut und hoffte auf Unterstützung. Carol senkte den Kopf und blickte auf ihren Teller. Sie ahnte, was jetzt kommen würde. McKechnie zog an seiner Pfeife, ließ seine Blicke über die Gesichter wandern und vergewisserte sich, wie die Verhältnisse standen. Es stand etwa zwölf zu zwei für J.S. Bach.
»Fast jeder von uns weiß, Crouden«, sagte Ariel langsam und blickte den Leiter an, »dass du zu guter Musik und anerkannter Kunst ein merkwürdiges Verhältnis hast. Oder keines, wie man's nimmt. Deswegen musst du aber uns anderen das Recht lassen, Bach oder Händel dann zu hören, wenn es uns Spaß macht. Und das, glaube ich, ist jetzt der Fall.« Ariel hob sein Glas, lächelte knapp und nickte Crouden zu. Merkwürdig; alle anderen Mitglieder wurden vom Zweiten Leiter mit den Vornamen angeredet, nur Crouden nicht. Das war etwas, was sich Robert nicht erklären konnte. Sachgespräche konnte er mit Ariel jederzeit führen; ging es jedoch in persönliche Bereiche, fand er einen Gegner, dem er nicht gewachsen war. Denn Ariel besaß die Phantasie des typischen Schotten. Shakespeare, Shaw, europäische Dichter und Musiker, bildende Kunst – alles das waren Bestandteile seines wendigen Geistes – aber all das fehlte Crouden.
Die Nachtwachen wurden eingeteilt. Sie trafen Carol und Ariel, die in einer Stunde ins Observatorium hinübergehen würden. Erdbeobachtung war das Stichwort. Die anderen verließen den Gemeinschaftsraum und suchten ihre Wohneinheit auf. Corinne Scott und Claudia Faraggi räumten das Geschirr ab und legten es in die Trockenspülmaschine. Crouden griff nach der Materialliste und dem Dienstplan, warf einen langen Blick auf Carol, dann auf Ariel, und verschwand lautlos. Ariels Pfeil hatte wieder einmal gesessen. Er klopfte nachdenklich die Pfeife aus und überlegte. Was er hier seit knapp drei Wochen trieb, war Intrige in unterschwelliger Form.
Ariel wollte Carol vor Augen führen, an welche Buchhalterseele sie sich klammerte. Natürlich kein edler Beweggrund, sondern Absicht; Ariel liebte Carol. Bis zur Erfüllung war es ein langer, mühseliger Weg. Der Einsatz, fand Ariel, lohnte sich. Und er verfolgte seine Idee mit der Hartnäckigkeit des geborenen Schotten. Er und sie waren die beiden Asse der Station – Crouden war nichts anderes als ein Computer auf zwei Beinen.