Cade Chandra 1: Jäger der Erinnerungen - Hanns Kneifel - E-Book

Cade Chandra 1: Jäger der Erinnerungen E-Book

Hanns Kneifel

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Beschreibung

Khalakwolt ist eine düstere, primitive Welt, in der die Menschen ohne Erinnerungen ein freudloses Leben führen. Einst muss alles anders gewesen sein, einst müssen sie gewusst haben, wer sie sind und woher sie kamen. Doch nun liegt ein dunkler Schleier des Vergessens über dem Planeten – bis Poter Skuardi, der Herrscher von Khalakwolt, seinen tüchtigsten Mann ausschickt, um das Rätsel der Herkunft zu lüften: Cade Chandra.

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CADE CHANDRA

BAND 1

© Copyright Erben Hanns Kneifel

© Copyright 2016 der eBook-Ausgabe bei Verlag Peter Hopf, Petershagen

www.verlag-peter-hopf.de

© Cover: Thomas Knip | Angela Harburn - Fotolia.com

ISBN ePub 978-3-86305-210-2

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Alle Rechte vorbehalten

Die in diesem Roman geschilderten Ereignisse sind rein fiktiv.

Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Begebenheiten, mit lebenden oder verstorbenen Personen wäre rein zufällig und unbeabsichtigt.

Inhaltsverzeichnis
JÄGER DER ERINNERUNGEN
Prolog
1 – Cade Chandra auf Khalakwolt
2 – Cade Chandra, Jäger der Erinnerungen
3 – Poter Skuardis verwegener Auftrag
4 – Leamouns Amazonen
5 – Die Truppen der Nacht
6 – Die Brücke
7 – Orcido, Poter und Amourea
8 – Das Fest des Weltuntergangs

Hanns Kneifel

CADE CHANDRA

Die Serie Cade Chandra

Prolog

AUS: Nadir Amunray Marcander, Prof. Ives-Alain Khalil-Mandjaossi & Capitána Sonaidia Sharçais: G.R.A.L.; Galaktischer Ratgeber, Atlas und Lexikon aller bewohnten, bewohnbaren und unwirtlichen Welten und deren Muttergestirne. Verlag DIE GALAXIS, Terra/Eridanus 024, AD 6398 (c), XII. Auflage.

»Seit geraumer Zeit sind die sog. VERGESSENEN WELTEN geläufiger Begriff und Symbol für die unüberschaubare Weite des Alls, für Werden, Vergehen und Vergessen, und für die Verschiedenheit der Zivilisationen und Kulturen, die sich nach dem Exodus fern der Erde entwickelten. Niemand weiß, wie viele Planeten in wie vielen Sonnensystemen damals besiedelt worden sind, und wie ihre Koordinaten lauten. Schätzungen gehen von drei Dutzend bis zu 200 oder 250 Welten aus; es gab nicht viel mehr Schiffe, die vor rund 2500 Jahren, während des Exodus und danach zur Aufnahme einer überlebensfähigen Anzahl Individuen geeignet gewesen waren. Während der chaotischen Verlagerung der Regierungsfunktionen zum Planeten Delta Eridanis gingen unersetzliche Daten und Dokumente verloren; das sog. IMPERIUM ist nachweislich um Rekonstruktion und Aufklärung bemüht.

1 – Cade Chandra auf Khalakwolt

Fauchend und katzbuckelnd kam das Diop im schütteren Schatten einer Muskatzeder zum Stehen. Cade Chandra schloss die Augen und schwankte hilflos im Sattel. Übelkeit und Schmerz folterten seinen Körper in rasenden Wellen; die Muskeln verkrampften, das tobende Stechen in den schweißnassen Schläfen wurde unerträglich. Cade rutschte vom Rücken des Tieres, umklammerte zitternd den Zügel und kauerte sich am Fuß des Stammes zwischen knotigen Wurzeln zusammen. Was er sah, blieb unveränderlich deutlich, aber er nahm es nicht bewusst wahr, und obwohl er jede Einzelheit seit über fünfzehnhundert Tagen kannte, veränderten sich alle Eindrücke ins Groteske.

Trostlos breitete sich die Landschaft unter stechenden Sonnenstrahlen aus. Winzige Wellen rauschten über den Strand. Angeschwemmter Tang, weiße Muscheln und tote Fische stanken. Aus dem Boden wuchsen gerundete Felsen mit grellen Streifen archaischer Ablagerungen. Zwischen ihnen zerrte heißer, auflandiger Wind an den zähen Blättern harzig-ledriger Macchiasträucher. Das Meer lag da wie ein riesiger Spiegel mit schmutziger Oberfläche.

Sonnenstrahlen blinkten auf dem Wasser; die Inseln der windlosen Zonen wechselten alle Augenblicke ihr Aussehen. In der Hitze flirrte und flimmerte die Luft. Sie trug stechende Gerüche: Harz, ferner Rauch; irgendetwas verweste in der Nähe. Die Abfälle der Hangsiedlung verpesteten die Luft. Eine weiße Wolke, langgezogen und faserig, teilte den Himmel. Auf der östlichen Seite des Bergkammes fiel das Gelände sanft ab. Dort begann der Herrschaftsbereich Poter IV. Skuardi, des Herrn über Khalakwolt, Herrscher über Leben und Tod der Menschen.

Cade stemmte sich, halbblind vor Schmerz, in die Höhe. Er torkelte auf den Eingang der Taverne zu und schaffte es gerade noch, den nächsten Schatten zu erreichen. Das Diop trottete hinter ihm her.

Unter der gnadenlosen Sonne des frühen Nachmittags strauchelte er, fing sich wieder, wankte am Heiligtum der Ahouri vorbei, der Göttin der kurzen Ekstase, stolperte über den breiten Kiesstreifen. Mit beiden Händen klammerte er sich an die Torpfosten und versuchte durchzuatmen.

»Verfluchter Anfall!« Ihm war unbeschreiblich übel. Er lehnte am heißen Stein; eine winzige grüne Eidechse huschte raschelnd davon. In seinen Augen wuchs sie zu einem gigantischen Reptil.

Der Geier, der im stahlblauen Himmel seit Stunden kreiste, wurde zu einem monströsen Schatten, einem subtilen Symbol der Bedrohung, die Cade empfand. Die ausgespreizten Schwungfedern waren wie riesige Schwerter. Schweißüberströmt fiel Cade halb in den Schankraum hinein. Schritt um Schritt wich in der kühlen Dunkelheit die Übelkeit; jeder weitere Atemzug lichtete ein wenig die Schleier vor seinem Verstand. Cade wischte über seine Stirn und spürte, wie unter seinen Achseln Schweißströme das dünne Leder des Hemdes tränkten.

»Jadar wird helfen«, sagte Cade. »Hat immer geholfen.«

Die Schmerzen stachen bei jedem Schritt unter der Schädeldecke. Abgestandene Gerüche und die Ruhe eines Gewölbes umgaben Cade, als er auf die Säulenstümpfe vor dem Schanktisch zustolperte. Ein großes Viereck Sonnenlicht lag zwischen seinen Stiefelspitzen und dem gemauerten Kamin, das Licht fiel durch den mächtigen Abzug. Der Raum war leer; kein anderer Gast wartete auf Jadar. Cades Finger suchten den Griff der Waffe. Noch immer fühlte er sich bedroht und verfolgt.

»Jadar!« Auch seine Stimme erholte sich inzwischen. Einen Augenblick später wurde ein schwerer Vorhang zur Seite geschoben. Gegen das Licht zeichnete sich eine wuchtige Silhouette ab. Mit dem ersten Blick erkannte Cade den Wirt. Er ließ den Griff der Waffe los und setzte sich auf das Kissen aus schwarzem Fell.

»Ich hab schon nach dir suchen lassen.« Jadar schob seine Pranke über die polierte Steinplatte. Cade brachte ein unsicheres, schweißiges Grinsen zustande.

»Ich hab dich gefunden, wie du siehst«, sagte er heiser. »Mir geht's dreckig, Jadar. Gib mir einen Schluck von deinem Zauberzeugs.«

Jadar ließ seine Hand einen Atemzug lang auf Cades Unterarm liegen, ertastete das Zittern und den rasenden Pulsschlag und nickte. »Ein Becher Naqnaq hilft dir.«

Cades Augen hatten sich an das Halbdunkel gewöhnt. Als Jadar einige knarrende Jalousien aufstieß, füllte sich der Raum mit Helligkeit. Im Licht tanzten Staubteilchen und Ascheflocken aus dem Kamin. Als Jadar den Verschluss aus dem bauchigen Krug zog, überlagerte ein frischer, angenehmer Geruch die muffigen Ausdünstungen der Mauern und den kalten Rauch. Cade massierte seine Schläfen und stöhnte auf, als die Fingerspitzen den schmerzenden Nerv erreichten. Abwesend hörte er, wie das Getränk in den Porzellanbecher gluckerte. Er hielt den Becher mit beiden Händen und trank in kleinen Schlucken. Im Rachen breitete sich Eiseskälte aus; er spürte seine Zähne, und während das Gemisch aus Kräuterauszügen und Alkohol die Kehle herunterrann, breiteten sich zuerst glühende Hitze und seltsame Betäubung in seinem Körper aus. Ein Schweißausbruch schüttelte ihn. Cade spürte, wie seine Sinne an ihre Plätze zurückkehrten. Er blinzelte Jadar an.

»Wieder ein Anfall, Cade?«

»Der dritte in diesem Mond. Und der verdammt schlimmste«, sagte Cade. Er hätte es längst aufgeben sollen, die Herkunft dieser seltsamen Krankheit auszuforschen. Jeder Versuch, hinter den Ursprung dieses Rätsels zu kommen, war bisher fehlgeschlagen. Die Stimme des Freundes blieb ruhig.

»Ein Aasvogel verfolgte dich wieder stundenlang?«

Cade nickte und konnte, ohne zu keuchen, den Becher leeren. Jadar schenkte nach. Cade schüttelte sich.

»Und wieder Gedankenfetzen? Söldner, Kampfspiele, eine andere Gemeinschaft? Zurück dorthin, woher du scheinbar gekommen bist?«

»Ja. Wie immer. Seit ich versuche, hinter die Barriere der Erinnerung zu gelangen, ist es, als ob eine Fessel um meinen Verstand liegt.«

»Ich weiß. Mir geht es nicht anders. Aber – mich packt's nicht so wie dich, Cade. Noch einen halben Becher?«

»Ja. Bitte. Das Zeug hilft wirklich.«

Diese Anfälle trafen ihn stets völlig unvorbereitet. Eine Erinnerung an jene Zeit, die vor Khalakwolt lag, gab es nicht. Er fühlte sich wie eine Spielfigur in diese Umgebung hineinversetzt und ahnte nicht einmal, wie er hierher gekommen war. Ebenso erging es Jadar. Cade wartete tief atmend, bis der hauchdünne schwarze Becher wieder vor ihm stand.

»Jedenfalls haben wir mit uns gebracht, was wir einmal gut gelernt haben.« Jadar schien Cades Gedanken zu erraten. »Sonst wüssten wir nicht mehr als die vielen Leute, die Skuardi ausbeutet.«

»Und wir hätten viele Kenntnisse nicht, mit deren Hilfe wir unser Überleben sichern.«

Jadar blies in das Holzkohlenfeuer unter dem Kessel der Anlage, mit der er Kh'olk zubereitete. Er schüttelte einen kräftig bemessenen Schluck Naqnaq in einen zweiten Becher und setzte sich ächzend neben Cade. Jadar, den sie alle den Hässlichen Wirt nannten, mit der Figur eines Gladiators, der zu wenig gekämpft und zu viel gegessen hatte, galt als verschlagen, gutmütig und geldgierig. Cade wusste es besser. Bisher hatte er drei Männer zählen können, die auffallend aus der Masse der Menschen Khalakwolts herausragten: Jadar, Poter Skuardi und er. Ausnahmen einer faszinierenden, abstoßenden und mittelmäßigen Herde unwissender Erinnerungsloser.

Fatalismus und Ergebenheit, stumpfes Verharren in Riten und mythischen Kulten lasteten über dem Land und seinen Menschen. Angst vor dem unausweichlichen Untergang, die Sinnlosigkeit jeglichen Strebens und die Erkenntnis, dass das Leben unberechenbar kurz war, beherrschten die Gedanken und diktierten das Verhalten von mehr als zweihunderttausend Menschen allein in den Grenzen von Poter Skuardis Königreich.

Cades Blicke kehrten von den Tischen zurück, die Jadars Mägde gereinigt, gedeckt und für den Abend vorbereitet hatten. Er stützte sich auf den Schanktisch, suchte im breiten Gesicht des Freundes erfolgreich nach Zuneigung und Verständnis und fühlte sich halbwegs wie wiedergeboren.

»Du hast mich tatsächlich suchen lassen, Jadar?«

»In der Stadt. Etwas Wichtiges. Ich hab's durch Zufall herausgefunden ... gefunden. Wo warst du?«

»Skuardi will wissen, wie sich die Leute im Westen des Hafens verhalten. Sein ewiges Misstrauen hat mich dorthin getrieben.«

»Und? Denken sie etwa an Rebellion?«

Das Feuer unter dem Kessel loderte. Im Durcheinander aus Kupferschlangen, Vorratsbehältern aus dickem Porzellan und kupfernen Hähnen brodelte und zischte es. Dampf pfiff aus einem Ventil. Cade winkte ab.

»Keine Spur. Sie beten zu Kraym, schauen den Schiffen hinterher und wünschen sich weit fort. Was wolltest du mir sagen?«

Jadar grinste. »Warte bis zum Abend.«

»Ich will gehenkt sein«, sagte Cade und richtete sich auf. Als er tief durchatmete, spürte er keine Schmerzen mehr. »Du heckst wieder etwas aus. Versuch nicht, mich zu beschwindeln. Du verlierst sonst den besten Kunden.«

»Hätte ich dich suchen lassen, wenn ich wirklich etwas verbergen wollte? Du sollst heute Abend mein Gast sein, das wollte ich dir sagen.«

»Ich bin hier. Ich höre.«

Jadar schüttelte seinen braunen, fast haarlosen Riesenschädel. Sein Grinsen versprach Überraschungen.

»Heute Abend. Reite heim, geh in dich, reinige deine Gedanken und deinen schönen Körper. Warte bis Mitternacht oder ein paar Stunden früher. Hat Poter – sein wünschenswert kurzes Leben bleibe ohne Sorgen! – dich nicht zu sich bestellt?«

»Nicht heute.« Cade sah zu, wie Jadars dicker Zeigefinger auf den weißen Todesvogel in der klobigen Goldfassung zustieß.»Er brütet über einem wichtigen Einfall. Offensichtlich.«

»Einfall?« Jadar hob die Arme. Seine Wangen zitterten. »In welches Land?

Gibt es noch eine Stadt rings um Khalakwolt, das seine Garde nicht heimgesucht hat?«

Cade schaute sich um. Der Raum war noch immer leer. Von draußen hörte man nur die Stöße der Brise und das Geräusch des Diop, das aus dem Brunnen soff.

»Nicht Einfall in einem Landstrich, sondern Einfall im Sinn hochmögender Ideen.« Cades Grinsen wurde bitter. Jadar schlug ihm auf die Schulter und stapfte zu der fauchenden Maschine. »Eines Tages wird dir der Ring auch nichts mehr nützen. Ich seh's deutlich vor mir. Du wirst in einen Konflikt hineingezerrt, bleibst stur, ergreifst Partei, und dann fressen dich die Geier auf der Säule.«

»Kurz davor verkaufe ich mich als Ruderer an einen Schnellsegler nach Siddikye.«

»Viel Erfolg beim Versuch.«

Jadar zapfte zwei Tassen eines schwarzen, dampfenden Gebräus, gab Honig hinein, einige Tropfen Sahne und rührte um. Er angelte sich einen klobigen Hocker und setzte sich auf der anderen Seite der Barriere. Er spielte auf eine der vielen Schauergeschichten an, die in den Schenken und an Lagerfeuern leise erzählt wurden. Vor Jahren hatte ein Karawanenführer einen Ringträger erschlagen. Nather Skuardi, Poters Vater, hatte den Schuldigen einundzwanzig Tage lang in feiner Kunstfertigkeit auspeitschen, auf dem Kapitell einer Säule anketten, von Geiern zerfleischen und schließlich köpfen lassen. Die Sklavinnen, Treiber und Tiere, sämtliche Lasten, der Haushalt und das Vermögen wurden eingezogen. Ansehen, Macht und Schutz, durch diesen Ring garantiert, waren seit dieser Zeit beispiellos.

»Ich fürchte, du hast recht, Jadar.« Cades Stimme war fest geworden. »Noch stehe ich unter Poters uneingeschränktem Schutz. Ich fürchte mich vor dem Augenblick der Wahrheit.«

Jadar hob den Kopf, schien zu lauschen; er murmelte unverständliche Worte.

»Du hast Freunde in der Stadt und im ganzen Land. Du wirst ausweichen können.«

»Ich weiß. Es braut sich etwas zusammen. Gerüchte schwirren; nichts Greifbares. Der Kraym-Kult gewinnt immer mehr Anhänger.«

Sie tranken schweigend. Ihre Gedanken kreisten um das Leben, das sie führen mussten. Hunderte unsinniger Tabus – t'puoy in der seltsamen Sprache – engten die Bewegungsfreiheit ein. Ein waghalsiger Zickzackkurs war die Folge in einer Welt, deren Geschichte ebenso kurz zu sein schien wie Cades und Jadars Erinnerung. Cade leerte die Tasse und stand auf.

»Nachmittag«, sagte er. »Der Anfall ist vorbei. In der Nacht droht mir eine Überraschung, und ich weiß nicht recht, was ich tun soll.«

»Reite nach Hause, schlaf ein paar Stunden, und überleg dir, wie du Poter dazu bringen kannst, die Dampfwagen zu verbessern. Hunderte von Azern werden dich wie einen Fürsten feiern.«

Cade starrte Jadar an. Ein guter Vorschlag.

»Gut. Schreib's an, wie immer.«

»Schon in Ordnung, Cade.«

Die Pranke des Hässlichen Wirtes schloss sich um Cades Hand. Cade verließ das Gewölbe, blinzelte im grellen Licht und schnalzte zweimal mit den Fingern. Das Reittier hob den schmalen Kopf, grunzte und kam langsam auf ihn zu. Auch die Diop – Mischung zwischen Kamel, Pferd und Raubtier – zählten zu den Seltsamkeiten der merkwürdigen Welt unter Yilmabasars heißen Strahlen.

Cade stellte seinen Fuß in den Steigbügel, hielt sich am vorderen Bug aus Knochen, Knorpeln und Muskeln fest und schwang sich in den Sattel, der aus dem Rücken des Tieres herauswuchs. Er lehnte sich gegen den hinteren Steg, zog am Zügel und kitzelte den Hengst mit den Sporen.

»In einer halben Stunde kriegst du dein Fressen«, sagte er, klopfte gegen den muskelstarrenden Hals und ritt an. Das Diop riss den Kopf in die Höhe, stob los und galoppierte auf den schmalen Pfad hinaus, der in großen Windungen vom Gelände der Karawanserei hinunter zur Straße führte. Vor dem südlichen Stadttor, einem Doppelturm aus Quadern, mehrfach mit gebranntem Ziegelmauerwerk ausgebessert, zog Cade die Zügel straff. Das Tier mit dem leuchtend gelben Fell stieg vor den Torwachen auf die Hinterbeine und kreischte aufgeregt.

Die Torwachen salutierten knapp, Cade passierte das Tor und ritt auf der Ringstraße, dicht unter dem Wehrgang der Stadtmauer, auf seine Wohnung zu.

Cade schirrte den Hengst ab, versorgte das Tier und zog den wuchtigen Riegel seiner Wohnungstür in die Höhe. Die Räume schienen leer zu sein. Cade rief nach Au Aru, doch niemand antwortete.

»Verfluchter Anfall«, sagte er, nahm die leeren Krüge und stieg wieder hundert Stufen hinunter.

Im Schatten eines Sadebaumes mit riesigen, dicht belaubten Ästen, in denen sich Schwärme grellfarbiger Jubjubvögel zankten, schienen sich alle Bewohnter des Landes zwischen Kap Kust und der Venosta zu treffen. Cade sah riesige, dürre Warzaleute, die hochmütig und unnahbar, mit der Arroganz satter Falken, durch die Menge stolzierten. Hunderte Stimmen schrien durcheinander, ebenso viele Gerüche stritten miteinander. Jeder Besucher des Basars, der stehenblieb, rief eine Stockung hervor, die sich erst an der folgenden Kreuzung zwischen den Hütten aus Stein, Lehmziegeln, Balken, Brettern und Leinwand auswirkte. Venostakapitäne schoben sich rücksichtslos durch das Gedränge. Cade ließ hin und wieder seinen Ring aufblitzen und folgte einer Bootsmannschaft, die sich laut fluchend auf den Platz zubewegte, an dem die Statue des Kraym über dem Gewimmel thronte.

Während hinter ihm Waffenhändler aus Siddikye mit schrillem Trillern auf ihre Ware aufmerksam machten, folgte Cade dem Geruch sauren Weines; er hätte den Weg mit geschlossenen Augen gefunden. Staub und Rauch wirbelten beißend durch die Luft.

Im Lagerraum des Loalwan-Weinhändlers funkelten die Augen eines kleinen Mannes mit blutrot gefärbter Schürze wie die einer Tempelkatze.

»Vom selben Wein, Herr Cade?«

Er rieb sich die Hände. Cade wusste, dass er nicht einen Augenblick Zeit an die Überlegung verschwenden würde, ihn zu betrügen. Cade wuchtete die Krüge auf den Tisch und deutete auf das große Fass, das auf glattgewetzten Steinjochen ruhte.

»Von dem, den Au Aru das letzte Mal kaufte«, sagte er. »Wenn er noch im Fass ist.«

»Halb voll, Herr Cade. Ihr wollt ein Glas zur Probe?«

»Meinethalben, Tesel«, sagte Cade Chandra. Der Händler spülte ein Glas, trocknete es und hielt es gegen das Licht, dann öffnete er den Hahn und ließ einen dünnen Strahl herauslaufen. Er wirbelte dabei das Glas aus dem Land Yron in der Hand und reichte es, ohne einen Tropfen verschüttet zu haben, dem wartenden Cade. Er kostete vorsichtig; der Wein war gut, und er erkannte ihn wieder.

Tesel hielt eine Hand vor den Mund und flüsterte: »Er schmeckt Euch, Herr?«

»Ja. Er ist gut. Die gleiche Menge, Tesel, und der gleiche Preis.«

Der Händler spülte die Krüge, und während der Wein in den ersten Krug gluckerte, wandte Tesel sich wieder an Cade.

»Wie immer, Herr. Habt Ihr schon gehört? Die Truppe des Herrschers – ein langes Leben sei ihm beschert! – ist zurück. Viele Beute. Viele Gefangene. Fürstentöchter sollen darunter sein. Und der Herrscher sinnt nach.«

In Khalak waren die Gerüchte schneller als Blitz und Donner. Cade straffte seinen Rücken und spürte dem Geschmack des Weines nach.

»Woher kamen die Truppen?«

Er hatte nicht gewusst, was das Ziel des neuen Vorstoßes gewesen war. Heute würde es mehr über Poter Skuardis Machtgier erfahren.

»Aus dem Osten. Sie haben eine große Bergfestung geschleift. Viele Sklaven sind verkauft worden. Ihr wart nicht auf dem Markt?«

»Ich will und brauche keine Sklaven.«

Cade schüttelte den Kopf und zählte Geldstücke aus seinen Taschen ab.

»Große Dinge sollen sich zusammenbrauen, Herr.«

Der Händler wechselte die Krüge aus. Mit der Öffnung des zweiten Kruges zielte er so gut, dass der Wein hineinrann, ohne den Rand zu berühren.

»Das tun sie immer, Tesel. Unentwegt.«

»Ihr werdet es bald erfahren. Man sagt im Palast, dass es ein Auftrag für Euch wird.«

Cade winkte ab, fluchte lautlos und sah scheinbar gleichmütig zu, wie der Händler die Krüge zustöpselte und die Münzen einschob. Er fing an, den Chaotiker Poter Skuardi zu hassen; wie viel Ärger, Verdruss und Elend wollte er noch über Khalakwolt bringen?

»Wir werden sehen«, sagte er. »Fertig, Tesel?«

»Ich lasse Euch die schweren Krüge in die Wohnung bringen. He, Stuaur!«

Ein ausgemergelter junger Sklave kam aus dem Hintergrund des Gemäuers. Er hielt ein weißes Tuch mit einem blutroten Fleck in der Mitte. Er hatte Wein gefiltert.

»Bring die Krüge in die Küche von Herrn Chandra.«

Der Junge schleppte die schweren Krüge aus dem Laden. Cade nickte Tesel zu, holte den Jungen nach ein paar Schritten ein und nahm ihm einen Krug ab. Die Geräuschkulisse schlug wieder über Cade zusammen: Klappern, Knarren und Klirren, Knirschen eisenbeschlagener Felgen, winselnde und summende Musik aus Saiteninstrumenten und hohlen Tonkästen, das Geschrei der Händler in allen Stimmlagen und einem halben Dutzend unterschiedlicher Dialekte.

Cade folgte dem Jungen wachsam, aber mit zurückhaltender Neugierde. Er wusste längst, dass hinter der Wirklichkeit Khalaks eine andere, tiefere Wahrheit versteckt war; vermutlich eine Art langsam wirkendes, tödliches Gift.

Er gab dem Sklaven eine kleine Münze, verriegelte die schwere Tür und goss einen Becher voll. Cade setzte sich auf die breite Fensterbank, trank nachdenklich und blickte abwechselnd nach unten, in das Gewimmel des Marktes, ins Viertel der Betrüger – so wurden die Händler genannt –, hinüber zu den Häusern der Reichen und zum spitzen Kegel des Palastes.

Plötzlich packte ihn ein Gefühl, das er gut kannte. Eine altvertraute Regung: Furcht. Die Sonne Yilmabasar sank in den Abend. Lange Schatten wanderten über Mauern, Hausfronten und Plätze. Vor dem Tor wirbelte eine gelbe Staubfahne in der kochenden Luft. Geräusche und Stimmen schienen aus weiter Ferne zu kommen. In Cades Kopf überschlugen sich die alten Fragen, und auch heute würde er keine Antworten bekommen. Warum hatte ausgerechnet ihn Skuardi als Ringträger ausgesucht? Warum lebten die Diop nur zwei Jahre und erschöpften ihre Kraft in nur fünfzehn Monden? Welcher Gott, welche Katastrophe oder welch bizarrer Zweig der Evolution hatte diesen Planeten manipuliert und, wenn ihn seine Erinnerungen nicht trogen, in ein aufgeregt lebendes Museum einander widersprechender Kulturen verwandelt; seine Erinnerungen, von denen er nicht wusste, wann und wo er sie gesammelt hatte?

»Und im Zentrum all des Wahnsinns hockt Poter Skuardi, eine unberechenbare Spinne in ihrem vielfädigen Netz«, flüsterte Cade. Ein schriller Fanfarenstoß, ein Fauchen und eine hochschießende schwarze Rauchwolke unterbrachen die Selbstbetrachtung. Er entdeckte drei Monde, der vierte, Tungk, schob sich hinter dem Palast über den Ringwall. Noch sechs Stunden bis Mitternacht.

Vom Palastberg kam schnaufend und feuersprühend ein Dampfwagen heruntergerattert. Wolken quollen aus dem schwarzen Schlot, aus der Esse loderten Flammen. Die Kolben der Zylinder stießen hin und her und drehten die Hinterräder, die sechs Armlängen Durchmesser hatten. Ein Azer schaufelte Holzabfälle, ein zweiter kontrollierte die Ventile, ein dritter thronte vor dem riesigen Lenkrad, das die kleinen, breiten Vorderräder steuerte. Im Glas der riesigen Scheinwerfer funkelte rot das Sonnenlicht, und auf dem Weg, den das Gefährt nahm, flüchteten Tiere und Menschen. Die aus Korb geflochtenen Riesenprofile knirschten über eine Brücke, der Dampfwagen verschwand hinter einer Häuserzeile. Ein riesiger Taubenschwarm flatterte aufgescheucht über den geschwungenen Dächern.

Cade schüttete den Rest aus dem Becher hinunter in die Gosse und glitt aus dem Fenster.

»Au Aru?« Er brauchte nicht laut zu rufen. Aus dem dunklen Nebenraum schlurfte ein schemenhaftes Individuum heran. Der Freigelassene blieb vor Cade stehen und verbeugte sich.

»Herr?«

»Kein Essen heute.« Cade knöpfte das Hemd auf. »Ich reite zu Jadar hinaus. Ich weiß nicht, wann ich zurück kommme. Du brauchst nicht zu warten.«

Au Aru sprach mit der Stimme eines müden Knaben.

»Und gerade heute, Herr, habe ich einen so schönen Fisch gestohlen.«

Er zeigte vorwurfsvoll die Länge des Fisches. Es schien ein Tier von der Größe eines Hammels zu sein. Cade schlug Au Aru lachend gegen den Oberarm.

»Morgen«, sagte er. »Zu Mittag. Neue Gerüchte?«

»Der Herrscher grübelt und sinnt. Er scheint mürrisch zu sein. Ein wandernder Erzähler wurde von der Wache in den Palast gezerrt.«

»Bei Kraym.« Cade fröstelte plötzlich. »Es gehen offensichtlich wichtige Dinge vor sich.«

»Wir haben Angst um dein Leben, Herr«, sagte der alte Mann und schluckte. Cade zog die Schultern hoch.

»Ich auch. Eine Handbewegung des Despoten entscheidet über Leben und Tod. Ein Menschenleben kostet wenig. Wahrscheinlich weiß Poter nicht einmal selbst, was er plant. Du hörst dich weiter um?«

»Ja. Ich ziehe es vor, weiterzuleben. Dauert in meinem Alter nicht mehr lange.«

»Schon gut. Bis morgen.«

Während sich Cade umzog und wusch, sagte er sich, dass er bisher alle Gefährdungen heil überstanden hatte. Gelassene Gleichgültigkeit sollte auch die folgenden Monde bestimmen. Zweifellos war seine eigene Geschichte mit der Skuardis und möglicherweise Khalakwolts verknüpft. In seinem Magen hatte sich ein harter Klumpen gebildet und löste sich auch während des Rittes nicht auf.

Fette, dicke Kerzen verbreiteten mit blakenden Flammen diffuse Helligkeit. In Kupferschalen auf dem Schanktisch brannten Holzstücke und sonderten harzigen Rauch ab. Rauchfäden schwärzten die Decke des Gewölbes; Mägde huschten hin und her und schleppten zu den Händlern, den Freigelassenen und den Karawanensoldaten Essen und Krüge. Hinter den Stühlen standen die Sklaven. Der helle Singsang der Hochlandbewohner mischte sich mit dem kehligen Tonfall der Männer aus den Hafenstädten und Fischerdörfern. Riesige Schatten taumelten über die Wände. Cade bildete sich ein, dass die Stimmung Unheil versprach. Er schob sich zum nächsten Schanktisch und, setzte sich.

»Nichts Besonderes heute Nacht, Cade.« Der Wirt machte eine wegwerfende Geste und griff nach den Naqnaqbechern. »Viel Volk. Keine Nacht großer Geschäfte. Ich habe hier ein Gefühl ...«

Jadar deutete mit seinem klobigen Zeigefinger auf seinen Magen. Cade zwang sich zu einem Grinsen und räusperte sich.

»Ich auch. Und der Weinhändler. Und mein Hausdiener. Und noch hundert andere Leute, die ich nicht gefragt habe.«

Jadar schnippte mit den Fingern. Unter schweren Lidern halb versteckt, huschten seine kleinen Augen flink umher und durchforschten jeden Winkel des Raumes im Halbdämmer. In der Esse qualmten Scheite unter einem rußigen Wasserkessel.

»Unheil kommt stets aus dem Palast. Willst du etwas essen? Trinken?«

»Deine Überraschung? Ich warte.«

Cade sah im Gesicht des Freundes den Anflug eines listigen Grinsens. Die Überraschung würde sich im Rahmen ungefährlicher Neuigkeiten bewegen. Wann löste sich die angestaute Spannung in der Stadt? Fragen, mehr Fragen, nichts als Fragen. Und dazu noch die Spiele der Macht des kahlköpfigen Diktators.

»Später. Ich habe eine gute Suppe. Viel Gewürz. Höllisch, mit Wein abgeschmeckt.«

»Eine Schale. Und einen Becher Wein.«

»Warte. Dauert nur ein paar Augenblicke.«

Cade drehte sich herum, lehnte sich gegen den glänzenden Granit und betrachtete die Männer an den Tischen. Mehr als fünf Dutzend halbnomadische Händler. Die dunkle Stimmung, die stets über Khalak schwebte, schien heute düsterer als sonst. Die Gespräche klangen schärfer, aggressiver. Es wurde mehr getrunken. Die Sklaven wagten sich nicht zu rühren. Die Ruhe vor einem furchtbaren Unwetter?

Jadar legte einen Löffel neben die Schale, tippte Cade auf die Schulter. Der Geruch der dicken Suppe, auf der geröstete Speckstreifen schwammen, erinnerte Cade an ... woran? Er dankte Jadar mit einem Nicken und fing zu essen an. Jadars Begabung als Koch entsprach dem Umfang seiner dicken Hüften. Als Cade fertig war, lachte Jadar; in der Zwischenzeit hatte er drei Tische bedient und für seine Mägde Nachschub bereitgestellt.

»Ich, ein alter, fetter Mann, der keine Lust mehr hat, sich durchs Leben zu kämpfen ...« Jadar nickte traurig und wischte über die Steinplatte. »Wir sollten abhauen.«

»Ich will zurück in eine Welt, an die ich mich nicht erinnere«, sagte Cade. »Deine Einleitungen kenne ich, Schurke. Du entschuldigst dich schon jetzt; ich ahne halbwegs, wofür.«

»Meister aller Waffen, deine leuchtenden grünen Augen durchdringen jeden Nebel. Wie Yilmabasar. Ich glaube, ich schleppe die Überraschung herbei.«

Er verschwand hinter dem Vorhang und in der unergründlichen Vielfalt der ineinandergeschachtelten Räume hinter der Gaststube. Dreißig Herzschläge danach war er wieder zurück. Die Unterhaltung hinter Cade riss schlagartig ab; er hörte, wie Stuhlbeine scharrten und Tische angerempelt wurden. Ungläubig kniff Cade die Augen zusammen, als er erkannte, wen Jadar mitgebracht hatte.

»Ich habe Amourea heute, am frühesten Morgen, für einen sündhaft hohen Preis von Skuardis Sklavenschindern gekauft. Deswegen ließ ich dich suchen, Cade.«

Cade und die junge Frau blickten einander schweigend an. In einem winzigen Augenblick fügten sich eine Handvoll Mosaiksteinchen zusammen. Cade begriff. Die Hand, die nach dem Weinbecher langte, blieb in der Luft hängen. Cade starrte Amourea an, als habe er noch nie eine Frau gesehen. Seine Gedanken beruhigten sich nur langsam.

»Ich denke ... ich bin sicher, sie gehört zu uns«, sagte Jadar leise und mit großem Ernst. Das Mädchen schwieg.

Vier Personen. Vier Einzelgänger in einer riesigen Masse, verstand Cade. Nachdenklich und leise sagte er:

»Ich sehe es. Sie gehört zu uns. Aber hat sie es auch begriffen?«

Amourea, Teil der Kriegsbeute herrscherlicher Truppen, gefangen und verkauft. Wieder bemühte sich Cade, die dicken Panzer seiner Erinnerungen vor Khalakwolt zu durchstoßen. Vergebens? Jadar lachte, halb verlegen, halb mit Besitzerstolz.

»Amorea soll sich zu dir setzen und mit dir sprechen. Sie ist, wie du siehst, schön. Ich denke, sie ist klug genug. Sie hat glaubhaft versichert, sie wäre Prinzessin ... gewesen. Sie ist in den Bergen aufgewachsen.«

Das Lachen gehörte zu einer Rolle, die Jadar aus Selbstschutz spielte. Fett, heiser und lüstern; ein abstoßendes Gelächter. Amourea erschrak und glitt mit wenigen Schritten um die Barriere herum, setzte sich neben Cade und funkelte ihn an. »Ich hab sie gekauft«, hörten sie Jadar. »Sie gehört uns. Dir und mir.«

Cade sah den Schrecken in ihrem Gesicht. Amourea versuchte, sich zu beherrschen. Die Gäste beruhigten sich wieder, weil ihnen die Frau den Rücken zuwandte. Der Blick Amoureas fiel auf Cades klobigen Ring.

»Der sagenhafte Ring des Vertrauten Skuardis.« Sie schüttelte fassungslos den Kopf. Cade setzte sich zurecht und blickte in ihr Gesicht. Amourea war eine Schönheit, und allein ihr Anblick weckte glückliche Momente in seinen Erinnerungen.

»Zwei Tassen Kh'olk, Jadar«, bat Cade. Jadar klapperte mit den Porzellangefäßen.

»Sofort.«

In einem Anfall von Trotz und im Versuch, Selbstbewusstsein zu beweisen und ihn herauszufordern, sagte Amourea:

»Du bist also ein mächtiger Mann, Cade.«

Für ihn und Jadar bewies diese Reaktion, dass sie auf dem richtigen Weg waren.

»Ich bin ein Freund Jadars.«

»Begreiflich, dass der Fette wenig Freunde hat.«

Amourea starrte den Hässlichen Wirt voll kalter Ablehnung und Verachtung an. Cade drehte sich auf dem abgewetzten Polster herum. Im konkaven Spiegel einer Metallschale konnte er, zwischen Krügen und Gläsern, das große Gewölbe halbwegs gut überblicken. Er beugte sich vor und packte das Handgelenk Amoureas. So leise, dass nur sie es verstehen konnte, sagte er:

»Du hast noch nicht begriffen, was vorgeht im Land Khalak, im Reich des verrückten Poter Skuardi. Du bist Sklavin. Jeder konnte dich kaufen und mit dir tun, was er wollte.«

Sie erschrak über den wilden Ausdruck seines Gesichts, aber lächelte scheinbar unerschrocken und wagte eine Antwort.

»Nicht lange.«

»Lange oder kurz; so ist es. Jadar ist einer der wenigen Männer in Khalakwolt, den ich meinen Freund nenne. Dass er dich gekauft hat, bewahrte dich vor den Hurenhäusern neben der Stadtmauer. Sein Lachen ist Maske, Berechnung, wie mein Ring. Tarnung kann das Leben retten. Reicht deine Erinnerung länger zurück als eineinhalb Jahre?«

Sie hatte ihn mit trotzig geschürzten Lippen angestarrt. Jetzt schrak sie zusammen, wollte aufspringen, aber Cades Griff verhinderte es. Schweigend blickten sie einander an. Ihre Augen waren keine zwei Handbreit voneinander entfernt. Beide bemühten sich um Gelassenheit. »Etwas mehr als tausend Tage, Cade«, sagte sie.

»Du hast Anfälle, in denen du undeutliche Stimmen hörst, die dir Befehle geben?«

Sie schüttelte stumm den Kopf.

»Weißt du noch, was vorher war?«

»Nein.«

Er starrte sie noch immer an. »Du, Jadar und ich, möglicherweise auch Poter Skuardi, haben das gleiche Problem. Die gleichen Fragen. Wir müssen versuchen, wenigstens wir drei, sie gemeinsam zu lösen. Die Chance für dich war Jadar, als er dich kaufte.«

Amourea, bewies, dass sie ihre schwarzen Ängste überwinden konnte. Sie nickte Cade mit einem abwesenden Lächeln zu, löste ihre Hand und ging zu Jadar, der gerade Kh'olk in die Tassen zapfte und tat, als sähe und höre er nichts. Sie umarmte ihn, küsste ihn nachdrücklich auf beide Wangen und streichelte seine Schultern. Sie nahm strahlend ein Tablett, stellte die Tassen darauf und kehrte zu Cade zurück.

»Jetzt ist er auch mein Freund«, sagte sie einfach. Völlig unvermittelt wuchs Vertrauen zwischen ihnen, wurde sie zum Objekt seines Begehrens, änderte er seine Meinung, und plötzlich wusste er, dass er sich in sie verlieben würde. Er lachte; als er nach der Tasse greifen wollte, drang durch den Eingang das Geräusch rasenden Hufgetrappels.

Voller dunkler Ahnungen sagte Jadar: »Die Palastgarde. Sie holen dich, Cade.«

Alle bekannten und unbekannten Seuchen über Poter Skuardi, dachte Cade Chandra verzweifelt. Bei Kraym. Eines Tages erwürge ich ihn. Jadar behielt recht. Die Tür schlug gegen die Wand. In der Öffnung stand im rötlich zuckenden Licht zweier Fackeln ein Hauptmann der Palastgarde: Storzia. Cade kannte ihn flüchtig. Er blickte sich um; seine Augen suchten und fanden Cade.

»Ich bin hier«, sagte Cade. »Komm her, Gevatter, und trink mit mir.«

Der junge Mann durchquerte das halbe Lokal und übergab Cade einen länglichen Umschlag.

Cade öffnete das protzige Siegel, faltete den Umschlag auseinander und las den Befehl. Seine Stimme war rau, als er sagte: »Wir sprechen später weiter. Morgen oder in einem Mond. Ich muss in den Palast.«

Er küsste Amoureas Finger, stand auf und folgte dem Hauptmann. Wahrscheinlich kam er zurück, aber er ekelte sich schon jetzt vor jedem Wort, das er mit Poter Skuardi würde wechseln müssen.

2 – Cade Chandra, Jäger der Erinnerungen

Über dem Palastberg und der Stadt wölbte sich der herrliche Nachthimmel Khalakwolts. Der gelbe Mond Tungk ließ die Terrassen und Kanzeln zu filigranen Scherenschnitten werden; die silbergraue Amr schien um den riesigen schwarzen Mond Whawha zu kreisen. Sechs der acht Monde tummelten sich zwischen den funkelnden Sternen. Wie das geschwungene S, mit dem Skuardi seine Dekrete unterzeichnete, schwang sich der Trümmergürtel des neunten Mondes, ein diamantglitzernder Schleier, durch die Schwärze.

Cade ritt dicht an den Hauptmann heran und zügelte sein Diop. »Was will Poter von mir?«

Der Gardist hob, ohne sein beherrschtes Gesicht zu verziehen, die Schultern. Von seiner Fackel tropften Harz und Öl brennend in die Mähne des Reittieres.

»Ich weiß es nicht. Er hat drei Tage lang nachgedacht.«