Sohn der Unendlichkeit - Hanns Kneifel - E-Book

Sohn der Unendlichkeit E-Book

Hanns Kneifel

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Beschreibung

Die Erde schickt ihren vollkommensten Mann zu den Sternen – Dorian Variatio, Endprodukt eines langen und komplizierten biologisch-genetischen Programms. Dorian hat die Aufgabe, Lebewesen im Kosmos zu finden, die geeignet sind, das kulturelle und zivilisatorische Erbe der alternden Menschheit zu übernehmen und fortzuführen. Er bricht zu der größten interstellaren Reise auf, die je ein Mensch unternahm, völlig allein in seinem Sternenschiff. Doch er trägt das Wissensgut der Menschheit in sich – und die Fähigkeit, durch Veränderung seines Stoffwechsels selbst auf Höllenplaneten überleben zu können. Sohn der Unendlichkeit erschien 1972 im A. Moewig-Verlag, wurde leicht bearbeitet 1985 im Pabel-Moewig-Verlag herausgebracht, erschien 1998 im Schneekluth Verlag und wurde für die vorliegende eBook-Ausgabe gründlich be- und überarbeitet.

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SOHN DER

© Copyright Erben Hanns Kneifel

© Copyright 2016 der eBook-Ausgabe bei Verlag Peter Hopf, Petershagen

www.verlag-peter-hopf.de

Cover: © Thomas Knip, Hintergrund: Anders Lejczak

ISBN ePub 978-3-86305-231-7

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Alle Rechte vorbehalten

Die in diesem Roman geschilderten Ereignisse sind rein fiktiv.

Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Begebenheiten, mit lebenden oder verstorbenen Personen wäre rein zufällig und unbeabsichtigt.

Sohn der Unendlichkeit erschien zuerst 1972 im A. Moewig-Verlag, wurde flüchtig bearbeitet 1985 im Pabel-Moewig-Verlag herausgebracht, erschien 1998 im Schneekluth Verlag und wurde für die vorliegende Ausgabe gründlich be- und überarbeitet und mit gebührender nostalgischer Anhänglichkeit an den Originaltext neu eingerichtet und erweitert.

HANNS KNEIFEL

Inhaltsverzeichnis
Sohn der Unendlichkeit
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel

1. Kapitel

Aus: Rekkeswynth Katatympalo u. Jossel W. Seydenblum: Die finale Entropie aller Kosmogonien oder Kryptografische Versuche in bedenkenswerten Endzeiten. Verlag Absolute Helligkeit, Port Artemis, Arrowstar 61 Cygni, Epsilon, © A.D. Juli 6793

»Seit die Suche nach der sog. Dunklen Materie aufgegeben wurde, die vorgeblich, im All verborgen, den Lauf der Galaxien und Gestirne mit ihrer Schwerkraftkomponente beeinflusst, herrscht die Furcht vor Entropie in den Gedanken, Überlegungen und Berechnungen der Astronomen und gebildeten Raumfahrer. Die Sonne strahlt ihrem Ende als Weißer Zwerg entgegen – in mehr als einer Milliarde Jahren. Zeit genug zum Nachdenken und Handeln. Grund zur Panik oder nur zur Resignation? Schwerlich! Gleichwie: Das Universum ist eine launenhafte alte Dame mit langer Vergangenheit.

Dessen eingedenk verfielen seit ca. 5750 n. Chr. Denker, Forscher, Deuter und Staatenlenker dem ehrenwerten Ansinnen, das gesamte Erbe der melancholisch gewordenen Erde dergestalt zu retten, dass sie es möglichst vielen jungen Sternvölkern zuteil werden ließ. Zunächst scheiterte der Versuch an der völligen Abwesenheit oben genannter junger Sternvölker; die Raumfahrer fanden dutzende Planeten mit prächtigen, rätselvollen kulturellen und zivilisatorischen Hinterlassenschaften, die oft nur unentzifferbare Relikte waren. Kein glückhafter Alien-Kontakt!

Wer es war, der schließlich den Schild des Daidalos/Dädalus als Sternkarte entdeckte und als einzigen, weil letzten Ausweg aus der Sinnkrise der Erde, ist schwer zu ermitteln – mithilfe vieler hintereinander geschalteter künstlicher Intelligenzen, kurz KIs, gewann man Koordinaten, Entfernungen, Sonnenspektren und Masseanomalien.

Das All ist groß und meist dunkel, schreibt La Libra, poeta planetaris. Lasst uns dort suchen, wo sich mit größter Wahrscheinlichkeit Leben regt, und sei es tentakelbewehrt, aus Silikon, flöge, schwämme oder taumle es; es wird sich eine Verständigungsart finden. Besiegt die feuchten Nebel der Melancholie mit Einfallsreichtum und Zuversicht! Recht hat er. Die Entropie, oder noch schlimmer, die Furcht davor, ist in uns! Entropie, jene dem gebildeten stellaren Laien schwer verständliche thermodynamische Zustandsgröße, Symbol für die Umkehrbarkeit eines Prozesses, Maß eines Unordnungszustandes, tritt erst nach dem letzten Fehlschlagen aller Ideen des gesamten Menschengeschlechtes ein, nach dem Aufflammen der Sonne, was noch lange dauert.

Was soll's! Nach jenen verschwundenen Sternenschiffern um Artemis und Daidalos sind wir es, von denen die Fernraumfahrt wieder erfunden wurde, nebbich. Die Chroniken aller Sternreisen und galaktischen Ausflüge sind weiter unten in dieser Schrift zu finden – Biokloning, Genmanipulation, gezielte Veränderung der Erbmasse, mörderisches Training und gezielte Mutation ganzer Zellverbände, längst bekannte Waffen gegen Krankheit usw. wurden eingesetzt, um durch viele Generationen des Homo sapiens hindurch ein Paar herauszuformen, das jenes hoffentlich unsterbliche Erbe der Menschheit wie die olympische Fackel weiterzugeben in der Lage ist: Amaouri als schöne Urmutter eines Geschlechts einmaliger Raumfahrer und Dorian Variatio als Kurier zu fernen Sternvölkern und, später, als Urvater jener wahren Galaktiker ...«

In dieser entscheidenden Nacht kam endlich die ersehnte Ruhe über Dorian V. Das Licht der unzählbaren Sterne flimmerte als Spiegelbild auf den Gläsern der Instrumente und über allen glänzenden Kanten. Alle Unruhe war von ihm abgefallen wie eine abgestorbene Haut. Das All, das sich auf Bildschirmen und hinter Luken ausbreitete, war glasklar. Die Sonne des Planeten, dem die Computer den hypothetischen Namen Fuega gegeben hatten, schob sich aus der Anonymität des stellaren Hintergrunds hervor, als sich das Raumschiff dem Planetensystem näherte. Es schoss dahin wie ein Gedankenpfeil; schnell und souverän gesteuert. Dorian wurde aktiv, verließ den überdimensionierten Pilotensessel und schaltete das Raumlicht an. Für einige Sekunden blieb sein Blick auf dem kristallinen Holokubus haften. Die Hand des vierunddreißigjährigen Mannes streckte sich aus und tippte die Frontscheibe des Würfels an. Das gespeicherte Programm begann abzulaufen, diesmal mit neuen Variationen. V, Variatio, war auch das Kennzeichen Dorians.

»Amaouri«, sagte er leise in die von Ticken, Summen und Schnurren erfüllte Halbstille der Kanzel hinein. »Ich wünschte, du wärest hier ... und könntest mir helfen.«

Sie war nicht hier, noch würde sie ihn auf einem der Planeten begleiten können, deren Koordinaten die Petafloprechner anhand des Halsschildes des Dädalos errechnet hatten.

Aber sie war in Bild und Ton hier. Das Programm lief an und zeigte eine junge Frau, deren außergewöhnliche Schönheit nichts von ihren inneren Qualitäten erkennen ließ. Wenige Menschen – schon in diesem Wort lag für Dorian V. eine untergründige fast groteske Bedeutung – kannten Amaouri genau; er war einer von ihnen.

»Ich weiß«, sagte das dreidimensionale Farbbild, während die junge Frau sich langsam der Aufnahmeoptik näherte, »dass du in diesem Augenblick meine Nähe herbeiwünschen wirst. Das ist unmöglich, denn ich könnte auf deiner Mission mit dir nicht Schritt halten und würde dich ablenken. Aber ich weiß, Dorian, dass du der perfekteste aller Kuriere bist, die das All je gesehen hat. Nach deiner Rundreise werden wir alle Zeit dieser Welt für uns haben.«

Dieser sterbenden Welt namens Terra, dachte Dorian und löschte das Bild: Amaouris Gesicht, ganz nahe, mit lächelnden Augen und lächelndem Mund, und dahinter wurde für ihn ihre Liebe sichtbar. Nur für ihn – für keinen anderen Menschen außer ihm.

Er hob die Schultern, ließ sie unschlüssig sinken und wusste, dass auch ihre Worte und ihr Lächeln die Gefahr, die ihm von Fuega drohte, keineswegs mindern konnten. Nur er würde diesen Planeten betreten können. Eine Welt, deren flammende Zungen ihn töten konnten.

»Schließlich ist jeder ein einsamer Jäger und zugleich ein einsames Opfer einer noch größeren Jagd!«, sagte er laut. Die Worte hallten zwischen den gerundeten Wänden der Kanzel, als er diesen Raum verließ, sich eine C'amana aufbrühte und ein großes Glas eines stark aromatischen braunen Alkohols abfüllte. Dann zündete er seine letzte Zigarette vor dieser Mission an und trank Alkohol und C'amana in kleinen Schlucken. Der Autopilot nahm sämtliche Schaltungen vor und trug das Schiff fast lichtschnell auf die Sonne Fuegas zu.

»Die erste Regel. Es gibt keine schlechten Kuriere!«, sagte Dorian in fatalistischer Heiterkeit. Was getan werden musste, konnte nur er tun. Er war das Ergebnis von Millionen zielgerichteter Modifikationen und Mutationen und stellte die mathematische Spitze einer Pyramide dar, deren Basis einmal alle Menschen eines Planeten namens Erde gewesen waren. Einstmals, vor grauer Vorzeit, als es noch einen Mond und nicht statt Luna einen Ring kosmischer Trümmer gegeben hatte. Er lächelte und warf die Zigarette in den Konverter, der sie mit einem Funkenschlag in Elementarteilchen auflöste, aß verschiedenfarbige Konzentratwürfel und überdachte seine Lage. In etwa einem Tag irdischer Rechnung, der auch die Bordzeit zugrunde lag, würde er den Boden dieser planetaren Hölle betreten und dort mit seiner Mission beginnen müssen. Buchstäblich niemand wusste, was ihn dort erwartete – außer allen nur erdenklichen Gefahren.

Im Augenblick war er, was seine Wahrnehmungsfähigkeit betraf, noch ein Mensch. Ein Bewohner der Erde, der sich im »Signalraum« eines Homo sapiens aufhielt. War der Planet nahe genug vor dem Raumschiff, würde er eine Reihe von Spektren erweitern und sich der ausgeprägten Selektionsfähigkeiten bedienen müssen und einer Masse technischer und biomechanischer Spielereien, die ihn einzigartig, unersetzlich und in gewisser Weise besonders einfältig machten; er war ein Prototyp, der jede metabolische Herausforderung mit einer neuen Fähigkeit erwidern würde. Von diesen Fähigkeiten, die zum Teil als bedingte Reflexe abliefen, ahnte er nicht einmal die Hälfte. Er war selbst gespannt darauf, ob er überlebte oder starb. Niemand war da, der an seine Stelle treten konnte. Auch nicht bei Amaouri, der Unvergleichlichen. Langsam ging er zurück in den Kommandoraum seines Raumschiffs, setzte sich in die strukturierten Polster des Sessels und betätigte zwei Dutzend Schalter, Verstärker, Drosseln und Schieberegler. Seine Finger verweilten über Kontaktplatten und durchbrachen modulierende Strahlen, die unsichtbar waren, aber die er, hätte er es wirklich gewollt, selbst sehen hätten können.

Auf einem mehr als vier Quadratmeter großen Schirm erschien die plastische Wiedergabe des innersten Planeten der namenlosen Sonne. Der Autopilot hatte das Schiff dergestalt gesteuert, dass es sich der Tagseite Fuegas näherte. Aber auch die Nachtseite würde ein reichhaltiges Sortiment von gefährlichen Schrecken und tödlichen Fallen für ihn bereithalten.

»Erstaunlich!«, sagte er und betrachtete den Planeten im Bereich des normalen Sehspektrums. Eine Halbkugel im grellen Sonnenlicht. Die Atmosphäre, die das Bild verschleierte, bestand aus Gasen, die jedes irdische Leben binnen Minuten unwiderruflich vernichteten; auch ihn, wenn er unvorsichtig war. Eine Landschaft aus Kratern und Gebirgen, aus riesigen Maria, aus Schluchten, großen Seen und Flüssen aus geschmolzenem Metall, Wäldern und Steppen, die nichts anderes waren als groteske Silikonverbindungen, nach den unerforschten Gesetzen dieses Planeten gewachsen und blühend, verdorrend und samenspendend. Dorian schüttelte den Kopf und veränderte seine Sehfähigkeit in den infraroten Bereich hinaus. Ein Hitzebild erschien. Über die normalen Farben, die jeder Erdbewohner sehen und identifizieren konnte, lagerten sich die »neuen« Farben, für die nur er eine Nomenklatur entwickeln konnte. Die Flüsse aus geschmolzenem Blei bildeten Adern und Verästelungen in einem grellen Schreeyl, die Seen und das große Meer schimmerten in einem intensiven, fast mythischen Ruhb. Dorian lächelte und tippte, indem seine Finger in rasend schnellem Wirbel über eine Tastatur huschten, einen zusammengesetzten Befehl in das Eingabeelement der bordeigenen KI.

»Die Landeblase!«, sagte er leise. Rings um ihn tickte und summte es. Noch hörte er in der normalen Skala von sechzehn bis sechzehntauseneinhundert Hertz. Das Schiff verwandelte sich in einen technisch lebendigen Organismus. Die KI, die künstliche Intelligenz, speiste die Daten für einen stabilen Orbit ein, Servomaschinen machten gleichzeitig die Landeblase fertig und suchten Hilfsgeräte heraus.

»Noch zwanzig Stunden!«, bemerkte er. »Zeit für einen kurzen Schlaf – ehe die große Auseinandersetzung beginnt.«

Er erledigte sein Programm, kontrollierte die KI, die wiederum ihn kontrollierte, duschte und zog sich in seine Wohnkabine zurück. Die Liege faltete sich aus der Wand, die Unterlage blies sich auf und die Bilderwand erwachte zu farbigem und stereoskopischem Leben: Bilder von der Erde, von Dädalos' Schild, von Amaouri und von der Schnittebene der Galaxis.

Dorian wusste, dass er dem Schiff voll vertrauen konnte, legte sich hin und regulierte die synthetische Schwerkraft neu ein; er wollte sich ausschlafen. Dann injizierte ihm die Maschine einige Kubikmillimeter feinsten Nebels; ein Schlafmittel. Er verschränkte die Arme hinter dem Kopf, schloss die Augen und dachte nach.

Die Worte des Sonor Quaiser, »La Libra«, gingen ihm nicht aus dem Sinn. Sie charakterisierten hervorragend ihn und seine Mission. Wer anders als Sonar hätte es so beschreiben können? Dorian grinste breit; schließlich war es Quaisers Beruf, die Dinge in luzider, geistreicher Form zu beschreiben: Wir halten Kurs auf das Universtim dank eines Zufalls, der schon fast makaber ist. Seit der Ausgrabung in den späten 2089er Jahren im Tiefengestein Kretas verjüngte sich eine wahrhaft bizarre Pyramide, deren absolute Spitze Dorian ist. Er verkörpert in sich Können, Wissen und missionarischen Eifer der sterbenden Erde, was freilich schlecht bezahlt wird, denn auch er ist nur Erbe einer unbegreiflichen Unendlichkeit der Gedanken, ein Werkzeug Terras. Irgendwo auf der Schnittebene der Milchstraße wird er jene treffen, die vor undenkbarer Zeit den Schild des Dädalos hinterlassen haben. Wen sollen wir mehr betrauern? Den Kurier der Erde oder die unvergleichliche Amaouri, die niemals wieder die Chance haben wird, einen Mann kennen zu lernen, der Dorian Variatio ähnlich ist? Das glückliche Ende der Kurierreise zu den Planeten ferner Sterne ist zumindest fraglich oder in weiter Ferne. Und, wer weiß, ob die geätzten Punkte und Striche auf dem Halsschild des Dädalos auch wirklich Sterne sind? Ich weiß es nicht. Viele, die es wissen sollten, sind misstrauisch geworden. Aber schon stimme ich, obgleich voll der Bewunderung für Dorians Mut, die Leier für den Totengesang des Trefflichen ...

Dorian musste, wenn auch bedachtsam, grinsen, als diese Sequenz seine Überlegungen durchwandert hatte. Der großartig feuerfarbene Gegenbeweis hing in Form eines brennenden Planeten vor dem Raumschiff, das nun in einen stabilen Orbit gesteuert wurde. Die Rezeptoren übernahmen einen Teil der Arbeit des Kuriers – sie stellten fest, wie sehr sich Fuega von der Erde und anderen bekannten Planeten unterschied. Oder auch weniger, denn das größere Wissen würde ihm die Unbefangenheit und Naivität nehmen, die Kennzeichen eines guten Kuriers waren. Seme Gedanken wurden langsamer, die Bildfolgen wechselten träger, die Farben und Strukturen verschwammen. Einst, in einer grauen Vorzeit der Kultur, schien die Erde von Wesen aus dem Volk des klugen Dädalos besucht worden zu sein. Viele Kenntnisse waren den Menschen damals vermittelt worden. Jetzt schloss sich der Kreis: Die Erde besuchte ihrerseits Planeten, um mit Dorians Hilfe zu versuchen, Leben und Erkenntnisse, Kultur und den besten Teil der Zivilisation zu retten und weiterzugeben. Samen, die ausgestreut wurden ... Dorian schlief ein.

2. Kapitel

Er stand nackt vor dem Raum hohen Spiegel und musterte sich, während er die Folie seines Anzugs überstreifte. Er tat dies mit überaus großer Vorsicht. Die leichteste Unachtsamkeit konnte seinen Tod und das Ende der Mission bedeuten. Er sah sich überaus skeptisch an, während sich seine Lippen zu einem undeutbaren Lächeln verzogen. Ein großer, schlanker Mann mit hellbrauner, glänzender Haut. Er besaß nur Kopfhaar, Wimpern und Brauen; die V-Haut hatte bei ihm, dem vorläufig letzten einer endlos langen Reihe von winzigen Mutationen, sämtliches Haar und die Poren, aus denen die Härchen wuchsen, abgestoßen. Einhundertneunzig Zentimeter groß, mit gegenwärtig grauen Augen, harten Muskeln und scharfen Falten um Kinn und Mundwinkel. Sein Kopf war das Ergebnis kosmetischer Operationen in frühester Jugend; die Narben waren unsichtbar. Die Gelenke waren schmal und kräftig, ebenso die Finger. Vorsichtig schloss er die breiten Säume des Anzugs und probierte innerhalb einer halben Stunde sämtliche Hilfsgeräte aus; selbstverständlich funktionierten sie. »Ausgezeichnet!«, sagte er zu sich selbst, ließ ein speziell zusammengesetztes Gas ins Innere des Anzugs strömen, worauf sich die Folie an allen Stellen seines Körpers sechs Millimeter von der Haut entfernte. Dann machte er einige Übungen, um den Sitz des Hilfsanzugs zu testen: Alles war so perfekt wie während der tausend Tests auf Terra. »Noch besser!«, bemerkte er. Rein äußerlich betrachtet, unterschied er sich kaum von jedem Erdbewohner. Auch seine Gedanken und seine Furcht vor dem Abstieg nach Fuega waren die eines Bewohners des dritten Planeten im Solarsystem.

Damit allerdings erschöpften sich die Gemeinsamkeiten. Eigentlich war er, wenn er wollte, ein lebendes Laboratorium mit zahllosen Werkzeugen, von einem Hochleistungsrechner gesteuert, der dieselben Fehler machen konnte wie ein menschlicher Verstand. Das war sein Problem: Er konnte, wenn er nicht selektierte, an Reizüberflutung sterben, nachdem er zuerst wahnsinnig geworden war. Er verscheuchte bewusst die negativen Gedanken. Ein guter Kurier ist niemals missgestimmt, hatte Diomed III., der Kybernos, ihm immer wieder gesagt.

Kurze Zeit später tat er drei Dinge gleichzeitig: Er nahm ein reichliches, aber mengenmäßig geringes Frühstück mit wenig Flüssigkeit zu sich, betrachtete das Bild Amaouris, die beruhigend zu ihm sprach, und sondierte die Landschaft, die er aus vierzigtausend Kilometern Entfernung unter sich sah.

Das dauerte eine Stunde. Was er brauchte, hatte er bei sich, einschließlich seiner Angst. Jedenfalls konnte er noch als halb verbrannter Leichnam das Schiff oder die Abstiegsblase herbeirufen, denn dies geschah durch reine Gedankenbefehle. Er nickte Amaouri zu, verließ die Kanzel und stellte sich im Abwurfschacht in die Kugel, die sich sofort hinter ihm schloss.

»Abstieg!«, sagte er. An der Unterseite des Schiffes öffnete sich ein Zentralverschluss. Die Kugel schwebte wie eine Seifenblase, graziös langsam, vom Schiff weg und auf den Planeten zu. Winzige, kraftvolle Maschinen begannen zu arbeiten und jagten das Geschoss durch den Weltraum, durch die ionisierten Schalen der Atmosphäre hinunter zum Boden. Wieder tauchte das Gemisch normaloptischer und infraroter Farben auf. Minutenlang befand sich Dorian innerhalb eines Kometen aus ionisiertem Gas von freumer Farbe, dann schoss die Blase aus lang gezogenen gelben Wolken heraus und senkte sich wesentlich langsamer einer wahrhaft fantastischen Landschaft entgegen.

»Und dort sollen Menschen leben? Oder Wesen, die über Intelligenz verfügen?«, fragte er sich laut. Die komplizierten elektronischen Umwege, die seine Worte gingen, riefen im Innern der Blase ein Echo von einer Millisekunde Verzögerung hervor. Mit einem Teil seiner Gedanken steuerte er die Blase weiter, während er das Gelände unter sich im normaloptischen Bereich absuchte, also von 10-10 m (Angström) bis hinunter in den Grenzbereich eintausend.

»Vermutlich werde ich von hier bald wieder starten!«, sagte er zu sich. Ein guter Kurier besiegt seine Furcht, indem er an andere Dinge denkt, war Diomeds zweite Regel. Er dachte an andere Dinge. Beispielsweise an die Oberflächengestaltung dieses wilden Planeten. Während die Landekugel in eintausend Metern Höhe über die Landschaft dahinstrich, spähte Dorian nach unten. Er befand sich völlig im Bann dieser rätselhaften Welt. »Ich muss nach gewissen Strukturen suchen, nach einer anthropogenen Landschaft«, erinnerte er sich.

Er überflog einen Bergrücken. Die Massive und Gipfel sahen aus wie eine zerrissene Kette tätiger Vulkane. Ausgeglüht von der Hitze von Jahrmillionen, erodiert von den Wolken aus Methan und flammenden Gasen, die wie Nebelfetzen über die graue, mit Blau gesprenkelte Kulisse dahinjagten. Eine gewisse Ähnlichkeit mit vielfarbigem Eis, das unter starker Hitze in unvorstellbar bizarren Formen geschmolzen war, bestand in den Augen des Kuriers. Er ließ die Kugel mit dem orkanartigen Wind dahintreiben und sah, mikroskopisch klein, ihren Schatten auf den schrundigen Hängen und über die Spitzen huschen. Wenn es hier lebende Wesen mit Intelligenz gab, wie man allgemein annahm, würden sie die Oberfläche Fuegas umgestaltet haben. Der Fallwind ergriff die Kugel und drückte sie entlang eines geschwungenen Hanges nach unten. Hier wuchsen Wälder aus vielfarbigen Silikonverbindungen, wie Dorians Bordgeräte festgestellt hatten. Zwischen den Bäumen liefen Rinnsale entlang, vereinigten sich zu einem Bach, der in vielfältigen Windungen dem Gefälle des Hanges folgte und weiter unten mäandernd in einen See mündete, der aus geschmolzenem Metall zu bestehen schien. Wieder tauchte, als Dorian sein optisches Spektrum weit in den Infrabereich hinein ausdehnte, die eigentümliche Farbe Ruhb auf, die nur er sehen konnte. Und die Menschen dieses Planeten, wenn es sie gab. Ein Talkessel! Dorian stabilisierte die Kugel und hielt sie in der Luft an.

Jetzt konnte er ein riesiges Gebiet übersehen, dessen Durchmesser mehr als einhundert Kilometer betragen mochte. Es war geformt wie eine flache Schüssel mit unregelmäßig ausufernden Rändern, von Bergen und Vulkanen umsäumt. Einige Seen blinkten, ein träger Flusslauf wand sich hindurch. Die Kugel machte einen Satz nach rechts und fiel fünfhundert Meter, dann folgte sie gehorsam dem Ufer des Flusses, der breiter wurde, je mehr er sich dem Zentrum der Landschaft näherte. Dann sah Dorian den Turm. Er bestand aus Steinquadern, mit einem hell glänzenden Überzug aus Wolfram. Der Turm war geformt wie ein Ventunrohr; seine ovale, in die Richtung des Windes offene Oberseite fing den Druck bewegter Gasmassen auf. Dreitausendreihundertsiebzig irdische Grade betrug die Schmelztemperatur von Wolfram; schlagartig erkannte Dorian, dass es hier eine Kultur gab. Er ergänzte leise: »Oder gegeben hat!«

Langsam steuerte er näher. Dann sah er auch Gräben und Mauern, die kleine Felder abgrenzten. Im Windschatten gediehen stachelige Gewächse von kristalliner Struktur. Deutlich nahm er die Brechungslinien des gefilterten Sonnenlichts wahr, als er abermals seine Möglichkeiten optischer Erkenntnis ausdehnte. Wieder bremste er die Kugel ab. Also doch! Wieder ein Glied in der Kette positiver Beweise, die sich mit der wahren Bedeutung einer konvex gekrümmten Platte rostfreien Stahls beschäftigten. Die Punkte auf Dädalos' Schild bedeuteten also tatsächlich Sterne, die mathematisch entzifferbaren Glyphen waren Entfernungsangaben und Koordinaten! Hier jedenfalls, auf einem Planeten mit der Durchschnittstemperatur von rund zweihundert Grad Celsius, gab es intelligentes Leben.

Eine Bewegung fesselte seine Aufmerksamkeit, lenkte sie von der ausgedehnten Siedlung ab. Drei Gestalten, die absolut menschenähnlich aussahen, rannten über die kniehohen Polster eines Mooses aus Silikaten mit organischen Einschüssen, deren Farbe zwischen Tiefrot und Infrarot lag. Es waren Pyrogenten, Menschen des Feuers. Eine vierte Gestalt saß auf einem stämmigen, achtfüßigen Tier, das sich in rasender Eile quer über eine der Weideflächen bewegte. In der Hand dieses vierten Mannes ringelte sich eine lange, dünne Schlange aus silberglänzendem Schwarz. Arm und Schlange bewegten sich, dann hörte Dorian einen peitschenden Knall. Von der Spitze der Schlange lösten sich drei Teile, schwirrten wie Pfeile davon, wobei sie sich schlängelten wie Aale. Dann trafen sie in der Kniegegend auf die Beine der Flüchtenden, rollten sich zusammen und brachten die drei Männer zu Fall. Die kreischenden Schreie drangen bis ins Innere der Kugel. Dorian schnippte mit den Fingern, steuerte die Kugel auf den Reiter zu und durchdachte das eben Gesehene.

Ein Mensch ritt auf einem Tier; das bedeutete langjährige Erfahrung in der Domestizierung der planetaren Fauna. Er bediente sich einer Peitsche, eines strafenden Instruments, was auf eine geplante Symbiose zwischen Mensch und Tier hindeutete oder zwischen Menschen und Pflanzen mit einer gewissen Intelligenz. Und dann wurden Flüchtende in einem schmerzhaften Prozess bestraft und eingefangen – also war hier die Herrschaft von Menschen über Menschen dokumentiert worden. Fuega würde Dorian mit einer komplizierten Kultur empfangen.

Seine Furcht war wie weggebrannt von der glühenden Außenwelt. Er hielt die Kugel dicht über dem Kopf des Reiters an. Dorian wurde sichtbar, als ein wehender Gasschleier abriss und um den Kopf des Reiters davonwehte. Sie starrten sich an. Auf dem Helm des Pyrogenten, der eine gewisse Ähnlichkeit mit einem schweren dorischen Kampfhelm hatte und wie blankpoliertes Kupfer leuchtete, befand sich ein Symbol, das Dorian schnell studierte; es mochte in seiner Bedeutung eine chemische Umsetzung ausdrücken oder ein Zeichen der Macht. Er erkannte es nicht. Dorian hob den rechten Arm, spreizte die Finger und kehrte dem Herrscher die Handfläche entgegen. Der Mann riss an seiner dünnen Kette, das Reittier hielt ruckartig an. Aus seinem Maul kam eine Wolke schwarzen Rauches. Dorian setzte die Kugel ab, schaltete Hilfsgeräte an und verließ die Blase. Ein Gedankenbefehl ließ die Kugel um zweihundert Meter steigen und verankerte sie dort in den ziehenden Gasströmungen.

Dann lachte Dorian den erstarrten Pyrogenten an. Dorians Arme, Handgelenke und Finger begannen sich zu bewegen. Den einzelnen Gesten lagen abgestufte Bedeutungen zu Grunde. Es waren archetypische Gesten; jeder Muskel wurde genau kontrolliert, sodass eine logische Kette von Gesten entstand, die bei jedem Partner von einiger Intelligenz notwendigerweise Assoziationen hervorrufen musste; einfache Zeichen, die vielerlei ausdrückten: Friedfertigkeit, Wunsch nach Kommunikation, Vernunft und Verstand, eine gewisse Vertrautheit der Denkenden miteinander. Die Augen, die Umgebung der Augen, die Gesichtsmuskulatur wurden von Dorian ebenso eingesetzt – und schließlich begann er zu sprechen.

»Ich bin Dorian«, sagte er. Seine Stimme übertönte mühelos das Heulen des Windes und klang äußerst angenehm. Menschliche Wärme, Entgegenkommen, eine gewisse Hilflosigkeit, aber auch der feste Wunsch, mit dem Partner in einen Dialog einzutreten, wurden ausgedrückt. Der Mann in dem golden lodernden Helm schlug gegen seine linke Schulter und rief: »Rien!«

Rien und Dorian blickten sich an. Dorian wies nach oben und winkte der Kugel. Sie flog einen Kreis und blieb stehen. Die kleinen, von schweren Lidern geschützten Augen des Mannes vor ihm weiteten sich.

Er sprach einen längeren Satz. Dorian versuchte, die einzelnen Teile zu analysieren. Er stellte fest, dass der Tonfall genau das ausdrückte, was er erwartete, nämlich Verblüffung, Neugierde und den brennenden Wunsch, mehr zu erfahren. Langsam drehte sich Dorian um. Sein Anzug hielt, geschützt durch eine Anzahl temperaturabweisender Kraftfelder, die Hitze zurück. Die Anzugsversorgung funktionierte hervorragend. Die Sklaven lagen noch immer zwischen den merkwürdigen Silikongräsern und stöhnten. Ihre Körper bebten, als ob sie von elektrischen Schlägen getroffen würden. Dorian deutete auf die Männer und erhielt eine nebensächliche, abwertende Geste zur Antwort.

»Sklaven!«, sagte Rien. Nicht anders war dieses Wort zu verstehen. Es gelang Dorian, seinem Partner verständlich zu machen, dass er sein Gast werden wollte. Der andere nickte; eine offensichtlich weltallweit gültige Geste. Dorian nickte ebenfalls, lachte herzlich und trat einige Schritte zurück. Rings um ihn breitete sich eine Landschaft aus, die er zwar aus theoretischen Betrachtungen und Denkmodellen kannte – aber die Wirklichkeit überstieg alle Erwartungen. Ein vielfarbig gestreifter Himmel überdeckte alles. Seinen Saum bildeten Vulkane, aus denen keine trombenförmigen Feuersäulen brachen, sondern glühende Gase in mehreren Farben, unterschiedlich dicker Rauch und seltsame, spiralige Dampfringe. Die sanft abfallenden Hänge, die in den Talkessel mündeten, waren von Wald bestanden, in dessen gerodeten Flächen verschiedenfarbige Gewächse wucherten. Es schienen Nutzpflanzen zu sein oder Weiden. Hier aber, wo der Fluss eine Biegung machte, erhob sich der oben angewinkelte Turm, von einer Anzahl runder und flacher Gebäude umgeben.

»Komm mit!«, forderte ihn Rien auf und machte eine einladende Geste.

Wieder nickte Dorian. Er trat zur Seite, als Rien aus dem Sattel glitt. Die Oberflächenschwerebeschleunigung des Planeten war nur wesentlich geringer als die der Erde. Der Mann vor Dorian trug eine pechschwarze Haut, geschuppt wie die eines Reptils. Als Dorian genauer hinsah, lösten sich die dünnen Schuppen von den Muskelbewegungen und fielen zu Boden. Das Reittier stampfte mit den Beinen, zerrte an der Kette und blieb stehen. Mit schnellen Schritten ging Rien auf die drei Männer zu, berührte die Schlangenteile, die sich lösten und wieder zu einem Stück vereinigten, das raschelnd schnell durch das wippende Gras davonkroch.