Apokalypse auf Cythera - Hanns Kneifel - E-Book

Apokalypse auf Cythera E-Book

Hanns Kneifel

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Beschreibung

Er heißt Stapen Crau 36, sein Geburtsort ist der Planet Cassade. Auf dem abgelegenen Planeten Baudelaire haben seine Reisen durch das All ein jähes Ende gefunden. Stapens Geldmittel sind erschöpft, und er findet auf Baudelaire keine Möglichkeit, sich eine Passage zu einer anderen Welt zu verdienen. Als Stapen fast am Ende ist, schaltet sich die Raumbehörde Baudelaires ein. Sie bietet ihm eine Chance, den Planeten zu verlassen. Stapen Crau willigt ein. Aber der Preis, den er dafür entrichten muss, ist hoch – vielleicht zu hoch, denn Stapen soll eine Mission erfüllen, die ihn das Leben kosten kann. Er soll den Planeten Cythera erkunden, der fünfzig Jahre zuvor Ziel eines atomaren Vernichtungsschlags der Raumflotte von Baudelaire war. Er soll feststellen, welche Rachepläne die Nachkommen der Menschen von Cythera, die den Atomangriff überlebten, gegen Baudelaire verfolgen. Apokalypse auf Cythera erschien 1975 als Terra SF-Taschenbuch 256 und wurde 1994 im Sammelband »Sternenjagd« neu aufgelegt. Für die vorliegende eBook-Version vom Verfasser gründlich durchgesehen sowie maßvoll erweitert und bearbeitet.

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APOKALYPSE

AUF

© Copyright Erben Hanns Kneifel

© Copyright 2016 der eBook-Ausgabe bei Verlag Peter Hopf, Petershagen

www.verlag-peter-hopf.de

Cover: © Innovari – Fotolia.com

ISBN ePub 978-3-86305-226-3

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Alle Rechte vorbehalten

Die in diesem Roman geschilderten Ereignisse sind rein fiktiv.

Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Begebenheiten, mit lebenden oder verstorbenen Personen wäre rein zufällig und unbeabsichtigt.

Apokalypse auf Cythera erschien 1975 als Terra SF-Taschenbuch 256 und wurde 1994 im Sammelband »Sternenjagd« neu aufgelegt. Für die vorliegende eBook-Version vom Verfasser im Oktober 2011 gründlich durchgesehen sowie maßvoll erweitert und bearbeitet.

HANNS KNEIFEL

Inhaltsverzeichnis
Apokalypse auf Cythera
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.

1.

AUS: Hogg Cloke jr.: Probleme interplanetarischen Informationsaustausches, in: Spaceweek, Nummer 794, Outward Bond-Verlag, Dontland, Rigelll, MCMLXV p.F.A.C.

»Oft trägt die Arbeit zahlloser Computer und gewissenhafter Spezialisten im Sturzacker des Herrn bizarre Züge. Im Verlauf von fast 2000 Jahren stießen terranische und denebolische Raumfahrer nicht nur auf die Raumfahrer anderer Sternenvölker – Raumschiffe wurden auch als Werkzeuge von Aggressionen, als Gefäße längst vergessen geglaubter Archaismen missbraucht. Die eigentliche Erfahrung mit der Bewältigung massenpsychologischer Prozesse, mit dem Abstrusen und Grotesken von Krieg und Kriegsfolgen (zwischen einzelnen Planeten!) steht Stellarsond noch bevor. Es scheint Bedrohungen zu geben, die entsetzlicher sind als jene der ›Nemesis‹, aber da sie ihre Gründe in den schwarzen Tiefen des Homo sapiens-Wesens haben, aus seiner geistigen und intellektuellen Steinzeit, sind und blieben sie unverständlicher als beispielsweise ein Sporenwesen von Dheyle Ghon.«

Stapen Crau 36 war kein Held. Er war ein erschöpfter, achtunddreißigjähriger Mann, der jetzt den Eindruck hatte, als habe ihn jedes Jahr seit dem Zeitpunkt seiner Reife vier Prozent seiner Illusionen gekostet. Vielleicht spielte er einen Helden, so wie er aussah: in einem meerblauen Anzug aus wasserdichtem Gewebe, mit langen Schwimmflossen ausgerüstet, die flachen Druckflaschen der Aqualunge auf dem Rücken, das nötige Zubehör in wasserdichten Taschen des Gürtels. Stapen war entschlossen, fünfzehn Tage lang zu überleben, obwohl die Wahrscheinlichkeit, dass er während dieser Zeitspanns starb oder getötet wurde, von Stunde zu Stunde zunahm. Die größte Schwierigkeit dabei war, dass er die Welt, in der er zu überleben hatte, nicht kannte.

Das Meer ging in einer langen, regelmäßigen Dünung, die von der Tramontana herrührte, dem ablandigen Wind aus dem Norden. Dieses Fremdwort und einige andere Begriffe, das war alles, was die Männer von Baudelaires Planet ihm als Anhaltspunkte hatten mitgeben können. Langsam bewegte er Arme und Beine und schwamm ein paar Meter unterhalb der Wasseroberfläche auf das ferne Land zu. Die Strömung unterstützte ihn, so wie sie ihn nach fünfzehn Tagen wieder unterstützen würde, wenn er dieses Land verließ.

Hoch über ihm spannte sich der Himmel. Er war nicht blau, wie es Stapen von anderen Planeten her kannte, sondern hatte einen starken Stich ins Violette. Die Wolken hoben sich mit scharfen Linien von der Farbe des Himmels ab.

Das Land vor ihm strahlte Schwermut und Verlassenheit aus. Eine Barriere aus Felsen mit vorgelagerten Inseln, auf denen nicht einmal Moos zu wachsen schien.

Nicht verwunderlich, dachte er. Nach dem, was die von Baudelaire ihnen angetan haben, würde auf keinem Planeten etwas wachsen. Höchstens der Hass.

Ein langer Fisch mit kleinen Augen schwänzelte heran, umkreiste Stapen mehrmals und glitt davon. Ein Fetzen Tang glitt in den Bereich seiner Hände, die in langen Handschuhen steckten. Stapen wirbelte ihn davon und schwamm weiter. Das Wasser wurde hier, in Landnähe, wärmer. Er registrierte es dankbar, denn die Ausrüstung, die er auf Fishers Island gekauft hatte, war nur scheinbar das Beste; der Händler hatte ihn betrogen. Ein Schwarm Fische mit silbernen Bäuchen und langen Rückenstacheln zuckte heran, sah ihn, und ein paar hundert Tiere machten im gleichen Sekundenbruchteil eine Kehrtwendung und stoben davon.

Er musste versuchen, seine Kräfte ökonomisch einzuteilen. Er ließ sich von der schwachen Strömung mitschleppen und wartete auf den Augenblick, an dem ihn die aufgehende Sonne blenden würde; er schwamm gegenwärtig nach Osten, und die Felsen des Landes vor ihm verbargen die Scheibe noch. Mit zwei, drei schnellen Bewegungen brachte sich Stapen an die Oberfläche, ehe die Strahlen das Glas seiner Brille trafen und davon reflektiert wurden. Er sah sich um.

Geradeaus lag das Festland. Einer der wenigen Erdteile, den der Krieg nicht derart zerstört hatte, dass jede Besiedlung unmöglich war – hatten die Männer von Baudelaire gesagt. Eine drohende Barriere aus schrundigen Felsen, höchstwahrscheinlich stark verstrahlt, mit Streifen eines Bewuchses, der nicht sehr hoch und vor allem nicht sehr alt sein konnte.

Davor, in unterschiedlichen Entfernungen, ein Gewirr von Inseln. Sie umgaben den kleinen Naturhafen, der von Stapens derzeitigem Standpunkt rund zehn Kilometer entfernt war, wie ein Wall von glatt gekauten Zähnen. Undeutlich konnte Stapen Crau 36 die Gischt der Brandung erkennen, die sich an dem rostroten Gestein brach.

Wesentlich deutlicher sah er eine Anzahl Segelboote, die im ablandigen Morgenwind zwischen dem Festland und den Inseln kreuzten. Segelboote? Das widersprach jeder Vorstellung, die man auf Baudelaire von dieser Welt hatte. Stapen war dazu abgerichtet worden, ohne jedes Vorurteil an seine Mission heranzugehen, und das würde er auch tun.

Als die ersten Strahlen hinter den Berggipfeln hervorbrachen, tauchte Stapen wieder unter und schwamm weiter. Er tat dies mit den Bewegungen eines Roboters. Er bemühte sich, seine Gedanken auszuschalten und seine Arbeit zu tun. Der erste von fünfzehn Tagen war angebrochen. Es würde auch einen letzten Tag geben; Stapen hoffte, es würde der fünfzehnte sein. Vielleicht brachten sie ihn vorher um. Er wusste es nicht. Er wusste nichts.

Er schwamm geradeaus und hob hin und wieder den Kopf aus dem Wasser, schwamm mit langsamen, bedächtigen Bewegungen, mehrere Meter unterhalb der Wasseroberfläche. Die Strömung und seine Beharrlichkeit, verbunden mit langem Training und einem einzigen Gedanken – Sved Amarylis –, an den alle anderen Gedanken und Aussichten, Assoziationen und Möglichkeiten gebunden waren, brachten Stapen im Verlauf der nächsten Stunden um die erste Insel herum, die gänzlich kahl war. Dann um die zweite, die im Windschatten erstaunlich viel und hohen Bewuchs zeigte und helle Gebäude mit großen Fenstern, schließlich im Zickzack zwischen den anderen Eilanden bis zum Land. Genauer: bis zum Eingang des Hafens. Hier tauchte er auf, an eine Felsnadel geklammert, von der Brandung geschüttelt, die eine Folge der ersten Sommerstürme war.

Als er den Kopf wandte, erschrak er.

Stapen Crau 36 sah die Jacht. Es war ein mittelgroßes Boot mit Zwillingsmaschinen und einem niedrigen Aufbau, einer langen Antenne – oder war es eine ausgelegte Angel? – und einer ausgeklappten Badeleiter. Niemand schien an Bord zu sein. Stapen zauderte, blickte genauer hin und schaltete dann mit seinen behandschuhten Fingern die Vergrößerungsoptik in der Scheibe der Tauchermaske ein. Zentimeter um Zentimeter musterte er das Schiff und fand seine erste Vermutung bestätigt, nämlich dass ein Teil der Informationen, die man ihm vermittelt hatte, falsch war.

Eine kalte Hand schien seinen Rücken zu berühren, und einige Sekunden lang glaubte er zu spüren, wie sich sein Herzschlag beschleunigte. Aber er fing sich wieder und dachte an sein Ziel.

»Fünfzehn Tage«, murmelte er in den Hohlraum der Maske hinein. Seine Stimme erklang unglaublich verzerrt. »Und dann ... Amarylis.«

Er zog das Luftgemisch des Atemgeräts tief ein, dann ließ er sich tiefer hinabgleiten. Mit den Spitzen der Schwimmflossen und den Händen stieß er sich von dem scharfkantigen Stein ab, auf dem eine seltsam farbige Vegetation haftete.

Stapen tauchte tiefer, um der Gefahr einer Entdeckung zu entgehen. In einer eleganten Kurve verschwand das Ende der silbern funkelnden Ankerkette im Sand, dort, wo sich der Pflugscharanker eingegraben hatte. Gleichzeitig hob sich unter Crau der Boden. Sandflächen wechselten mit Korallenbänken ab, Büschel stacheliger Gewächse oder Tiere unterbrachen die Fläche. Die Sonne prallte jetzt voll auf das Wasser und fuhr in breiten Streifen bis hinunter auf die Tiere und Pflanzen.

Als Stapen, etwa fünfhundert Meter vom Festland entfernt, um diesen gewaltigen Felsen herumschwamm, machte er zwei überraschende Feststellungen.

Der Felsen war rundherum glasiert, als habe er sich in einer ungeheuren Hitze befunden – ein Zeichen, dass auch hier die Bomben gewütet hatten.

Und ... hundert Meter vor ihm bewegte sich ein zweiter Taucher.

Eine Sekunde lang verharrte Stapen Crau 36 regungslos. Dann schwamm er weiter und geradeaus auf den anderen Taucher zu.

Der andere trug einen leuchtend gelben Anzug mit funkelnden Apparaturen daran. Stapens Ausrüstung würde gegen diese Erzeugnisse unscheinbar wirken. Der andere Taucher sah ihn, als nur noch dreißig Meter die beiden bunten Figuren dicht über dem Meeresboden trennten. Er hob grüßend die Hand und spreizte die Finger.

Stapen gab den Gruß zurück.

Ein einzelner Taucher. Eine leere Jacht. Die beste Gelegenheit! dachte er und schwamm weiter auf den Korallenstock zu, den ein Schwarm winziger Fische umgab. Als er nahe genug heran war und sich mit der Spitze der Schwimmflosse unter einem Felsen festhielt, wandte sich ihm hinter dem Glas einer großen Brille ein unverkennbar männliches Gesicht zu.

Ich bin fertig, signalisierte der Mann im gelben Anzug.

Ich auch! Erwiderte Stapen durch entsprechende Gesten. Er war alarmiert und wachsam. Seine Hand würde in einem Sekundenbruchteil zum Gürtel zucken und das lange Messer herausreißen.

Nach oben?

Ich weiß nicht, gab Stapen zurück.

Auf einen Schluck?

Einverstanden!

Folge mir!

Auch der andere Taucher brauchte nicht zu dekomprimieren. Sie stießen sich ab und schossen schräg nebeneinander durch das Wasser aufwärts. Es gab eine lautlose Explosion der Helligkeit, als sie neben der Bordwand auftauchten. Der gelbe Taucher hielt sich am Ende der Badeleiter fest, zog die Flossen aus und schob den Arm in die Schlaufen. Stapen nickte Verstanden! und folgte dem Beispiel. Sie kletterten hinauf, und als sie nebeneinander im Heck des mittelgroßen Bootes saßen, zog der Gelbe, nachdem er die Ventile geschlossen hatte, die Maske mitsamt einem kapuzenartigen Kopfschutz herunter.

Der erste Schock traf Stapen.

»Ich habe nicht gewusst, dass sich auch andere für die F17-Generation interessieren!«, sagte der Mann und zog sich langsam die Handschuhe aus. Er musterte Stapen aus violetten, großen Augen. Sein Haar war dunkelgrün, und die Haut des Gesichts schien kupferfarben zu sein.

»Mich interessieren weniger die mutierten Folgegenerationen der Flora, sondern mehr die Vorgänge entlang der Küste. Und ihre heutigen Auswirkungen!«, entgegnete Stapen unverbindlich.

»Ich verstehe. Übrigens, ich bin Konna Pander.«

Stapen zauderte, dann sagte er:

»Stapen Crau.«

»Einen Schluck?«

Stapen grinste.

»Was haben Sie?«, fragte er.

Konna Pander war ein Mann von etwa vierzig Jahren. Etwa so groß wie Stapen; er besaß auch ungefähr die gleiche Figur. Sein dunkelgrüner Haarschopf war jetzt feucht und leuchtete wie frisches Gras. Die Augen waren viel zu groß für das Gesicht und machten es irgendwie fremd. Diese Farbe! Purpurne Augen. Von beiden Ohren bis zum Kehlkopf zog sich ein gabelförmiger Streifen über die kupferfarbene Haut, der tief schwarz war. Stapen bemühte sich, seine Verwunderung nicht zu zeigen.

»Leichten Rotwein. Ist gut gegen Drachenbisse!«, sagte Konna lachend.

»Er sollte aus diesem Grund in keiner Bordapotheke fehlen!«, erwiderte Stapen und schälte sich aus einigen Teilen seiner Taucherausrüstung.

»Woher kommen Sie, Stapen?«

Konna zog einen goldfarbenen Plastikkorken aus einer mächtigen Flasche, holte zwei Becher aus Ton aus einer Halterung neben dem Fahrstand und goss sie voll. Seine Sprache war von der Stapens nicht sehr verschieden, aber er sprach sie weicher. Schließlich war er mit ihr aufgewachsen. Nicht so Stapen. Er hatte sie lernen müssen. Jedenfalls denjenigen Teil, der über den Wortstamm der Alten Sprache hinausreichte.

»Von dort drüben. Ich bin ziemlich weit geschwommen. Sind Sie eigentlich allein?«

Konna reichte ihm einen Becher. Die Jacht lag fast ganz still. Die Segelboote hatten sich inzwischen so weit entfernt, dass sie ebenso undeutlich geworden waren wie die Umrisse der weißen Bauten hinter dem gelben Sand der Bucht.

»Ja, natürlich!«, erwiderte Konna, als habe Stapen etwas ganz und gar Unsinniges gefragt. Stapen erschrak, aber die nächsten Worte beruhigten ihn wieder. »Wissenschaftliche Arbeit verträgt wenig Störungen.«

Stapen stand auf und erhaschte einen kurzen Blick ins Innere des Bootes. Dort befand sich ein kleines, wohlausgerüstetes Laboratorium. Verschiedene Tiere und Pflanzen schwammen in durchsichtigen Lösungen.

»So wie ich!«, murmelte Stapen.

Er war unschlüssig. Kalter Mord widerstrebte ihm. Außerdem hatte ihn Konna weder enttarnt noch in die Enge getrieben. Ganz im Gegenteil: er hatte ihn mit Wein bewirtet und ausgesprochen freundlich empfangen. Stapen kehrte an seinen Platz zurück, holte tief Luft und trank den Becher aus. Seine Augen musterten argwöhnisch die Umgebung.

»Und wie ist es mit dem Nachschub? Und mit Mädchen?«, fragte Stapen.

Konna tauschte gerade zwei Flaschen aus und befestigte das Mundstück am Kopfteil des Taucheranzugs. Er sah auf, lachte kurz und sagte:

»Ich bin unabhängig. Vorräte an Bord, Freundin verreist. Was haben Sie vor?«

In einer Ecke der Kabine sah Stapen ein kleines, tragbares Fernsehgerät. Wieder eine Möglichkeit mehr, Informationen zu sammeln.

»Ich bin noch unsicher!«, sagte er. »Wahrscheinlich schwimme ich weiter und kümmere mich um meine Arbeit. Ich bin in gewissem Sinn«, hier lächelte er ein wenig, »ebenfalls so unabhängig wie Sie, Konna.«

Als sich Konna niederbeugte, um den Weinbecher abzustellen und nach den Flossen zu greifen, schlug Stapen zu.

Seine Handkante traf Konna im Nacken.

Ohne einen Laut von sich zu geben, sackte Konna zusammen und fiel auf das Deck, dann krachte er schwer in die Plicht hinunter. Stapen bewegte sich rasend schnell und zog sich dann aus. Er trug nur eine kleine Badehose; seine Kleidung befand sich in einem wasserdichten Beutel. Er öffnete im Gürtelfach einen kleinen Kasten, nahm eine Gummikugel heraus und drückte probeweise darauf. Eine Nadel schnellte aus dem federnden Ball heraus. Stapen setzte die Nadel an der Halsschlagader des Mannes an, dicht neben dem schwarzen Streifen, und drückte den Gummiball aus. Jetzt konnte er gewiss sein, dass Konna die nächsten vier Tage in einem ohnmachtähnlichen Dauerschlaf verbringen würde.

»Dieses Boot könnte zu meinem Stützpunkt werden!«, sagte sich Stapen Crau und ging so methodisch vor, wie man es ihn gelehrt hatte. Er entkleidete Konna und schleppte ihn in die Kajüte. Dort legte er ihn in die Koje und wunderte sich über die auffallende Zeichnung der Haut. Schwarz auf kupferfarben. Eine weitere Information. Er fesselte die Beine und klinkte die Fessel an einem massiven Rohr an. Auch die Arme band er fest und zog schließlich die Decke darüber. Auch bei einer weniger flüchtigen Untersuchung würde man erst spät merken, dass Konna nicht schlief, sondern überwältigt worden war.

»Ich muss an Land!«, sagte er laut.

Er machte einen kurzen, schnellen Rundgang durch das Boot. Es war neu und hochmodern. Alles glänzte vor Sauberkeit; der Hydrobiologe schien ein gründlicher Mann zu sein und ein geübter Bootsfahrer. Im Vorbeigehen schaltete Stapen den Fernseher ein und löste am Funkgerät einige wichtige Verbindungen. Jetzt konnte das Boot empfangen, aber nicht senden.

Während Stapen fast unbewusst registrierte, was die Sprecherin aus dem Fernsehgerät sagte – es waren die dritten Nachrichten dieses Tages –, verpackte er sämtliche Teile seiner Ausrüstung in einen wasserdichten Sack, den er aus einer Gürteltasche holte. Diese Taschen leerte er aus und legte die Gegenstände sorgfältig neben sich auf die gepolsterte Bank. Er verschnürte den Sack, verklebte ihn und warf ihn in eine Ecke. Dann stieg er wieder hinunter und suchte ein paar Kleidungsstücke zusammen, von denen er annehmen konnte, dass sie wenig auffällig waren. Ein Paar Stiefel, die aus einer kräftigen Art von Leinen zu sein schienen, lange Hosen von gutem Zuschnitt, einen Gürtel aus echtem Leder, ein Hemd und eine Jacke. Minuten später stutzte er zum zweiten Mal: auch die Sprecherin im Fernsehen und viele Personen, die auf der Mattscheibe erschienen, besaßen auffällige Farbmusterungen. Eine verrückte Mode! Er fand irgendwelche Tinkturen und begann in der kleinen Toilette des Schiffes, sich einen senkrechten Streifen zu schminken, der von der Stirn bis zur Mitte der Brust verlief, dunkelgrau war und über dem Nabel in zwei Spitzen auslief.

Sekunden später hielt er die Brieftasche Konnas in der Hand und blätterte in ihr.

Die üblichen Ausweise, Lichtbilder, eine kleine Kartei in einem dicken Stück Plastik, die Namen und Nummern herunterschnurrte, wenn man den Knopf drückte. Und eine lange, schmale Karte aus Plastik, mit eingewebtem Metallstreifen und einer unnachahmlichen Musterung. Die persönlichen Daten Konnas waren eingestanzt. Die Karte selbst besaß eine Vielzahl verschiedener Felder, in denen Zahlen sichtbar wurden.

»Der höchste Wert kann eine Million weniger eins sein, also sechs Stellen!«, sagte sich Stapen. Die Karte schien wichtig zu sein. Er steckte sie zusammen mit der Brieftasche ein.

Er wusch den Weinbecher aus, wischte ihn ab und verstaute ihn vorsichtig. Dann vernichtete er sämtliche Spuren, die er hinterlassen hatte. Schließlich, gegen Mittag, war er fertig und kletterte hinunter ins Dingi. Die Maschine funktionierte auf den ersten Schalterdruck und bewegte den herkömmlichen Antrieb. Stapen fuhr schnell zu der kleinen Insel und befestigte den Sack mit der lebensnotwendigen Ausrüstung in einer Spalte.

Ein letzter Blick in den Spiegel: sein helles Haar kontrastierte gut zu dem dunkelgrauen Streifen. Er nahm Kurs auf die Stelle des Festlands, an der nach seinen Informationen der Hafen liegen musste.

Etwa eine halbe Stunde später sah er die Anlage deutlich. Er war abermals verblüfft.

Die Felsen wichen nach allen Seiten zurück und gaben, als das kleine Boot die Einfahrt passierte, den Blick frei auf eine amphitheatralisch angelegte Szene. Wie die Bande eines Auditoriums zogen sich Streifen kleiner, zierlicher Bauten und Grüngürtel rund um den Hafen. Direkt über der Mole, die ein offenes Viereck bildete, gab es einen Platz, von großen Bäumen überschattet. Die Fassaden der Häuser trugen geschwungene Aufschriften. Aushängeschilder und viereckige Sonnensegel schaukelten über Stühlen und Tischen. Stapen suchte einen Anlegeplatz, an dem nicht jeder sofort das Boot sehen konnte und vergewisserte sich, dass seine beiden Waffen griffbereit waren.

Dann steuerte er neben zwei Jachten, die verlassen aussahen und belegte das Haltetau.

»Es wird ernst!«, sagte er leise und sprang an Land. Er setzte die dunkle Brille auf, die er Konna Pander abgenommen hatte und ging auf die kleine Bar zu, die einen verschlafenen Eindruck machte.

Er setzte sich bequem in einen geflochtenen Sessel, streckte die Beine aus und lehnte sich gegen die Mauer. Er zündete sich eine von Konnas Zigaretten an und wartete.

Die Atmosphäre begann ihn zu beeinflussen. Dieser Ort hier wirkte keineswegs wie ein Platz, über den eine atomare Apokalypse hinweggezogen war und nichts als leblose und glühende Felsen hinterlassen hatte. Eine Bewegung rechts von ihm; er kontrollierte seine Reaktion und griff nicht zur Waffe, aber jeder Muskel blieb gespannt. Aus dem schwarzen Schatten eines Vordachs löste sich ein Mädchen und kam auf ihn zu. Scheinbar ruhig musterte er sie.

»Was darf ich Ihnen bringen?«, sagte sie freundlich.

Sie war nicht älter als zweiundzwanzig Jahre. Ihr Haar war leuchtendes Blau, und die Haut hatte den Ton hellen Goldes. Sie sah ihn aus schwarzen Augen an.

Die Bemalung ihres Gesichtes wirkte wie eine jener Masken, die aus eintätowierten Punkten und Linien bestanden. Sie umgab die Augen, zog sich bogenförmig zu den Schläfen hinauf und endete in einer Spitze, die in der Stirn mit den ersten Haarwurzeln verschmolz.

»Etwas, das kühl ist und möglichst lange vorhält!«, antwortete er und versuchte, den Tonfall Konnas zu treffen.

»Einen Shnar mit Donde?«

»Soll mir recht sein!«, erwiderte er und streifte die Asche ab.

Er war allein auf der Plaza. Allein mit dem Schatten, einem leichten Wind, der Blumenranken, Markisen und die Kleider eines Geschäfts bewegte, über dessen Eingang Boutique stand. Das alles hier war neu, trug aber die künstlich aufgebrachte Patina des Alters. Hohe, schmale Fassaden mit unregelmäßig großen Fenstern. Ziegeldächer, Metallschilder. Sehr viel Grün, viele Blumen. Mittelgroße Räume, die kaum älter als neunundvierzig Jahre sein konnten. Schmale Gassen und krumme Treppen zwischen den Häusern. Die gesamte Anlage, die etwa tausend oder fünfzehnhundert Menschen beherbergen konnte, atmete eine Art Zufriedenheit aus, die Stapen Crau 36 seit einem Jahrzehnt nicht einmal erträumt hatte. Das Mädchen kam zurück, warf ihm einen prüfenden Blick zu und hielt einen kleinen Würfel in der anderen Hand. Der Würfel war mit einer dünnen Kette an ihrem Gürtel befestigt. Die Kette klirrte leicht, als sie den Shnar mit Donde vor Stapen abstellte.

»Danke!«, sagte Stapen und gab das vage Lächeln zurück.

Sie runzelte die blauen Brauen. Schließlich hob sie den Würfel hoch. Stapen überlegte sich fieberhaft, was sie wollte, was dieser verdammte Würfel bedeuten sollte. Schließlich murmelte sie:

»Ihre Karte!«

Karte? Welche Karte. Rasend schnell überlegte Stapen, während er sich sagen hörte:

»Ich war mit meinen Gedanken ganz woanders. Unter anderem bei Ihren Augen. Entschuldigen Sie!«

Solche Komplimente schien sie den ganzen Tag ununterbrochen zu hören. Die Karte! Es musste die Karte Konna Panders sein. Natürlich! Er griff in die Tasche, holte den Kunststoffstreifen heraus und sah aufmerksam zu, wie sie die Karte in einen Schlitz des Würfels schob. Es summte kurz, klickte, und als das Mädchen gegangen war, griff Stapen mit unruhigen Fingern nach der Karte. Die letzte, am weitesten rechts stehende Ziffer hatte sich verändert. Statt der digitalen 7 befand sich jetzt in dem größeren Feld eine 8. Die Stellung der Zahlen in der darunter befindlichen Reihe hatte sich ebenfalls verändert. Stapen hatte die Zahlenkombinationen nicht auswendig gelernt. Er holte dies jetzt nach, während er diese überraschende neue Information zu begreifen versuchte.

Es gab hier also kein Bargeld!

Ruhiger geworden, überdachte Stapen die Folgerungen dieser Information. Sie waren, einfach ausgedrückt, von geradezu bestürzender Tragweite. Er griff nach dem schlanken Glas und nippte daran. Eine bernsteinfarbene Flüssigkeit war darin, gemischt mit groben Eissplittern. Sie roch nach seltenen Pflanzen, nach Alkohol und etwas Saurem, und sie löschte den Durst.

»... fünf Millionen Menschen kennen dieses Problem. Es betrifft uns alle, und es muss ein Weg gefunden, ein Verfahren entwickelt werden, diese höchst unangenehme Seite unseres Lebens in kurzer Zeit ...«

Im Innern der Bar stellte jemand den Ton des Lautsprechers wieder leiser. Stapen Crau saß da, musterte die Landschaft aus leuchtenden Felsen und Bauwerken in hellen Farben und aus bizarr behauenem Bruchstein. Das alles lag unter diesem seltsamen Himmel von einzigartiger Farbe mit den hellen Wolken, deren Ränder die Regenbogenfarben zeigten. In dieser Sekunde begann die Furcht nach Stapen Crau zu greifen. Die Furcht, dass man ihn als Werkzeug missbraucht hatte.

Die Männer vom Planeten Baudelaire hatten ihm falsche Informationen mitgegeben. Sicher nur solche, von denen sie glaubten, dass sie richtig waren. Aber die Leute von Baudelaire kannten die Wahrheit nicht. Die Wahrheit war jetzt und hier. Und die Wahrheit würde ihn umbringen.

Langsam erhob sich Stapen.

Er kämpfte gegen die Versuchung an, das Boot zu nehmen und hinauszufahren an jenen Punkt, an dem er in vierzehneinhalb Tagen abgeholt werden würde. Aber dann dachte er an Amarylis und das Geld und ließ sich wieder in den Korbstuhl sinken.

»Verdammt!«, sagte er.

Eine kleine Motorjacht kam herein. Sie warf eine mächtige Bugwelle auf und hinterließ eine noch mächtigere Heckwelle. Stapen sah zu, wie sich die Fahrt verringerte, wie Leinen flogen und sich ferngesteuert in die Spalten der Poller klemmten, wie das Boot geschickt rückwärts an die Mole heranmanövrierte. Ein Gefühl des Neides kam über ihn, als er die Menschen sah, die entweder an Land sprangen oder die heruntergeklappte Gangway benutzten.

Jung und fröhlich, sorglos, heiter, gut gekleidet. Sie riefen und lachten, sie packten sich bei den Händen und drangen in den sonnengesprenkelten Schatten unter dem Baum ein, in dem Tische und Stühle auf sie warteten. Sie waren hungrig, und aus dreißig Metern Entfernung beobachteten sie Stapen mit einer Miene, die Niedergeschlagenheit, eine Spur Hass, Unsicherheit und Neid ausdrückte.