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Der persische Gelehrte Kordâdbeh soll für den Kalifen von Bagdad die geheimen Berichte Sindbads des Seefahrers auswerten. Der Kalif verspricht sich davon Auskunft über unentdeckte Länder, neue Häfen, Handelsplätze und große Reichtümer. Die Papiere sind alt und brüchig, die Aufgabe eine wahre Sisyphusarbeit. Doch da nichts Geringeres als sein eigener Kopf auf dem Spiel steht, macht sich der Perser daran, die Lücken in den Aufzeichnungen durch Berichte derer zu füllen, die Sindbad gekannt haben. Auf dem Basar in Bagdad trifft er tatsächlich einen alten Märchenerzähler, der sich bereit erklärt, von Sindbads Abenteuern zu erzählen. Allerdings auf seine Weise … Vor dem farbenprächtigen Panorama des orientalischen Marktes lässt der alte Erzähler eine Welt voll weiter Reisen, unglaublicher Abenteuer, gefährlicher Kämpfe, kluger Schachzüge, wilder Tiere, schöner Frauen und morgenländischer Düfte entstehen, die seine Zuhörer, und unweigerlich auch den Leser, in seinen Bann zieht.
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Seitenzahl: 933
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SINDBAD -
DER GESANDTE
DES KALIFEN
Der persische Gelehrte Khordâdbeh soll für den Kalifen von Bagdad die geheimen Berichte Sindbads des Seefahrers auswerten. Der Kalif verspricht sich davon Auskunft über unentdeckte Länder, neue Häfen, Handelsplätze und große Reichtümer.
Die Papiere sind alt und brüchig, die Aufgabe eine wahre Sisyphusarbeit. Doch da nichts Geringeres als sein eigener Kopf auf dem Spiel steht, macht sich der Perser daran, die Lücken in den Aufzeichnungen durch Berichte derer zu füllen, die Sindbad gekannt haben. Auf dem Basar in Bagdad trifft er tatsächlich einen alten Märchenerzähler, der sich bereit erklärt, von Sindbads Abenteuern zu erzählen. Allerdings auf seine Weise …
Vor dem farbenprächtigen Panorama des orientalischen Marktes lässt der alte Erzähler eine Welt voll weiter Reisen, unglaublicher Abenteuer, gefährlicher Kämpfe, kluger Schachzüge, wilder Tiere, schöner Frauen und morgenländischer Düfte entstehen, die seine Zuhörer, und unweigerlich auch den Leser, in seinen Bann zieht.
Hanns Kneifel (1936 – 2012) begann seine schriftstellerische Laufbahn mit Science-Fiction, verfasste dann eine Reihe Jugendbücher, Hörspiele und Sachbücher. Er bleibt vor allem in Erinnerung als Autor zahlreicher farbenprächtiger historischer Romane.
© Copyright Erben Hanns Kneifel
© Copyright 2017 der eBook-Ausgabe bei Verlag Peter Hopf, Petershagen
Alle Rechte vorbehalten
Covergestaltung: Thomas Knip, nach einem Gemälde von Edward William Cooke
E-Book-Konvertierung: Die Autoren-Manufaktur
ISBN ePub 978-3-86305-247-8
www.verlag-peter-hopf.de
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Die in diesem Roman geschilderten Ereignisse sind rein fiktiv.
Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Begebenheiten, mit lebenden oder verstorbenen Personen wäre rein zufällig und unbeabsichtigt.
Der Nachdruck, auch auszugsweise, die Verarbeitung und die Verbreitung des Werkes in jedweder Form, insbesondere zu Zwecken der Vervielfältigung auf fotomechanischem, digitalem oder sonstigem Weg, sowie die Nutzung im Internet dürfen nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages erfolgen.
Das Buch
Der Autor
Prolog
Die erste Reise
1. Vom Zaratan, Bahamuth oder Ouroboros
2. Sindbads Insel des Untergangs
3. König Mihrdschâns Hafen
4. Sadshâhi und die Inseln
5. Sindbad, der Lastenträger
Die zweite Reise
1. Vom Ei des Vogel Rock
2. Im Edelsteintal
Die dritte Reise
1. Von den Zwergen und Riesen Salahitans
2. Die Schlangen
3. Das Schiff und die Insel Samndib
Die vierte Reise
1. Sturm aus der Sonne
2. Die nackten Männer
3. Tirangirji, die Sattelmacher und der Tod
4. Höhle der lebenden Leichen
5. Mausim, Wind der Zuverlässigkeit
Nach der fünften Reise
1. Die Abende des Kalifen
2. Der schweigende Greis im Paradies
3. Affenstadt und Kokosnüsse
Die sechste Reise
1. Nächte in Baghdad, Tage auf dem Meer
2. Das Floß und die Stadt
3. Die Geschenke des Königs
Die siebente Reise
1. Meeresreise ohne Schiffbruch
2. Vater der Elfenbeinzähne
3. Meeresungeheuer und viel Sandelholz
4. Prinzessin Dhaulat-Manar und der Tod
5. Die Schwingen der Nacht
Sindbads achte Reise
1. Die unerforschlichen Pfade des Meeres
2. Der Große Sturm
Roman
Der Bote des Kalifen
Undeutliche Geräusche, die nach Drohung und Gefahr klangen, bestimmten das Ende des Traums und rissen Khordâdbeh aus dem Schlaf. Er hob lauschend den Kopf, erkannte aufgeregte Männerstimmen, metallisches Klirren und leises Wiehern von Pferden, und stand langsam und ohne einen Laut vom Mittagslager auf. Einige Atemzüge lang würgte ihn schwarze Angst: Der Große Kalif war tot, der Streit zwischen den Söhnen hatte mit dem Tod Amins geendet, und seit einer Hand voll Jahren regierte Kalif Ma’mun.
Das stetige Plätschern des Wassers, das aus den Krügen des Schöpfrads ins Auffangbecken rann, schien zum Tosen einer vernichtenden Brandung zu werden, die zwar noch fern gischtete, aber unaufhaltsam näher raste. Und nachdem die gnadenlose Sonne nach einem Jahrzehnt misslicher Herrschaft Amins dessen Kopf auf der Tigrisbrücke zu krümeliger Lederhaut und weißen Knochen gebrannt hatte, trieb jetzt sein siegreicher Bruder alte Rechnungen mit Gift und Schwert ein; Kalif Al-Ma’mun, Sohn Harûn ar-Raschids und einer persischen Sklavin, und persisch erzogen.
Während sich Khordâdbeh ankleidete, glitt sein Blick über den ausgestreckten Körper der Djaria-Sklavin. Bilkîs schlief zwischen den Falten des Lakens, die im Bernsteinlicht keine Schatten warfen; als Khordâdbeh seinen Turban schlang und das Ende des Tuchs einen kaum spürbaren Luftzug erzeugte, roch er das Gemisch aus Rosenduft und Schweiß aus den Achselhöhlen der Dunkelhäutigen. Nachdem er sorgfältig das Gemächt, die Hände und das Gesicht gewaschen und getrocknet hatte, schob er die Ringe über die Finger. Das Gold und die Steine blieben im Zwielicht stumpf, wie in Staub getaucht.
Baghdad, die Große Stadt, war so fern, dass sie meist bedeutungslos schien. Eine jähe Schwäche lahmte Khordâdbehs Knie; er setzte sich auf den Rand des Lagers, legte die Hand auf Bilkîs’ Hals und schloss die Augen. Seit Harûn ar-Raschid seinen treuesten Wazir, Dscha’far den Barmakiden, hatte köpfen lassen, seit dem Bürgerkrieg während der Belagerung Baghdads und dem Ende der Herrschaft Amins, war Baghdad für Khordâdbeh wie eine große schwarze Wolke, aus der es unvermittelt Felsbrocken oder geschliffene Speere regnen konnte. Er legte zwei Finger auf Bilkîs’ pflaumenfarbige Brustspitze, straffte die Schultern und verließ den Raum. Behutsam und gründlich schloss er die dicken Staub-und-Nebel-Vorhänge; erst jetzt dachte er an seinen Sohn Marwân, der in Baghdad lebte und lernte.
Aufseher Nâsir, der die Turmstufen heraufgehastet war, verbeugte sich. Khordâdbeh nickte und hob, innerlich bebend, abwartend die dunklen Brauen.
»Herr! Ein Abgesandter des Kalifen ist gekommen, mit sieben grimmigen Bewaffneten zu Pferde und ein paar Saumtieren.«
»Eure Stimmen haben mich geweckt. Hat er dir gesagt, was er auszurichten hat?«
»Nein, Herr. Der Amîr will nur dir berichten.«
Sie gingen zur Treppe des Nebenturms, die zum Absatz vor dem Eingang des Arbeitszimmers führte. Im Haus herrschte nachmittägliche Stille; sie füllte sich mit dem Unbehagen der Erwartung einer schrecklichen Nachricht. Khordâdbeh blieb zögernd auf den türkisfarbenen Fliesen stehen.
»Inshallah. ER ist mit den Gerechten«, murmelte er. »Bewirte die Reiter, als wären sie meine Freunde. Lass die Pferde von den Sklaven versorgen. Und führe den Boten hier hinein.«
»Wie du wünschst, Herr. Ich höre und gehorche.«
Khordâdbeh schob eine dicke Holztür zur Seite und betrat den hellen, runden Raum. Vor dem Fenster stand ein elf Ellen breiter Tisch, mit hellem Leder bespannt und mit Krügen voller Pergamentrollen und Pinseln, faustgroßen Steinen, Holzfiguren und einer Menge schwer deutbarer Gegenstände übersät. Aus Rohr geflochtene Gestelle, die bis zur Decke reichten, enthielten hunderte Pergamentrollen, steinerne Figürchen und zerbrochene Schnitzereien. Durch das Leinengespinst in den Rahmen, das störenden Wind und lästige Fliegen, Mücken und Falter aussperrte, sah Khordâdbeh die schmale Nauru, das Schöpfrad, die gemauerten Wasserkünste und jenseits von Baumwipfeln und Mauer das Meer. Er schob mit dem Fuß zwei Lederkissen an den kniehohen Tisch und wartete, die Handgelenke im Rücken gekreuzt.
»Herr! Der Bote. Ihn hat der Kalif selbst geschickt.« Der Verwalter betrat vor dem weißbärtigen, kleinen Reiter den Raum, verbeugte sich und deutete auf den Hausherrn. Stiefel, Kleidung und Turban des Boten waren von gelbem Staub bedeckt; er hatte nur Gesicht und Hände gereinigt. Er bewegte sich trotz seines hohen Alters sicher, aber hastig. In Khordâdbehs Gehirn festigten sich die Bilder von Kämpfen und Belagerung und vom Niederbrechen der Mauer um sein ausgedehntes, reiches Besitztum. Plötzlich grinste er und sagte:
»As-Salaam aleykum! Wir kennen uns, o Reiter reichlichen Staubes. Amîr Husain ibn Akmâr, Vertrauter der Garde des alten Kalifen, nicht wahr? Allah möge ihm paradiesische Freuden bereiten.«
Der Alte, dessen misstrauische Blicke durch den Raum zuckten, nickte kurz. Er berührte den Mund, die Stirn und die Brust mit den Fingerspitzen. »Wa aleykum As-Salaam.«
»Bring kalte und heiße Getränke«, sagte Khordâdbeh und sah dabei die Gestelle vor der Wand an. Der Fenstervorhang aus ägyptischer Wolle war geschlossen und hing reglos herunter.
»Husain aus Baghdad«, murmelte der Reiter. »Und nun auf dem Landgut Khordâdbehs, des Persers, den Harûn ar-Raschid auszeichnete. So ist es, Gutsherr!« Die Männer umarmten sich kurz, aber fest. »Der Sohn Harûns schickt mich, ohne Brief, mit mündlicher Botschaft, etlichen Ledertruhen und mehreren Beuteln Golddinaren. – Du lebst weit weg von Baghdad und Basra, alter Wundersucher und Weltenbeschreiber.«
»Wie viele Tagesritte hast du erlitten?«
»Ich werde alt und reite auf geduldigen Mähren.« Das Grinsen des Amîrs blieb staubig. »Fünf knochentrockene Tagesritte, nachdem wir Abadan verlassen hatten. – Danke für die Gastfreundschaft.«
»Die du noch kaum genossen hast. Sollen wir in wohligen Bädern weiter miteinander reden?«
Amîr Husain schüttelte bedächtig den Kopf und ließ sich auf das Kissen fallen.
»Später. Greise wie ich vergessen schnell. Die Botschaft entbehrt nicht einer gewissen Wichtigkeit. Kalif Ma’mun sendet dir Grüße und etliches Gold. Nun scheint es sicher, dass er im zweihundertsten Jahr des Propheten seine Herrschaft gefestigt hat!«
Im Jahr 815 in der Rechnung der Ungläubigen, dachte Khordâdbeh spielerisch. Alle Nachrichten aus Baghdad, die er empfing, waren aus zweiter oder dritter Hand, aus Basra oder dem Meerhafen. Der Bote, der sechzig Jahre zählen mochte, ebenso viele wie Khordâdbeh, redete mit heiserer Stimme weiter. Zwei barfüßige Diener brachten Krüge, Schalen voller Essen und silberne Becher. Khordâdbeh nickte ihnen zu, deutete zur Tür und füllte die Becher.
»Kalif Ma’mun, Allah schenke ihm Unsterblichkeit, wird bald ein Bait Al-Hiqma einrichten, ein Haus der Weisheit, denn er war seit jeher ein Freund der Sternenwissenschaften und anderer Künste. Er hat jüngst Befehl gegeben, den Grad eines Meridians zu messen – was immer das ist! –, damit man den Umfang der Welt genau berechnen kann. Ehe ich’s vergess: hier, von deinem Sohn.« Husain ibn Akmâr griff tief ins Innere des Reiterhemds und zog, während etwas Staub der Wüste aus den Ärmeln rieselte, eine wachsgesiegelte Papyrusrolle hervor und reichte sie über den Tisch, Khordâdbeh legte sie ungeöffnet neben den Krug.
»Vielleicht hängt’s mit den unzählbar vielen Farsah oder Parasangen dieses ›Meridians‹ zusammen, was ich dir sagen soll. Allah mag es wissen! Man hat in Baghdad etliche Märchen oder Erzählungen gehört, ob sie zutreffen oder erlogen sind – niemand weiß es mehr. Berichte von den Reisen eines Kaufmanns, der ein Freund, ein Nadim, des Kalifen Harun ar-Raschid war.« Amîr Husain zuckte mit den staubigen Schultern. »Er ist verschwunden, tot, erschlagen, ertrunken, verschollen – fort. Im Haus, das ihm einst gehörte, ein kleiner, gediegener Palast am Stadtrand, fand man einen alten Mann, der auf einer Truhe saß und von der größten Reise der Welt lallte. Er wartete auf den Verschollenen.
Der Alte verschwand ohne Spur; die Kiste voller muffiger Pergamente, vergilbtem Papier und seltsamer Kleinigkeiten hab ich deinem Verwalter übergeben. Ein paar Säcke und Truhen, in denen sich wahrscheinlich ähnliche geschriebene Weisheiten verbergen, haben wir auf Geheiß des Kalifen zu dir geschleppt.«
Der Weißbärtige reinigte seine Hände im Strahl aus Rosenwasser, trocknete sie mit dem weißen Tuch und leerte einen handgroßen Becher in zwei Zügen. Er atmete erleichtert aus. Khordâdbeh betrachtete die zerfurchten Gesichtszüge seines Gegenübers und genoss die beginnende Erleichterung. Er stand auf und schob den Vorhang zurück. Das rhythmische Geräusch des Schöpfrads schien lauter und kraftvoller zu werden. Leise sagte er:
»In der Sternkunde ist ein Meridian der Mittagskreis, in der Erdbeschreibung ist er ein Halbkreis von Pol zu Pol, von den Stellen, an denen es dem Schöpfer beliebt hat, die Achse durch unsere Weltkugel zu stecken. Schon Dscha’far der Barmakide ließ in aller Welt nach solcherlei klugen Schriften suchen.«
»Gleichviel, alter Perser. Allah hat es auch gefallen, Dscha’far und so viele andere gute Männer von unserer Welt zu sich zu rufen. – Zurück zu meiner Botschaft: Höre, o Gutsherr! Der Kalif, Allah tröste ihn mit schönen Träumen, hat sich dieses ausgedacht: Alle Zeugen, die man befragen könnte, sind längst gestorben. Oder unauffindbar. Sinnlos, nach ihren Spuren im Land zu suchen oder in den Häfen der Inseln und Ozeane. Also sollst du das Geschriebene lesen, wenn du’s vermagst, und ein dickes, großes Kitab Al-Hiqma daraus schreiben.«
Er legte die Finger an die Schläfen, blickte zu Boden und schien sich mühsam erinnern zu müssen.
»Was können Händler, Kaufleute und Gelehrte über die Inseln und Länder lernen, aus denen der Verschollene zurückkehrte? Hat er eine achte Reise unternommen? Fälscht der Qussa, der Märchenerzähler Abdallâh die Wahrheit, wenn er sich erdreistet, von Sindbads Reisen zu erzählen? Das Kitab soll am Anfang beginnen und gegen den Schluss hin sein verständliches Ende finden.«
Khordâdbeh lachte und schnalzte mit der Zunge. »Ein nachfühlbarer Wunsch. Ein Buch der Weisheit also. Begreifbar für jeden Lesekundigen. Wer ist Abdallâh? Wie viele Truhen, sagst du?«
»Ein alter, sehr rüstiger Greis: Abdallâh ibn Abi Kilâba. Er erzählt von diesen Reisen, sagt man, als ob er dabei gewesen sei, jeden Tag, Jahr um Jahr. Überaus seltsam, sagt der Kalif.« Der Bote zuckte mit den Schultern. »Sieben verschieden große Behälter sind’s. Aber jeder stinkt wie der nasse Balg eines ausgestopften Wüstenfuchses.«
»Mitunter geht Wissen einher mit üblem Geruch, und manche Erinnerungen stinken«, sagte Khordâdbeh brummig und merkte sich den Namen des Erzählers. Er füllte die Becher wieder. Amîr Husain kaute auf kalten Bratenwürfeln, schluckte und redete undeutlich weiter.
»In Baghdad, während der dreiundzwanzig Jahre des Kalifen Harun, den jedermann liebte, war der seefahrende Kaufmann bekannt wie ein dreihöckriges Dromedar. Er erzählte Seltsames von fremdartigen Inseln, erstaunlichen Stranden und Häfen, und türmte hohe Lügengebirge auf, arg zerklüftet und in vielfarbige Wolken gehüllt, an Erfindungen reicher als an Regentropfen. Jedermann, der damals zuhörte, bestaunte die Abenteuer; viele erzählten sie ihren Söhnen und Frauen. Du aber sollst Wahres von Lügen und Staunenswertes von Erfundenem trennen, wenn es dir denn möglich ist. Kalif Ma’mun las den Inhalt der Truhen nicht, und ich will ihn nicht lesen müssen. Noch etwas: In der Nähe des Kalifenthrons sitzt jeder Kopf so locker wie eine Schwalbe auf dem Sims. Al-Ma’mun, Allah gebe ihm Heil, ist leicht zu verärgern. Am meisten hasst er Säumige und solche, die seine Wünsche missachten.«
»Der Wunsch des Kalifen ist wie ein Wort des Propheten«, sagte Khordâdbeh heiser. »Für mich – ein Befehl. Überdies, mein Sohn in Baghdad, man könnte ihn als Geisel nehmen.«
Husain kicherte, griff nach dem Kräuteraufguss und schien seine Finger am Becher wärmen zu wollen. Dann lehnte er sich zurück und forschte blinzelnd in Khordâdbehs Gesicht; aus seinen Augen sprachen Erschöpfung und Schlafbedürfnis. Khordâdbeh hüstelte und hob die Brauen.
»Besitzt jener seefahrende Kaufmann einen Namen, den ich kennen sollte?«
»Harûn ar-Raschid nannte ihn Sindbad. Eigentlich hieß er es-Sindibâd. So nannte sich auch der alte Mann in Sindbads leerem Haus. Mehr weiß ich nicht.«
»Hast du jetzt, o Fünftagesreiter, deine Botschaft ausgerichtet?«
»Ja. Und ich bin sicher, dass ich nichts vergessen hab.«
Das rötliche Licht der sinkenden Sonne warf den kreiselnden Schatten der Na’ura an die Wand über den Männern. Amîr Husain reinigte seine Hände im weiß glasierten Becken und hob den Kopf. Über sein zerknittertes Gesicht huschte ein müdes, listiges Lächeln.
»Kalif Ma’mun erwartet von dir, ohne dass er deswegen seine Stimme erhoben hätte, rasches Lesen, Ordnen und Zusammenfügen. Bevor ihn Allah zu sich ruft, hat er angedeutet, will er die Rätsel gelöst und alle Fragen beantwortet wissen.«
Khordâdbeh biss sich auf die Unterlippe, zupfte an einigen Barthaaren und stand auf. In seinen Knien nistete noch die Schwäche der ausgestandenen Furcht. Er klatschte in die Hände und wandte sich wieder Husain ibn Akmâr zu.
»Antworten auf alle Fragen? Die kennt nur der Allerbarmer, der Allmächtige. Lasst uns nachsehen, was die Vergangenheit von jenem verschwundenen Weitgereisten übriggelassen hat.« Er deutete auf die Brust des Verwalters, der die Tür aufschob. Die Steine in den Ringen leuchteten in einem roten Sonnenstrahl auf.
»O Nâsir! Bringt alle Truhen und Beutel hierher. Richtet den Staubreitern reinigende und erfrischende Bäder, nach dem Gebet für uns alle ein feines Mahl und kühles Nachtlager. Bilkîs und Sanina sollen hier für viel Licht sorgen.« Er legte die Hand auf Amîr Husains Schulter. »Geh mit dem Verwalter, Amîr. Er wird für euch sorgen wie dein Bruder.«
»Ich bezweifle, dass du den Geiz meines Bruders gekannt hast.« Als der Bote zur Tür ging, hinterließen seine Sohlen dünne Staubspuren. »Vor seinen Schüsseln und Brotkörben sind manche Gäste verhungert.«
Bilkîs breitete weiße Tücher über den Teppich, die Diener schleppten die Truhen und Ledersäcke herein, öffneten die dick bestaubten Behälter und leerten den Inhalt vorsichtig in neue Körbe aus Schilfgeflecht. Khordâdbeh nahm die bespannten Rahmen aus dem Turmfenster und befahl, die stinkenden Behälter im Badhaus zu verbrennen. Träge zog der Staub aus der Maueröffnung; der Geruch schimmelnder Schreiblederfetzen breitete sich aus. Eine halbe Stunde später, im gesamten Raum verteilt, flackerten die Flammen von zwei Dutzend Öllampen.
Khordâdbeh legte die schweren Lederbeutel, in denen es verheißungsvoll klirrte, auf den Marmorsims, setzte sich vor ein leeres Stück der Tischplatte und brach das Siegel der Pergamentrolle auf. Er las, ohne die Lippen zu bewegen, dann lehnte er den Kopf an die Querstreben des Sessels und sah in den dämmerigen Garten. Das Zwitschern und Trillern der Vögel übertönte den Lärm der Zikaden.
Marwân ibn Khordâdbeh, sein siebzehnjähriger Sohn, war noch immer wie geblendet von der Pracht der größten und schönsten Stadt der Welt, lernte eifrig – so schrieb er –, erfreute sich des Wohlwollens der brüderlichen Gastfamilie, verschwendete keinen Silberdirham und grüßte den Vater und die wenigen Verwandten im Gutshof voller Ehrerbietung. Er dachte daran, sich in einigen Jahren als Barid zu bewerben, als reisender Bote des Brief- und Nachrichtendienstes, um mehr von der Welt kennen zu lernen als das Ufer des Persischen Meeres Al-Khalieg Al-Farisiy und die Städte Abadan, Basra und Baghdad, den edelsteingeschmückten Nabel der Welt. Khordâdbeh beschwerte das Schriftstück mit einer goldfarbenen Sandrose und seufzte leise.
»Wenigstens habe ich ihn lesbar und schön zu schreiben gelehrt«, brummte er. »Allahs Schutz und der Segen des Propheten sollen mit ihm sein.«
Er stützte das Kinn in die Hand und starrte die Körbe an. Aus ihnen stiegen mit dem säuerlichen und ätzenden Geruch undeutliche Vorstellungen aus der Vergangenheit auf; gab es in diesen ungeordneten Haufen aus Fetzen von Pergament, Papier und Papyrus, zwischen denen er abgeblätterte Wachstäfelchen und morsche Brettchen erkannte, wirklich eine Nachricht, die Kalif Ma’mun suchte? Eine Aufzeichnung, die aus einem früheren Jahr als 170 nach der Hedschra stammte, jenem Jahr, in dem Harûn ar-Raschid das Kalifat übernommen hatte?
Er rief Bilkîs; sie musste die Flammen bewachen. Dann ging er die vielen Stufen im Nebenturm hinunter, zum Haupthaus und zum Speiseraum. Er brauchte nur dem Frauengelächter aus dem Harîm, dem gewohnten Lärmen und den Wohlgerüchen zu folgen, die unter den Vordächern hervor in den Innengarten drangen. Khordâdbehs Gedanken kreisten unaufhörlich um drei Dinge: den Sohn in Baghdad, das Buch Sindbads und die todbringende Ungeduld des Kalifen.
Saftig grüne Felder, Palmenhaine und schmale Kanäle, auf deren trägem Wasser das Morgenlicht blitzte, erstreckten sich hinter dem Strand, den wenigen Felsen und Riffen und dem breiten Schilfgürtel bis zum südlichen und nördlichen Horizont; an einigen Stellen arbeiteten Sklaven und Diener. Amîr Husain ibn Akmârs Blick kehrte zurück zur Na’ura, die der Wohnturm Khordâdbehs nur um wenige Ellen überragte. Der Blick von der Plattform, unter dem Sonnensegel, ging nach Westen ungehindert aufs Meer hinaus und bis zu den karg bewaldeten Hügeln im Osten. Ein gemauerter Kanal führte das Wasser von der untersten Staumauer in gemächlichen Windungen durch die halbe Fläche des Besitzes und den Garten; das Flüsschen war bis weit hinauf zwischen die ersten Berghänge neunmal gestaut und während der vergangenen zwanzig Jahre nur einmal ohne Wasser gewesen.
»Ein klug ersonnenes Spielzeug.« Amîr deutete auf die Säulen, Verzweigungen und die hölzernen Rohrleitungen. Sie brachten das in die Höhe beförderte Wasser in alle Teile des Gartens und dienten zahlreichen blühenden Ranken als Halt. Im Stall schrien hungrig einige Milchkühe. »Hast du es erfunden, Khordâdbeh?«
»Der Vater meines Vaters.« Er hatte mit viel Fleiß, Umsicht und Sklavenarbeit den Reichtum der Familie begründet, nachdem ihm der Großvater Harûn ar-Raschids das verwahrloste Land beiderseits der salzversumpften Flussmündung überlassen hatte. »Und zu dieser Wasserkunst haben wir einen unterirdischen Qanat und Brunnen mit gutem Wasser. Die Charadsch-Abgaben an den Palast sind nicht unbeträchtlich.«
»Wirst du aus diesen halb verschimmelten Haufen von Schriftlichem ein sinnvolles Ganzes machen können, alter Perser?«
»Die Hälfte der Nacht hab ich, zusammen mit den Sklavinnen, gesucht und schon geordnet. Viel Seltsames haben wir gefunden.«
»Tausend Dschinn! Mit deinen Sklavinnen? Können sie etwa lesen?«
»Und schreiben. Der Allwissende hat sie erleuchtet und beides lernen lassen; etliches Nützliches und Unnützes dazu. Ich hab ihn dabei unterstützt.« Khordâdbeh lachte, als er die Verwunderung in den Zügen des Boten sah. »Während der Winterstürme schenkt uns Allah viel Zeit. Sage dem Kalifen, dass ich mein Bestes tun werde.«
»Stimmt es, dass du alle Abschriften und Übersetzungen der alten Gottlosen kennst? All die Rollen in den Wandfächern?«
»Längst nicht alle. Wir Muslime kennen nur Teile davon. Jeder Kalif der Abbasiden, von dem ich weiß, hat Schriften wie jene des Ptolemaios, des Euklid und Hippokrates übersetzen lassen.« Khordâdbeh hob die Arme, als erflehe er Erleuchtung. »Sie schreiben viele kluge Dinge über die Welt. Müssten wir all das neu entdecken, müssten tausende von uns in alle Richtungen der Welt ausschwärmen, und dann musste ich hunderte solcher Truhen und Säcke voll zerfetzter Wissenstexte lesen, ordnen und als endlos lange Rolle nach Baghdad schicken. Der Ewige bewahre uns davor!«
Der Garten, dessen Begrenzung nicht zu erkennen war, barst vor Leben. Unzählige Vögel und kleine Tiere, im hohen Ziergras, zwischen Zwiebeln, Radieschen, Spinat und in Büschen versteckt, erfüllten die bewucherten Ecken und Winkel mit zirpenden, zwitschernden und knackenden Lauten. Amîr Husain war langsam an der Brüstung entlanggegangen, hatte schweigend gelauscht und dabei zugesehen, wie die Pferde seiner Begleiter gestriegelt und gefüttert wurden; er blieb vor Khordâdbeh stehen und sagte knurrend, fast widerwillig:
»Um die Schönheit und die Ruhe deiner Gärten beneide ich dich, schriftkundiger Perser. Aber die stinkenden Pergamente und Sklavinnen, die schreiben können – behalt sie! Morgen werde ich dich der Freude meiner Anwesenheit berauben. Ich reite durch den Staub nach Abadan und Basra zurück, nach Baghdad, dorthin, wo die Welt nicht auf dem Kopf steht! Und wo ich nichts mit Meridianen und schimmelnden Schreibledern zu tun habe.«
»Allah, der in gleicher Milde auf staubige Reiter und kritzelnde Perser blickt, schütze unsere Wege.« Khordâdbeh nickte ernst und deutete auf das Dreieck eines Segels, weit entfernt auf dem lichtüberschütteten Meer. »Auf einem zerfransten Stück Papyrus hat meine Lieblingssklavin einen Namen und eine Zahl gefunden.«
»Was hat sie dir … vorgelesen?«
Khordâdbeh kämmte grinsend den Bart mit den beringten Fingern.
»Wie es-Sindibâd-Sindbad im Jahr eins Harûn ar-Raschids zu einer Handelsreise aufbrach.«
»Allah! Sag, dass es nicht wahr ist!«
»Nun, so könnte ich es deuten. Es scheint wahr zu sein, o Amîr. Kaum leserlich, aber unbezweifelbar. Ein Geldwechsler hat einem Mann namens Sindbad 3000 Dirham in Silber und Gold ausgezahlt.«
»Das ist kein Beweis, den man ernst nehmen muss.«
»Nein«, sagte Khordâdbeh. »Aber vielleicht ist es ein Anfang.«
Amîr Husain legte die Hand auf die Brust und wandte sich zur Treppe. »Ich sage meinen Reitern, wann wir aufbrechen. Deine Gastfreundschaft sucht ihresgleichen, alter Perser. Willst du mir eine Botschaft für deinen Sohn mitgeben?«
»Du hast sie nach dem Mittagsgebet, Amîr.«
Husain warf einen langen Blick aufs Meer. Der weiße Fleck des Segels war verschwunden. Khordâdbeh folgte dem Boten in die schattige Kühle des Gartens und atmete tief ein und aus; es roch nach Lauch, Rosenknospen und frisch gewässertem Mangold. Einige Vögel begannen mit einem zwitschernden Streit. Khordâdbeh zuckte zusammen, dann lächelte er; seit Amîr Husain ihn Akmârs Ankunft vermochte er sich erst jetzt wieder über diese Laute zu freuen.
Einen Siebentag später, vielleicht eine Stunde vor Mittnacht, war das Öl in den ersten Lampen verbrannt. Nacheinander flackerten drei Dochte auf und verschmorten mit langen Rußfäden. Die Nacht war windstill, in der feuchtheißen Luft troff Wasser von den Spitzen aller Blätter. Fledermäuse zuckten durch die Dunkelheit, Frösche und Zikaden schwiegen, als wären sie ertrunken. Die geräuschvollen Güsse aus den Krügen des Schöpfrades waren zu klatschendem Murmeln heruntergesunken, und Schweiß drang aus allen Poren. Khordâdbeh saß auf dem Lederkissen und versuchte eine winzige Schrift auf einem Stück Leder zu entziffern; schließlich legte er den Fetzen in den größten Korb, jenen, der sich mit Zeugnissen gefüllt hatte, die Khordâdbeh nicht zuordnen konnte. Das Schreibleder und alle anderen Dinge schienen in dieser Nacht schleimige oder klebrige Oberflächen zu haben. Etwa dreißig kleine Körbe und Schalen waren, halb voll oder gefüllt mit Teilen von Papier, Pergament und Papyrus, auf dem Teppich verteilt; jeden Fetzen aus den Säcken und Truhen Baghdads hatten Khordâdbeh und die Sklavinnen mehrere Male in den Händen gehabt.
»Kaufleute, Kapitäne, Geldwechsler.« Khordâdbeh wischte stöhnend den Schweiß vom Gesicht und warf das nasse Tuch zu den übrigen. »Namen, Namen, Namen. Und immer wieder Geldsummen; viele Dinare, wenige Dirham, viel kleine Scheidemünzen, Halb- und Vierteldinare, Habbas, Qirats oder Bronzefals. Und: Sindbad. Er hat wahrlich viel verloren, viel verdient, viel ausgegeben!«
Wieder erloschen einige Flammen. Der schwarze Rauch schleppte sich, von Mücken durchsirrt, zum Fenster. Fledermäuse jagten zuckend unter den Baumkronen. Bilkîs, die zwischen den Schalen kniete, stand langsam auf.
»Wir haben nicht viel anderes als Zahlen gefunden, Herr.«
»Aber von Perlen und Korallen haben wir gelesen, von teuren Stoffen und Edelsteinen, beschnitztem Elefantenzahn, von Pfeffer und vielen anderen Gewürzen, kostbaren Hölzern, Ambra, Moschus, Seidengewändern und eisernen Waffen.« Khordâdbeh zog sich an der Tischkante hoch und betrachtete zwinkernd die Ansammlung der Gefäße. »Von Ringen und anderem Schmuck, wir kennen die Namen einiger Schiffe und vieler Hafenstädte. Und diese seltsame … Schrift. Ich mag nicht mehr, es ist spät – viel zu schwül für ersprießliches Denken.«
Er ließ die Arme hängen und blickte die Deckenbalken an. Dann starrte er auf das stockfleckige Pergament, dessen Ecken er mit Goldmünzen beschwert hatte; sie glänzten, frisch geprägt, mit Ma’muns Namen.
»Oben werden wir sicherlich erst in der Morgenkühle schlafen können. Überdies ist Vollmond. Vielleicht bringt er Wind.«
Im Gegensatz zu den meisten Fundstücken war das Pergament, etwas größer als vier Hände, sorgfältig beschrieben; die Schrift hatte zweifellos ein Kundiger ausgeführt. Die Worte und deren Bedeutung gaben Khordâdbeh ein unlösbares Rätsel auf:
… siebenmal sah ich, schmal wie die Mondsichel, die Brücke zum Paradies vor mir. Siebenmal verschwand sie, ah ich mich Alltäglichem zuwandte. Siebenmal glaubte ich Dinge hinter dem Spiegel zu ertasten, aber das Land und die Stadt aus Messing lösten sich in Nebel auf, als die Goldmünzen klirrten.
Siebenmal wandelte ich auf Inseln des ewigen Lebens und der Glückseligkeit, aber stets weckte mich das Licht der Sonne, und die Träume vergingen.
Einmal nur durfte ich vom Wein der Weisheit trinken, die reinen Klänge der Schönheit und die Liebe der Jungfrauen in den Gefilden der ewiglich Glücklichen genießen und erkennen, was die Krümmung des Horizonts verbirgt. Lob sei Ihm, den die Winde preisen in den Weiten der Meere! Dann aber sprach ich unbedacht das unerlaubte Wort aus, und ich erwachte, nackt und verzweifelt, am salzigen Strand einer schrundigen Insel. Und ich verstand: Nur wer würdig ist, ohne Bedürfnisse und Eitelkeit, darf die Inseln suchen, die im Morgenlicht liegen, wenn dort, wo wir weilen, Allahs Nacht herrscht. Acht Tore aber führen ins Paradies; so bleibt mir die Erinnerung an die letzte Ausfahrt, die einer Pilgerreise zum Mond glich oder zur Heimat der Morgensonne …
Khordâdbeh stützte sich auf das Leder der Tischfläche und verschob voll widerstrebender Gedanken die Goldmünzen, halb enttäuscht, halb erwartungsvoll. Dann wandte er sich ab und sah Bilkîs an. Die Dunkelhäutige hob die Brüste mit beiden Händen und streifte den Schweiß am Hemdsaum ab.
»Auf dem Dach wartet Essen, ein paar Krüge mit köstlichem Inhalt«, sagte sie gleichgültig und unterdrückte ein Gähnen. »Kühles Brunnenwasser hat Nâsir hinaufbringen lassen, und viele Tücher.«
Khordâdbeh spürte die Müdigkeit am Fuß dieses Tages und vieler Jahre und sah zu, wie Bilkîs die Ölflammen löschte. Wenn Flackerlicht auf ihre hellen Handflächen und Fingerkuppen fiel, schienen sie durchsichtig zu werden. Khordâdbeh suchte sich vorsichtig einen Weg zwischen den Körben und Schalen zur Tür und murmelte:
»Ich habe mit ein wenig Glück eine Spur dieses Mannes gefunden, eine von vielen, die sich nur scheinbar verloren haben.«
»Sindbad ist also keine Märchengestalt?« Bilkîs tauchte den nächsten Docht ins aufsummende Öl und lächelte. »Allah ist mit den Ausdauernden.«
Khordâdbeh nickte leicht und öffnete die Tür. Der erhoffte Luftzug blieb aus. Einen Augenblick lang zögerte Khordâdbeh, dann stieg er zum Dach des Turms, um sich mit kaltem Brunnenwasser zu waschen und im Mondlicht auszustrecken. Aus der Tiefe des Gartens drangen schwache Rufe eines Nachtvogels. Bilkîs’ Körper würde kühl sein wie das Licht des Nachtgestirns, dachte er und genoss das Gefühl auf seinen Schenkeln, als Schweiß und Hitze vom tropfenden Tuch aufgesogen wurden.
Er wachte auf, als sich der Himmel zu färben begann und nur ein Stern hoch über dem Meer stand. Bilkîs schlief; ein Traum schien ihn geweckt zu haben, eine Bestätigung, dass er sich anschickte, den Spiegel der Sonnenstrahlen zu durchdringen und auf unkenntlichen Meeresfährten in den Traum eines anderen zu wandern.
Ein Zehntel aller stinkenden Fetzen und Reste war bedeutungslos; unleserlich und verdorben. Khordâdbeh ließ sie verbrennen. Achtundfünfzig Tage und viele Nächte lang hatte Khordâdbeh entziffert, gelesen und, so gut er und Bilkîs die Reste zuzuordnen vermochten, mühsam in sieben, dann neun Häufchen geordnet. Zu Beginn des dritten Mondes, zwischen Morgen und heißem Mittag, richtete sich Khordâdbeh auf, stemmte die Hände gegen den Rücken und sagte ächzend:
»Ich kann nicht mehr. Ich will nicht mehr. Siebenmal kein Anfang und kein Ende.«
»O Herr«, flüsterte Bilkîs, »ich weiß es auch nicht besser.«
Die dünnen Gewänder klebten an der schweißnassen Haut. Beide hatten trockene Lippen und schwitzten, die Nasen waren mit muffigem Staub verstopft. Das Gefühl, trotz aller Anstrengungen keines der Rätsel wirklich gelöst zu haben, ärgerte Khordâdbeh und legte sich schwer auf seine Stimmung; mitunter sah er die Schneide des Henkerschwerts aufblitzen. Er stürzte einen halben Krug kalten Sud hinunter, holte tief Luft, hustete und sagte:
»Aber dieser Qussa, der Märchenerzähler in Baghdad, scheint’s zu wissen!« Er suchte zwischen seinen Listen. »Abdallâh ihn Abi Kilâba heißt er. Er muss mir helfen!«
»In Baghdad?« Bilkîs ließ sich schwer auf einen Schemel fallen. Ihre Fußringe klirrten gegeneinander. »Willst du etwa …?«
»Es ist nur ein Siebentagesritt«, murmelte Khordâdbeh. »Dort kann ich auch meinen Bruder und meinen Sohn umarmen. Allah hat viel Verhängnisvolles erschaffen; mit einem ungeduldigen Kalifen und seinem Schwertmeister ist nicht zu spaßen.«
»Du nimmst diese Mühe auf dich, Herr?« Bilkîs betrachtete die übereinander gelegten Schriftzeugnisse und jene Bruchstücke aus Holz und Metall, die sie zusammengesetzt hatten. Nur aus vielleicht zwei Dutzend der schwer lesbaren Leder- und Papyrusstücke waren die Namen einzelner Häfen oder fremder Städte herauszulesen. »Traust du dem Märchenerzähler zu, dass er die Wahrheit berichtet?«
»Wahrscheinlich weiß er mehr als wir«, sagte Khordâdbeh und runzelte die Stirn. »Auch wenn es nicht die ganze Wahrheit ist, könnte es mir weiterhelfen bei meinem Auftrag. Ich werde in Baghdad auch mit Kaufleuten reden. Von ihnen will ich die Reihenfolge der vielen Handelsplätze im Osten erfragen.«
»Soll ich mit dir reiten, Herr?«
»Du hilfst mir mehr, wenn du hier versuchst, Ordnung in den Wirrwarr zu bringen.«
Bilkîs senkte den Kopf. Khordâdbeh hob die Beine und legte die nackten Fersen auf den Tisch zwischen die Fundstücke und die Bestandteile seiner eigenen Unordnung. Nach einer Weile, in der er schweigend seine Gedanken zu ordnen versuchte, drehte er den Kopf und sagte:
»Geh zu Nâsir. Sag ihm, er soll alles vorbereiten. Vier Wächter werden mich begleiten. Ich rechne mit sieben oder acht Tagen, wenn uns Sandstürme und räuberische Nomaden verschonen.«
Als Bilkîs zur Tür ging, ohne zu antworten, fügte er hinzu: »Ich will in drei Tagen aufbrechen. Im Morgengrauen.«
»Ich sag’s ihm, Herr.«
Er wartete auf das Geräusch, mit dem sich die Tür schloss. Dann stand er auf und lächelte in sich hinein: Die Rätsel mochten schwer zu lösen sein, aber er würde jenes Buch schreiben. Nur in Baghdad waren viele Fragen zu beantworten. Eine Hand voll der neunhundertmal tausend Bewohner würde sich zweifellos noch an Sindbad erinnern, und er, Khordâdbeh, musste sie suchen und finden. Zuallererst den Märchenerzähler ihn Kilâba.
Anführer Chudâdâd, auf dem Kamel an der Spitze der Karawane von vielleicht vierhundert Reit- und Lasttieren, hob beide Arme und stieß ein lang gezogenes Trillern aus. Wie am Ende eines jeden Tages hörte es selbst Marwân ibn Khordâdbeh, der neben dem Letzten der lang gezogenen Reihe im Dünental ritt. Drei Akazien standen zwischen den Felsen und Haufen aufgeschichteter Steine in einer flachen Mulde, ihre langen Schatten endeten an einer Zunge schartigen Gerölls. Marwân lenkte sein Reitkamel zur Seite und begann nach einem geschützten Platz für sich und das Dutzend Männer zu suchen, mit denen er den Platz ums Lagerfeuer teilte. Der Wiegeschritt der Lasttiere verlangsamte sich, die Schatten wanderten in verzerrten Mustern über die Unebenheiten der Wüste, und alle Farben der wasserlosen Umgebung begannen zu verblassen. Kurze scharfe Rufe, Händeklatschen, Schnauben und Gebrüll, die röchelnden Schreie der Tiere und das Knarren der Lasten hallten über die menschenleere Senke.
Die Treiber sammelten die Tiere in Gruppen und ließen sie niederknien. Ibn Khordâdbeh ritt zu seiner Gruppe, rutschte aus dem Sattel und half beim Abladen und Auspacken der schweren Bündel. Einige schwitzende Tiere wälzten sich brüllend im Sand. Am Morgen mussten den Tieren dieselben Packen wieder aufgeschnallt werden, und so lagerten sich die Kamele im gleichen wirren Muster wie ihre Lasten, in einem großen Kreis, wie vor der vergangenen Nacht und vor allen Nächten seit dem Aufbruch. Einigen störrischen alten Kamelhengsten mussten die Vorderfüße zusammengebunden werden, anderen nahmen die Treiber die geflochtenen Maulkörbe ab.
Zwischen den Felsen und hinter rasch aufgestellten Windschutzmatten brannte nach einer halben Stunde das erste Feuer. Das Holz von den Traglasten, nur zum Teil auf dem Weg gefunden, zerfiel im Wind zu weißer Glut. Die Wächter tranken, schnallten die Decken ab, suchten unangezündete Fackeln und Waffen zusammen und verteilten sich. Der unaufhörliche kalte Wüstenwind, sieben Tage fern der ersten Äcker, Palmenhaine und Felder im Fruchtland vor Baghdad, blies die Flammen unter den Kesseln waagrecht und wehte den Geruch von Pflanzensud, Butteröl und Rosenwasser von Feuer zu Feuer. Aus dem Halbdunkel war eine heisere Stimme zu hören:
»Ana schedu la illah illa Allah, ana schedu Muhammad rasul Allah!«
Die Suren des Abendgebets wurden gesprochen. Die Nacht fiel auf das Land, und eine Folge geheimnisvoller kalter Stunden begann, in denen Dschinn und Märchen, Gestirne und Legenden, Wüsteneinsamkeit und die Gemeinschaft schweigsamer Männer an verglimmenden Feuern das Leben beherrschten. Einige Tiere hatten sich nicht niedergelegt und wanderten langsam, auf der Suche nach spärlichem Gras, aus dem Lagerkreis hinaus. Ab und zu ertönte Kamelgebrüll, das echolos verhallte. Mit den Sternen kam die Wüstenkälte; die Männer schleppten zusätzliche Decken, Mäntel und Essen zu den Feuern.
Ibn Khordâdbeh hatte die zweite Wache. Draußen in der Dunkelheit erleichterte er sich und ging mit knirschenden Schritten zwischen Lasten und Kamelen hindurch zum Mittelpunkt des Kreises. Müde hockten die Treiber, mit denen er seit Ägypten geritten und gelaufen war, aufgefalteten Decken im Sand.
Er trank heißen Sud und wärmte am Holzbecher die Finger, aß gewürzten Reis und kaute auf salzigem Trockenfleisch, den Mantel über Schultern und Kopf gezogen. Als er nach einem allzu kurzen Schlaf, in Umhang und Decken gewickelt, von Stimmengewirr und Gelächter um Mittnacht geweckt wurde, saß Chudâdâd ihm gegenüber auf der anderen Seite des Gluthäufchens.
»Damals war ich jung und so unerfahren wie du, o Marwân«, sagte der Uralte mit dem harten Gesicht und den Sperberaugen. Er wusste seit Baghdad, dass sich Marwân um das Amt eines Barid-Reisenden bewarb. »Bin auch zum ersten Mal wie du den ganzen langen Weg gegangen, von Al-Iskandariya und Al-Fustat bis Baghdad. Ich und ein anderer, ein knorriger Seefahrer. Er hat die Wüste nicht gekannt, so wie ich. Aber er hat alle sieben Meere gekannt, besser als jeder andere, und ein paar namenlose Meere dazu. Zum Schluss hat er gesagt, dass er die Wüste nicht anders erlebt hat als ein riesiges Meer aus Sand.«
Chudâdâd drückte den Turban in die Stirn, zog die Schultern in den Mantelsaum und versteckte seine Hände in den wollenen Hemdärmeln. Dampf waberte aus dem verrußten Sudkessel.
»Warum ist der Seefahrer nicht auf seinem Ozean geblieben, damals?«, fragte az-Zaman, der Besitzer von zwei Dutzend Kamellasten. Chudâdâd zuckte mit den Schultern.
»Weil er aus der Fremde kam, damals. Weil man zwischen Fustat und Baghdad nicht mit dem Schiff segeln kann. Weil er in einer großen Karawane sicher war; schon damals.«
Marwân ibn Khordâdbeh war vor einer kleinen Ewigkeit von Baghdad aufgebrochen. Mitten in der Wüste war ihm die Zeit verloren gegangen; er hatte die Tage nicht mehr gezählt zwischen den Oasen und Nachtlagern in der Großen Leere. In Baghdad aber, in einem Zehntag vielleicht, würde man ihn in Ehren empfangen, denn der Wazir des Kalifen suchte Männer mit Erfahrung, selbst wenn sie so jung waren wie er. Er blickte in das Gesicht des Alten voller tief eingeschnittenen Falten hinter dem weißen, zerzausten Bart.
»Woher kam dieser fremde Seefahrer, o Herr unzählbarer Hufe?« Chudâdâd musterte ihn; er wusste, dass der junge Khordâdbeh niemals eine unbotmäßige Frage stellen würde. Er nahm einen Schluck Sud und brummte:
»Von den westlichen Meeren, die sich jenseits von Dschebel At-Tariq ausbreiten, die niemand kennt und auf denen niemand segelt. Ein kluger Mann, dieser Sindbad, fast ein Gelehrter, hager, zäh und bedürfnislos; seine Freunde gingen verloren, und er hat, bei Allah!, mehr Geschichten gewusst als ich, und bessere, von Meeren und Inseln.«
Die Feuer waren rote, weiß gesprenkelte Gluthäufchen in der Finsternis, die Zähne und Augen der Zuhörer leuchteten. Die unbeweglichen Sterne schienen doppelt so groß und hell wie in Baghdad. Der Halbmond schob sich kreidebleich zwischen den Dünen herauf.
»Er hat gegen Zwerge und Riesen gekämpft, ist mit dem Vogel Rock geflogen, hat im menschenleeren Wald schwarze Pyramiden gesehen wie jene im Süden Fustats und ist in Stürmen gesegelt, die sich wie Sandwirbel drehen, aber hunderttausendmal so groß sind. Er ist, hat er erzählt, immer dem Sonnenaufgang entgegengereist, von Baghdad bis zum Dschebel At-Tariq und durch die Wüste wiederum nach Baghdad. Dort war er ein reicher Mann, ein Freund von Harûn ar-Raschid, dem prächtigsten aller Gerechten.«
Einer der reitenden Wächter hustete, dann sagte er:
»Warum hat kein Qussa, kein Märchenerzähler, uns von diesem Wundermann der Reisen berichtet?«
»Als wir nach Baghdad kamen, damals, war ar-Raschid in Khorasan gestorben. Allah sende ihm tausend Harfenklänge! Die Armeen der Kalifensöhne haben gegeneinander gekämpft, bis der Glanz Baghdads verblichen war. Pöbel und Abschaum regierten, Brand, Diebstahl und Schändung galten anstelle der Gesetze. Es waren die sieben Jahre des Bürgerkriegs. Vielleicht hat man Sindbad erschlagen, oder sein Kitab ist verbrannt, verschwunden … niemand weiß es.«
»Hast du ihn jemals wieder gesehen?«
»Nein. Nur seinen Doppelgänger, der den gleichen Namen hatte. O unergründlicher Zufall! Vom Doppelgänger weiß ich, dass Sindbad auf sieben Reisen nach Osten bis zum Land Sin, und das eine oder andere Mal im Auftrag des Kalifen, ein riesenhaftes Vermögen erhandelt und tausend Abenteuer erlebt hat.«
»Davon wird in Baghdad gemunkelt«, sagte ibn Khordâdbeh leise und grinste. »Ein alter Mann erzählt von Sindbads Reisen.«
Aus der Wüste ertönte wütendes Kamelgurgeln. Ein anderes Tier brüllte, ein Treiber schrie, und Stockschläge waren zu hören. Chudâdâd schöpfte Sud in seinen Becher, wartete und blickte in den Mond. Er redete weiter; eindringlich, wie beschwörend:
»Mir hat Sindbad von seiner achten Reise erzählt. Sie war die längste und schwerste. Und die wunderbarste, sagte er. Die Reise der Stürme, mit Sindbads zwei Schiffen, der Shoruq as-Shams, der Sonnenaufgang, und Nahar Al-aoda, dem Floß der Rückkehr.«
Ein weißer Sandschleier wehte über den Rastplatz. Mehlfeiner, bitterer Staub kitzelte in den Nasen und legte sich ätzend auf Lippen und Zunge. Die halb verhüllten Gesichter der Männer waren von Erschöpfung und mannigfachen Entbehrungen gezeichnet. Der Mond schwebte eine Handbreit über dem Kamm der höchsten Düne. Ibn Khordâdbeh stand stöhnend auf, blies in die klammen Hände und sagte:
»Meine Wache, Chudâdâd! Vielleicht erfahren wir morgen das Ende deiner Erzählung. Von Sindbads achter Reise.« Er lachte verlegen. »Oder der letzten, von der er nie zurückkehrte.«
»Wart’s ab, junger Barid-Reisender. Verlier dich nicht im Sand.« Khordâdbeh verließ die schützende Wärme des heruntergebrannten Feuers. Wenn ich im Dienst der Briefe und Botschaften zwischen den Städten bin, dachte er und hängte sich den Köcher auf den Rücken, werde ich bequemer und schneller reisen. Nach diesen beiden Fernkarawanen werde ich alles gelernt haben, was ein Sahib Al-Barid braucht, um zu überleben; Allah beschütze mich vor Staubstürmen, Raubüberfällen und Krankheiten. Noch fünf, sechs Tage bis zum Syrischen Tor und zur Flussbrücke Baghdads, bis zu Bädern, gutem Essen ohne Sandkörner zwischen den Zähnen und zu den zarthäutigen Djawari meines Vaterbruders! Er wich einem Kamel aus, das träge nach seiner Wade zu beißen versuchte, stolperte über einen Ballen Papyrus und begann im eisigen Wind zu frösteln.
»Sindbad«, flüsterte er, als er allein die Ansammlung der Tiere und Lasten zu umkreisen begann. »Diesen Namen hab ich oft gehört, in Baghdad und Basra? Mehr weiß ich nicht, obwohl er – vielleicht – schon in Ländern und Städten gewesen war, wohin ich – vielleicht – reisen werde.«
Auch diese Nacht blieb mehr oder weniger ruhig, wie alle anderen seit Anfang der Reise. Keine Räuber, keine Wegelagerer, kein Tier, das sich so weit vom Lager entfernte, dass sie es bei Tage suchen mussten. Als der Mond den höchsten Punkt am Firmament durchwandert hatte, ließ sich Marwân ablösen, scharrte sich eine Mulde im Sand und dachte an ein Schiff, dessen Bug viele Stunden, Zehntage und Monde hindurch nach Osten zielte, in die Morgenröte. Aber als er sich in die säuerlich riechende Decke gewickelt hatte, war er auch schon eingeschlafen.
Nach dem rosenfarbigen Zwielicht, das nur wenige Herzschläge lang währte, endete die Dämmerung. Sonnenstrahlen zuckten waagrecht über das Land und schienen aufzuzischen, wenn sie die messerscharfen Grate der Dünen im Süden des Rastplatzes trafen. Blinzelnd drehte Marwân den Kopf weg, schälte sich aus dem Umhang und suchte Holzstücke für das Feuer. Zwei Treiber kämpften mit einem brüllenden jungen Kamel; einer warf ihm eine große Hand voll Sand ins aufgerissene Maul, der andere band eine Lederschnur um die Lefzen. Das Tier spreizte die Läufe ab und ließ sich mitten im Lärm und Durcheinander des Aufbruchs beladen, ohne sich zu wehren. Einige Treiber griffen in die Geschlechtsöffnungen von Kamelstuten, um zu ertasten, ob darinnen noch die Steine klapperten; sie waren eingeführt worden, damit die Stuten nicht gedeckt wurden und am Ende der Reise nicht trächtig waren.
Chudâdâd zog am Leitseil, und der erste Teil der Karawane, fünf Dutzend schwer beladener Hengste, verließ den Kreis des Lagers und verschwand in der riesigen Sonnenscheibe.
Ibn Khordâdbeh sattelte seine Stute, ließ sie aus dem Lederbeutel einige Becher Wasser saufen und stieg auf. Gehorsam erhob sich das Reittier, wandte den langen Hals und trabte an. Marwân blieb am Ende der Karawane, bis das letzte Tier, an der Last des vorhergehenden Kamels angeleint, seine Hufe in den Sand setzte und brüllte. Ein alter Hengst war nachts verendet. Marwân ritt im Bogen um den ausgebluteten Kadaver herum, betrachtete die Spuren und hob den Kopf. Ein einsamer Geier, der erste eines anwachsenden Schwarms, drehte über dem verlassenen Lagerplatz lautlose Kreise.
Geduldig hatte der junge Marktaufseher im Schatten ausgeharrt. Zwei Stunden nach dem höchsten Mittag, in der Stille der Stadt nach dem Gebet, rollte der Märchenerzähler seinen Teppich aus, setzte sich auf das Bänkchen und zog die Beine unter sich. Sechs Männer und ein Halbwüchsiger warteten unter den Ästen der Tamariske, aus denen das unaufhörliche grelle Rasseln der Zikaden über den Platz hallte. Abdallâh ibn Abi Kilâba zupfte den Bart zurecht, lächelte den Wartenden zerstreut zu und rief:
»Vom Zaratan werde ich euch heute erzählen, dem gewaltigen Riesenfisch, von dem der Weltkundige Al-Yahiz geschrieben hat, dass es ihn nicht gibt, und vom Bahamut, dessen strahlenden Anblick das Menschenauge nicht ertragen kann.« Er holte tief Luft und lehnte sich an den schartigen Stamm. »Bevor ich die Geheimnisse des Ouroboros enthülle, des Meerestiers, das am Ende seines Schwanzes anfängt, sollt ihr das körnige, gelbe Schmalz aus euren Ohren kratzen, ihr, denen ob dieser Verstopftheit die Hälfte dessen verborgen bleibt, was die Welt an Wundern birgt.«
Er hob beide Hände zum Himmel und warf verachtungsvolle Blicke ins Halbrund. Die Zuhörer lachten und stießen einander mit den Ellbogen an.
»Gewiss ist eines in den trockenen Sanddünen eurer Gedanken: Allah ist groß! Aber ist er auch gnädig?« Die Worte verhallten am körnigen Putz der Mauern. Eine Schar Sperlinge pickte im staubigen Pferdekot. Sanfter Mittagswind ließ die Blätter der Zypresse neben dem versiegten Brunnen rascheln; das ferne Geräusch der Stadt war wieder zu hören. Am Tigriskanal schöpften unverschleierte Frauen Wasser in Krüge. Der Qussa sprach leiser und blickte die Zuhörer vorwurfsvoll an. »Aber er hat allen Geschöpfen bestimmt, was er wollte, und er hat es ihnen im Voraus zugeteilt. Einer lebt herrlich und in Freuden, der andere darbt in Mühseligkeit. Gepriesen sei sein mächtiger Name – Allah ist gerecht.«
»Wie wahr, o ibn Kilâba!«, flüsterte der Marktaufseher und setzte sich zurecht. Ibrahim ibn Maruf war ohne Arbeit, langweilte sich, in seinem Ärmel klimperten nur ein paar Dirham, und sein einziger Besitz schienen die kargen Stunden eines langweiligen Tages zu sein. Er zählte flüchtig: Er war der achte Zuhörer. Der Märchenerzähler wartete, bis die weißen Ibisse im Geäst schwiegen, dann sprach er weiter.
»O ihr Ahnungslosen! Leer wie meine Schale sind eure Träume! Von es-Sindibâd will ich zuerst erzählen, vom Meereshengst und der prächtigen Stadt Basra, vom Turm, der nie fertig gebaut wurde, von unglaublichem Reichtum und gallebitterer Armut, und von es-Sindibâds Reisen zu den wunderbaren Inseln und Ländern des Handels. Eine Geschichte, die es wert ist, dass man sie mit Nadeln in die Augenwinkel schriebe!«
Ibrahim, der Muhtasib, sah sich um, als habe der Erzähler ihn angesprochen, zog die Beine unter sich, lehnte die Schultern gegen die Mauer und betrachtete den weißbärtigen Abdallâh, Sohn des Abi Kilâba, der die Hände im Schoß faltete und die Augen schloss; ein Greis unbestimmbaren Alters mit den Bewegungen eines weitaus Jüngeren. Sein welkes Gesicht ließ nicht erkennen, ob er vierzig, sechzig oder neunzig Jahre zählte. Einige Atemzüge später glitt der Blick Abdallâhs unter schweren Lidern hervor über die Köpfe der Wartenden hinweg in unbestimmbare Ferne. Ein Taubenschwarm flog mit klatschendem Flügelschlag über die Mauerkrone.
»Aus Sohar zwischen den Flüssen kam es-Sindibâds Vater, ein Vornehmer unter den Kaufleuten, ein Witwer mit viel Geld und Gut, nach Madinat As-Salaam. Vielleicht wisst ihr, die Allah mit reicher Ahnungslosigkeit gesegnet hat, dass einstmals Kalif Mansur unsere einzigartige Stadt, auf deren Boden ihr kauert, als ›Stadt des Friedens‹ erbaut hat und dass die Runde Stadt, seit Kalif Mansur nahe des heiligen Mekka starb, überall in der Welt Baghdad heißt.«
Ibn Maruf nickte langsam; in der Stadt Harûn ar-Raschids und Al-Ma’muns kannte er zwar jeden Markthändler, aber mit diesem Wissen konnte er in der Stadt der dreiundzwanzig Paläste derzeit wenig anfangen; er suchte nach Arbeit. Am Ende einer der staubigen Straßen, die auf den Platz des Tugendhaften Mahdi mündeten, begann ein Hund zu kläffen. Einige Atemzüge später, nachdem er ein schauerliches Heulen ausgestoßen hatte, verstummte er, und ein Esel fing zu schreien an. Geduldig wartete ibn Kilâba, mit den Fingern der Linken den Bart furchend.
»Hadi, der Schreckliche, der Kalif mit der kurzen Lippe und Harûn ar-Raschid, die Söhne der Herrin Khaizuran, stritten sich um die Macht, um die Nachfolgeschaft Mahdis, um die Siegel des Reiches. Zwei Jahre älter als Harûn ar-Raschid war es-Sindibâd, als sein Vater sich in unserer Stadt niederließ. Einige Jahre danach starb der Vater.«
Ein Straßenkehrer und ein Wasserverkäufer trotteten näher, hörten schweigend zu, die Köpfe schräg gelegt. Nach einer kurzen Weile setzten sie sich zu den anderen auf die Stufen. Der Marktaufseher begann an den Fingern abzuzählen und zu rechnen: Der Kalif Harûn war mit dreiundvierzig Jahren gestorben, also hatte Allah dem Sindbad – wenn er heute noch unter den Lebenden wandelte – fünfzig Jahre geschenkt, oder eine Hand voll Monde weniger.
»Der Vaterbruder erzog es-Sindibâd, den bald jedermann Sindbad nannte, und lehrte ihn das Handwerk des ehrbaren Kaufmanns, bis Sindbad zum Manne herangewachsen war und seinen Reichtum mit Allahs Segen und Muhammads pfiffigem Rechenbrett in Besitz nehmen durfte.« Der Erzähler leckte sich über die Lippen. »Er sah, dass er sich zu den Reichen zählen durfte, hüllte sich in schöne Gewänder, tafelte mit seinen Freunden die leckersten Speisen und trank die edelsten Weine, entlohnte die besten Musiker und Sänger mit silbernen Dirham und verbrachte unzählige Nächte der Leidenschaft mit kundigen Djawari-Liebessklavinnen, schön und feurig wie jene Dschinn, die Allah aus rauchlosen Flammen erschaffen hat.
Jahr um Jahr zehrte Sindbad vom Reichtum, bis der Mangel offenbar wurde und alles verzehrt war, was er besessen hatte. Als der letzte Wein getrunken war, die Freunde ausblieben und die teuren Liebesdienerinnen ihre Schenkel geschlossen hielten, erwachte Sindbad endlich aus seiner Sorglosigkeit.«
Ein wolkenloser Sommerhimmel leuchtete über Baghdad und den Feldern und Palmengärten, die im weiten Umkreis grüne, gerundete Vierecke und Rechtecke im Netzwerk der Kanäle bildeten. Zwischen den Mauern briet und sengte die Hitze den Staub der Gassen und Plätze. Vom westlichen Tor, der Hakam-ibn-Jusuf-Straße und der Straße der Wohlwollenden Schatten schlängelten sich die Laute des Kamelmarktes heran. Der Märchenerzähler griff hinter sich, stellte eine gelbe, schwarz geränderte Schale vor seine Knie in den Staub und fuhr fort:
»An einen Rat seines Vaters erinnerte sich Sindbad plötzlich, an den Ausspruch des Herrn Salomo, des Sohnes Davids – Heil sei über beiden! –, und diesen Spruch solltet auch ihr endlich beherzigen.
Drei Dinge, sagt Salomo, sind besser als drei andere: Der Tag des Todes ist besser als der Tag der Geburt; ein lebendiger Hund ist besser als ein toter Löwe, und das Grab ist besser als die Armut. Also sammelte Sindbad den Rest seiner kostbaren Gewänder und seines Hausrats, verkaufte sie ebenso wie seinen Grundbesitz und alles Übrige, das ihm verblieben war, und siehe!, er besaß am Ende dreitausend Silberdirham und sonst nichts mehr.«
Eine Gruppe Müßiggänger, zwei Bauern, deren Esel schwankende Turmgebilde aus leeren Geflügelkäfigen schleppten, und ein Sklave, der einen Karren zog, blieben stehen und hörten schweigend zu. Abdallâh ibn Abi Kilâba bedachte sie der Reihe nach mit langsamem Nicken, als habe er sie erwartet; das Grautier, das den Kopf hängen ließ, betrachtete er am längsten.
»Sindbad beriet sich mit anderen Kaufleuten Baghdads, kaufte solche Waren und Handelsgüter, an denen die Bewohner der Küsten und Inseln Mangel litten, und rüstete sich selbst für eine Reise aus. Für eine Handelsfahrt auf dem Meer, denn in den Reden der Kaufleute hatte er längst von jenen Abenteuern gehört, die in seinen Träumen gaukelten. Von Baghdad fuhren sie, ein Dutzend ehrbarer Kaufleute mit ihren Dienern, Tag um Tag auf einem Flussschiff durch Schleusen und Kanäle zum Euphrat, dem Al-Furât, zuerst nach Kalla, dem Flusshafen, dann zur Ersten Hafenstadt der Welt, Basra, deren Nachbarstadt Ubulla, kaum minder prächtig, sich näher an der Mündung des Al-Furât ins Schilfmeer ausbreitet, ins Meer der sandigen Untiefen. Ist jemals einer von euch Ungereisten in Basra gewesen?«
Die Zuhörer schüttelten die Köpfe. Der Marktaufseher, der ein halbes Dutzend Mal im Gefolge von Kaufleuten in Basra und am Meeressaum schwere Säcke und Ballen geschleppt und gezählt hatte, hütete sich, den Arm zu heben. Er grinste, wischte sich den Schweiß vom Hals und entsann sich der Städte an der Euphratmündung; dort, in der triefenden Hitze am Meeressaum, fiel jede Arbeit viel schwerer als in Baghdad. Basra, kaum eineinhalb Jahrhunderte alt, wimmelte von Menschen aller Hautfarben, Weltgegenden und jeglichen Glaubens: Muslime, Juden, nestorianische Christen, Inder, Araber, Perser und Ungläubige. Eine feuchtheiße Kuppel aus Dunst wölbte sich über Basra; in der brettflachen Schwemmlandebene stank es nach Meer und Schilf, nach glühenden Kesseln und trüben Scheidesäften der Zuckerfabriken, den Feuern der Schiffswerften und den Becken, in denen die Weber ihre Teppiche und Zeltbahnen wuschen und färbten. Im Hafen, dem riesigen Markt für Waren aller Art, quirlten ameisenhaftes Gewimmel aus zehntausend Arbeitern, abenteuerliche Mundarten und Sprachen, Gerüche und Lärm, Farben und Geschrei.
»Es war in Basra der Beginn der Reisezeit; der Mausim aus Südwest, der Richtung des Sonnenuntergangs, kam über Land und Meer und zerrte an den Segeln. Sindbad und seine Schiffsgenossen sahen sich um und gingen schließlich an Bord eines schlanken Schiffes mit zwei Masten, das dem Kapitän Châlid ad-Din gehörte, einem sperbernasigen Meereskundigen mit gefärbtem Bart und kahlem Kopf.« Der Erzähler schob den eng gewickelten Turban zurück und wischte sich Schweiß von der Stirn. »Eine Krankheit hatte ihn jegliches Haupthaar verlieren lassen, und auf dem glatten Schädel Châlids rutschte der Turban ebenso wie die Tâkija. Jeder, den Sindbad und die Kaufleute fragten, antwortete dergestalt: Die Sturmprinzessin ist ein gutes Schiff, und Kapitän Châlid ist von vier Fahrten ohne Schaden an Verstand, Leib, Planken und Ladung zurückgekommen.«
Zweimal im Jahr, jeweils zwei Monde lang, wehten die Mausim-Winde aus Südwest, und auch die Meeresströmungen kehrten sich um; das hatte der Marktaufseher in Basra erfahren. Sechs Monde lang, in der anderen Hälfte des Jahres, kam der Mausim der Rückkehr, stärker als sein Windbruder, aus Nordost und blies die Schiffe zuverlässig zurück nach Basra und Ubulla. Ibrahim hatte geholfen, schwankende Schiffe am Kai zu beladen, aber eine Seereise auf diesen unsicheren, knarrenden und engen Häusern aus Holz und Leinwand fürchtete er wie den Fluch des Propheten.
Ibn Abi Kilâba rückte am Turban und holte tief Luft. »In Basra gingen Sindbad und seine Mitsegler an Bord, wagten sich in die Wellen der unbekannten Ozeane, vertrauten der Erfahrung und Geschicklichkeit der Mannschaft, des Steuermanns und des Kapitäns. Und sie fuhren, hundertzwanzig Farsah weit, zum Hafen von Siraf, einer Stadt, in der die reichen Kaufleute ihre Häuser aus edlem Teakholz bauen, dessen Geruch die Fliegen vertreibt und den Nasen der Frauen schmeichelt. Mit dem Gewinn ihrer Waren und frischem Wasser segelten die Kaufleute mit Allahs Wind und in den Meereswellen des Propheten nach Maskat, nach Aden, Oman und Dschidda, von Häfen zu Inseln, von Inseln zu Häfen, weiter und weiter zu anderen Stätten, deren Namen ich kenne. Aber davon berichte ich euch später; vielleicht morgen oder übermorgen. Inshallah. So Allah will. Überall, wo sie landeten, tauschten sie Güter und trieben Handel.«
Der Erzähler redete in einem Ton weiter, als schildere er Bilder aus einem seiner farbigen Träume.
»Sindbad sah, wie man auf Jahan, einer Insel nahe Hurmuz, die steinernen Fundamente für einen Turm errichtete, der ein Feuer auf seiner Spitze tragen sollte. Aus riesenhaften Felsen meißelte man Würfel, und einen Brunnen mauerte man neben dem zukünftigen Turm. Der Schacht, sagten sie, reichte bis ins Wasser eines unterirdischen Flusses, und allen Schiffen, die von den Küsten und Inseln aus Sonnenaufgang zurückkamen, würde Licht und köstliches Wasser geschenkt.
Auch traf er reiche Händler, von denen er noch mehr von der List des Kaufens, Schacherns, Versteigerns, Ersteigerns und Verkaufens lernen konnte; auch verbrachte er Stunden der Nacht bei manchen Fürstinnen der Leidenschaft und Wollust, die sich ihm für Gold hingaben oder ihn mit ihrer Begierde beschenkten, denn er war ein kräftiger, prächtig anzusehender Mann, mit flinker Zunge und strahlenden braunen Augen, gewitzt und höflich zu jedermann. Ach, ihr Lauschenden, die ihr auf sandigen Stufen hockt – so vieles vermöchte ich euch zu erzählen! Aber die dürftige Spende eurer Kupfermünzen … sie lahmt gleichermaßen meine Erinnerung, den Verstand und die Flinkheit der Zunge.«
Einige Zuhörer rutschten hin und her, Pferdehufe klapperten im Galopp vom Ende der Gasse her. Der Esel hob den Kopf, sein Ohr richtete sich auf, auf der Mauer trippelten halb zahme Tauben umeinander und gurrten aufdringlich.
»So segelten sie hurtig dahin, von Hafen zu Hafen. Aber eines Morgens sah der Mann, der in die Spitze des Masts geklettert war, eine Insel, die selbst Kapitän Châlid ad-Din noch nicht kannte.«
Der Märchenerzähler schwieg, scheinbar von seinen eigenen Worten erschreckt. Er hob die Hände, als wolle er einen Dschinni abwehren; dann redete er mit gedämpfter Stimme weiter.
»Tausendmal tausend Inseln hat Allah über das wechselhafte Antlitz der Meere verstreut. Dilmun, Kais oder Palipur oder Kanalus, Haladummati oder Taladummati oder Mahal, Mangalore oder Sarandîb und unzählige andere, deren Namen niemand kennt.« Er gluckste. »Selbst ich weiß sie nicht. Indes – jene Insel, auf die Kapitän Châlid die Sturmprinzessin zusteuern ließ, kannte er selbst nicht, obwohl er diesen Teil des Meeres oftmals besegelt hatte.
Es war nur ein Inselchen, aber aus der Ferne und mit jeder Farsah, die sich das Schiff ihr näherte, zeigte sich das Eiland in der Schönheit eines Paradiesgartens. Die Farbe des Meeresgrundes wechselte, und an der Stelle, an der die Anker fielen, sahen die Seeleute und die Kaufleute keinen Sand, keine Riffe, sondern flache Steine wie große, in allen Perlmuttfarben schimmernde Schilde.
Die Landungsplanke legte sich mit dem Ende auf den Strand, der mit moosartigem Tang bewachsen war, grün und goldbraun wie saftiges Gras, das in der Sonnenhitze gilbt. Nacheinander verließen alle Reisenden das Schiff, suchten Reisig und hackten Treibholz, und die Schiffsleute trugen Kessel und Essen, Wasserfässer und Proviant, schmutziges Zeug und reine Tücher ans Land. Bald siedete das Wasser in den Kesseln über den Feuern; der eine kochte, der andere fing an, seine Gewänder und sich selbst zu waschen, andere spazierten hin und her oder legten sich im Schiff zum Schlafen; andere wieder bewunderten die Insel, die einem runden Buckel glich, über und über mit Bäumen und Büschen bewachsen. In den Duft zahlloser Blumen und Blüten mischte sich, als die ersten Kessel voll süßem Kräutersud bereitet waren, der Geruch von verfaulendem Meeresgetier.«
Der Märchenerzähler griff hinter sich und trank einige Schlucke aus einem Wasserkrug. Er wartete, bis sich drei Stadtwächter nach kurzer, geflüsterter Beratung zu den Zuhörern gesetzt hatten, dann senkte er nach einigen Worten seine Stimme zu einem Flüstern, das viel Überraschendes versprach.
»Aber – die Insel, deren Schönheit einem Garten in Allahs Paradies glich – kaum einer von euch wird es jemals erblicken dürfen! – war keine Insel.«
Dieses Mal war die Unterbrechung der Erzählung kürzer. Auch der Marktaufseher hielt den Atem an.
»Die geheimnisvolle Tiefe der Ozeane hatte den Ouroboros aus der Finsternis entlassen, den Schlangenfisch, der seinen beschuppten Stachelschwanz verschlingt. So lange schon schwamm er durch die Wellen, dass auf seinem Rücken Gras, Büsche und Bäume wurzelten und wuchsen. Oder hatte Allah dem Zaratan gestattet, dass er sich in eine Insel verwandelte, mit Wäldern und Tälern darauf? Die Gelehrten haben geforscht und uns versichert, dass niemals ein Sterblicher den Zaratan mit eigenen Augen gesehen hat. War es aber nicht Ouroboros oder der Zaratan, dann mag der Bahamuth, jene Insel in den endlosen Meeren zwischen Basra und Mandschahpur, es gewesen sein, an der die Sturmprinzessin ihre Anker versenkt hat. Jene Bestie vielleicht, deren Berge Wunderkräuter tragen, zwischen denen wilde Tiere spielen, und die mächtige Knochen hat wie eiserne Rohre?
Auch ich weiß es nicht, und Sindbad wusste es ebenso wenig. Er streifte jenseits des schillernden Strandes und hörte, wie der Kapitän vom Heck des Schiffs zu schreien anfing.
›Rettet euer Leben!‹, schrie Châlid ad-Din. ›Hastet! Lauft! Rennt! Kommt an Bord! Lasst alles stehen und liegen!‹
Die Feuer, sage ich, die jene Unglücklichen entzündet hatten, verbrannten den Rücken der Insel, die ein Fisch war, ein riesiger Wal, der Großvater aller Wale. Châlid ad-Din brüllte:
›Rettet euch vor dem Verderben! Die Insel ist ein großer Fisch, der im Meer festliegt. Er wird mit euch in der Tiefe versinken. Alle werdet ihr ertrinken! Bringt euch in Sicherheit, ehe das Verderben über euch kommt!‹
Schon war die Mannschaft an Bord des Schiffes, und jeder, der Châlids Geschrei hörte, rannte zur Sturmprinzessin und ließ alles zurück, was er auf die Insel gebracht hatte; die Landungsplanke bog sich knirschend unter dem Gewicht der Ängstlichen.
Viele erreichten das Deck. Manche hielten sich an Tauen fest. Andere klammerten sich an die Ankertaue und wurden hinaufgezogen. Schreie der Todesangst gellten über das Wasser, als sich der Vater aller Walfische bewegte, als er zu schwimmen begann und eine Bugwelle aufwarf, verderblicher als die höchste Winterbrandung. Die Anker rutschten von den Schuppen des riesigen Leibes, als der Bahamuth in der Tiefe des Meeres versank, aus der er gekommen war. So löschte er die Glut der Feuer, die ihn nun nicht mehr länger peinigten. Als sein Schwanz die Wellen peitschte, sprangen harte Sturmböen auf.
Sindbad war einer der Kaufleute, die das Schiff nicht mehr erreichten. Wie die anderen schwamm er und suchte sich zu retten, mit der Hilfe des Allerbarmers und schwimmenden Holzes, an dem er sich festklammern konnte.«
Der Märchenerzähler stand lächelnd auf und lockerte unter der Durra’a seine Beinmuskulatur. Mit einer schwungvollen Geste deutete er auf die schwarzgelbe Schale.