Plötzlich Drache 2 - Nicolas Bretscher - E-Book

Plötzlich Drache 2 E-Book

Nicolas Bretscher

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Beschreibung

Dies ist die direkte Fortsetzung von "Plötzlich Drache". Nachdem der dritte Weltkrieg beendet war, litt ich aufgrund einiger brutaler Kämpfe unter einer posttraumatischen Belastungsstörung. Erst als ich Vanessa kennenlernte, schien sich meine Situation zu bessern. Während ich noch unschlüssig war, ob ich meiner neuen Freundin, die Gewalt verabscheute, erklären sollte, dass ich in Wahrheit ein Drache war, der während des Krieges dutzende Soldaten getötet hatte und sich in einen Menschen verwandeln konnte, traten plötzlich mysteriöse Schlaganfälle in jedem Winkel der Erde auf. Durch eine frühere Begegnung wusste ich, wem diese Umstände zu verdanken waren. Ebenso war mir bewusst, dass die gesamte Menschheit davon betroffen sein würde, sollte ich nicht umgehend mithilfe von minimalen Informationen eine Lösung finden. Ehe ich mich versah, war ich in einen Konflikt verstrickt, der mich in eine neue Welt entführte und meine Sicht auf die Realität grundlegend veränderte.

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Die Buchreihe

Plötzlich Drache

ISBN 978-3-7526-0349-1

Plötzlich Drache 2 – Künstliche Intelligenz

ISBN 978-3-7597-6906-0

Plötzlich Drache 3 – Unerwartete Wendung

ISBN 978-3-7597-6907-7

Plötzlich Drache 4 – Kollision der Welten

ISBN 978-3-7597-6786-8

Inhaltsverzeichnis

1. Meinungsverschiedenheit

2. Liebe

3. Drachenschutzgesellschaft

4. Vorahnung

5. Entdeckung

6. Gewissenskonflikt

7. Flugmodus

8. Geldgier

9. Entdeckungsreise

10. Undercover

11. Beziehung

12. Überlichtgeschwindigkeit

13. Aliens

14. Reparatur

15. Rückweg

16. Eigentor

17. Gerechtigkeit

18. Sinneswandel

19. Verschwunden

20. Tesserakt

21. Z-17-k

22. Invasion

23. Multiversum

24. Vierdimensional

25. Heimkehr

1

Meinungsverschiedenheit

Gedankenverloren blickte ich aus dem Fenster der S4 und beobachtete die rasant an mir vorbeiziehenden Häuser. Der Zug würde in wenigen Minuten den Hauptbahnhof von Zürich erreichen. Unter normalen Umständen wäre ich die Strecke von meinem Bruder Tom zurück nach Hause mit dem Auto gefahren, denn ich hasste die öffentlichen Verkehrsmittel über alles. Die unzähligen Menschen waren mein Hauptproblem. Je mehr Menschen sich in meiner Umgebung befanden, desto unwohler fühlte ich mich. Andauernd versuchte ich, ihre Blicke zu meiden, was mir leider nicht immer gelang. Sehnsüchtig dachte ich an die Zeit zurück, in der ich noch ein Auto besessen hatte und mein Leben einigermassen normal gewesen war. Vor ungefähr einem halben Jahr hatte ich noch keine besonderen Fähigkeiten besessen, die es mir ermöglichten, mich in einen Drachen zu verwandeln. Deswegen hatte ich nicht ununterbrochen vor einem Forschungsinstitut namens Drachenschutzgesellschaft auf der Hut sein müssen. Ausserdem plagten mich seit den Kämpfen in der Ukraine Schuldgefühle, da ich während des Krieges vielen Menschen das Leben genommen hatte. Auch wenn die russischen Soldaten meine Feinde gewesen waren, bereute ich meine Taten.

«Nächster Halt: Zürich Hauptbahnhof»

Diese Durchsage unterbrach meine Gedankengänge. Ich stand von meinem Fensterplatz auf und zwängte mich zwischen den Passanten hindurch zur nächstgelegenen Tür. Trotz der Tatsache, dass ich mich unter derart vielen Menschen unwohl fühlte, war ich froh über die Ablenkung. Auf diese Weise musste ich nicht ununterbrochen an brutale Kampfszenen denken, die sich in der Vergangenheit ereignet hatten. Als ich vor der Tür ankam, fiel mir auf, dass mich eine Frau wütend anstarrte.

Habe ich irgendetwas falsch gemacht? Fragte ich mich.

Verwirrt sah ich ihr entgegen und versuchte einige Sekunden später, meine Aufmerksamkeit der Waggontür zu schenken. Im Augenwinkel erkannte ich, dass sie mich immer noch anstarrte. In diesem Moment fühlte ich, wie meine Wangen erröteten. Die Ungewissheit, weshalb sie mich mit ihrem Blick durchbohrte, machte mich nervös. Innerlich wünschte ich mir, sie würde endlich jemand anderen anstarren. Nach einer Minute, die sich wie eine Ewigkeit angefühlt hatte, hielt der Zug endlich an. Die Waggontür öffnete sich und ich trat eilig auf den Bahnsteig. Erleichtert atmete ich auf, während ich mich von der Frau entfernte. Gerade als ich mich wieder entspannen wollte, fielen mir die Blicke der anderen Passanten auf. Dutzende Männer und Frauen starrten mich verachtend an. Die meisten von ihnen wirkten wütend.

«Mörder!», sagte ein älterer Herr neben mir.

Meine Verwirrung war inzwischen derart gross, dass ich mich lediglich von ihm entfernte und währenddessen versuchte, keinen meiner Mitmenschen zu beachten.

«Spiel nicht den Scheinheiligen! Wir wissen, was du getan hast, Drache.», rief mir der Mann hinterher.

Diese Aussage liess mich augenblicklich erstarren. Blitzschnell drehten sich meine Gedanken im Kreis, während ich versuchte, die Situation einzuordnen. Ich tastete mein Gesicht ab, da ich mir nicht mehr sicher war, ob ich mich unbeabsichtigt verwandelt hatte. Mit meinen Fingern konnte ich lediglich weiche Haut und Haare fühlen, jedoch keine Drachenschuppen. Anschliessend blickte ich an mir herab und versuchte herauszufinden, wie ich aufgefallen war. Da ich nichts ausser meiner menschlichen Gestalt erkennen konnte, richtete ich meine Aufmerksamkeit erneut auf den Mann, der mir hinterhergerufen hatte.

Woher weiss er, dass ich ein Drache bin? Fragte ich mich.

«Das hier muss sich um eine Verwechslung handeln.», antwortete ich ihm, um dieser seltsamen Situation zu entweichen.

«Ist es nicht. Wir haben alle das Video gesehen, in dem du dich verwandelt hast.», entgegnete eine junge Frau.

Diese Aussage liess mir einen kalten Schauer über den Rücken laufen. Ich wusste, dass meine Geheimidentität irgendwann auffliegen würde, wenngleich ich noch vor wenigen Minuten niemals vermutet hätte, dass es bereits jetzt geschah. Da ich nicht wusste, wie ich mich mit Worten aus dieser Situation winden konnte, beschleunigte ich meine Schritte. Die wütenden Blicke der Passanten verfolgten mich. Kurz bevor ich die grosse Halle des Hauptbahnhofs erreichte, stellte sich mir jemand in den Weg. Ich änderte meine Richtung und blickte nach Hilfe suchend umher. Niemand schien an meinem Wohlbefinden interessiert zu sein. Mittlerweile joggte ich zwischen den Menschen hindurch, um schnellstmöglich ins Freie zu gelangen. Kurz vor einer Rolltreppe versperrten drei junge Männer den Ausgang. Hinter mir erblickte ich mehrere Verfolger.

Die wissen ohnehin bereits, dass ich ein Drache bin, dachte ich, während ich mir vorstellte, aus Feuer zu bestehen, um die Verwandlung einzuleiten.

Zu meiner Enttäuschung setzte das vertraute Kribbeln trotz höchster Konzentration nicht ein.

Das darf doch jetzt nicht wahr sein!

Voller Angst rannte ich einem anderen Gang entlang, um meine Verfolger abzuschütteln. Erneut versuchte ich, mich in einen Drachen zu verwandeln, jedoch ohne Erfolg. Ich blickte nach hinten und war überrascht, dass mich nur noch wenige Meter von einem wütenden Mann trennten, der definitiv nicht bloss Redebedarf hatte. Plötzlich stolperte ich, da mir jemand ein Bein gestellt hatte, während mein Blick nach hinten gerichtet war. Ich verlor das Gleichgewicht und fiel vornüber. Erstaunlicherweise fühlte ich den darauffolgenden Aufprall auf dem harten Boden kaum. In kürzester Zeit rappelte ich mich auf und wollte bereits wieder fliehen, als ich feststellte, dass ich nun von wütenden Menschen umzingelt war. Wie eine riesige Horde Zombies bewegten sie sich langsam mit ausgestreckten Armen auf mich zu.

«Können wir nicht noch einmal darüber reden?», fragte ich hoffnungsvoll.

Stumm traten sie näher, bis ich mich aufgrund ihrer schieren Masse nicht mehr von der Stelle bewegen konnte.

Weshalb kann ich mich nicht verwandeln? Das wäre jetzt wirklich sehr wichtig! Dachte ich.

«Für ein Gespräch ist es bereits zu spät.», erwiderte der Mann, der mir am nächsten stand.

Er zog ein Messer aus seiner Hosentasche und richtete es mir entgegen. Verzweifelt versuchte ich, mich aus der Menschenmenge zu befreien. Da mich bereits einige von ihnen festhielten, gelang es mir nicht.

«Hilfe!», schrie ich, während ich auf das blanke Messer blickte, was sich nun rasend schnell meiner Brust näherte.

Genau in dem Moment, als es mich berührte, wachte ich schweissgebadet auf und sass sogleich kerzengerade in meinem Bett. Es war stockdunkel in meinem Zimmer. Lediglich das Ziffernblatt meines Weckers spendete ein wenig Licht. Es war viertel vor fünf des zehnten Mais 2023. Mein Puls raste und ich zitterte vor Adrenalin, während ich versuchte, die Geschehnisse von eben einzuordnen. Es dauerte einen Moment, bis ich begriffen hatte, dass es sich bei der Verfolgungsjagd im Zürcher Hauptbahnhof um einen Traum handelte. Immer noch schockiert stand ich auf, ging auf die Toilette und trank ein wenig Wasser, um mich zu beruhigen. Anschliessend stellte ich mir vor, meine rechte Hand würde aus Feuer bestehen. Sofort setzte das unangenehme Kribbeln ein, was stets die Verwandlung begleitete. Rote Schuppen bildeten sich auf meiner Haut und die Fingernägel wuchsen zu Drachenklauen heran. Nachdem sich meine Hand vollständig verwandelt hatte, atmete ich erleichtert aus. Aufgrund meines Albtraums hatte ich bereits befürchtet, meine besondere Fähigkeit verloren zu haben. Ich machte meine Verwandlung rückgängig und ging erneut zu Bett. Dies war nicht das erste Mal, dass sich meine Ängste in Form eines Traums zeigten. Nahezu jede Nacht seit dem Kampf in Moskau suchten mich Albträume heim, die derart real wirkten, dass ich selbst nach dem Aufwachen nicht mehr genau wusste, was tatsächlich geschehen war. Die öffentliche Meinung über Drachen scherte mich inzwischen kaum noch. Meine Schuldgefühle und Ängste hingegen hatten sich stark vergrössert. Ich hatte Angst davor, aufzufliegen und von der Drachenschutzgesellschaft, kurz DrSG, gefangengenommen zu werden. Ausserdem fürchtete ich, irgendwann versehentlich jemanden zu verletzen oder gar zu töten, da ich meine Drachenkräfte während des Schlafs kaum kontrollieren konnte. Insbesondere dann nicht, wenn die Träume derart der Realität glichen. Bereits dutzende Male musste ich meine Bettwäsche ersetzen, da ich sie im Schlaf als Drache zerrissen oder angezündet hatte. Der Feuerlöscher neben meinem Bett kam mittlerweile wöchentlich zum Einsatz und musste regelmässig ausgetauscht werden. Glücklicherweise konnte ich das Feuer bisher stets löschen, bevor es unkontrollierbar wurde. Trotzdem wusste ich, dass mich mein Glück irgendwann verlassen würde. Manchmal wünschte ich mir sogar, jemand würde mich fesseln und in einem feuerfesten Raum einsperren, nachdem ich eingeschlafen war, sodass ich nichts mehr versehentlich zerstören konnte.

Über eine halbe Stunde lag ich wach im Bett und versuchte, nicht erneut einzuschlafen, um weitere Albträume zu vermeiden. Aufgrund meiner Müdigkeit fielen mir die Augen dennoch zu, wodurch sich meine nächtlichen Qualen fortsetzten.

Um halb acht klingelte mein Wecker, worüber ich sehr froh war, da ich in einem weiteren Albtraum versehentlich meinen Bruder Tom getötet hatte. Ich betätigte den Knopf, um den Wecker auszuschalten, und stand auf. Das laute Kratzen meiner Krallen auf dem Fussboden erinnerte mich daran, dass ich mich erneut im Schlaf verwandelt hatte. Ich blickte zurück zu meinem Bett, was lediglich noch aus einem Haufen Stofffetzen und Federn bestand.

Das war's wohl mit Bettwäsche Nummer 61, dachte ich niedergeschlagen.

Mittlerweile gehörte es bereits zu meinem Alltag, zerfetzte Bettwäsche zu entsorgen und durch eine meiner mindestens zehn Vorrätigen zu ersetzen. Da ich seit Monaten unter Schlafmangel litt, kümmerte ich mich meistens erst am Abend um diese Aufgabe. Dadurch konnte ich am Morgen jeweils länger schlafen. Eilig verwandelte ich mich in einen Menschen, zog mir Kleider an, die noch in einem Stück waren, und ass mein Frühstück. Anschliessend setzte ich mich gähnend an meinen Computer, um mit der Arbeit zu beginnen.

Am Abend quetschte ich alle Federn und Stofffetzen, die in meinem Zimmer lagen, in einen Abfallsack. Geistesabwesend brachte ich den Müll raus. Die Menschen auf der Strasse beachtete ich nicht einmal mehr. Selbst wenn sie mich wie in meinem Traum angestarrt hätten, wäre es mir gleichgültig gewesen.

So kann das nicht weitergehen, dachte ich, als ich erneut in meiner Wohnung ankam.

Erschöpft ass ich ein einfaches Abendessen aus belegten Brotscheiben und zog mir anschliessend wieder die Schuhe an. Normalerweise wäre ich wie jeden Abend um diese Uhrzeit zuhause geblieben, um mich mit Computerspielen von der Realität abzulenken. Heute entschied ich mich jedoch dagegen. Ich ging in den Wald und verwandelte mich in einen Drachen, nachdem ich meine Kleider ausgezogen und sie in einem Gebüsch versteckt hatte. Da meine Rundflüge mit Tom mittlerweile immer seltener geworden waren, hatte ich mich bereits seit drei Wochen nicht mehr absichtlich verwandelt. Obwohl mir die veränderte Wahrnehmung, die zusätzlichen Gliedmassen und der andere Körperbau hätte fremd vorkommen müssen, fühlte sich alles normal an. Meine Drachengestalt war mir inzwischen derart vertraut, als hätte ich sie bereits seit meiner Geburt besessen. Nicht einmal die Verhaltensweise, die ich an die jeweilige Gestalt anpassen musste, bereitete mir noch Schwierigkeiten. Nur sehr selten geschah es noch, dass mein Verhalten als Mensch dem eines Drachen glich. Zum Beispiel stand ich einmal im Büro von meinem Arbeitsplatz auf und wollte auf allen Vieren ins Sitzungszimmer kriechen, bis es mir im allerletzten Moment auffiel, bevor mich meine Arbeitskollegen entdeckten. An einem anderen Tag biss ich mein Essen wie ein Drache mit den Zähnen ab, ohne meine Hände zu verwenden. Dies hatten einige Menschen gesehen, jedoch blickten alle nach kurzer Zeit wieder in eine andere Richtung.

Tief in Gedanken versunken stiess ich mich dem Himmel entgegen. Erst nachdem ich bereits einige hundert Meter an Höhe gewonnen hatte, fiel mir auf, wie sehr sich der bevorstehende Sommer bereits zeigte. Die goldene Sonne stand noch strahlend hell am wolkenlosen Himmel, obwohl es bereits sechs Uhr abends war. Ausserdem standen die Bäume in voller Blüte. Im Winter hatte ich mich stets mit der Hitze meines Feuers warmhalten müssen. Nun waren solch drastische Massnahmen überflüssig. Selbst entspannte Flügelschläge reichten aus, um der kühlen Luft entgegenzuwirken. Meiner Schätzung nach musste die Temperatur knapp zwanzig Grad im Schatten betragen. Früher hätte mich ein Rundflug bei solch angenehmen Wetterverhältnissen augenblicklich all meine Sorgen vergessen lassen. Da ich mich bereits seit einigen Monaten in einen Drachen verwandeln konnte, glich es inzwischen eher einem normalen Spaziergang. Nichtsdestotrotz half mir diese körperliche Aktivität, meine Erlebnisse und die daraus resultierenden Träume zu verarbeiten.

Eine laute Demonstration in der Innenstadt erregte meine Aufmerksamkeit, als ich darüber hinwegflog. Obwohl ich mich mehrere Kilometer über Zürich befand, konnte ich dank meiner scharfen Drachenaugen die Plakate der Demonstranten lesen.

«Jetzt handeln, bevor es zu spät ist», «Drachen gehören in unsere Fantasie, nicht auf die Erde» und «Sperrt die Drachen ein» stand auf den meisten Plakaten.

«Fort mit den Drachen! Bevor sie sich unkontrolliert vermehren können.», schrie ein Mann durch sein Megafon der Menge entgegen.

Bei den anderen konnte ich nur Wortfetzen verstehen, da alle wild durcheinander schrien.

Das hat sich aber ordentlich zugespitzt, dachte ich besorgt.

Die Meinung der Menschen bezüglich Tom und mir interessierte mich kaum noch. Trotzdem fürchtete ich mich vor möglichen Konsequenzen, die solch ungezähmter Hass haben konnte. Schliesslich wusste ich bereits, zu was die Menschen im Stande waren, wenn extreme Emotionen ihr Handeln beeinflussten. Neben den wütenden und schreienden Demonstranten gab es noch eine kleinere Gruppe von Menschen, die anders gekleidet waren und leise mit ihren Plakaten danebenstanden.

«Jede Tierart hat ein Recht auf Freiheit» und «Schützt die Drachen» war darauf zu lesen.

Passenderweise trugen einige dieser Gegendemonstranten Drachenkostüme, wovon die meisten entweder rot oder grün gefärbt waren, um meine oder Toms Schuppenfarbe zu imitieren. Die grosse Demonstration wurde durch Wut und Furcht getrieben, wohingegen sich die anderen ruhig und gelassen verhielten.

Meinungsverschiedenheiten finde ich vollkommen in Ordnung, aber was die da unten treiben, ist völlig übertrieben.

Schmunzelnd über die beiden Demonstrationen, die man wegen meinem Bruder und mir veranstaltete, suchte ich mir einen ruhigen Landeplatz. Da sich kaum Menschen auf dem Lindenhof befanden, liess ich mich dort nach unten gleiten. Wenige Meter über dem Boden bremste ich mithilfe eines bereits tausendfach geübten Flügelschlags ab und setzte sanft auf dem mit Kies bedeckten Boden auf. Vier Menschen, die gerade noch Schach gespielt hatten, blickten in meine Richtung. Ich vermutete, dass sie meinetwegen nicht mehr weiterspielen würden, jedoch täuschte ich mich. Nur wenige Sekunden später ignorierten sie mich bereits wieder und setzten ihr Spiel auf dem über zwei Meter grossen Spielfeld fort. Jede Figur war knapp einen halben Meter hoch, was die Menschen im Vergleich klein aussehen liess.

Ob sie mich auch mitspielen lassen? Fragte ich mich.

Gleich darauf verwarf ich diesen Gedanken wieder, da Schach spielen definitiv nicht zu den Dingen zählte, die für einen Drachen typisch waren. Hinter mir hörte ich das leise Geräusch eines Kieselsteins, der über den Boden kullerte. Instinktiv blickte ich in die Richtung der Geräuschquelle. Ein Junge von höchstens acht Jahren starrte mir entgegen. Er schien sich aufgrund meiner plötzlichen Bewegung erschrocken zu haben. Langsam und unsicher bewegte er sich zu einer Frau zurück, die wahrscheinlich seine Mutter war. Es tat mir leid, ihn auf diese Weise vertrieben zu haben. Schliesslich wollte ich nicht gefürchtet werden.

Sowohl der Reflex, bei unerwarteten Geräuschen sofort aufmerksam zu werden, als auch andere Instinkte waren seit meiner ersten Verwandlung entstanden. Je länger ich als Drache lebte, desto ausgeprägter wurden diese neuen Verhaltensweisen. Obwohl ich nicht wusste, woher meine animalischen Instinkte stammten und wie sie sich weiterentwickeln würden, bereiteten sie mir keinerlei Sorgen, denn sie fühlten sich seltsamerweise natürlich an. Ausserdem war ich als Drache ein anderes Lebewesen, selbst wenn ich mich oftmals bemüht hatte, mein Verhalten nicht zu sehr anzupassen. Inzwischen hatte ich diese Veränderungen akzeptiert. Sie gehörten nun zu meinem Leben wie Essen und Schlafen.

Seufzend setzte ich mich auf die Mauer, die den Lindenhof begrenzte. Da dieser von einigen Bäumen bewachsene Platz auf einer Anhöhe lag, konnte man von hier aus einen grossen Teil der Stadt Zürich überblicken. Ich liess meinen Blick über das Grossmünster schweifen und entdeckte in einem nahegelegenen Wohnhaus eine Frau, die mich durch einen Feldstecher beobachtete. Sie wirkte fasziniert, was mich unwillkürlich schmunzeln liess.

Es freut mich, dass doch noch einige Menschen existieren, die Drachen nicht als Gefahr betrachten.

Als hätte das Schicksal meine Gedanken gehört, kam ein junger Mann auf mich zu, der nicht gerade glücklich über mein Erscheinen wirkte. Aufgrund seines aggressiven Auftretens wusste ich bereits, dass er nichts Gutes im Schilde führte. Trotzdem blieb ich auf der Mauer sitzen, denn ich konnte mich inzwischen gut verteidigen. Einen Meter vor mir blieb der Mann stehen und spuckte mir ins Gesicht.

«Verpiss dich von hier!», rief er mit lauter Stimme und stapfte wieder davon.

Angewidert versuchte ich, die Spucke von meiner Schnauze und meinem linken Auge zu wischen. Leider war dies mit den harten Klauen und Schuppen nahezu unmöglich. Ich suchte den Platz nach einem Gegenstand ab, mit dem ich mich säubern konnte. Ausser wenigen bereits zerfallenden Blättern fand ich nichts, was mir hätte helfen können. Ich wollte gerade losfliegen, um mich im See zu waschen, als sich eine junge Frau näherte, die das Geschehen beobachtet hatte. Vorsichtig setzte sie sich neben mir auf die Mauer und zog ein Taschentuch aus ihrer Handtasche.

Ja, bitte, dachte ich, obwohl ich wusste, dass sie meine Gedanken im Gegensatz zu Tom nicht verstand.

Zögerlich hielt sie das weisse, nach Parfüm riechende Tuch vor meine Schnauze, sodass ich daran schnuppern konnte. Noch immer fragte ich mich, weshalb nahezu jeder Mensch diese Verhaltensweise zeigte, sobald um meine Erlaubnis gebeten wurde. Geduldig wartete ich ab, bis sie sich davon überzeugt hatte, dass ich einverstanden war. Nun strich sie mit dem Taschentuch über die von Spucke bedeckten Schuppen, wobei sie sehr gründlich und behutsam vorging, um selbst die kleinsten Ritzen zu säubern. Schlussendlich tupfte sie sogar die Tropfen unter meinem linken Auge ab. Ihre Berührungen waren nun derart zärtlich, dass ich mich fragte, ob es überhaupt sauber wurde. Währenddessen blickte ich ihr in die blauen Augen, die im Licht der untergehenden Sonne zu schimmern schienen. Aufgrund des flachen Winkels, mit der die Lichtstrahlen ihr Gesicht trafen, glich die Iris einem stürmischen Ozean, der meterhohe Wellen schlug. Bei der kleinsten Bewegung ihrer Augen formte sich das Wasser neu und bildete andere Muster, in denen mein Gehirn automatisch Regelmässigkeiten zu erkennen versuchte. Je länger ich ihre Augen anstarrte, desto tiefer und unergründlicher schien der Ozean zu werden, was meine Faszination noch steigerte. Wie hypnotisiert sass ich da und bemerkte nicht einmal, wie sie begonnen hatte, mich zu streicheln. Erst als die Sonne durch die Blätter der Bäume verdeckt wurde und das Licht nicht mehr in einem perfekten Winkel auf ihre Iris traf, konnte ich meinen Blick lösen. Inzwischen massierte sie meinen Rücken, was ich normalerweise überhaupt nicht mochte, insbesondere nicht von einer fremden Person. Seltsamerweise fühlten sich ihre Berührungen all meiner Erwartungen entgegen angenehm an. Sie drückte mit ihren Fingern immerzu genau auf die Stellen, die verspannt waren, wodurch sich ein wohliges Gefühl in mir ausbreitete. Meine Muskeln entspannten sich wie von selbst und ich legte mich kurze Zeit später flach auf der breiten Mauer hin. Während meiner unerwarteten Massage analysierte ich den Geruch dieser Frau, der ebenso unergründlich war wie ihre Augen. Zuerst nahm ich ihr Parfüm wahr, was nach verschiedensten Blumen roch und sich mit ihrem Körpergeruch überlagerte. Anschliessend schien sich der Duft aufzuspalten und laufend weitere Facetten freizugeben, die mich in kürzester Zeit überwältigten. In vollkommener Entspannung schloss ich meine Augen und genoss die angenehme Massage und ihren undefinierbar wundervollen Geruch. In diesem Augenblick wünschte ich mir, der jetzige Moment würde sich bis in alle Ewigkeit ausdehnen.

Mein Magen knurrte und mir war kalt, als ich auf der harten Steinmauer erwachte. Verwirrt blickte ich auf dem mittlerweile stockfinsteren Lindenhof umher. Unter dem fahlen Mondlicht entdeckte ich zwei Katzen und ein Eichhörnchen, jedoch keinen Menschen.

Wann bin ich eingeschlafen? Fragte ich mich.

Dies war das erste Mal seit Langem, dass ich nicht von Albträumen heimgesucht worden war. Ausserdem erstaunte mich, dass ich auf diesem harten Untergrund zwischen fremden Menschen überhaupt Schlaf finden konnte. Positiv überrascht von meinem nun gut ausgeruhten Zustand stand ich auf. Die aufgrund der harten Schlafunterlage befürchteten Schmerzen blieben erstaunlicherweise aus. Ich spannte die Flügel und stiess mich von der Mauer ab, um den Sternen entgegenzufliegen. Meine Bewegungen fühlten sich wesentlich geschmeidiger an als sonst.

Diese Massage war anscheinend dringend überfällig, dachte ich.

Meine Gedanken schweiften erneut zu dieser Frau ab, die mich stundenlang gestreichelt und massiert hatte. Unbewusst schlug ich den direkten Weg zu mir nach Hause ein. Erst nachdem ich auf dem Balkon gelandet war, fiel mir ein, dass ich noch meine Kleider aus dem Wald holen musste.

Geistesabwesend landete ich neben dem Busch, der mir bereits seit geraumer Zeit als Kleiderversteck diente, und verwandelte mich zurück in einen Menschen. Wenngleich ein kühler Wind aufgekommen war und ich nun nackt im Wald stand, war mir nicht kalt. Zu sehr schwelgte ich in Gedanken über diese Frau, von der ich noch nicht einmal ihren Namen kannte. Gemächlich spazierte ich nach Hause und ass etwas, obwohl es bereits halb drei Uhr war. Anschliessend legte ich mich schlafen, wobei ich nicht den kleinsten Gedanken an meine Ängste oder Schuldgefühle verschwendete.

2

Liebe

Nachdem ich aufgestanden war, dauerte es wesentlich länger als gewöhnlich, bis ich mit meiner Morgenroutine fertig wurde. Erst um halb neun konnte ich mich vor den Computer setzen, um meinen Arbeitstag zu beginnen. Obwohl ich aufgrund der gestrigen Massage entspannt, ausgeschlafen und motiviert war, schritt ich kaum mit der Arbeit voran. Ununterbrochen musste ich an die Frau von gestern denken, wodurch sich jede Aufgabe ewig in die Länge zog. Als endlich der Feierabend begann, verwandelte ich mich augenblicklich in einen Drachen, um direkt vom Balkon aus zu starten. Die Menschen, die mich währenddessen beobachteten, waren mir gleichgültig. Mein Interesse galt einzig und allein dieser einen Person.

Ich muss sie unbedingt wiederfinden, dachte ich sehnsüchtig.

Dass ich mich hoffnungslos verliebt hatte, war mir in diesem Augenblick nicht einmal bewusst. Nur fünf Minuten später landete ich erneut auf dem Lindenhof. Die Mauer, auf der ich gestern massiert worden war, roch noch nach ihr. Ich kletterte hinauf und schnupperte den rauen Stein ab, als wollte ich jedes einzelne Duftmolekül aus der Mauer saugen. Selbst die verwunderten Blicke der Passanten hielten mich nicht davon ab, minutenlang in derselben Position zu verharren, bis ich den gesamten Geruch in mir aufgenommen hatte. Währenddessen sprachen die Menschen um mich herum etwas, was nicht in meinen Gedanken hängenblieb, da es mir momentan gleichgültig war.

Irgendwann fand ich mich neben einer Bank wieder, die leicht nach dieser einen Frau roch. Plötzlich konnte ich erneut klare Gedanken fassen und blickte umher. Da ich bereits seit einigen Minuten auf dem Lindenhof war, beachteten mich die Menschen kaum noch. Ich suchte unter ihnen nach diesem unergründlichen Augenpaar. Zu meiner Enttäuschung wurde ich nicht fündig. Nun setzte ich mich wieder auf die Mauer und wartete aufgeregt.

Ob sie heute ebenfalls kommt? Fragte ich mich.

Nach einer gefühlten Ewigkeit witterte ich endlich ihren Geruch. Augenblicklich sah ich mich nach ihr um und entdeckte sie schliesslich am anderen Ende des Lindenhofs. Wie fremdgesteuert bewegte ich mich auf sie zu und blieb wenige Meter vor ihr stehen. Sie lächelte mir entgegen, was mich sogleich verzauberte. An Ort und Stelle legte ich mich auf den mit Kies bedeckten Untergrund und blickte der jungen Frau hoffnungsvoll ins Gesicht. Ich befürchtete bereits, dass sie mich dieses Mal nicht mehr massieren würde, da sie sich nach den anderen Menschen umsah, denen ich momentan keinerlei Beachtung schenkte. Als sie sich schliesslich doch neben mich setzte, war ich ausserordentlich erleichtert. Sie begann, mich am Kopf zu kraulen und wechselte bald darauf zu einer Rückenmassage wie am Vortag. Erneut nahm ich ihren Geruch in mir auf und blickte in ihre wunderschönen Augen.

Auf einmal richtete sich ihre Aufmerksamkeit auf eine andere Person, die neben ihr stand.

«Es sieht ganz so aus, als würde er Ihre Nähe geniessen.», sagte die mindestens zehn Jahre ältere Frau.

«Ja, das glaube ich auch. Er ist direkt wieder zu mir gekommen und wollte gestreichelt werden.», antwortete die junge, blonde Frau mit den schönen Augen.

Ich wünschte, ich würde ihren Namen kennen, dachte ich währenddessen.

«Wie oft haben Sie das bereits gemacht?»

«Gestern zum ersten Mal.»

«Tatsächlich? Sie scheinen überhaupt keine Angst zu haben.»

«Für Angst sehe ich keinen Anlass. Schliesslich verhält sich dieser Drache sehr passiv.»

Die Frau mittleren Alters nickte bewundernd und setzte sich kurze Zeit später auf die nächstgelegene Bank, um uns zu beobachten. Erwartungsvoll blickte ich der jungen Frau entgegen, da sie inzwischen aufgehört hatte, meinen Rücken zu massieren.

«Ja, ich mache schon weiter.», sagte sie lächelnd.

Mit einem tiefen Seufzer entspannte ich mich, während sie die Massage fortsetzte. Nach einer Weile widmete sie sich meinen Flügeln. Mit ihren zarten Fingern strich sie die Verspannungen aus meinen Muskeln, bis es sich anfühlte, als würde ich ohne die geringste Anstrengung in einem Meer aus Wolken schweben. Ich schloss meine Augen und liess jede ihrer Berührungen mit grossem Genuss durch mich hindurchfliessen.

Da sich mein Schlafmangel stark reduziert hatte, schlief ich dieses Mal nicht mehr ein. Eine Stunde später, als die Sonne gerade hinter dem Horizont verschwand, stand die junge Frau unvermittelt auf. An ihren steifen Bewegungen erkannte ich, dass die Sitzposition für sie alles andere als bequem gewesen war.

Das tut mir leid. Ich hätte auf die Idee kommen sollen, einen bequemeren Platz zu suchen, dachte ich verlegen.

Sie streckte sich und massierte ihre Hüfte, die ihrem Gesichtsausdruck nach offensichtlich schmerzte. Da ich sie während dieser gesamten Zeit sehnsüchtig anstarrte, kam sie noch einmal auf mich zu und strich mir über die Stirn.

«Ich muss jetzt leider nach Hause gehen.», sagte sie.

Mit diesen Worten verliess sie mich und den Lindenhof. Nachdem sie auf der Treppe verschwunden war, seufzte ich enttäuscht, während ich mich ebenfalls auf den Rückweg begab.

Am nächsten Abend landete ich erneut auf dem Lindenhof. Wie am Vortag wartete ich, bis ich die hübsche, junge Frau witterte. Sie erschien bereits wenige Minuten später, was mich augenblicklich mit Glück erfüllte. Dieses Mal wartete ich geduldig auf der Mauer, sodass sie mich nicht erneut in einer unbequemen Sitzposition massieren musste. Zu meiner Enttäuschung blieb sie bei anderen Menschen stehen und begann, sich mit ihnen zu unterhalten.

Komm doch bitte zu mir, statt zu quatschen.

Da mich bald darauf die Geduld verliess, sprang ich von der Mauer herunter und trat näher, bis sie mich erblickte. Nach nur einer Sekunde richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Gespräch und liess mich unbeachtet neben ihr stehen. Um ihr zu signalisieren, dass ich gestreichelt werden wollte, kam ich noch näher auf sie zu und stupste schlussendlich ihre Hand mit der Schnauze an. Sie sah erneut in meine Richtung und musste schmunzeln.

«Ich glaube, der Drache möchte etwas von dir, Vanessa.», sagte eine andere junge Frau.

Vanessa also? Das werde ich mir definitiv merken, dachte ich.

«Der möchte wieder Streicheleinheiten, wie es aussieht.»

Vanessa und die anderen drei Frauen, mit denen sie in ein Gespräch verwickelt war, mussten kichern. Da mich nun alle amüsiert anstarrten, wurde ich verlegen.

«Wollen wir uns setzen?», schlug Vanessa vor.

«Gute Idee. Ich musste heute wegen der Arbeit bereits den ganzen Tag stehen.», antwortete eine ihrer Freundinnen.

Sie setzten sich auf eine Bank und als ich ebenfalls dazustiess, rutschte Vanessa ein wenig näher zu den anderen, um mir Platz zu lassen. Trotz ihrer Bemühungen blieb nur noch der linke Rand von ungefähr vierzig Zentimetern für mich übrig. Vorsichtig kletterte ich auf die Bank und setzte mich aufrecht neben Vanessa hin. Obwohl ich versuchte, so wenig Raum wie möglich einzunehmen, berührte ich ihre linke Seite ununterbrochen.

Das kann unmöglich bequem für sie sein, dachte ich und kletterte sogleich wieder nach unten.

Zu meinem Erstaunen hielt sie mir die Hand hin, als wollte sie mich herlocken. Alle vier Frauen sahen erwartungsvoll in meine Richtung. Überrascht stieg ich erneut auf die Bank und setzte mich neben Vanessa. Nur wenige Sekunden später begann sie, mich zu streicheln. Als ihre Berührungen mit der Zeit in eine Massage übergingen, wurde meine Sitzposition unwillkürlich flacher. Schlussendlich hing mein Kopf derart weit herab, dass ich mit den Vorderbeinen abrutschte und auf den Kies fiel.

«Oh nein!», entfuhr es Vanessa.

Eine ihrer Freundinnen, deren Namen ich bereits wieder vergessen hatte, musste lachen. In diesem Augenblick war ich heilfroh, dass man mir meine Schamröte als Drache nicht ansehen konnte. Vorsichtig kletterte ich auf die Bank und setzte mich erneut aufrecht hin.

Eine Weile später erwischte ich mich dabei, wie ich mich gegen Vanessa lehnte, während sie meinen Rücken streichelte. Ich bemühte mich um eine gerade Sitzposition, was auf Dauer jedoch alles andere als leicht war. Vanessa unterhielt sich währenddessen ununterbrochen mit ihren Freundinnen. Zwischendurch vergass sie, mich zu streicheln, woraufhin ich sie kurz anstupste, wenn mir die Wartezeit zu lange dauerte.

Seit wann bin ich denn aufdringlich? Fragte ich mich.

In diesem Moment überlegte ich, wie ich Vanessa für mich gewinnen konnte.

Ich muss sie irgendwie fragen, ob sie mit mir ausgehen möchte. In meiner Drachengestalt ist das leider unmöglich, da das nicht nur seltsam, sondern auch unvorteilhaft wäre. Meine Geheimidentität soll schliesslich nicht auffliegen.

Als ich erneut unbeabsichtigt gegen Vanessa lehnte, legte sie ihren linken Arm um mich.

Ist das jetzt Absicht oder Zufall? Fragte ich mich.

Ich blickte ihr erneut in die blauen Augen und erkannte keinerlei Missbilligung. Sie schien diesen Körperkontakt sogar zu geniessen. Für einen Augenblick erschien mir diese Situation seltsam. Weshalb hielt sie mich im Arm, obwohl ich kein Mensch war? Nach reiflicher Überlegung fiel mir auf, dass dies ungefähr dasselbe Verhalten war, was die meisten Menschen gegenüber geliebten Haustieren zeigten. Zum Beispiel kuschelte ich auch gerne mit Hunden, ohne dass es sich um eine Liebesbeziehung handelte. Diese Gedankengänge liessen mich die jetzige Situation lockerer betrachten. Mit einem Seufzer lehnte ich mich nun absichtlich gegen Vanessa. Da sie mich fortlaufend streichelte, legte ich vorsichtig den Kopf auf ihren Schoss. Vor lauter Unsicherheit schlug mein Herz wesentlich schneller, als es in dieser entspannten Position notwendig gewesen wäre.

«Oh, wie süss!», rief eine von Vanessas Freundinnen.

Nicht so laut. Diese Situation wird sonst noch zu peinlich für mich, dachte ich.

«Mach schnell ein Foto davon, Vanessa. Ich glaube, das haben Drachen noch nie gemacht.», sagte eine andere Frau.

Langsam und sorgfältig zog Vanessa ihr Mobiltelefon aus der Tasche. Ihr war anzusehen, dass sie mich auf keinen Fall verscheuchen wollte.

Ich will aber nicht in dieser Position fotografiert werden. Was, wenn Tom dieses Bild sieht?

Bevor ich mich entscheiden konnte, ob ich Vanessa das Foto erlauben wollte oder nicht, hatte sie bereits abgedrückt.

«Schickst du mir das?»

«Ganz bestimmt. Das kommt in meine Instagram-Story.», entgegnete Vanessa.

Na toll. Jetzt sehen alle, was für ein Schosstier ich bin, dachte ich verlegen.

Nachdem Vanessa das Bild hochgeladen hatte, widmete sie sich erneut meiner Massage. Da mein Kopf noch immer auf ihrem Schoss lag, nahm ich ihren Geruch nun intensiver wahr als sonst. Zusätzlich mit ihrer angenehmen Körperwärme und den weichen Berührungen war mir das eben veröffentlichte Bild innert kürzester Zeit gleichgültig. Einige Minuten später fühlte ich plötzlich eine andere Hand auf meiner Schnauze. Eine von Vanessas Freundinnen hatte ebenfalls begonnen, mich zu streicheln.

Finger weg! Dir habe ich nicht erlaubt, mich zu streicheln.

Obwohl sie meine Gedanken nicht verstand, zog sie ihre Hand bereits nach einer Minute wieder zurück. Während der nächsten Zeit schmiedete ich einen Plan, mit dem ich Vanessa vielleicht zu einem Treffen überreden konnte. Dieser Plan beinhaltete unter anderem, dass ich sie als Mensch ansprach, was mich ausserordentlich nervös stimmte, obwohl ich diese Überlegungen noch nicht einmal zu Ende geführt hatte. Trotzdem war ich davon überzeugt, dass es notwendig war. Schliesslich würde sie mich nicht für alle Zeiten der Welt auf dem Lindenhof streicheln und massieren wollen.

Am nächsten Morgen stand ich früher auf, als ich es unter normalen Umständen an einem Samstag getan hätte. Aufgrund meiner zunehmenden Nervosität hatte ich diese Nacht weniger gut geschlafen als die letzten Male, wenngleich mich keine Albträume mehr heimsuchten, seitdem ich Vanessa kennengelernt hatte. Ich zog mir Kleider an, von denen ich dachte, dass sie ihr gefallen könnten, und ass anschliessend mein Frühstück. Kurz darauf fuhr ich mit der Strassenbahn in die Stadt und setzte mich schliesslich auf eine Bank im Lindenhof. Vanessa war nirgends zu sehen. Vor Aufregung zitternd wartete ich, bis die Kirchenglocken läuteten. Stetig hoffte ich, ihren Geruch wahrzunehmen, was jedoch für die nächsten Stunden nicht der Fall war. Als einige Zeit später mein Magen knurrte, begab ich mich enttäuscht auf den Weg zum nächstgelegenen Lebensmittelgeschäft. Ich kaufte mir mein Essen und ging schnurstracks zurück zum Lindenhof. Inzwischen hatte ein Schachspiel begonnen, was ich während des Essens mit zunehmendem Interesse verfolgte.

«Schachmatt!», rief ein junger Mann seinem Kollegen entgegen.

«Gut gespielt. Hätte ich nicht gleich am Anfang meine Dame verloren, wäre es bestimmt anders ausgegangen.», entgegnete der Verlierer mit enttäuschtem Gesichtsausdruck.

'Dame verloren'? Wie konnte ich das bloss vergessen? Ich bin gekommen, um Vanessa zu treffen, und nicht für dieses Schachspiel!

Genervt von meiner Zerstreutheit blickte ich umher, in der Hoffnung, Vanessa zu finden. Nachdem ich jede Person einmal abgescannt hatte, war ich enttäuscht, die wunderschönen blauen Augen nicht gefunden zu haben. Stattdessen zog eine andere junge Frau meine Aufmerksamkeit auf sich. Sie sass auf einer Bank ungefähr fünfzehn Meter von mir entfernt und las in einem Buch. Sie hatte blonde Haare, die denen von Vanessa glichen, helle Haut und eine spitze Nase. Ihre Augenfarbe konnte ich aus dieser Entfernung als Mensch nicht erkennen.

«Ich glaube, dass der Drache heute nicht erscheint.», sagte eine Frau zu ihr, die mir bekannt vorkam.

Ist das nicht die, die Vanessa wegen ihrem Mut bewundert hat? Fragte ich mich.

«Kann sein. Es wäre aber auch nicht schlimm, wenn er nicht kommt. Meine Hände sind bereits ganz wund von seinen rauen Schuppen.», antwortete die Frau mit dem Buch.

Es dauerte einen Augenblick, bis ich realisierte, dass es sich bei dieser Frau um Vanessa handelte. Leicht mit dem Kopf schüttelnd über meine eigene Unachtsamkeit sass ich da und wartete, bis Vanessa wieder allein war.

Wie konnte ich sie bloss übersehen?

Ich nahm all meinen Mut zusammen und stand auf. Langsam bewegte ich mich in ihre Richtung, während sich mein Puls zunehmend beschleunigte. Obwohl ich sie als Drache bereits kannte, war ich unglaublich nervös. Meine Beine fühlten sich an, als würden sie aus Wackelpudding bestehen. Trotzdem trugen sie mich Schritt für Schritt näher zu Vanessa. Als ich nun endlich vor ihr stand und sie von ihrem Buch aufblickte, blieben mir die Worte im Hals stecken. Sie sah vollkommen anders aus, als ich sie in Erinnerung hatte. Ihre Augen waren blau, jedoch konnte ich den Ozean darin nicht erkennen und selbst mit wenigen Metern Abstand roch ich ihren überwältigenden Geruch nicht. Trotzdem sah sie in meinen menschlichen Augen sehr hübsch aus. Da ich bereits mehrere Sekunden vor ihr stand, ohne etwas zu sagen, fing sie an zu schmunzeln. Meine Wangen liefen rot an und ich war gezwungen, etwas zu sagen.

«Es war sehr mutig von Ihnen, den Drachen zu streicheln.», sagte ich schliesslich.

Ist das etwa alles? Und weshalb spreche ich sie in der Höflichkeitsform an? Wir sind doch ungefähr gleich alt.

«Bisher habe ich noch niemanden gesehen, der sich das auf diese Weise gewagt hat.», ergänzte ich.

Nun musste Vanessa kichern, was meine Verlegenheit noch steigerte. Ich blickte umher, in der Hoffnung, dass niemand meine peinlichen Annäherungsversuche mitbekommen hatte.

«Das haben tatsächlich schon viele gesagt, seitdem ich es das erste Mal gemacht habe. Dabei verstehe ich gar nicht, weshalb sich immer alle vor Drachen fürchten. Klar sind es unkontrollierbare Wesen, von denen wir ihren wahren Ursprung bloss erahnen können, aber wenn sich ein Tier über Monate hinweg stets passiv gegenüber Menschen verhält, ist es äusserst unwahrscheinlich, dass sich dies innert eines Tages urplötzlich ändert. Sie haben bestimmt auch gesehen, wie vorsichtig sich der rote Drache mir und anderen Menschen genähert hat.»

All ihre Worte schienen exakt meine Meinung über das Verhältnis zwischen Drachen und Menschen zu bestätigen. Bis zum heutigen Tage fehlte mir jegliches Verständnis für diese masslos übertriebene Furcht. Als Drache hatte ich nie sonderlich auf Vanessas Worte geachtet. Hierfür war ich viel zu sehr von ihren Augen, ihrem Geruch und ihrer Massage abgelenkt gewesen. Da ich nun als Mensch vor ihr stand, lernte ich ihre Denkweise zu schätzen.

«Genau das habe ich mich auch immer gefragt. Weshalb können die Menschen uns Drachen nicht einfach wie normale Tiere behandeln, statt sie bedingungslos zu fürchten?», entgegnete ich.

Habe ich gerade 'uns Drachen' gesagt?

Meine Haltung verkrampfte sich und ich hoffte inständig, dass Vanessa meinen Versprecher überhört hatte.

«Uns Drachen? Was meinen Sie damit?», fragte sie.

«Ich … ähm. Eigentlich wollte ich 'unsere Drachen' sagen, aber weil sie nicht uns gehören, habe ich mich während dem Sprechen dazu entschieden, 'die Drachen' zu sagen. Leider kam irgendeine Mischung aus diesen beiden Varianten dabei raus.», antwortete ich verunsichert.

«Okay.», entgegnete Vanessa lachend.

Meine Tollpatschigkeit schien sie zu amüsieren.

«Ist es in Ordnung, wenn wir uns mit 'du' ansprechen?», fragte ich vorsichtig, um den ersten Fehler dieser Konversation rückgängig zu machen.

«Geht klar. Ich heisse übrigens Vanessa.»

«Und mein Name ist Nils.»

«Findest du Drachen auch wunderschön?»

Diese Frage überraschte mich, da ich davon ausging, dass meine zweite Gestalt nicht ein Gesprächsthema des ersten Treffens als Menschen sein würde.

«Nun ja. Ich glaube schon, dass sie schön sind. Vor allem finde ich aber ihr Verhalten interessant.»

Es fühlte sich falsch an, sich selbst als schön zu bezeichnen. Deswegen versuchte ich, das Thema zu wechseln.

«Diese tiefroten Schuppen gehören zu den schönsten Dingen, die ich jemals gesehen habe. Und erst die orangerot leuchtenden Augen! Die sehen aus wie loderndes Feuer und verleihen dem Drachen noch mehr Lebendigkeit.», schwärmte sie.

«Das stimmt. Die Augen sehen tatsächlich sehr schön aus.»

«Möchtest du dich nicht setzen, Nils?»

«Doch, eigentlich schon.», antwortete ich wahrheitsgetreu.

Immer noch verlegen und unsicher trat ich näher und setzte mich mit einigem Abstand neben Vanessa auf die Bank.

«Konntest du auch mal einen Drachen streicheln?», fragte sie.

«Ja, aber nur ein einziges Mal.»

«War es der rote oder der grüne Drache?»

«Der Grüne.»

«Wow! Der lässt sich normalerweise nie streicheln. Wie hast du das geschafft?»

«Er war am schlafen und ich habe währenddessen seinen Kopf gestreichelt.»

Dass der grüne Drache mein Bruder Tom war, verschwieg ich ihr.

«Du nennst mich mutig, wenn ich einen Drachen streichle, der das offensichtlich möchte, und dabei streichelst du einen ohne seine Erlaubnis? Wenn man es genau nimmt, bist du der Mutigere von uns.»

Weshalb muss diese Situation immer peinlicher werden? So habe ich mir mein erstes Date mit Vanessa nicht vorgestellt.

Sie schien zu bemerken, dass mich dieses Gesprächsthema in Verlegenheit brachte, denn sie kam auf meine Bemerkung über das Verhalten der Drachen zurück.

«Du hast recht, dass die Drachen ein aussergewöhnliches Verhalten aufweisen. Sie sind höchst intelligent, verfolgen irgendwelche Pläne, von denen wir nicht den Hauch einer Ahnung haben, und überlisten uns Menschen, indem sie uns dazu bringen, ihnen zu vertrauen. Bei mir hat es bereits funktioniert.»

«Weshalb überlisten? Was wäre, wenn die Drachen niemals etwas Böses im Sinn hätten?»

«Das glaube ich nicht. Nichts und niemand ist ausschliesslich gut. Insbesondere nicht derart intelligente Lebewesen. Das beste Beispiel hierfür sind wir Menschen. Jeder von uns hat seine guten, wie auch seine schlechten Seiten.»

«Deine Ansicht ist sehr interessant. Auf diese Weise habe ich noch nie darüber nachgedacht.»

Inzwischen waren meine Hemmungen Vanessa gegenüber verschwunden. Ich konnte von nun an normal mit ihr sprechen, was wir schliesslich für mehrere Stunden taten, bis die Sonne unterging. Je länger sich unser Gespräch hinzog, desto besser lernten wir uns kennen. Sie arbeitete als Chemielaborantin bei der ETH Zürich und interessierte sich für allerlei aussergewöhnliche Phänomene, die sich kaum wissenschaftlich erklären liessen. In ihrer Freizeit verbrachte sie ausserdem viel Zeit mit ihren Freundinnen oder mit Büchern. Sie war zwanzig Jahre alt, was mich erfreute, da ich bloss ein Jahr älter war. Ob sie in einer festen Beziehung war, konnte ich aus unserem Gespräch nicht entnehmen, jedoch war ich davon überzeugt, dass sie Interesse an mir zeigte.

«Ich glaube, ich sollte jetzt nach Hause gehen.», sagte sie schliesslich.

«Ich auch. Zuhause muss ich dringend mein Abendessen kochen. Treffen wir uns irgendwann wieder hier?»

«Gerne. Es hat Spass gemacht, mit dir zu plaudern. Bis bald.»

«Tschüss.»

Mit diesen Worten verabschiedeten wir uns. Obwohl wir kein neues Treffen vereinbart hatten, war ich mir sicher, dass wir uns bald wiedersehen würden. Während unseres Gesprächs hatte sie mir ihre Telefonnummer gegeben, womit ich sie jederzeit erreichen konnte. Glücklich und entspannt machte ich mich auf den Weg nach Hause. Während der Fahrt mit der Strassenbahn analysierte ich meine Gefühle gegenüber Vanessa. Aus unerklärlichen Gründen war sie mir in meiner menschlichen Gestalt wesentlich fremder, als ich erwartet hatte. Nichtsdestotrotz konnte ich mit nun Sicherheit sagen, dass ich mich in sie verliebt hatte. Ich mochte ihre Denkweise, ihre Intelligenz, ihren Charakter, ihren Humor und ihr Interesse an Drachen. Ausserdem wollte ich sie baldmöglichst wiedersehen, was für mich ein klares Indiz der Liebe war.

Ich werde ihr sagen, dass ich ein Drache bin, sobald sie mich mal zuhause besuchen kommt, nahm ich mir vor.

«Hast du bereits die neusten Nachrichten bezüglich der DrSG gelesen?», fragte mich Tom, als wir am Tag darauf gemeinsam über den Walchwilerberg flogen.

Er hatte mich spontan zu einem Treffen überredet, da ich seiner Meinung nach nicht genügend Zeit ausser Haus verbrachte. Bevor ich Vanessa kennengelernt hatte, war dies die unbestreitbare Wahrheit gewesen. Nun hatte ich bloss noch Augen für sie und wollte am liebsten jeden Tag meines Lebens mit ihr verbringen.

«Sag mal, hörst du mir überhaupt zu?», fragte Tom, da bereits einige Sekunden seit seiner ersten Frage verstrichen waren, ohne dass ich geantwortet hatte.

«Mhm.», entgegnete ich gedankenverloren.

«Dann weisst du, dass die DrSG den Gerichtsprozess verloren hat und von nun an keine staatliche Unterstützung mehr erhält?»

«Was? Nein, das wusste ich nicht. Von was für einem Prozess sprichst du?», antwortete ich überrascht.

«Wie du bereits weisst, wurde Leutnant Marti von der DrSG betäubt. Er hat sie anschliessend angezeigt und am Dienstag gab es deswegen einen Gerichtsprozess. Da Leutnant Marti genügend Beweise und Zeugen hatte, hat die DrSG verloren. Als Strafe mussten sie dem Leutnant und einigen Soldaten insgesamt 3,7 Millionen Franken Schadenersatz bezahlen und erhalten ab sofort keine staatliche Unterstützung mehr. Im Klartext dürfen sie nicht mehr auf öffentlichem Grund agieren und sie müssen sich selbst finanzieren.»

«Das sind ja fantastische Neuigkeiten!»

«Leider gibt es auch eine schlechte Nachricht: Seit gestern arbeiten sie mit der russischen Regierung zusammen.»

«Mist. Dann haben sie bestimmt alle möglichen Informationen über uns, die die Russen während des Kriegs gesammelt haben.»

«Das wäre plausibel.»

Für die nächsten Minuten flogen wir entspannt nebeneinander her und genossen den warmen, sonnigen Tag. Währenddessen schweiften meine Gedanken wieder zu Vanessa ab.

«Hast du eine neue Freundin?», fragte Tom grinsend.

«He! Raus aus meinen Gedanken! Weisst du überhaupt, was Privatsphäre ist?»

Dass wir unsere Gedanken gegenseitig wahrnehmen konnten, hatte ich aufgrund meiner frischen Liebe vergessen.

«Ich wusste gar nicht, dass du auf blonde Frauen stehst.»

Diesen Kommentar konnte ich nicht auf mir sitzen lassen. Rasend schnell schoss ich auf Tom zu, der daraufhin seine Richtung wechselte, um auszuweichen. Ich flog eine wesentlich engere Kurve als er, wodurch es mir gelang, zu ihm aufzuschliessen. Nun klammerte ich mich an seinem Rücken fest und begann, ihn in die Seite zu piksen, wie er es bereits unzählige Male bei mir getan hatte.

«Solche Kommentare kannst du dir hier oben nicht leisten. Dank meinem leichteren Körpergewicht bin ich wendiger als du in der Luft.»

Nun packte mich Tom mit den Krallen und zog mich von seinem Rücken. Anschliessend hielt er mich mit allen Vieren fest und drückte meine Flügel gegen meinen Körper, sodass ich bewegungsunfähig war.

«Dafür habe ich mehr Muskeln als du.», entgegnete er.

«Nicht mehr Muskeln, bloss grössere.», konterte ich genervt.

«Nun sag schon. Wie findest du sie?»

«Das musst du nicht wissen. Zumindest noch nicht. Nur weil du meine Gedanken verstehen kannst, heisst dass nicht, dass ich dir alles erzählen muss. Und jetzt lass mich los.», sagte ich, während ich vergeblich versuchte, mich aus seinem Griff zu lösen.

Tom wusste genau, dass ich Berührungen unter normalen Umständen nicht mochte. Insbesondere dann nicht, wenn ich von jemandem gegen meinen Willen festgehalten wurde. Als mein grosser Bruder liebte er es, mich auf diese Weise aufzuziehen, weswegen er mich weiterhin umklammerte.

«Ich lasse dich erst los, wenn du mir mehr über deine neue Freundin erzählst.»

«Da kannst du lange warten.»

«Das ist es mir auf jeden Fall wert.»

Immer noch grinste er mich an, was mich noch mehr auf die Palme brachte.

Weshalb müssen Brüder andauernd nervig sein?, fragte ich mich.

«Das habe ich mich auch schon gefragt.», hörte ich Toms Gedanken.

Wenn du glaubst, dass du noch mehr über Vanessa in meinen Gedanken herausfinden kannst, täuschst du dich aber gewaltig. Von mir aus können wir ewig auf diese Weise weiterfliegen. Schliesslich musst du ununterbrochen mein Gewicht tragen und nicht ich.

«Vanessa ist ein schöner Name. Kannst du mir noch mehr über sie verraten?»

Nein, dachte ich entrüstet.

Die eigenen Gedanken im Zaum zu halten, war wesentlich schwerer, als ich es mir vorgestellt hatte. Je länger ich versuchte, nicht an Vanessa zu denken, desto mehr nahm sie meine Gedanken ein. In diesem Augenblick kam mir eine Idee. Da ich wusste, dass sich Tom auf all meine Gedankengänge konzentrierte, stellte ich mir Eisblöcke vor. Der Gedanke an Eis leitete schliesslich die Verwandlung in einen Menschen ein. Um mich nicht selbst zu verwandeln, war ich jedoch gezwungen, zwischendurch an Vanessa zu denken, ehe das unangenehme Kribbeln einsetzte.

«Was machst du da?», fragte Tom verunsichert.

«Nichts.», antwortete ich schmunzelnd.

An Toms Gedanken konnte ich erkennen, dass er sich bereits Feuer vorstellen musste, um sich nicht ungewollt zu verwandeln.

«Nicht an Eis denken, Tom.», sagte ich, um diesen Gedanken bei ihm festzusetzen.

«Lass das! Wenn wir uns verwandeln, stürzen wir noch ab.», rief er.

Es war deutlich zu erkennen, dass es ihm Schwierigkeiten bereitete, gegen die Verwandlung anzukämpfen. Mir hingegen fiel es leicht, nicht mehr an Eis zu denken, da mich Toms Anblick amüsierte und Vanessa beinahe all meine Gedanken einnahm. Als Tom besonders angestrengt an Feuer dachte, wand ich mich in seinem Griff, bis es mir gelang, mich loszureissen.

«Was nützt dir deine Stärke, wenn du dich so leicht ablenken lässt?», rief ich ihm lachend hinterher, während ich im Sturzflug mit angelegten Flügeln nach unten schoss.

Meine Befreiungsaktion lenkte Toms Gedanken in eine andere Richtung, wodurch sie nicht mehr an Eis oder Feuer gebunden waren. Augenblicklich schoss er mir nach, konnte mich jedoch nicht einholen, da ich aufgrund meines leichteren Gewichts wendiger war. Für die nächsten Minuten jagte er mir über die Baumwipfel, Felder und Häuser des Walchwilerbergs hinterher. Irgendwann fiel er zurück, was mich zum Abbremsen verleitete. Schliesslich wollte ich ihn nicht verlieren.

«Weshalb möchtest … du mir … nichts über sie … erzählen?», fragte er keuchend.

«Weil du es nicht wissen musst.»

Ich bemühte mich, nicht ausser Atem zu klingen, was mir unter einiger Anstrengung gelang. Auf diese Weise wollte ich ihm vortäuschen, die Verfolgungsjagd wäre leicht gewesen. In Wirklichkeit hätte ich auch nicht mehr allzu lange durchgehalten. Mein Puls raste, meine Flügel zitterten vor Anstrengung und ich hatte starken Durst.

«Hat dir Mama eigentlich den Sattel für Emma und Nova gemacht?», fragte ich, um ihn vom Thema abzulenken.

«Ja. Aber Nova mag das Fliegen nicht. Ihr wird innert wenigen Minuten schlecht. Und mit Emma allein wollte ich nicht fliegen.»

«Ich hätte zu gern gesehen, wie du mit den beiden Hunden auf dem Rücken fliegst.»

«Das glaube ich dir.»

Ich befürchtete, dass Tom wieder nach Vanessa fragen würde, jedoch schweiften seine Gedanken zur DrSG ab. Vor meinem inneren Auge sah ich, wie er aus seiner Perspektive auf die schwarz gekleideten Männer mit Betäubungsgewehren zuflog und sie mit einem hellgrünen Feuerstrahl verbrannte. Nachdem er sein Maul geschlossen hatte, um die Flammen erlöschen zu lassen, schlug er mit seinen Flügeln, die in dichten, schwarzen Stoff gehüllt waren, was ein unangenehmes Kratzen erzeugte. Alles aus den Augen meines Bruders wahrzunehmen, war immer noch ein sonderbares Gefühl, obwohl ich bereits unzählige Stunden in seinen Gedanken verbracht hatte.

«Möchtest du die DrSG immer noch angreifen?», fragte ich.

«Du hältst mir Vorträge über die Privatsphäre und gleichzeitig liest du ständig meine Gedanken. Das erscheint mir nicht besonders fair. Aber ja, ich möchte sie angreifen.»

«Und was waren das für schwarze Stoffteile, die du an deinen Flügeln hattest.»

«Das hast du auch gesehen?», fragte er erstaunt.

«Ja. Weshalb hattest du die an in deinen Gedanken? Es sah unbequem aus.»

«Das sind die Flügelwärmer, die mir Mama genäht hat. Der Stoff ist so dicht, dass Betäubungspfeile wahrscheinlich darin steckenbleiben würden.»

Unbehagen breitete sich in mir aus. Dass mein Bruder über einen Angriff auf die DrSG nachdachte, war kein gutes Zeichen. Er würde seinen Plan irgendwann in die Tat umsetzen, selbst wenn ich dagegen war. Aus diesem Grund musste ich handeln, bevor es zu spät war. Auf einmal kam mir eine Idee, wie ich das Problem ein für alle Mal lösen konnte. Dazu benötigte ich lediglich diese Flügelwärmer.

«Kann ich mir die mal ausleihen?», fragte ich.

«Ja. Aber wofür benötigst du sie?»

«Ich werde das Problem mit der Drachenschutzgesellschaft nachhaltig lösen.»

«Das klingt ja überhaupt nicht nach dir.»

Da mir bewusst war, dass er meinen Plan aus meinen Gedanken lesen wollte, dachte ich an das Einzige, was mir in diesem Augenblick noch wichtiger war: Vanessa.

«Ich werde das Problem auf meine Weise lösen. Nicht durch einen Angriff, wie du es getan hättest.», sagte ich.

«Soll ich dir dabei helfen?»

«Lieber nicht.», antwortete ich, da ich erneut an den Angriff auf Putin denken musste, der eigentlich eine Gefangennahme hätte sein sollen.

«Aber pass auf dich auf. Wenn sie dich gefangennehmen, weiss ich nicht, ob ich dich befreien kann.», sagte er besorgt.

«Es wird schon nicht schiefgehen.»

Am nächsten Morgen klingelte mein Wecker um 6:20 Uhr, da ich wie jeden Montag ins Büro gehen musste. Ich stand auf, machte mich frisch für den Tag und fuhr mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zur Arbeit. Währenddessen schrieben Vanessa und ich alle paar Minuten, als gäbe es nichts Wichtigeres auf dieser Welt. Selbst im Büro musste ich ununterbrochen auf mein Mobiltelefon starren und allfällige Nachrichten augenblicklich beantworten. Als wir uns nach einer Stunde endlich auf ein Treffen geeinigt hatten, schaltete ich mein Telefon aus, um mich auf meine Arbeit konzentrieren zu können.

Als der Feierabend begann, fuhr ich direkt zum Lindenhof, um mich mit Vanessa zu treffen. Sie erschien beinahe auf die Minute pünktlich, was ich sehr schätzte. Gemeinsam plauderten wir, bis die Sonne untergegangen war. Wir assen anschliessend in einem Restaurant und setzten unser Gespräch währenddessen fort. Irgendwann gab ihr Mobiltelefon ein Geräusch von sich und sie blickte verwirrt auf den Bildschirm.

«Hast du mir eben eine Nachricht geschrieben?», fragte sie.

«Nein. Die letzte war vor einigen Stunden.»

«Seltsam. Da steht 'Ich fliege jetzt nach Hause. In wenigen Stunden sollte ich wieder bei dir sein.'»

«Das habe ich definitiv nicht geschrieben.», entgegnete ich lachend.

«Dann muss es sich um eine Störung handeln.»

Unbeirrt setzten wir unser Gespräch fort. Wir lachten und scherzten viel, was für meine Verhältnisse sehr aussergewöhnlich war, da wir uns in der Öffentlichkeit befanden. Unter normalen Umständen hätte ich es nicht gewagt, derart ausgelassen zu sprechen. In Vanessas Nähe hingegen fühlte ich mich jederzeit wohl.

3

Drachenschutzgesellschaft

In den nächsten Tagen traf ich mich jeweils jeden Abend mit Vanessa. Mittlerweile legte ich oft meinen Arm um sie, während wir gemeinsam auf einer Bank sassen, da ich wusste, dass ihr meine Nähe gefiel. Ausserdem wollte ich dadurch erreichen, dass sie mir irgendwann in meiner menschlichen Gestalt den Rücken massierte, wie sie es bereits oft bei meiner Drachengestalt getan hatte. Die Woche verging wie im Flug und bevor es mir bewusst wurde, begann das Wochenende. Ich schrieb gerade eine Nachricht an Vanessa, da klingelte es an der Tür. Als ich den Türöffner betätigte und meinen unerwarteten Besuch empfing, war ich überrascht, Tom zu sehen, der nun mit einem schwarzen Stoffbündel vor mir stand.

«Hallo Tom. Was machst du denn hier?», fragte ich ihn.

«Ich bringe dir die Flügelwärmer, wie wir vereinbart haben.»

«Danke. Das habe ich völlig vergessen.»

«Und brauchst du wirklich keine Hilfe dabei?»

«Nein, denn ich bin mir sicher, dass es funktionieren wird.»

Mit besorgtem Gesichtsausdruck verabschiedete sich Tom von mir. Währenddessen breitete sich leichtes Unbehagen in mir aus. Einerseits hatte ich vergessen, dass ich das Problem mit der DrSG heute angehen wollte, und andererseits zweifelte ich bereits an meinem Plan.

Ist es naiv von mir, zu glauben, dass alles nach Plan verlaufen wird? Fragte ich mich verunsichert.

Nach einer Weile schob ich diesen Gedanken beiseite und fasste den Entschluss, mich gleich an die Arbeit zu machen. Ich ging mit den Flügelwärmern in den Wald, verwandelte mich und versuchte, die schwarzen Stoffteile anzuziehen. Dies gestaltete sich wesentlich schwerer, als ich erwartet hatte. Nachdem ich einen Flügel durch die enge Öffnung gezwängt hatte, liess sich der Stoff kaum zurechtzurücken. Ausserdem war das Kratzen auf der berührungsempfindlichen Flügelhaut bereits jetzt unerträglich.

Ich hätte Tom fragen sollen, wie man diese Dinger anzieht, dachte ich.

Der Stoff war so dicht, dass es mir erst nach weiteren fünf Minuten gelang, beide Flügelwärmer einigermassen gerade anzulegen. In gewisser Weise beruhigte mich die Tatsache, dass die Flügelwärmer derart störrisch waren, da sie mit grosser Wahrscheinlichkeit guten Schutz gegenüber Betäubungspfeilen bieten würden. Nun breitete ich die Schwingen aus und stiess mich vom Boden ab. Bereits während des ersten Flügelschlags verrutschte der Stoff. Ich befürchtete, dass es nicht lange halten würde. Als die Flügelwärmer nach weiteren unangenehmen und anstrengenden Minuten immer noch hielten, war ich sowohl überrascht als auch erleichtert. Selbst an das kontinuierliche Kratzen gewöhnte ich mich allmählich. Die Richtungswechsel waren schwerer zu bewältigen und der Luftwiderstand deutlich erhöht. Trotzdem konnte ich fliegen, was für meinen Plan essenziell war.

Vielleicht klappt es ja doch, dachte ich hoffnungsvoll.

Ich flog nach Aargau, wo sich der Hauptsitz der DrSG befand. Dies hatten Tom und ich bereits vor einigen Monaten während einer Recherche im Internet herausgefunden. Sie hatten eine grosse Lagerhalle in ein provisorisches Forschungslabor umgebaut, was ich nun direkt ansteuerte. Mein Plan bestand darin, mit der DrSG Frieden zu schliessen, wie ich es damals in Kiew mit den russischen Soldaten getan hatte.

Das hat schliesslich auch bei Vanessa und vielen anderen Menschen geklappt, sagte ich mir in Gedanken.

Ich war mir sicher, dass meine friedliche Lösung möglich war. Nichtsdestotrotz wusste ich, dass ich einiges an Geduld aufbringen musste, die DrSG davon zu überzeugen, dass Drachen und Menschen friedlich koexistieren konnten.

Die Sonne stand hoch am Himmel, als ich die ehemalige Lagerhalle erreichte, die mindestens fünfzig Meter lang, dreissig Meter breit und zwanzig Meter hoch war. Augenblicklich entdeckten mich die Mitarbeiter der DrSG und zogen sich in das Gebäude zurück, da sie nicht damit gerechnet hatten, dass ich freiwillig zu ihnen fliegen würde. Ich landete mit meinen kratzenden Flügelwärmern neben dem Haupteingangstor und blickte umher. Niemand befand sich noch hier draussen. Zwischen den geparkten Fahrzeugen und auf der angrenzenden Wiese war alles mucksmäuschenstill. Leise schlich ich um die Halle herum und suchte nach einer guten Einstiegsmöglichkeit. Alle Fenster waren verriegelt und durch Gitter verstärkt. Auf der Rückseite gab es lediglich eine kleine, verschlossene Tür. Die gesamte Lagerhalle glich einem Gefängnis.

Ganz so leicht lasse ich mich nicht aufhalten, dachte ich, während ich begann, die Luft in meinem Inneren zu erhitzen.

Als ich mir sicher war, dass sich genügend Energie für Feuer angesammelt hatte, atmete ich in Richtung des Türschlosses aus. Erwartungsgemäss schoss ein heisser Feuerstrahl aus meinem Maul hervor, der augenblicklich auf das Metall traf und sich anschliessend flach auf der Wand ausbreitete. Innert kürzester Zeit erhitzte sich das Türschloss, wobei es ein leises Knacken von sich gab, was höchstwahrscheinlich durch die hohen Temperaturdifferenzen entstanden war. Nachdem ich meine Lungen vollständig geleert hatte, wiederholte ich diesen Vorgang. Fünf Feuerstösse später hatte ich das Türschloss bereits zur Weissglut gebracht. Mit meinen spitzen Krallen griff ich nach dem heissen Metall und zog daran, bis der stark erhitzte und mittlerweile weiche Riegel nachgab. Quietschend schwang die Tür auf und ich trat ein.

Sechs DrSG-Mitarbeiter standen mit Betäubungsgewehren ausgerüstet vor mir. Sie hatten eigenartige dunkelgraue Anzüge an, die gewisse Ähnlichkeiten zu der Rüstung aufwiesen, die ich damals meinem Bruder gekauft hatte. Nicht einmal ihre Gesichter waren zu erkennen, da allesamt Helme mit dunklen, spiegelnden Visieren trugen. Bevor ich sie mir genauer betrachten konnte, schossen alle Männer ihre Betäubungsladungen auf mich ab. Erst jetzt fiel mir ein, dass ich mich mit meinen Flügeln vor den Geschossen hatte schützen wollen. Viel zu spät hielt ich meinen linken Flügel zwischen mich und die sechs Männer, wodurch zwei der Betäubungsprojektile in meinen Schuppen steckenblieben. Eines davon hatte sogar meine Schnauzspitze getroffen. Hastig grapschte ich nach den Pfeilen, um sie schnellstmöglich herauszuziehen. Zu meinem Erstaunen waren beide lediglich einen Millimeter tief in meinen harten Schuppenpanzer eingedrungen. Dabei hatten sie noch keine Blutbahnen getroffen.

Gut zu wissen, dass die Schuppen auch vor Betäubungspfeilen schützen können, dachte ich.

Ohne mich weiterhin mit diesen Pfeilen zu beschäftigen, sprang ich auf die Männer zu und riss dem Vordersten mit den Zähnen die Betäubungswaffe aus den Händen, wie ich es damals in Kiew getan hatte. Augenblicklich warf ich sie durch die aufgebrochene Hintertür nach draussen und widmete mich dem zweiten Mann. Währenddessen betrachtete ich meinen linken Flügel, den ich als Schutzschild verwendet hatte. Es steckten mindestens zwei Dutzend Pfeile im Stoff, die allesamt nicht zu meiner Haut durchgedrungen waren.

Das läuft ja wie am Schnürchen, dachte ich aufgeregt.

Ich wollte es mir zwar nicht eingestehen, aber diese Kämpfe, bei denen niemand zu Schaden kam, vergnügten mich. Es fühlte sich jeweils an wie ein wildes Spiel, bei dem man versuchte, seine Gegner zu unterwerfen, wie es bei Hunden zwischendurch der Fall war. Als Mensch verspürte ich nie das Bedürfnis, mich mit anderen zu raufen. In meiner Drachengestalt hingegen schien sich unwillkürlich ein Verlangen danach zu entwickeln. In diesem Augenblick gab ich mich voll und ganz dem wilden Spieldrang hin, da sich die Mischung aus Adrenalin, körperlicher Anstrengung und dem Siegeswillen viel zu gut anfühlte, als dass ich mich dagegen wehren wollte. Blitzschnell entwaffnete ich einen weiteren Mann, der aufgrund meiner hohen Geschwindigkeit keinen einzigen Schritt zurückweichen konnte. Alle Betäubungspfeile, die mich trafen, blieben entweder in den Schuppen oder den Flügelwärmern stecken. Nach nur einer Minute war bloss noch ein DrSG-Mitarbeiter mit einer Betäubungswaffe ausgerüstet. Als ich auf ihn zusprang, wich er geschickt nach unten aus und ich flog ungewollt über ihn hinweg. Meine Klauen zerkratzten den glatten Fussboden, während ich einige Meter von dem Mann wegschlitterte, der mir ausgewichen war.

Nicht schlecht, dachte ich vor Vergnügen grinsend.

Währenddessen kam mir der Gedanke, dass ich als grinsender Drache in den Augen der DrSG-Mitarbeiter noch furchterregender aussehen musste, wodurch sich mein Grinsen verstärkte. Mit schabenden Krallen stürmte ich erneut auf ihn zu. Dieses Mal war ich auf seine Reaktionsschnelligkeit gefasst und erwischte das Betäubungsgewehr mit dem linken Vorderbein. Mit aller Kraft riss ich daran, um es ihm zu entwenden. Erstaunlicherweise konnte er es immer noch festhalten, weswegen wir beide zu Boden stürzten. Nun griffen mich die anderen Männer von allen Seiten an und ich war gezwungen, das Gewehr loszulassen. Im allerletzten Moment sprang ich in die Luft, bevor sie mich erreichen konnten.

Dieser eine Typ ist echt gut. Vor dem muss ich mich definitiv in Acht nehmen.

Ich flog auf die andere Seite der spärlich beleuchteten Halle zu, in der Fahrzeuge, Computer und weitere Ausrüstungsgegenstände standen, die ich auf die Schnelle nicht identifizieren konnte. Nun landete ich, zog die unzähligen Pfeile aus meinen Schuppen und atmete tief durch, um die Situation besser analysieren zu können.

Ich habe weiche Knie, wenn ich eine Frau anspreche, die ich bereits als Drache kennengelernt habe, aber wenn ich gegen diese Männer kämpfe, die mich betäuben und für den Rest meines Lebens gefangennehmen könnten, verspüre ich Freude statt Angst. Irgendetwas läuft hier falsch.

Während ich überlegte, formierten sich die Männer neu.

«Holt eure Betäubungsgewehre von draussen, statt blöd rumzustehen.», befahl der Einzige von ihnen, der noch bewaffnet war.