Plötzlich Drache - Nicolas Bretscher - E-Book

Plötzlich Drache E-Book

Nicolas Bretscher

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Beschreibung

Mein Name ist Nils und ich bin ein junger Informatiker. Ich führte stets ein ruhiges, konstantes Leben, bis ich eines Tages plötzlich in der Gestalt eines Drachen erwachte, nachdem ich vergeblich versucht hatte, meinem Bruder im Krieg beizustehen. Ohne zu wissen, wie ich mit dieser vollkommen neuen Situation umzugehen hatte, wurde ich mit der Aufgabe betraut, den Krieg zu beenden, um eine globale Katastrophe zu verhindern. Zudem musste ich lernen, meine neuen Fähigkeiten korrekt einzusetzen und zeitgleich meinen Alltag unter stark erschwerten Bedingungen weiterzuführen. Dies ist der erste Band der Buchserie "Plötzlich Drache".

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Das Buch

In einer alternativen Realität hatte sich der im Jahre 2022 entstandene Ukraine-Konflikt zum dritten Weltkrieg entwickelt. Während sich Russland mit China verbündet hatte, standen viele Länder Europas, unter anderem auch die Schweiz, der Ukraine zur Seite. Als sich der Winter näherte, ahnten ich als zwanzigjähriger Informatiker und mein drei Jahre älterer Bruder noch nicht, was uns in naher Zukunft bevorstehen würde …

Die Buchreihe

Plötzlich Drache

ISBN 978-3-7526-0349-1

Plötzlich Drache 2 – Künstliche Intelligenz

ISBN 978-3-7597-6906-0

Plötzlich Drache 3 – Unerwartete Wendung

ISBN 978-3-7597-6907-7

Plötzlich Drache 4 – Kollision der Welten

ISBN 978-3-7597-6786-8

Inhaltsverzeichnis

1: Alltag

2: Marschbefehl

3: Vorbereitung

4: Suche

5: Auserwählt

6: Erwachen

7: Homeoffice

8: Flug

9: Geburtstag

10: Reise

11: Vereint

12: Vertrauen

13: Feuer

14: Geständnis

15: Gegenoffensive

16: Gefangen

17: Hass

18: Rettung

19: Miteinander

20: Schlacht

21: Drachenbrüder

22: Fähigkeiten

23: Besuch

24: Flugstunden

25: Gedanken

26: Zwiespalt

27: Friedensplan

28: Normalität

1

Alltag

Es war exakt 6:20 Uhr, als mich mein Wecker mit einer ruhigen Musik weckte. Wie immer schaltete ich den Wecker aus und stand sofort auf, um nicht wieder von der Müdigkeit übermannt zu werden. Ich zog mich an und bereitete mir mein Frühstück zu, was stets aus mehreren Scheiben Brot mit Nuss-Nougat-Creme und Saft bestand. Nach dem Essen putzte ich mir die Zähne und machte mich auf den Weg zur Arbeit. Ich ging zu meinem Auto (ein weisser Elektro-SUV) und stieg ein. Nachdem ich mich für fast 30 Minuten durch den Stadtverkehr gekämpft hatte, erreichte ich meinen Arbeitsplatz. Ich begrüsste meine Kollegen und setzte mich an meinen Computer.

Dieser Tag verlief wie fast alle anderen Tage in meinem Leben völlig normal. Und das gefiel mir, da ich nur ungern Veränderungen in meinem Leben hatte. Aus diesem Grund bevorzugte ich es, jeden Tag immer gleich zu gestalten.

Als der Arbeitstag vorüber war, stieg ich wieder in mein Auto ein und fuhr los. Im Gegensatz zu meinem morgendlichen Arbeitsweg genoss ich diese Fahrt, da ich nun vollständig wach war und somit aufnahmefähig für die goldene Herbstsonne, die bereits hinter den Häusern von Zürich unterging und dem leisen Summen des Elektromotors, was jede Beschleunigung begleitete. Als ich an einer Ampel an vorderster Stelle anhalten musste, wartete ich gespannt auf das gelbe Licht, was die bevorstehende Weiterfahrt ankündigte. Sobald die Ampel von Rot auf Gelb und schliesslich auf Grün wechselte, drückte ich das Gaspedal durch und augenblicklich schoss ich mit meinem Auto nach vorn, begleitet durch das stetig höher werdende Sirren des Motors, was mich stets an ein Raumschiff erinnerte. In diesem Moment stellte ich mir vor, ich würde vom Boden abheben und in den Himmel emporsteigen. Es war schon immer mein Traum gewesen, wie ein Drache durch die Luft fliegen zu können. Nur wenige Sekunden später musste ich jedoch mit meiner Beschleunigung aufhören, um nicht zu schnell zu werden. Hinter mir war das nächste Auto mindestens einhundert Meter entfernt, was mich insgeheim amüsierte. Obwohl die Fahrt aufgrund des Abendverkehrs über eine halbe Stunde dauerte, verging die Zeit wieder einmal viel zu schnell. Enttäuscht kam ich zuhause an und setzte mich auf mein Sofa, um mich ein wenig auszuruhen.

Ich dachte über meine Kindheit nach, die alles andere als leicht gewesen war. Schon früh hatte ich bemerkt, dass ich anders war als die anderen Kinder. Während die den ganzen Tag draussen spielten, war ich allein in meinem Zimmer und las. Mein Interesse galt vor allem wissenschaftlichen Themen wie Mathematik, Astrophysik und Chemie. Da mir mein Bruder schon sehr früh das Lesen beibrachte und ich meiner Mutter ständig Fragen über die Entstehung von Sternen und der molekularen Zusammensetzung von bestimmten Gegenständen stellte, kaufte sie mir Bücher zu diesen Themen, die ich in fast jeder freien Minute las. Obwohl ich jedes dieser Bücher schon mindestens ein Dutzend Mal durchgelesen hatte, las ich sie immer und immer wieder, um mir jedes noch so kleine Detail merken zu können. Ich wollte unbedingt wissen, wie das Universum funktioniert und weshalb alles so ist, wie es ist.

Im Kindergarten und in der Schule hatte ich es schwer. Ich wurde ständig als Aussenseiter behandelt oder gemobbt, weil niemand verstand, weshalb ich anders war. Für mich waren die anderen Kinder schwer von Begriff, unsauber und grob. Sie verstanden nichts, was ich ihnen über die Entstehung unseres Sonnensystems zu erklären versuchte, sie beschmutzten jeden Gegenstand, den sie anfassten und selbst die stabilsten Spielzeuge gingen unter ihrer groben Behandlung kaputt. Schlussendlich wagte ich es nicht einmal mehr, meine Sachen unbeaufsichtigt zu lassen. Ich fürchtete, dass ein Kind etwas kaputt oder schmutzig machen könnte. Daraufhin dauerte es nicht lange, bis die anderen Kinder entdeckten, wie sie mich am besten ärgern konnten. Sie stahlen meine Sachen und gaben sie mir erst wieder, sobald ich die Kindergärtnerin um Hilfe bat.

In der Schule wurde es immer schlimmer. Zuerst waren es die ständigen Streiche, die mir auf die Nerven gingen. Schlussendlich musste ich jedoch täglich davonlaufen, um nicht geschlagen zu werden. So wurde jeder Schultag zu einer Qual, die mich bis in meine Träume verfolgte. Erst als ich in die Berufsschule kam, wurde ich von meiner Klasse akzeptiert und das Mobbing hörte auf. Ab diesem Moment wendete sich mein Leben zum Besseren. Ich zog in meine eigene Wohnung, kaufte mir ein Auto und lebte mein Leben so, wie ich es am liebsten hatte.

Ich wachte aus meinen Tagträumen auf und war froh, nicht mehr in der Vergangenheit leben zu müssen. Als ich mir mein Essen zubereiten wollte, schrieb mir mein Bruder Tom, ob ich ihn am nächsten Tag besuchen möchte. Ich stimmte zu und fing an, zu kochen. Am nächsten Tag fuhr ich direkt nach der Arbeit zu Tom. Seine Hündin Emma begrüsste mich wie jedes Mal in wilder Aufregung.

«Und Nils, kamst du gut durch den Verkehr?», fragte Tom, nachdem sich Emma ein wenig beruhigt hatte.

«Ja, der Verkehr war noch nicht so schlimm.», antwortete ich.

Wir setzten uns auf sein Sofa und unterhielten uns über die vergangenen Tage. Die ständigen Streitigkeiten, die wir früher untereinander gehabt hatten, schienen in weite Ferne gerückt zu sein. Mittlerweile verstanden wir uns sehr gut, obwohl wir kaum unterschiedlicher hätten sein können. Tom konnte schon immer gut mit Menschen umgehen. Er war ständig mit Freunden unterwegs und stets offen für Neues. In gewisser Weise ergänzten wir uns perfekt.

Als der Abend vorüber war, ging ich nach Hause und dachte darüber nach, wie perfekt mein Leben in diesem Moment verlief.

Von mir aus kann es für immer so bleiben, dachte ich mir.

Ich ging ins Bett und schlief zufrieden ein.

2

Marschbefehl

Ich wachte auf, als die Sonne durch die kleinen Spalten zwischen den Fensterläden in mein Zimmer schien. Dem Winkel der Sonnenstrahlen nach zu urteilen, war es schon bald Mittag. Ich stand auf und streckte mich nach der langen und erholsamen Nacht.

Zum Glück ist heute Samstag, dachte ich, als ich mich anzog und ins Wohnzimmer ging.

Ich mochte meine Arbeit sehr. Dennoch freute ich mich auf ein erholsames Wochenende. Zuallererst sah ich auf mein Mobiltelefon, um die Nachrichten zu beantworten, die ich in der Nacht erhalten hatte. Vor zwei Stunden hatte mir Tom eine Sprachnachricht geschickt.

«Ich habe heute Morgen einen Marschbefehl erhalten. In zwei Monaten muss ich in die Ukraine, um gegen die russischen Soldaten zu kämpfen. Aus irgendeinem Grund haben sie mich nicht als Sanitätssoldat eingeteilt, obwohl ich dazu ausgebildet wurde.»

Diese Nachricht traf mich wie ein Pfeil ins Herz. Mein grosser Bruder soll in der Ukraine gegen russische Soldaten kämpfen? Ich bekam es mit der Angst zu tun. Was, wenn er niemals aus diesem Einsatz zurückkehren würde? Voller Sorgen rief ich Tom an.

«Hallo Nils.»

«Hallo Tom, ich habe gehört, dass du nun entgegen allen Erwartungen doch kämpfen musst. Wurdest du nicht früher als Sanitätssoldat eingeteilt?»

«Ja, eigentlich schon. Aber anscheinend haben sie zu wenige Kampfsoldaten. Deswegen wurde ich jetzt so eingeteilt.»

«Aber was machst du denn jetzt? Wirst du tatsächlich kämpfen?»

«Ich muss. Wenn ich mich weigere, geht's vors Militärgericht.»

«Und was passiert, wenn …»

«Mach dir keine Sorgen, Nils. Ich werde schon auf mich aufpassen.»

«Du ziehst in den Krieg gegen die Russen, wobei es eine hohe Wahrscheinlichkeit gibt, dass sie dich töten, und ich soll mir keine Sorgen machen?»

Ich bemühte mich, mir meine zunehmende Traurigkeit nicht anmerken zu lassen. Leider gelang es mir nicht ganz, da meine Stimme bei meiner letzten Frage zu schwanken begann.

«Nicht traurig werden, Nils.», sagte Tom.

Natürlich hat er das wieder einmal bemerkt, dachte ich. «Ich bin nicht traurig, ich mache mir nur Sorgen um dich.»

«Das verstehe ich, aber …»

Daraufhin wusste Tom nicht mehr, was er sagen sollte. Nach einer kurzen Gesprächspause versuchte er erneut, meine Sorgen zu besänftigen.

«Hast du gesehen, wie schlecht die russischen Soldaten ausgerüstet sind? Die Helme, die sie tragen, halten nicht einmal einen Schlag aus. Man kann die einfach plattdrücken wie eine Aludose.»

«Mhm», entgegnete ich fortwährend besorgt.

Er sprach noch weiter über die Nachteile der russischen Ausrüstung, aber ich hörte nicht mehr zu. Meine Gedanken kreisten zu sehr herum, als das ich mich noch auf das Gespräch hätte konzentrieren können. Nach unserem Telefonat wurde es nicht besser.

Es muss irgendeine Lösung für dieses Problem geben, dachte ich.

Am nächsten Morgen war ich so müde wie schon seit Monaten nicht mehr. Die ganze Nacht hatte ich wachgelegen und versucht, eine Lösung zu finden. Ich war inzwischen auf viele Ideen gestossen, jedoch war keine davon gut genug durchdacht, sie tatsächlich umzusetzen. Beim Frühstück musste ich wieder an das denken, was Tom über die Ausrüstung seiner Gegner gesagt hatte.

Wenn er eine deutlich bessere Ausrüstung hätte wie die, könnten sie ihm wenig anhaben.

Leider gab es für jeden Soldaten dieselbe Ausrüstung.

Als Schweizer Soldat hat man zwar eine bessere Ausrüstung als die russischen Soldaten, aber ich glaube nicht, dass der Unterschied ausreichen wird, dachte ich.

Da kam mir eine Idee: Ich könnte Tom eine Rüstung kaufen, die komplett schuss- und stichsicher war. Doch war es erlaubt, seine eigene Ausrüstung mitzunehmen? Nach einer kurzen Recherche fand ich heraus, dass man als Soldat ausschliesslich die Ausrüstung verwenden durfte, die man zur Verfügung gestellt bekam.

Was wäre, wenn ich ihm die Rüstung erst dann gebe, wenn der Kampf bereits begonnen hat? Es muss bestimmt einen Zeitpunkt geben, …

Ich verwarf diesen Gedanken wieder, da es mir nicht möglich wäre, zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort zu sein.

Oder etwa doch? Ich könnte mir auch so eine Rüstung kaufen und eine Waffe, mit der ich mich verteidigen kann. Ich wurde beim Militär zwar als untauglich eingestuft, aber das bedeutet nicht, dass ich nicht meinen Bruder beschützen darf.

Angespornt durch die neue Hoffnung, die in mir wuchs, suchte ich im Internet nach Firmen, die schusssichere Westen herstellten. Anschliessend fragte ich jede Firma an, die dazu in der Lage wäre, einen komplett schusssicheren Anzug zu produzieren. Da es Sonntag war, musste ich mich noch einen Tag gedulden, um eine Antwort zu erhalten. Gespannt wartete ich darauf, bis der Tag zu Ende war und als der Montag begann, prüfte ich alle fünf Minuten meine E-Mails. Nur wenige Stunden später, als ich gerade am Arbeiten war, erhielt ich eine erste Antwort. Leider hatten sie geschrieben, dass keine Produkte, die sie verkauften, meinen Anforderungen entsprächen und dass sie keine Massanfertigungen machen würden. Auch die nächsten Antworten waren ähnlich. Obwohl mich bereits gewisse Zweifel heimsuchten, hielt ich an der Hoffnung fest, brauchbare Anzüge für Tom und mich kaufen zu können. Immerhin hatten die meisten Firmen noch nicht geantwortet.

Dieses Mal schien der Tag nicht enden zu wollen. Ich überprüfte immer und immer wieder mein Postfach, in der Hoffnung, eine Zusage zu erhalten. Dadurch verstrich die Zeit so langsam, dass ich mit jeder Minute unruhiger wurde. Als ich endlich nach Hause gehen konnte, hatte ich die Hoffnung bereits fast aufgegeben.

Was für eine dämliche Idee. Wie konnte ich nur glauben, einfach so eine perfekte Rüstung kaufen zu können? Das würde bestimmt jeder machen, der das Geld dazu hat, wenn das so einfach wäre, dachte ich, während ich mit dem Auto im Stau stand.

Ich widerstand dem Drang, die Mails während der Fahrt zu prüfen, obwohl ich vor lauter Anspannung zitterte.

Als ich zuhause ankam, erhielt ich eine neue Nachricht. Ich öffnete sie und konnte meinen Augen nicht trauen. Es war eine Zusage! Ich musste lediglich vor Ort erscheinen, damit sie die genauen Masse von mir nehmen konnten. Für Tom musste es dementsprechend etwas breiter sein. Vor lauter Freude sprang ich vom Sofa auf und jubelte. Nachdem die erste Aufregung abgeklungen war, machte ich mit ihnen einen Termin ab und eine Woche später wurde bereits die Produktion in Auftrag gegeben. Leider musste ich fast mein ganzes Erspartes ausgeben, um die beiden Rüstungen für Tom und mich zu kaufen. Trotzdem glaubte ich, die richtige Entscheidung getroffen zu haben.

3

Vorbereitung

Inzwischen stand der Militäreinsatz von Tom nur noch wenige Tage bevor. Ich wartete immer noch auf die Lieferung der Rüstungen und des Schwertes, was ich mir ebenfalls gekauft hatte. Erstaunlicherweise war es deutlich leichter, ein Schwert oder Messer zu kaufen, als sich einen schuss- und stichsicheren Anzug anfertigen zu lassen. Es gab hunderte Variationen von Dolchen, Messern und Schwertern in allen möglichen Formen und Farben. Ich hatte eines bestellt, was mich an die Schwerter von Herr der Ringe erinnerte. Hoffentlich war es nicht zu schwer für mich.

Ich sass auf dem Sofa, als es an der Tür klingelte. Ich sprang auf, zog mir meine Schuhe an und betätigte den Türöffner.

Ist das jetzt endlich meine Bestellung oder nur wieder etwas anderes? Fragte ich mich, als ich in aller Eile das Treppenhaus hinunterrannte.

Der Postbote, der im Eingangsbereich stand, stellte gerade ein grosses, jedoch leicht aussehendes Paket ab.

«Sind Sie Nils Wollseif?», fragte er.

«Ja.»

«Dann bitte ich Sie, hier zu unterschreiben.»

Ich gab ihm meine Unterschrift und nachdem wir uns verabschiedet hatten, hievte ich das Paket die Treppe hoch. Es war höchstens zehn Kilogramm schwer, jedoch mindestens einen Meter hoch und fast genauso breit. Als ich endlich vor meiner Wohnungstür ankam, rann mir der Schweiss die Stirn herunter und meine Arme zitterten vor lauter Anstrengung. Ich öffnete das Paket und war sehr erleichtert, die grau-schwarzen Rüstungsteile aus Kevlar und Karbonfaser erkennen zu können. Es waren auch zwei Helme dabei, die innen weich gepolstert und aussen hart waren, mit jeweils einer dicken Panzerglasscheibe vorne, durch die man hervorragend sehen konnte. Unter den Rüstungsteilen lag noch das Schwert. Als ich es herausnahm, war ich überrascht, wie gut es in der Hand lag. Obwohl es mindestens zwei Kilogramm schwer war, fühlte es sich federleicht an. Nun war es an der Zeit, die Rüstung anzuprobieren. Ich zog zuerst den Beinschutz an, danach die Stiefel, den Brustpanzer und alle verbleibenden Teile. Es gab sogar Handschuhe und einen gepanzerten Kragen. Die meisten Teile liessen sich einfach anlegen. Beim Beinschutz hingegen musste ich mich hinlegen und mit aller Kraft daran ziehen, um die Beine durch die steifen Öffnungen zu zwängen. Als ich fertig war, betrachtete ich mich im Spiegel und war überrascht, wie gut ich in meiner neuen Rüstung aussah. Es schränkte zwar meine Bewegungsfreiheit und mein Sichtfeld erheblich mehr ein, als ich es mir vorgestellt hatte, jedoch war ich zufrieden damit, wie leicht die Panzerung war. Ich schwang das Schwert durch die Luft und stellte mir vor, ein mittelalterlicher Krieger zu sein. Dabei bemerkte ich, dass einige Stellen der Rüstung zu scheuern begannen.

Daran hatte ich nicht gedacht. Wie es aussieht, werde ich mir einige Schürfwunden zuziehen, wenn ich damit kämpfe.

Ich hatte zwar nicht vor, viel zu kämpfen, aber ich wusste, dass es unvermeidbar war, wenn ich in die Ukraine gehen würde.

Morgen fahre ich nach Kiew, dachte ich.

Da ich für meinen speziellen 'Ausflug' einiges an Zeit benötige, nahm ich mir für die nächsten drei Wochen frei. Obwohl ich alles bis ins kleinste Detail geplant hatte, war ich nervös.

Zuerst fahre ich meine geplante Route nach Kiew. Für die Reise habe ich bereits genügend Essen gekauft. Mein Auto kann ich mit meinen mobilen Solarzellen aufladen, die ich mir ursprünglich wegen der Stromknappheit gekauft habe. Tom wird in genau neun Tagen dort eintreffen. Wenn ich morgen losfahre, werde ich voraussichtlich einen Tag früher ankommen. Ich verstecke mich einfach mit meinem Auto irgendwo am Stadtrand und warte darauf, dass unsere Soldaten eintreffen. Dann suche ich Tom und übergebe ihm die Rüstung. Sollte ich irgendwelchen Feinden begegnen, die mich angreifen, wird mich meine eigene Rüstung schützen und im Notfall kann ich auch mein Schwert benutzen…

Dies war ungefähr das hundertste Mal, dass ich mir meinen Plan durch den Kopf gehen liess. Ich war felsenfest davon überzeugt, dass alles wie geplant verlaufen würde. Trotzdem wollte meine Nervosität nicht nachlassen. Mein Unterbewusstsein warnte mich ständig vor den Gefahren, denen ich mir auf meiner Mission stellen musste.

Es war 9 Uhr, als mich mein Wecker aus einem furchtbaren Traum weckte. Ich stand schweissgebadet auf und begann, mich auf die Reise vorzubereiten. Die Taschen standen schon bereit, da ich sie am Vorabend gepackt hatte. Nach einem nahrhaften Frühstück füllte ich den Kofferraum meines Autos mit dem Essen und den Solarzellen. Die Rüstungen, das Schwert und meine Kleider musste ich auf die Rücksitze legen. Als ich losfuhr, dachte ich nochmals über die Entscheidung nach, Tom nichts von meiner Mission zu sagen.

Er muss sich auf seinen Einsatz konzentrieren können. Wenn er sich auch noch um mich Sorgen macht, wird ihn das ablenken.

Wenige Stunden später erreichte ich die österreichische Grenze. Zum Glück wurde ich nicht bei der Grenzkontrolle aufgehalten. Die hätten mich bestimmt nicht ohne Weiteres durchgelassen. Als ich bei der ersten Ladestation ankam, die auf meiner Route lag, war diese besetzt. Zum Glück wurde ein Platz nach nur fünfzehn Minuten frei und ich konnte mein Auto aufladen. Während des Ladevorgangs ging ich auf die nächstgelegene Toilette und ass in einem Restaurant, da ich meine Vorräte noch nicht aufbrauchen wollte.

Nach der Ladung fuhr ich weiter bis nach Wien, wo ich in einem Hotel übernachtete, während mein Auto erneut Strom tankte. In den nächsten Tagen konnte ich ohne Zwischenfälle durch die Slowakei fahren. Als ich zwei Tage später in der Ukraine ankam, begegnete ich zunehmend weniger Menschen. Je weiter ich in Richtung Kiew fuhr, desto mehr Militärfahrzeuge kamen mir auf der Strasse entgegen. Ich konnte sogar einige Panzer sehen, die auf schweren Lastwagen transportiert wurden.

Als ich wie geplant einen Tag vor Toms Ankunft in Kiew ankam, musste ich feststellen, dass sich in der einst belebten Stadt keine Bewohner mehr befanden. Alle Menschen waren schon vor Monaten evakuiert worden, als die ersten Kämpfe in der Nähe der Stadt begonnen hatten. Nun standen alle Häuser leer und überall waren Spuren des Krieges zu erkennen.

Ist es üblich, dass ich einfach so in die Stadt fahren konnte, ohne entdeckt zu werden, oder hatte ich einfach wieder einmal Glück? Fragte ich mich, als ich in einem verlassenen Parkhaus nahe der Stadtgrenze aus dem Auto stieg und mich auf die Suche nach einem sicheren Unterschlupf begab.

Ich breitete die Solarzellen ausserhalb des Parkhauses aus, um anschliessend mit dem dazugehörigen Akku das Auto laden zu können. Da die Sonne hoch am wolkenlosen Himmel stand, würde der Akku bereits vor dem Sonnenuntergang voll sein.

Nach einer kurzen Suche fand ich ein Haus, bei dem die Haustür offenstand. Als ich eintrat, konnte ich erkennen, dass das Schloss aufgebrochen war. Es waren noch einige Möbel vorhanden, aber alle Wertgegenstände, Esswaren und sonstige Vorräte fehlten. Alles war mit einer Staubschicht bedeckt, die darauf schliessen liess, dass bereits seit Wochen niemand mehr hier gewesen war. In jedem Raum war es mucksmäuschenstill. Nicht das leiseste Geräusch konnte ich vernehmen. Dies beruhigte mich, da ich während meiner Suche nach einem Unterschlupf durchgehend weit entfernte Schüsse gehört hatte. Ich wartete die Zeit bis zum Abend ab und ging zurück zum Auto, um die über den Tag gesammelte Solarenergie zu tanken. Als ich beim Parkhaus ankam, waren meine Solarzellen mitsamt des Akkus verschwunden.

Mist. Hier scheinen also doch noch Menschen zu sein. Jetzt kann ich mein Auto nicht mehr laden, um nach Hause zu kommen. Ich muss demnach später von irgendwo her Strom beziehen.

Erleichtert stellte ich fest, dass das Auto nicht aufgebrochen worden war und all meine Vorräte noch vorhanden waren. Die Diebe waren anscheinend nicht im Parkhaus gewesen, ansonsten hätten sie das Auto mit Sicherheit gestohlen. Ich nahm einen Teil meiner Vorräte mit in den Unterschlupf. Die Rüstungen und das Schwert hatte ich schon beim ersten Mal mitgenommen. Es war bereits dunkel, als ich in meinem temporären Zuhause ankam. Ich machte mir mein Abendessen und wollte mich anschliessend auf dem staubigen Sofa schlafenlegen, als ich draussen Schritte hörte. Mein Herzschlag beschleunigte sich augenblicklich und ich nahm, so leise ich konnte, mein Schwert zur Hand. Durch das Fenster erkannte ich draussen auf der Strasse mehrere Personen, die in leisen Schritten in Richtung Stadtzentrum schlichen. Sie schienen mich nicht bemerkt zu haben. Dennoch wagte ich es kaum, zu atmen. Ich klammerte mich an mein Schwert, während ich die drei Personen beobachtete, die sich langsam von mir entfernten. Es war ein Mann, eine Frau und ein Kind. Sie trugen Taschen voller Esswaren mit sich.

Was haben sie vor? Und warum gehen sie nicht aus der Stadt raus mit dem Kind? Wissen sie denn nicht, dass es morgen wieder grosse Kämpfe geben wird?

Vor lauter Anspannung stand ich nach einer Viertelstunde immer noch wie angewurzelt da.

Ich sollte ins Bett gehen. Wenn ich morgen nicht ausgeschlafen bin, könnte meine Mission böse Folgen haben.

Also legte ich mich schlafen und versuchte, meine Nervosität zu unterdrücken. Leider gelang mir das nicht auf Anhieb, weswegen ich die halbe Nacht hindurch wach dalag und mir sehnlichst mein eigenes Zuhause herbeiwünschte, wo ich in Sicherheit war.

4

Suche

Es war eisig kalt in meinem Unterschlupf, als mich das erste Sonnenlicht weckte. Über Nacht schien der Winter eingebrochen zu sein, denn auf den Strassen lag eine dünne Schneeschicht und der Morgentau war gefroren. In der Ferne konnte ich die Motoren der Militärfahrzeuge hören, die sich der Stadt näherten.

Die Suche nach Tom beginnt, dachte ich, während ich mir mein kaltes Frühstück zubereitete und anschliessend meine Rüstung anzog. Als ich nach draussen ging, kam mir in den Sinn, die Rüstung für Tom zu verstecken, da ich sie im Ernstfall verlieren konnte. Und ich wollte mir auch nicht vorstellen, was geschehen würde, sollten unsere Feinde plötzlich solch eine Rüstung finden. Deswegen versteckte ich das Exemplar für Tom unter einem Gullideckel. Damit sie nicht in das Loch fiel, band ich die Rüstung an den Metallstäben fest, die Kanalarbeitern als Leiter dienten. Daraufhin machte ich mich auf den Weg, Tom zu finden. Ich musste schliesslich nur den Geräuschen folgen. Neben den Motoren waren jetzt auch vermehrt Schüsse zu hören. Je näher ich kam, desto langsamer und vorsichtiger bewegte ich mich. Schlussendlich kroch ich von einer Deckung zur nächsten, um nicht entdeckt zu werden. Obwohl die Gefahr nun grösser war als letzte Nacht, fühlte ich mich dank der Rüstung einigermassen sicher. Leider konnte ich jetzt bereits fühlen, wie es mir bei jeder Bewegung die Haut aufschürfte.

Ich hätte nie gedacht, dass der Kampf so weit weg stattfindet, dachte ich, als ich nach über einer halben Stunde immer noch keine Soldaten sehen konnte.

Die Stadt wollte kein Ende nehmen. Immer wenn ich dachte, dass hinter dem nächsten Haus gekämpft wurde, musste ich anschliessend feststellen, dass sich noch mindestens ein weiteres Haus zwischen mir und dem Kampfgeschehen befand. Nach einer Stunde waren die Schüsse bereits so laut, dass meine Ohren zu schmerzen begannen. Ich kam gerade hinter einem Haus hervor, als ich mehrere Bewegungen erkannte. Instinktiv duckte ich mich und beobachtete das Geschehen. Vier Militärfahrzeuge der Schweiz standen unter Beschuss. Scharfschützen auf den Dächern schossen auf alles, was sich bewegte. Die Fahrer sassen entweder nicht mehr im Führerhaus oder waren bereits erschossen worden. Eine Gruppe von mindestens zwanzig Männern versteckte sich hinter den Fahrzeugen und versuchte gleichzeitig, aus der Schussbahn zu gelangen. Da die Scharfschützen jedoch an vier unterschiedlichen Positionen standen, gab es keine Fluchtmöglichkeit.

Ich muss ihnen irgendwie helfen.

Schon wenige Sekunden später kam mir eine Idee. Ich betrat das Haus hinter mir, auf dem sich ein Scharfschütze befand, und schlich das Treppenhaus nach oben. Sollte ich ihn irgendwie ausschalten können, würden die Männer eine Fluchtmöglichkeit haben. Da ich wusste, dass sich Scharfschützen niemals ungeschützt positionieren würden, liess ich Vorsicht walten. Vor jeder Ecke lauschte ich für einige Sekunden, bevor ich den nächsten Schritt machte. Als ich gerade um die letzte Biegung im Treppenhaus gehen wollte, bemerkte ich ein schwaches, rotes Licht an der Wand. Ich blieb auf der Stelle stehen und versuchte zu erkennen, was es war.

Das sieht aus wie eine Bombe mit Infrarotsensor. Hier komme ich nicht vorbei, ohne sie auszulösen.

Ich ging zurück nach unten und durchsuchte den erstbesten Raum nach Gegenständen, die mir helfen konnten. Es war ein Büro mit alten Computern und Schreibmaterial. Ich steckte einen Kugelschreiber ein und kehrte damit zum Sprengsatz zurück. Um die Falle gefahrlos auszulösen, warf ich den Stift in Richtung des roten Lichts und versteckte mich hinter der Mauer. Ein ohrenbetäubender Knall erschütterte das Treppenhaus. Unzählige Splitter flogen durch die Luft und eine dichte Staubwolke breitete sich aus. Hustend wischte ich die eben entstandene Staubschicht von meinem Helm und kletterte über das Geröll nach oben.

Jetzt weiss jeder in der gesamten Stadt, wo ich bin. Das war vielleicht nicht die beste Idee.

Als ich auf dem Dach ankam, war der Scharfschütze nicht mehr an seiner vorherigen Position. Ich zückte mein Schwert und bewegte mich langsam nach vorne.

Urplötzlich knallte es neben mir und mehrere dumpfe Schläge trafen mich von rechts. Vor lauter Schreck liess ich das Schwert fallen und stolperte über einen kleinen Vorsprung. Dadurch verlor ich das Gleichgewicht und fiel zu Boden. Als ich mich wieder aufrichtete, sah ich den Scharfschützen mit einer Pistole neben mir stehen. Er schoss erneut und musste daraufhin feststellen, dass meine Rüstung jeglichen Schaden absorbierte. Fassungslos starrte er mich an und ich nutzte die Gelegenheit zum Gegenangriff. Mit schnellen Schritten bewegte ich mich auf ihn zu und stiess mit dem Schwert nach ihm. Er bewegte sich im allerletzten Moment ausser Reichweite und zückte sein Messer. Nun schlug ich mit aller Kraft zu und versetzte ihm dabei einen tiefen Schnitt in den rechten Arm, da er dieses Mal nicht schnell genug ausweichen konnte. Er liess das Messer fallen und versuchte daraufhin, mich zu entwaffnen. Ich zog mich kurz zurück und konnte anschliessend genau im richtigen Moment zustossen, als er sich gerade auf mich zu bewegte. Mein Schwert bohrte sich ihm in den Bauch und er sackte zu Boden. Erst als ich die Klinge herauszog, bemerkte ich, dass ich von oben bis unten mit Blut bedeckt war. Mir wurde übel und bevor ich mich setzen konnte, liessen mich meine Beine im Stich. Ich brach zusammen und lag einen Moment lang regungslos da, während ich den Scharfschützen betrachtete, der eben das letzte Mal zuckte, bevor ihn das Leben verliess.

Mir war schwindelig und mein Kopf schmerzte, als ich nach einer gefühlten Ewigkeit wieder aufstehen konnte. Mein ganzer Körper zitterte vor Anstrengung und Adrenalin. Die frisch entstandenen Schürfwunden brannten bei jeder Bewegung. Ich wollte nachsehen, ob sich die Soldaten in Sicherheit bringen konnten, aber bevor ich dazu die Gelegenheit hatte, kamen weitere Gegner die Treppe hochgestürmt.

Auch das noch, dachte ich, als ich in Angriffsposition ging und die Soldaten ihr Feuer eröffneten. Ihre Schüsse waren so laut, dass meine Ohren innerhalb weniger Sekunden zu pfeifen begannen. Zum Glück hielt die Rüstung grösstenteils stand. Nur mein Visier begann, Risse zu bilden. Zwei von drei Männern, die auf mich schossen, stellten verwirrt das Feuer ein. Da ich nun weniger stark von den Schüssen zurückgestossen wurde, konnte ich angreifen. Dem linken Soldaten, der besonders verwirrt wirkte, schlug ich mit einem Hieb die Hand ab, mit der er sein Gewehr festhielt. Bevor ich erneut zuschlagen konnte, versuchte ein anderer Soldat, mir sein Messer in den Rücken zu rammen. Da es jedoch wirkungslos in der Panzerung steckenblieb, konnte ich ihm mit einer schnellen Drehung nach rechts die Kehle durchschneiden. Ich drehte mich gleich darauf wieder um, und versuchte den ersten Soldaten erneut anzugreifen. Er war schneller als ich und schlug mir mein Schwert aus der Hand. Sein Kollege hörte nun endlich auf zu schiessen und stiess mich zu Boden. Dank der Rüstung machte mir dieser Sturz nichts aus und ich trat dem verletzten Mann zwischen die Beine. Daraufhin krümmte er sich vor Schmerz und stiess einen russischen Fluch aus, den ich nicht verstand. Der unverletzte Soldat trat auf mich ein, musste aber gleich feststellen, dass er mich dadurch nicht verletzte. Da ich wegen den ständigen Angriffen nicht aufstehen konnte, warf er sich auf mich und versuchte, mir die Kehle durchzuschneiden, was dank meines gepanzerten Kragens nicht gelang. Ich nutzte die Gelegenheit und nahm die Pistole meines Gegners, womit ich ihm aus nächster Nähe zweimal in den Oberkörper schoss. Er sackte zusammen und blieb auf mir liegen. Gleichzeitig überraschte es mich, wie stark der Rückstoss einer so kleinen Waffe sein konnte. Als ich den eben getöteten Mann von mir wegstiess, kam der letzte verbleibende Soldat erneut auf mich zu mit meinem Schwert in der linken Hand. Er stiess mir damit so stark gegen die Brust, dass mir die Luft wegblieb. Ich wollte ihn ebenfalls erschiessen, jedoch trat er mir zuvor die Pistole aus der Hand. Daraufhin rollte ich ein wenig zur Seite, wodurch die Klinge abrutschte. Dies führte dazu, dass der Soldat das Gleichgewicht verlor und stolperte. Da ich nun endlich aufstehen konnte, rannte ich zur Pistole und schoss auf meinen Gegner. Er wich gerade noch aus und versteckte sich hinter einem Schornstein. Als ich erneut abdrückte, klickte die Pistole nur, da das Magazin leer war. Mein Gegner bemerkte dies und kam aus seiner Deckung herausgestürmt. Er schlug mit dem Schwert nach mir und ich wich nach hinten, um ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen. Als er seine Bewegung stoppte, hielt ich das Schwert mithilfe meines gepanzerten Handschuhs an der Klinge fest und entriss es ihm, indem ich gleichzeitig mit der anderen Hand auf sein Handgelenk schlug. Ich nahm den Griff in die Hand und stach daraufhin blitzschnell zu. Die Klinge bohrte sich direkt in sein Herz und er starb, bevor sein Kopf auf dem Boden aufschlug.

Woher kamen die denn? So schnell konnten sie unmöglich das Treppenhaus hochgestiegen sein, nachdem ich die Falle ausgelöst habe.

Gerade als ich mich ein wenig beruhigen wollte, hörte ich noch weitere Schritte aus dem Treppenhaus. Ich hob das Gewehr des Soldaten auf, der zuerst das Feuer eingestellt hatte, und ging hinter dem Schornstein in Deckung. Mindestens sechs weitere Feinde betraten das Dach. Ohne zu überlegen, schoss ich auf die Männer ein. Der unerwartete Rückstoss des vollautomatischen Gewehrs führte dazu, dass nur die ersten paar Schüsse trafen. Drei Soldaten sackten zu Boden und die anderen eröffneten das Feuer, während sie sich duckten, um ein kleineres Ziel zu bilden. Ich versuchte meinen Angriff erneut, jedoch war das Magazin bereits leer.

Das ist genau der Grund, weshalb ich das Schwert bevorzuge. Mit Schusswaffen hat man immer Munitionsprobleme.

Die vier verbleibenden Männer schossen auf mich, während ich aus der Deckung stürmte, um sie anzugreifen. Sie trafen mich mit solch einer Wucht, dass ich nach hinten stolperte und schlussendlich hinfiel. Nach wenigen Sekunden mussten sie aufhören, um ihre Gewehre und Pistolen nachzuladen. Ich nutzte die Gelegenheit, um aufzustehen und nach drei schnellen Schritten dem nächsten Soldaten mein Schwert in die Brust zu rammen. Es steckte derart tief, dass ich es nicht auf Anhieb herausziehen konnte. Dadurch war es den umliegenden Männern möglich, mich festzuhalten. Ich griff mit einer freien Hand nach dem Messer eines Gegners und rammte es ihm in seinen rechten Oberschenkel. Weiter oben konnte ich ihn nicht treffen, da ich gerade von zwei Soldaten festgehalten wurde. Der nun verletzte Soldat brach zusammen, weil er auf seinem Bein nicht mehr stehen konnte. Ich nutzte die Gelegenheit, ihm das Messer in die Brust zu stecken. Herausziehen konnte ich es nicht mehr, da mich die zwei verbleibenden Männer wegstiessen. Das Schwert hatten sie an sich genommen. Nun konnte ich mich nicht mehr bewegen und sie drückten mich Schritt für Schritt näher an die Dachkante. Da mir alle anderen Optionen genommen worden waren, schlug ich mit dem Kopf gegen das Gesicht eines Gegners. Er schrie auf und lockerte seinen Griff. Dadurch gewann ich genügend Bewegungsfreiheit, um nach seinem Messer zu greifen und ihm damit die Kehle durchzuschneiden. Der andere Soldat, der mich von hinten festhielt, drückte meine Arme gegen meinen Oberkörper und ich konnte sie nicht mehr bewegen, weil er stärker war als ich. Mit einem Fuss trat ich nach hinten und kurz darauf lockerte sich sein Griff, da ich ihm zwischen die Beine getroffen hatte. Ich hob mein Schwert auf und stiess es nach hinten, in der Hoffnung, meinen Gegner zu treffen. Irgendwas hatte ich tatsächlich getroffen, jedoch konnte ich nicht feststellen, was es war, denn im selben Moment stürzte sich ein Soldat, den ich für tot geglaubt hatte, auf mich. Ich fiel zur Seite und erschrak augenblicklich, da sich mein Kopf nun über der Dachkante befand. Bevor ich aufstehen konnte, stiessen sie mich vollständig runter. Ungebremst raste ich auf den Boden zu, der sich acht Stockwerke unter mir befand.

Hätte ich doch wenigstens jemandem etwas von meiner Mission erzählt, dachte ich, als ich mich im freien Fall befand.

Die Strasse unter mir näherte sich mit zunehmender Geschwindigkeit. Die kalte Luft pfiff durch die kleinen Schlitze meiner Rüstung und liess das Blut auf meinem Visier trocknen. Kurz bevor ich auf dem Boden aufschlug, wurde mir schwarz vor Augen.

5

Auserwählt

Zuerst nahm ich nur ein Kribbeln wahr, was sich über meinen gesamten Körper ausbreitete. Danach verschwanden all meine Schmerzen innerhalb von wenigen Sekunden. Ich öffnete meine Augen und konnte nichts sehen, ausser dass ich auf einem weissen Stuhl sass, der weich gepolstert und mit Leder überzogen war. Alles andere war weiss ohne jegliche Schattierungen. Unter mir befand sich ein Boden aus diesem weissen Material. Meine Füsse warfen keine Schatten, was den Eindruck erweckte, dass dieser Untergrund gar nicht existierte. Dennoch konnte ich ihn fühlen. Da ich nur die Geräusche hören konnte, die ich selbst verursachte, nahm ich an, in einem geschlossenen Raum zu sitzen, der vollständig schalldicht war. Irgendetwas hatte sich grundlegend verändert. Ich wusste nicht, was es war, aber es fühlte sich anders an. Ungefähr so, als hätte man meinen Körper ausgetauscht.

Wo bin ich? Fragte ich mich.

Plötzlich ertönte eine Stimme. Ich hörte sie aus allen Richtungen zugleich, wodurch es unmöglich war, die Quelle ausfindig zu machen. Die Stimme klang nicht menschlich, obwohl sie deutsch sprach.

«Du fragst dich bestimmt, weshalb du noch lebst. Die Antwort ist ganz einfach, wenn man einige Details auslässt: Ich bin eine künstliche Intelligenz, die vom intergalaktischen Institut zur Bewahrung intelligenter Lebensformen (kurz IIBIL) dazu beauftragt wurde, die Menschheit vor sich selbst zu schützen. Meine jetzige Aufgabe besteht darin, mit dem kleinstmöglichen Eingreifen den Ukraine-Konflikt zu beenden.»

Meine Verwirrung wuchs ins Unermessliche. Nach einigen Augenblicken der Fassungslosigkeit konnte ich meine Gedanken dennoch sortieren und fragte:

«Ein intergalaktisches Institut? Heisst das etwa, dass Ausserirdische dich programmiert haben?»

«Genau.», antwortete die künstliche Intelligenz.

Meine Neugier übertraf nun meine Verwirrung. Ich hatte unzählige Fragen, aber keine Ahnung, in welcher Reihenfolge ich sie stellen sollte.

«Beobachtet ihr die Menschheit schon lange?» Platzte es aus mir heraus.

«Nein, das IIBIL hat euch erst vor 4698 Jahren entdeckt. Nur einen Monat später erhielt ich die Verantwortung für die Menschheit.»

«Für Menschen ist das eine sehr lange Zeit. Dann musst du bestimmt alles über uns wissen! Was ist eigentlich mit dem alten Ägypten passiert? Wir Menschen hatten eine ziemlich fortschrittliche Kultur und plötzlich geriet alles in Vergessenheit.»

«Das war meine erste Mission. Ich musste eingreifen, um den Fortbestand der Menschheit zu sichern.»

«Aber warum? Und was hast du getan?»

«Ich fürchte, mir bleibt keine Zeit, dir das alles zu erklären. Wir sollten uns auf die jetzige Mission konzentrieren: Den Ukraine-Konflikt. Mit einer Wahrscheinlichkeit von 81 % entwickelt sich dieser Krieg zu einer atomaren Katastrophe von globalem Ausmass. Dadurch, dass ich dich wiederbelebt habe, nachdem du gestorben bist, lässt sich diese Chance auf 12,6 % verringern.»

«Ich bin gestorben? Das habe ich gar nicht bemerkt.»

«Es ist auch nicht möglich, das wahrzunehmen, da nach dem Ableben keinerlei Gehirnaktivitäten mehr vorhanden sind.»

«Wie lange war ich tot?»

«Exakt 8 Tage, 17 Stunden, 43 Minuten und 38 Sekunden. Sofort nach deinem Tod nahm ich dich hier her, um zu berechnen, mit welchen Fähigkeiten ich dich ausstatten muss, damit die Chancen auf Frieden am besten stehen. Jetzt, da meine Berechnungen abgeschlossen sind, habe ich dich wiederbelebt. Es ist ungewöhnlich für mich, derart stark in die Geschichte der Menschheit einzugreifen, aber alle anderen Massnahmen zur Verhinderung der Apokalypse wären noch wesentlich drastischer gewesen.»

«Wenn das hier ein starker Eingriff ist, was sind dann normale Eingriffe?»

«Ein durchschnittlicher Eingriff war zum Beispiel ein Wort in einem Brief an Adolf Hitler, was ich verändert hatte. Dies führte schlussendlich zu seiner Niederlage.»

«Was meinst du mit Fähigkeiten, die du mir gegeben hast? Und wie soll ich den Ukraine-Konflikt beenden?»

«Das findest du am besten selbst heraus. Meine Simulationen ergaben, dass die Erfolgschancen am höchsten stehen, wenn du deine eigenen Entscheidungen triffst. Deswegen wurdest genau du von mir auserwählt. Nun schlafe ein wenig. Dann wird fast alles wieder so, wie es war.»

Nach diesen Worten überkam mich ein starkes Gefühl der Müdigkeit und mir fielen kurz darauf die Augen zu.

6

Erwachen

Es war exakt 6:20 Uhr, als mich mein Wecker mit einer ruhigen Musik weckte. Dieses Mal war jedoch etwas anders. Der Wecker erklang wesentlich lauter als normal und ich konnte erstmals deutlich erkennen, dass die Klaviermelodie aus einem Lautsprecher stammte und nicht aus einem echten Instrument. Mein Körper fühlte sich noch viel seltsamer an wie in meinem Traum vom weissen Raum und der künstlichen Intelligenz. Als ich den Arm in Richtung Wecker bewegte, um ihn auszuschalten, konnte ich ihn nicht mit den Fingern ertasten. Genauer gesagt, fühlte ich meine Finger überhaupt nicht mehr. Nun öffnete ich meine Augen, da der Wecker immer noch läutete und ich ihn endlich ausschalten wollte. Überrascht von dem blendend hellen Licht, was mein Zimmer erfüllte, schloss ich sie instinktiv wieder.

Habe ich etwa vergessen, die Fensterläden zu schliessen?

Ich öffnete die Augen erneut und sie gewöhnten sich schnell an die Helligkeit. Zu meiner Überraschung waren die Läden geschlossen. Ausserdem ging die Sonne um diese Jahreszeit erst in etwa einer Stunde auf. Die einzige Lichtquelle war das Display meines Weckers. Trotzdem konnte ich jedes noch so kleine Staubkorn erkennen, was durch die Luft schwebte. Alles wirkte tausendfach schärfer und klarer, als ich es jemals erlebt hatte. Da ich den Ausschaltknopf nun finden konnte, betätigte ich diesen. Gerade als ich wegschauen wollte, fiel mir etwas Seltsames auf: Meine Hand hatte sich stark verändert. Statt Fingern besass ich nun lange, dunkelrote Krallen. Mein Handrücken bestand aus blutroten Schuppen. Als ich meinen Arm drehte, bemerkte ich, dass die Innenfläche meiner Hand nicht anders aussah. Die Schuppen setzten sich über den ganzen Arm fort bis unter die Decke, wo ich sie nicht mehr sehen konnte. Mein anderer Arm sah identisch aus.

Meine verrückten Träume scheinen sich fortzusetzen. Zuerst das Gemetzel in Kiew, dann der weisse Raum und jetzt das hier.

Ich schob die Bettdecke beiseite und betrachtete meinen Körper. Von oben bis unten war ich mit blutroten Schuppen bedeckt, die je nach Lage einen leicht anderen Farbton aufwiesen. Meine Arme und Beine waren nun gleich lang und mit dunkelroten Krallen bestückt, die einen schönen Kontrast zu den Schuppen bildeten. Erst jetzt entdeckte ich, dass ich nun über einen Schwanz und Flügel verfügte, die ich nicht bewegen konnte.

Ich muss ein Drache sein, dachte ich, als ich versuchte, die vielen neuen Eindrücke einzuordnen.

Mit meinem rechten Vorderbein, was man jetzt nicht mehr als Arm bezeichnen konnte, fuhr ich über meine unbeweglichen Flügel, was aufgrund der rauen Schuppen meiner Klauen ein unangenehmes Kratzen auf der ledrigen Haut erzeugte. Die Flügel waren auf der Innenseite etwas heller als der Rest von mir. Vom Aufbau her glichen sie Fledermausflügeln. Obwohl ich sie fühlen konnte, schaffte ich es nicht, sie zu bewegen. Es war, als müsse ich zuerst lernen, die neuen Muskeln zu bedienen. Das Gleiche galt für meinen mit Stacheln bestückten Drachenschwanz.

Wenn das ein Traum ist, will ich nicht wieder aufwachen, bis ich mindestens einmal durch die Wolken geflogen bin.

Mit diesem Gedanken begann ich, aus dem Bett zu steigen. Da es für mich als Mensch natürlich war, versuchte ich, auf zwei Beinen zu stehen. Auf dem harten Holzboden fanden meine durch Schuppen gepanzerten Füsse jedoch keinen Halt. Ich rutschte ab und fiel auf alle Viere, während meine Krallen den Boden zerkratzten.

So muss sich Emma jeden Tag fühlen, dachte ich, amüsiert über meinen kläglichen Versuch, aus dem Bett zu steigen.

Vorsichtig setzte ich einen Fuss vor den anderen, um nicht noch weitere Kratzer zu erzeugen.

Kurze Zeit später kam ich bei der Zimmertür an. Da ich als Drache nicht grösser war als zuvor und nun auf allen Vieren stand, befand sich die Türklinke ein gutes Stück über meinem Kopf. Ich musste mich mit einem Bein an der Wand abstützen, um sie zu erreichen. Beim ersten Versuch, die Tür zu öffnen, rutschte ich mit meinen Krallen auf dem Metallgriff ab, was ein fürchterlich lautes Geräusch erzeugte. Ich verharrte während der nächsten Sekunden starr in meiner Position und hoffte, dass mich die Nachbarn nicht gehört hatten. Beim zweiten Versuch gelang es mir, da ich die Türklinke nun an der gebogenen Stelle festhielt, um nicht wieder abzurutschen. Als ich die Tür öffnete, wurde ich erneut geblendet, da der bevorstehende Sonnenaufgang bereits genügend Licht in das Wohnzimmer warf, dass ein Mensch keine Lampe mehr benötigt hätte. Für meine Drachenaugen war es heller als direktes Sonnenlicht. Glücklicherweise gewöhnte ich mich sehr schnell an den Helligkeitsunterschied und schritt anschliessend ins Wohnzimmer. Auf dem Esstisch lagen meine Rüstung und mein Schwert. Daneben befand sich eine graue Schachtel und mein Mobiltelefon.

Wie kommen diese Gegenstände hierher? Das sollte doch alles noch in der Ukraine sein. War das ein Traum und die jetzige Situation echt? Oder ist es genau umgekehrt?

Ich konnte immer noch nicht mit Sicherheit feststellen, was die Realität war und was nicht. Da sich in diesem Moment alles real anfühlte, war ich mir trotz der verwirrenden Umstände einigermassen sicher, dass ich nicht träumte. Ich wusste nicht, was für ein Datum gerade war, weswegen ich auf einen Stuhl kletterte, um auf mein Handy zu schauen. Dabei stiess ich versehentlich einen anderen Stuhl mit meinem Schwanz um. Vorsichtig kletterte ich wieder nach unten, um den umgekippten Stuhl aufzustellen. Als ich ihn mit meinen Krallen an der Lehne festhielt, zerkratzte ich dabei das Holz.

Ich muss echt aufpassen, nicht alles kaputt zu machen, dachte ich leicht genervt darüber, dass ich beinahe alles beschädigte, was ich anfasste.

Anschliessend setzte ich mich wieder, um herauszufinden, welches Datum heute war. Der Stuhl war mir unbequem, da ich versuchte, so aufrecht wie ein Mensch zu sitzen. Schlussendlich musste ich mich leicht nach vorn beugen, damit ich nicht auf meinem Schwanz sass. Hierfür stützte ich mich mit den Vorderbeinen auf dem Tisch ab.

Wenn das ein Dauerzustand ist, muss ich mir wohl einen anderen Stuhl besorgen, dachte ich und musste bei diesem Gedanken schmunzeln.

Ich tippte mit einer Kralle auf den Bildschirm meines Smartphones. Nichts geschah. Ich tippte erneut, dieses Mal mit der Handfläche. Wieder geschah nichts.

Drachenschuppen scheinen den Strom nicht so gut leiten zu können wie die menschliche Haut.

Ich versuchte es mit meiner Schnauze und auch dieses Mal blieb der Bildschirm dunkel. Als ich es schlussendlich mit der Zungenspitze versuchte, reagierte der Touchscreen endlich. Es war Montag, der fünfte Dezember 2022.

Heute muss ich wieder arbeiten, da meine Ferien zu Ende sind.

Bei diesem Gedanken stutzte ich. Wie sollte ich so zur Arbeit erscheinen? Was würde geschehen, wenn plötzlich ein Drache durch die Stadt Zürich wanderte? Werde ich je wieder normal leben können? Ich benötigte mehr Zeit, die Situation zu begreifen.

Vielleicht wäre es am besten, wenn ich mich für heute krankschreiben lasse und mir die Zeit nehme, über die jetzige Situation nachzudenken.

Also ging ich zu meinem Computer und schaltete ihn ein, wobei ich schwer aufpassen musste, nichts zu beschädigen. Dank der Tatsache, dass ich den PC mit einer Tastatur anstelle eines Touchscreens bedienen konnte, bereitete es mir keine Schwierigkeiten, ihn zu starten und das Passwort einzugeben. Während des Anmeldevorgangs betrachtete ich meine Tastatur genauer.

Warum zum Teufel befindet sich so viel Dreck zwischen den Tasten? Und weshalb haben einige davon kleine Löcher und Kratzer?

Kurze Zeit später bemerkte ich, dass die Beschädigungen durch meine Krallen entstanden waren. Als ich anfing, die Nachricht an meinen Vorgesetzten zu tippen, bereitete es mir seelische Schmerzen, den fortlaufend schlechter werdenden Zustand meiner teuren Tastatur mitansehen zu müssen. Nach den letzten Buchstaben hatte jede Taste mindestens einen grossen Kratzer und mehrere Löcher. Ich sendete die Nachricht mit einem schlechten Gefühl ab, da ich gerade meine Tastatur zerstört und meinen Vorgesetzten angelogen hatte. Ich war schliesslich nicht krank, wie ich es geschrieben hatte.

Ein paar Minuten später setzte ich mich auf mein Sofa und versuchte, meine Gedanken zu sortieren.

Ich bin jetzt also ein Drache, mit der Aufgabe, den Ukraine-Konflikt zu beenden. Ausserdem muss ich arbeiten, aber ich weiss nicht, wie ich das anstellen soll. Morgen habe ich Homeoffice. Damit ist zumindest dieses Problem gelöst. Aber was mache ich, wenn ich wieder ins Büro gehen muss? Und wie schaffe ich es, einen Krieg zu beenden?

Meine Gedanken wechselten zu den Geschehnissen vor der Begegnung mit der künstlichen Intelligenz. Auf einmal fiel mir wieder ein, weshalb ich nach Kiew gefahren war.

Tom! Ich habe ihn völlig vergessen! Er ist ja immer noch im Krieg und seine Rüstung befindet sich unter einem Gullideckel. Ich muss sie ihm unbedingt so früh wie möglich bringen, bevor es zu spät ist. Deshalb hat es höchste Priorität, dass ich Fliegen lerne und nach Kiew gelange.

Mit meiner neu entdeckten Willenskraft sprang ich auf und wollte direkt loslegen, als mir erneut die graue Schachtel auf dem Tisch auffiel. Vorsichtig öffnete ich sie, um keine Kratzer zu hinterlassen. Darin befand sich eine Spritze und ein Brief, der mit einer sehr hohen Qualität gedruckt war. Auf dem Brief stand folgendes:

«Dies ist dasselbe, was ich dir verabreicht habe, um dich wiederzubeleben und dir Fähigkeiten zu verleihen. Setze es mit Bedacht ein, denn es reicht nur für einen Menschen! Ich melde mich wieder bei dir, wenn die Zeit reif ist.»

Ich war mir sicher, dass dieser Brief von der künstlichen Intelligenz stammen musste.

Damit lässt sich bestimmt ein Mensch in einen Drachen verwandeln, wie es bei mir geschah. Das ist revolutionär! Wenn ich diese Spritze verkaufe, könnte ich Milliarden verdienen. Oder soll ich es lieber für jemanden einsetzen, der mir mit meiner Mission helfen könnte?

Ich betrachtete die Spritze einige Sekunden gedankenverloren. Als mir einfiel, dass ich nicht unbegrenzt viel Zeit hatte, versorgte ich sie wieder in der Schachtel.

Bevor ich beginne, muss ich erstmal etwas essen, dachte ich hungrig. Ich ging in die Küche und war augenblicklich von herrlichen Düften umgeben. Aus dem Kühlschrank roch es nach frischem Fruchtsaft, Milchprodukten, Fleisch und Fisch. Der Vorratsschrank roch nach Snacks aller Art und aus dem Brotkorb strömte mir der unverkennbare Duft von frischem Brot entgegen.

Danke, geheimnisvolle künstliche Intelligenz!

Ich öffnete den Küchenschrank, um einen Teller herauszunehmen. Da ich bereits wusste, dass es schwer werden würde, ihn nicht zu zerbrechen, plante ich jede Bewegung bis ins Detail, bevor ich sie ausführte. Zuerst hob ich den obersten Teller mit einer Kralle wenige Zentimeter an. Danach hielt ich ihn mit einer weiteren Kralle von oben her fest und zog ihn ein Stück heraus. Anschliessend half ich mit meinen anderen Krallen nach. Um ihn nicht zu zerkratzen, musste ich sehr behutsam vorgehen. Trotz all dieser Schwierigkeiten gelang es mir, den Teller unbeschädigt auf der Küchenablage abzustellen.

Das Brot liess sich zum Glück sehr leicht aus dem Brotkorb holen, da es aussen knusprig und innen weich war und somit nicht aus meinen Klauen rutschte. Ich nahm das Brotmesser aus der Schublade und war überrascht, dass sich der Plastikgriff ebenfalls gut halten liess. Selbst als ich mit dem Schneiden begann, rutschte ich nicht ab, da sich die Krallen leicht in das weiche Material gruben.

Nachdem ich mir drei Scheiben abgeschnitten hatte, öffnete ich den Vorratsschrank, in dem sich mein Lieblingsbrotaufstrich befand. Den Aufstrich herauszunehmen war wesentlich leichter, als einen Teller zu tragen. Ich musste lediglich den Deckel von oben her mit meinen Krallen umfassen. Die Dose anschliessend zu öffnen, stellte eine wesentlich grössere Herausforderung dar, da ich ständig abrutschte. Schlussendlich gelang es mir, indem ich ein Küchentuch verwendete, sodass meine Krallen Halt finden konnten.

Das Brot mit dem Aufstrich zu bestreichen, war leider ebenfalls eine Herausforderung. Nachdem ich erfolgreich das Messer aus der Besteckschublade genommen hatte, fiel es zu Boden. Erst beim dritten Versuch gelang es mir, das Messer hochzuheben, da meine Krallen fast keinen Halt auf dem Metall fanden. Mithilfe des Küchentuchs gelang es mir, das Brot zu bestreichen, wobei ich mir bereits überlegte, ob es die Zeit überhaupt wert war. Nachdem ich die Brotscheiben endlich bestrichen hatte, setzte ich mich auf den Fussboden, da mir die Stühle nicht sonderlich bequem waren, und begann zu essen. Es war eine Wohltat, mit leerem Magen in das ofenfrische Brot zu beissen. Nach wenigen Sekunden hatte ich bereits ein Stück verspeist. Erst nachdem ich mit meinem gesamten Frühstück fertig war, bemerkte ich, wie schnell ich als Drache essen konnte. Aufgrund der schnellen Mahlzeit fühlte sich mein Hals trocken an, weswegen ich etwas trinken musste.

Erneut verwendete ich das Küchentuch zur Hilfe, als ich mir ein Glas aus dem Schrank nahm. Schliesslich wollte ich es weder fallenlassen noch zerkratzen. Ich füllte es mit Fruchtsaft und versuchte, zu trinken. Da ich keine Lippen mehr besass, verschüttete ich das meiste von meinem Getränk. Nach einigen Versuchen fand ich heraus, dass ich den Saft direkt aus der Packung in mein offenes Maul schütten musste, damit nichts daneben tropfte.

Als ich fertig getrunken hatte, war mein Hunger immer noch nicht gestillt. Allem Anschein nach musste ich als Drache mehr essen als zuvor. Da mir das erneute Schneiden und Bestreichen zu mühsam war, biss ich ein riesiges Stück Brot ab und schlang es herunter, als hätte ich wochenlang nichts gegessen.

Eigentlich stimmt es ja, dass ich wochenlang nichts gegessen habe. Die letzte Mahlzeit war das Frühstück in Kiew, was jetzt mindestens zehn Tage her ist.

Ich riss weitere Stücke heraus und nachdem ich mit dem gesamten Laib fertig war, fühlte ich mich endlich satt.

So muss sich ein Raubtier fühlen, wenn es seine Beute auffrisst. Daran könnte ich mich gewöhnen.

Mein Bauch war prall gefüllt und ich fühlte mich müde. Trotzdem musste ich mir noch die Zähne putzen und anschliessend meine Flügel trainieren. Im Badezimmer angelangt, betrachtete ich mich zum ersten Mal im Spiegel und war erstaunt, wie gefährlich ich nun aussah. Von den Proportionen her glich ich einer insgesamt zweieinhalb Meter langen Eidechse mit Flügeln, scharfen Zähnen und Klauen. Mein Rücken war bestückt mit Zacken, die sich bis zu meinem Schwanz fortsetzten und währenddessen in Stacheln übergingen. Die Schuppen glänzten in allen möglichen Rottönen und bildeten insgesamt einen guten Kontrast zu den helleren Innenseiten der Flügel und den dunklen Krallen. Meine Augen leuchteten in einem orangenen Farbton und erinnerten an die einer Katze. Nachdem ich mich eine Weile voller Bewunderung im Spiegel betrachtet hatte, fing ich an, mir die Zähne zu putzen. Es dauerte um ein Vielfaches länger als normal, da mir die elektrische Zahnbürste ständig aus den Krallen rutschte und meine Zähne nun wesentlich grösser waren als zuvor. Als ich endlich fertig war, kam mir etwas in den Sinn, was ich zuvor noch nicht bedacht hatte.

Kann ich eigentlich normal sprechen?

Ich sprach meinen Namen aus und musste feststellen, dass es problemlos funktionierte. Meine Stimme war tiefer als zuvor und gewisse Wortlaute klangen undeutlich, aber ansonsten blieb meine Aussprache identisch. Dies erleichterte mich, da ich mich nun ganz normal mit Menschen unterhalten konnte, wenn es nötig war.

7

Homeoffice

In völliger Konzentration sass ich auf dem Boden und versuchte, meine Flügel zu bewegen. Dabei nahm ich alle Geräusche um mich herum um ein Vielfaches lauter wahr als zuvor. Das Ticken meiner mechanischen Armbanduhr, die auf dem Tisch lag, war für mich so laut wie eine Pendeluhr. Die Autos draussen auf der Strasse klangen, als würden sie durch mein Wohnzimmer fahren. Ich spürte sogar die Vibrationen, die dadurch entstanden, wie ein leichtes Erdbeben.

Nach einigen Minuten schaffte ich es durch eine seltsame Bewegung meines Rückens, die Flügel anzuziehen.

Wenigstens etwas, dachte ich, während ich dasselbe erneut versuchte, ohne den Rücken zu bewegen.

Mit der Zeit konnte ich die Flügel kontrolliert anziehen und wieder zu entspannen. Ebenfalls entdeckte ich, wie ich sie strecken konnte. Daraufhin übte ich das Strecken und Anziehen meiner Flügel immer weiter, bis sich mein Hunger erneut meldete. Ich sah auf meine Uhr, welche mir halb fünf anzeigte.

Das kann doch gar nicht sein. Die Uhr muss falsch laufen.

Verwirrt überprüfte ich die Uhrzeit, indem ich mein Mobiltelefon mit der Zunge antippte. Daran würde ich mich noch gewöhnen müssen. Zu meiner Überraschung zeigte es ebenfalls halb fünf an, was bedeutete, dass ich während des gesamten Tages geübt hatte, ohne es zu bemerken. Und ich konnte die Flügel noch nicht einmal nach oben und unten bewegen, geschweige denn in eine bestimmte Richtung anwinkeln.

Ich bereitete mir mein Abendessen zu mit den Zutaten, die mir die künstliche Intelligenz zur Verfügung gestellt hatte. Ohne das frische Essen im Kühlschrank wäre ich aufgeschmissen gewesen. Während ich ein grosses Stück Fleisch in der Bratpfanne zubereitete, stellte ich fest, dass mir Hitze absolut nichts mehr ausmachte. Diese Tatsache überraschte mich, obwohl ich wusste, dass die Drachen in den Geschichten resistent gegen Feuer waren. Zuerst berührte ich das Fleisch in der Pfanne mit meinen Krallen. Später fasste ich die Pfanne mit meinem linken Vorderbein an und schlussendlich berührte ich sogar die heisse Herdplatte, ohne auch nur die geringsten Schmerzen zu verspüren. Die Hitze konnte ich deutlich wahrnehmen, jedoch fühlte sie sich nicht schmerzhaft an. Im Gegenteil: Je heisser es wurde, desto angenehmer war es für mich. In wenigen Sekunden breitete sich die Hitze von meinem Bein bis zu den Flügelspitzen aus, was meine Muskeln entspannte wie eine Massage. Für einen Augenblick stand ich regungslos da, während ich die Herdplatte berührte, um dieses angenehme Gefühl der Hitze länger wahrnehmen zu können. Erst als sich mein Hunger erneut meldete, erwachte ich aus meiner Starre und setzte das Kochen fort.