Plötzlich Drache 4 - Nicolas Bretscher - E-Book

Plötzlich Drache 4 E-Book

Nicolas Bretscher

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Beschreibung

Dies ist die direkte Fortsetzung von "Plötzlich Drache 3", kann jedoch auch als Einstieg in die Buchserie verwendet werden. Seit tausenden von Jahren lebten wir Drachen mehr oder weniger friedlich in der von uns benannten Drachenschlucht, dem einzigen Ort des Planeten, auf dem es noch Wasser gab. Umgeben von einer endlosen Wüste waren meine Tochter Stella und ich auf der Suche nach antiken Artefakten, die auf eine längst vergangene Zivilisation hinwiesen, als plötzlich Ausserirdische die Erde besuchten und einige Drachen einschliesslich meines Sohnes Mario auf ihren Heimatplaneten entführten. Während einer halsbrecherischen Rettungsaktion offenbarten sich auffällige Gemeinsamkeiten zwischen uns, den Entführern und einigen antiken Artefakten, wodurch sich mein Verhältnis gegenüber der ausserirdischen Zivilisation allmählich veränderte.

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Die Buchreihe

Plötzlich Drache ISBN 978-3-7526-0349-1

Plötzlich Drache 2 – Künstliche Intelligenz ISBN 978-3-7597-6906-0

Plötzlich Drache 3 – Unerwartete Wendung ISBN 978-3-7597-6907-7

Plötzlich Drache 4 – Kollision der Welten ISBN 978-3-7597-6786-8

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1: Drachenschlucht

Kapitel 2: Expedition

Kapitel 3: Vorfall

Kapitel 4: Rettungsmission

Kapitel 5: Raumschiff

Kapitel 6: Vorez

Kapitel 7: Ausbruch

Kapitel 8: Habitatwechsel

Kapitel 9: Kommunikation

Kapitel 10: Gebunden

Kapitel 11: Heimweh

Kapitel 12: Pressekonferenz

Kapitel 13: Speer

Kapitel 14: Angeklagt

Kapitel 15: Wiedersehen

Kapitel 16: Sündenbock

Kapitel 17: Genesung

Kapitel 18: Unterkunft

Kapitel 19: Kater

Kapitel 20: Raubüberfall

Kapitel 21: Mike

Kapitel 22: Regierungsratsversammlung

Kapitel 23: Gelähmt

Kapitel 24: Raumschiffe

Kapitel 25: Gebirge

Kapitel 26: Zusammenkunft

1

Drachenschlucht

Warme Sonnenstrahlen begleitet vom leisen Rieseln einiger Sandkörner weckten mich aus einem langen und erholsamen Schlaf. Entspannt sog ich die trockene, staubige Luft ein und stiess sie in einem tiefen Seufzer wieder aus, bevor ich meine Augen öffnete. Nachdenklich blickte ich im Raum umher, der vor Ewigkeiten in die Felswand gehauen worden war. Er war ungefähr sechs Meter lang und vier Meter breit. Die einzige Öffnung bildete der knapp einen Meter breite Ausgang, in den ich bereits seit Jahren eine Holztür hatte einbauen wollen. Aufgrund der fehlenden Tür war der Fussboden wie jeden Morgen mit einer dünnen Staubschicht bedeckt.

Es dauerte eine Weile, bis ich mich dazu überwinden konnte, mein morgendliches Ritual durchzuführen. Darauf bedacht, meine immerwährenden Rückenschmerzen nicht zu verschlimmern, streckte ich mich vorsichtig, bis sich meine Beinmuskulatur nicht mehr steif anfühlte. Anschliessend richtete ich mich auf, zog meinen linken Flügel in drei ruckartigen Bewegungen an, um meine chronischen Gelenkschmerzen zu vermeiden, und stand auf. Glücklicherweise litt ich abgesehen von meinem Rücken, meinem linken Flügel und meinem Kopf unter keinerlei Altersbeschwerden.

Wie lange ich diese Schmerzen bereits hatte und was die eigentliche Ursache war, wusste ich nicht, da dies weiter zurücklag als meine ältesten Aufzeichnungen, die ich vor schätzungsweise dreitausend Jahren in Granit gemeisselt hatte. Zudem vergass man alles, was über dreihundert Jahre in der Vergangenheit lag. Die telepathische Forschung mit meiner Tochter Stella hatte ergeben, dass dies an der maximalen Kapazität des Gehirns lag. Sobald derSpeicherplatz voll war, wurden die ältesten Erinnerungen mit den neusten überschrieben.

Seufzend darüber, wie viel wir Drachen vermutlich bereits vergessen hatten, wirbelte ich den Staub mit meinem gesunden, rechten Flügel auf und leitete ihn mithilfe einer präzisen Bewegung meines Schwanzes gezielt durch die Türöffnung nach draussen, wie Florian es mir beigebracht hatte. Er war für die Säuberung der Drachenschlucht zuständig, da sie täglich von einer dicken Staubschicht bedeckt wurde. Ohne seine unermüdliche Unterstützung im Kampf gegen den Schmutz wären wir allesamt tagtäglich damit beschäftigt, unsere Wege, Strassen, Plätze, Tiergehege und Plantagen zu säubern.

Wie es der Zufall so wollte, erspähte ich Florian in diesem Augenblick auf der durch die pralle Sonne erhitzten Strasse. In wunderschönen, fliessenden Bewegungen zog er eine riesige Wand aus Sand und Staub mit sich, die er zu einem Haufen aufschichtete, um diesen anschliessend abtransportieren zu können. Seine hellbeige Schuppenfarbe liess ihn mit dem gleichfarbigen Staub verschmelzen, wodurch es selbst für meine scharfen Augen schwer war, seine Umrisse auszumachen. Meinen Aufzeichnungen nach hatte er diese Farbe bereits seit seiner Geburt vor über eintausend Jahren, jedoch ging das hartnäckige Gerücht um, dass sich seine Schuppen aufgrund seiner beruflichen Tätigkeit verfärbt hätten.

Henrik, der immerzu griesgrämige, dunkelgraue Drache sonnte sich entspannt auf dem grossen Platz, der soeben durch Florian gesäubert wurde. Verachtend starrte er seinen beigen Kollegen an und entblösste geringfügig die Zähne, als dieser den Versuch startete, den Staub im Umkreis von zehn Meter um Henrik herum wegzuwischen. Florian ignorierte sein Verhalten verschmitzt schmunzelnd und setzte seine Arbeit fort.

«Verpiss dich, Flo!», dachte Henrik bedrohlich knurrend.

«Wie du meinst. Somit ist es nicht mein Problem, dass du im Dreck liegst.», entgegnete Florian in seinem unerschütterlichen Humor, schlug einmal gekonnt mit seinen Flügeln und wirbelte eine mehrere Kubikmeter grosse Staubwolke perfekt in Richtung des grossen Haufens.

Anschliessend schwang er sich dem Himmel empor und steuerte sein Zuhause an, in dem er stets die Lederhäute aufbewahrte, mit denen er den Staub und Sand abtransportieren konnte.

Was für eine Nachbarschaft ich doch habe, dachte ich amüsiert über die immerwährenden Konflikte, die sich seit Jahrhunderten oder gar Jahrtausenden wiederholten.

Noch immer leicht schläfrig tapste ich auf mein Granitwaschbecken zu und öffnete den Drehverschluss am Wasserhahn, der ebenfalls aus purem Granit bestand. Da dies eines der wenigen Materialien war, die nicht durch Drachenklauen zerkratzt werden konnten, hatte mir dieses Waschbecken bereits seit über zweihundert Jahren treue Dienste geleistet.

Durstig öffnete ich mein ausgetrocknetes Maul und trank, so viel ich auf die Schnelle konnte. Wieder einmal bedankte ich mich innerlich bei unserem vollautomatischen Wasseraufbereitungssystem, wofür mein Sohn Mario, mein Bruder Tom und ich zuständig waren.

Bevor ich mit meinem Tag beginnen konnte, setzte ich mich vor ein in den Stein gemeisseltes Regal und blickte nachdenklich auf einen kleinen, goldenen Ring, auf dessen Innenseite «Vanessa» eingraviert war. Die Präzision, mit der dieser Gegenstand hergestellt worden war, übertraf alles, was wir heutzutage herstellen konnten. Selbst die nur zwei Millimeter hohe Schrift war in absoluter Perfektion geschrieben worden. Jede einzelne dieser geschwungenen Linien war ein Kunstwerk für sich. Lange verweilte ich mit meinem Blick auf diesem Objekt, bevor ich warme Luft aus meinen Nüstern ausstiess, um es von der hauchdünnen Staubschicht zu befreien, die sich während der Nacht darauf gebildet hatte.

Dieser Ring war eines der antiken Relikte aus einer längst vergangenen Zeit. Immer wenn ich ihn betrachtete, sehnte ich mich danach, wenigstens eine Erinnerung oder zumindest ein Gefühl hervorrufen zu können, jedoch war da nichts als Leere. Selbst in meinen Aufzeichnungen liess sich nichts über Vanessa finden. Ich vermutete, dass sie meine Frau gewesen war, jedoch wusste ich dies nicht mit Sicherheit.

Der kürzlich aufgewirbelte Staub kitzelte mich in meiner Nase. Ich wandte meinen Kopf vom Ring ab und musste kurz darauf niesen, bevor mein Blick wieder auf dem Artefakt verweilte. Vor meinem inneren Auge hatte ich mittlerweile ein Bild von meiner verlorengegangenen Frau konstruiert. Sie hatte himmelblaue Schuppen, eine anmutige Statur, zierliche Flügel, eine schmale Schnauze und kurze Hörner. Ihre Augen waren tiefblau und schlugen bei jeder ihrer Bewegungen Wellen wie die meiner Tochter. Ihr Duft war ein Gemisch aus denen meiner zwei Kinder, die ich über alles liebte. Ob dieses Abbild meiner Frau der Wahrheit entsprach, wusste ich nicht, jedoch fühlte es sich richtig an. Wie beinahe jeden Tag sehnte ich mir ihre Nähe herbei, obwohl ich nicht einmal wusste, ob sie existierte. Einzig die verschwindend kleine Hoffnung, sie eines Tages zu finden, hielt dieses gedankliche Konstrukt aufrecht.

Seufzend wandte ich mich von meinem Goldring ab, trat auf meinen ebenfalls antiken Speer zu und umschloss ihn mit der Schwanzspitze, wie ich es immer tat, um ihn zu transportieren. Seit meinen frühesten Aufzeichnungen hatte ich diese Waffe bereits mit mir herumgetragen und als Allzweckwerkzeug eingesetzt. Mit seiner unzerstörbaren Spitze liessen sich selbst Diamanten gravieren und er nutzte sich niemals ab. Einzig eine winzige Kerbe in der Mitte des Stabes wies darauf hin, dass er einmal zerbrochen gewesen war. Wie dies hatte geschehen können und auf welche Weise der Speer repariert worden war, wusste niemand. Diese Ungewissheit war mir jedoch gleichgültig. Der Speer war seit Äonen ein essenzieller Bestandteil von mir. Insbesondere da ich ihn wie eine extrem scharfe Verlängerung meines Schwanzes trug. Ohne ihn war ich lediglich zwei Meter vierzig lang, was weit unter dem Durchschnitt lag. Seltsamerweise waren all meine nahen Verwandten unterdurchschnittlich gross. Die meisten Drachen, die heutzutage geboren wurden, erreichten innerhalb von zwanzig Jahren eine Grösse von ungefähr dreieinhalb Metern und ein Gewicht von 230 Kilogramm. Anschliessend war man erwachsen und behielt seine Statur bei, es sei denn, man vernachlässigte körperliche Aktivitäten. In gewissen Familien waren selbst fünf Meter keine Seltenheit. Igor, der Grösste von uns allen, war von Kopf bis Schwanzspitze siebeneinhalb Meter lang und wog schätzungsweise über zweieinhalb Tonnen. Sein Gewicht hatte er seiner Muskulatur zu verdanken, weswegen er ein hervorragender Bauarbeiter hätte sein können, wäre da nicht seine selbstsüchtige, rücksichtslose und aggressive Persönlichkeit. Da er vor 214 Jahren drei Bauern getötet hatte, die sich darüber beschwert hatten, dass er ausnahmslos alle ihre Herdentiere gefressen hatte ohne eine Gegenleistung zu erbringen, war er zu eintausend Jahren Exil verurteilt worden. Seit jeher hatte ich ihn nicht mehr gesehen, worüber ich ehrlich gesagt ausserordentlich froh war.

Gedankenverloren wie immer nahm ich den Henkel des zwanzig Liter grossen, staubtrockenen Wassereimers aus mit Leder abgedichtetem, uraltem Holz zwischen die Zähne, trat hinaus auf die sonnendurchflutete Strasse, breitete die Flügel aus und beschleunigte im Trab, bis ich schliesslich bei ungefähr vierzig Kilometern pro Stunde abheben konnte. Hierbei weder die Schmerzen meines Flügelgelenks noch die meines Rückens auszulösen, war eine Kunst für sich. Ich konnte nicht einmal einen korrekten Flügelschlag ausführen, ohne augenblicklich unter unvorstellbaren Schmerzen abzustürzen. In kurzen, wellenartigen Bewegungen liess ich meine Flügelhaut flattern, wobei ich kontinuierlich beschleunigte. Währenddessen blickte ich in der Drachenschlucht umher, die laut meinen Aufzeichnungen einmal Marianengraben geheissen hatte.

Die riesige, insgesamt dreissig Kilometer breite und schätzungsweise über eintausend Kilometer lange Schlucht war unseres Wissens nach noch der einzige Ort der Erde, der Wasser beherbergte. Der stark salzhaltige See im untersten Teil der Drachenschlucht mit einer Tiefe von knapp einhundert Metern war alles, was uns vor dem Verdursten bewahrte. Sobald die Sonne kurz vor Mittag ihr Licht darauf warf, verdampfte ein Teil dieses Wassers und kondensierte an der immerzu kalten Steinwand auf der südöstlichen Seite der Schlucht. Komplizierte Luftströmungen angetrieben von vulkanischen Aktivitäten liess kontinuierlich kalte Luft aus dem Erdreich zu Tage treten. Die hierfür benötigten Höhlensysteme waren zumindest stückweise künstlich erweitert worden. Wer diese Erweiterungen konstruiert hatte, sodass wir täglich frisches Kondenswasser trinken konnten, was sich unterhalb der kalten Wand in einem Becken sammelte, wussten wir nicht. Nichtsdestotrotz bewirtschafteten wir diese kilometerlangen Tunnel. Eine andere Wahl blieb uns schliesslich nicht. Alle paar Jahre geschah es, dass die Erde bebte, wodurch die Funktionsweise dieses Höhlensystems beeinträchtigt werden konnte. Meine Aufgabe war es, sicherzustellen, dass die Luft ungehindert fliessen konnte.

Bevor ich jedoch mit meiner heutigen Inspektion des Tunnelsystems beginnen konnte, musste ich noch einen Eimer voll Wasser hoch zu den Feldern tragen, die sich aus Platzgründen dreihundert Höhenmeter über dem Auffangbecken des Kondenswassers befanden. Gemächlich kreiste ich langsam an Höhe gewinnend umher, da ich keine korrekten Flügelschläge ausführen konnte. Es dauerte stets einige Minuten, das Auffangbecken zu erreichen. Ich nutzte diese Zeit jeweils, um meine Nachbarn zu begrüssen.

Guten Morgen Florian, guten Morgen Henrik.

«Schönen guten Morgen Nils», antwortete Florian, der lächelnd in meine Richtung blickte, während ich über ihn hinwegflog.

Henrik hatte mich ebenfalls am Himmel erspäht, gab jedoch ein griesgrämiges Brummen von sich und wandte seinen Blick von mir ab. Ohne auf sein Verhalten zu achten, begrüsste ich weitere meiner Nachbarn, deren Häuser beziehungsweise Höhlen sich in unmittelbarer Nähe zu meinem Wohnkomplex befanden. Ein Blick zum quadratischen, säuberlich verglasten Fenster über meinem Schlafzimmer verriet mir, dass mein Sohn Mario bereits aufgestanden war.

Gemütlich drehte ich grössere Kreise, da die Drachenschlucht schnell an Breite gewann, sobald man aufstieg. Ich liess das direkte Sonnenlicht am stets wolkenlosen Himmel auf mein Gesicht scheinen und schloss genüsslich seufzend die Augen. Obwohl ich wenige Minuten zuvor getrunken hatte, fühlte sich mein Hals bereits wieder trocken an, was der extrem geringen Luftfeuchtigkeit geschuldet war. Die Fähigkeit, das immerwährende Durstgefühl zu unterdrücken, musste jeder Drache bereits seit seiner Geburt lernen.

Kurze Zeit später erreichte ich das Auffangbecken. Dank des beinahe perfekt kristallklaren Wassers konnte man den Abfluss sehen, der sich in zwanzig Metern Tiefe des fünfzig Meter langen und breiten Beckens befand und alle Wohnhäuser mit Leitungswasser versorgte. Dass wir täglich geringe Mengen an Staub und Sand mit unserem Wasser tranken, war uns gleichgültig, denn es war allemal besser als aus dem lauwarmen, versalzenen und schmutzigen See zu trinken, in dem selbst die Fische kaum noch überleben konnten. Inzwischen waren alle Arten bis auf den Kabeljau ausgestorben. Sämtliche Lachse hatten während der letzten Dürreperiode von vor 138 Jahren ihr Ende gefunden, als es neun Jahre keinen einzigen Tropfen geregnet hatte, weswegen der Wasserpegel stark gesunken war und die Verschmutzung wie auch die Temperatur gleichermassen zugenommen hatten.

Sachte liess ich mich treiben, bis sich sowohl meine Höhe als auch meine Geschwindigkeit genügend reduziert hatten, um mit den Beinen aufzusetzen zu können. Mit hoch erhobenem Kopf bremste ich rechts neben dem Auffangbecken ab, sodass der Eimer nicht den Granitboden streifte. Sobald ich zum Stillstand gekommen war, bewunderte ich die wunderschönen Reflexionen des Sonnenlichts auf der Wasseroberfläche, die die kalte Wand mit ihren unzähligen Tropfen des Kondenswassers glitzern liess, die allesamt leise plätschernd im Auffangbecken landeten. Die kühle Luft, die von der noch nicht durch direktes Sonnenlicht beschienenen Wand ausging und über das gesamte Auffangbecken kroch, liess mich frösteln. Innerlich gab ich mir einen Ruck und löste mich von der Schönheit dieses Anblicks. Vorsichtig stieg ich die glatte, stets glitschige Treppe hinab, bis ich das Wasser erreichte und den Eimer zu zwei Dritteln füllte. Anschliessend kletterte ich wieder hoch auf den Rand des Beckens.

Erneut beschleunigte ich mit grösster Vorsicht, während ich die Flügel ausbreitete, da ich nebst den Schmerzen auch noch darauf achten musste, das Wasser nicht zu verschütten. Dank meiner bereits hunderttausendfach geübten Bewegungsabläufe meisterte ich diese Herausforderung perfekt. Nicht einmal mein Speer, um den ich meinen Schwanz geschlängelt hatte, streifte den Boden.

Sobald ich mich am Rand der Klippe abgestossen hatte und den kalten Rückenwind verliess, setzte ich meine weiten Kreise mithilfe der warmen, über der Drachenschlucht aufsteigenden Luft fort. Mit geschlossenen Augen ignorierte ich das Ungleichgewicht, was aufgrund des Wassereimers entstanden war, und konzentrierte mich auf die sanften Luftströmungen, die meine Flügelmembran streichelten.

Knapp zehn Minuten später erreichte ich unsere grossen Weizen- und Maisfelder. Ich landete neben dem Einlass der Bewässerungskanäle, platzierte den Eimer auf der dafür vorgesehenen Steinschale und packte die rechte Seitenwand meines Gefässes mit dem Maul, um den Inhalt kontrolliert durch eine Schräglage meines Kopfes ausgiessen zu können. Hierbei verlagerte ich etwas zu viel Gewicht auf mein linkes Vorderbein, wodurch es vorübergehend zwickte. Da dies mittlerweile regelmässig geschah, ignorierte ich dieses unangenehme Gefühl. Bei meinen anderen Beinen litt ich unter keinerlei vergleichbaren Beschwerden, weswegen ich dieses Symptom meinem Alter zuschrieb.

Nachdem ich sämtliches Wasser in den Anfang des Bewässerungssystems geleert hatte, verteilte es sich in den bereits nassen Kanälen und tränkte beinahe alle Pflanzen gleichermassen mit wenigen Tropfen. Da alle gesunden Drachen täglich mindestens einen Eimer voll Wasser in das System einspeisen mussten und einige es sich sogar zur Lebensaufgabe gemacht hatten, die Felder zu bewässern, konnte der Anbau von Pflanzen selbst in solch einer trockenen Einöde funktionieren. Nicht einmal der kontinuierlich herbeigewehte Staub konnte sich dank der regelmässigen Bewässerung festsetzen.

Gerade als ich losfliegen wollte, um den Eimer zurück nach Hause zu bringen und Stella zu besuchen, setzten Cuno, unser Schmied und Editha, eine Steinhauerin zur Landung an. In ihren Mäulern transportierten sie ebenfalls volle Wassereimer.

Cunos vier Meter langer Körper war vollständig von silbern glänzenden Schuppen bedeckt, die mich im prallen Sonnenlicht blendeten. Mit zusammengekniffenen Augen blickte ich ihm entgegen, während er neben mir landete. Anstatt mich zu begrüssen, diskutierte er mit der gelben Editha, die stets etwas zu nörgeln hatte.

«Wehe, du drehst mir wieder eine deiner billigen Spitzhacken an. Ich habe genug von deinen Betrügereien! Du hast mir drei Monate Garantie auf mein neustes Werkzeug gegeben und bereits nach zwei Wochen ist es stumpf.», meckerte sie telepathisch.

«Ich kann doch nichts dafür, wenn du andauernd Granit mit Eisenwerkzeugen bearbeitest. Dass ich dir deine Spitzhacke nicht kostenlos ersetze, liegt einzig und allein an der durch falschen Gebrauch verfallenen Garantie.», antwortete Cuno sichtlich genervt.

«Das ist doch wohl die Höhe! Drei Monate Garantie bedeutet, dass du mir kaputtes Werkzeug ersetzen musst, bevor diese Frist abgelaufen ist.»

«Aber nur, wenn du dich an die im Kaufvertrag erwähnten Vorschriften hältst.»

«Du immer mit deinen Kaufverträgen. Weshalb machst du das überhaupt bei mir? Stella konnte gestern auch eine Schere kaufen, ohne einen Vertrag abzuschliessen.»

«Weil sie im Gegensatz zu dir ihre Werkzeuge normal verwendet.»

«Ach, tatsächlich?», entgegnete Editha schnaubend, stellte ihren Eimer ab und entblösste wütend die Zähne.

Cuno, der einen halben Meter länger war als sie, reckte seinen Kopf hoch und blieb selbstbewusst stehen, während er seinem Gegenüber in die Augen starrte.

«Du erwartest immer die beste Qualität und den besten Service, ohne eine besondere Gegenleistung zu erbringen. Keinen Vertrag mit dir abzuschliessen, würde unsere bereits viel zu langen Debatten noch deutlich in die Länge ziehen.»

Ich konnte nicht anders, als die Steinhauerin abschätzig anzustarren. Ihr Verhalten ging mir bereits seit Jahrhunderten auf die Nerven. Ausserdem verabscheute ich ihre meines Erachtens viel zu kurze Schnauze und ihre stumpfen Hörner, die sie beinahe dümmlich erscheinen liessen. Bedauerlicherweise hatte sie meine Gedanken empfangen und wandte ihre Aufmerksamkeit nun mir zu.

«Mit dir habe ich auch noch ein Hühnchen zu rupfen, Nils. Mein Abfluss ist wieder einmal verstopft.», meckerte sie.

Das kommt davon, wenn du dein Waschbecken nie abstaubst.

«Nein, das stimmt nicht. Es liegt daran, dass du direkt unter der Wasserversorgung lebst und viel saubereres Wasser aus deiner Leitung kommt, weswegen bei dir nie etwas verstopft. Ausserdem beanspruchst du seit Jahrtausenden über vierhundert Quadratmeter Wohnfläche und ich muss mich mit meinem lächerlichen Vierzimmerhaus abgeben, da auf allen Seiten andere Drachen leben und ich keine weiteren Zimmer hinzufügen kann, ohne zu ihnen durchzubrechen.»

Diese vierhundert Quadratmeter Wohnfläche, von denen du sprichst, schliessen meine Lagerräume mit den antiken Relikten, Stellas Forschungslabor und unsere Salzkristallhöhle ein. Das kann man wohl kaum als Wohnfläche bezeichnen.

«Trotzdem könntest du diese Bereiche mit uns teilen.»

Das ist alles seit jeher in Familienbesitz.

Während wir diskutierten, goss Cuno sein Wasser in das Bewässerungssystem und beobachtete uns gespannt.

«Hör mir auf mit deinem Familienbesitz. Die Wohnsituation hat sich in den letzten Jahrtausenden verändert, seitdem du hier eingezogen bist.»

Trotzdem werde ich dir garantiert nichts von meiner Wohnfläche überlassen.

Mit zornig funkelnden Augen starrte Editha mich an. Ihr kurzer Blick auf Cuno verriet, dass sie lediglich dank seiner Anwesenheit nicht die Beherrschung verlor. In diesem Moment konnte ich nicht anders, als in ihr dümmliches Gesicht zu blicken.

«Ich finde deine krummen Hörner und die eigenartigen Zacken auf den Flügelspitzen übrigens auch nicht gerade ansprechend. Trotzdem beschwere ich mich nicht gedanklich darüber.»

Man merkt's.

Wütend schnaubend warf sie ihren vollen Eimer in den Einlass des Bewässerungssystems, sodass die Hälfte des kostbaren Wassers verschüttet wurde. Noch bevor er vollständig leer war, nahm sie den Eimer wieder mit und flog in energischen Flügelschlägen in Richtung Tal, wobei sie einiges an Staub aufwirbelte. Ich blinzelte mir mehrere Staubkörner aus den Augen und rieb anschliessend mit den Vorderbeinen daran, um die Fremdkörper vollständig zu entfernen. Cuno blickte Editha kopfschüttelnd hinterher. Sobald sie hinter einer Kuppe verschwand und somit ausserhalb der telepathischen Reichweite war, wandte er sich mir zu.

«Es ist unglaublich, wie sie es schafft, jedem einzelnen von uns auf die Nerven zu gehen.»

Ja. Man könnte meinen, sie wäre frisch geschlüpft, so wie sie sich andauernd aufführt, erwiderte ich schmunzelnd.

Einige Sekunden sah ich Cuno in seine hellgrauen Augen mit den aufgrund des Sonnenlichts schmalen, schlitzförmigen Pupillen, bis mich eine Reflexion seiner Schuppen blendete.

«Wärst du an einer frischen Eisenspitzhacke interessiert? Wenn Editha ihr stumpfes Werkzeug zurückgibt und ich es erneut schärfe, habe ich eine zu viel.»

Leider nein. Mein Allzweckwerkzeug leistet mir immer noch gute Dienste, dachte ich mit dem Blick nach hinten auf meinen Speer gewandt.

«Du hast echt Glück, dieses Ding zu besitzen. Ich wünschte, ich hätte ein unzerstörbares Werkzeug. Demnach werde ich jemand anderes fragen müssen. Ich wünsche dir noch einen schönen Tag, Nils.»

Danke, gleichfalls.

Obwohl wir gemeinsam mit unseren leeren Eimern starteten, verschwand Cuno innerhalb kürzester Zeit aus meinem Sichtfeld, da er seine Flügel im Gegensatz zu mir uneingeschränkt verwenden konnte. Ich flog einen kleinen Umweg nach Hause, um in der Luft über einem Felsvorsprung, der uns als Kompost diente, meine Blase entleeren zu können, wobei ich meinen Atem anhielt. Wir warfen all unsere Bioabfälle auf diesen mittlerweile fünfzehn Meter hohen Haufen. Alle paar Jahre wechselten wir den Standort, sodass mit der Zeit Erde entstehen konnte. Die äusserste Schicht, welche jeweils schnell austrocknete, half bei der Konservierung der Flüssigkeit.

Kurze Zeit später stellte ich den Eimer in meinem Schlafzimmer ab, sodass ich ihn morgen erneut auf dieselbe Weise verwenden konnte. Nun kletterte ich die steile Treppe hinauf und ging einem schmalen Weg entlang, der zu einem Höhleneingang führte, da ich die unverkennbare Duftspur meiner Tochter Stella hier wahrnehmen konnte. Obwohl lediglich indirektes Sonnenlicht das Innere der Höhle erreichte, glitzerten die gigantischen, teilweise fünf Meter grossen Salzkristalle hell. Stellas Gedanken erreichten mich aus dem Nebenraum zu meiner Linken, der vor tausenden von Jahren in den Stein gehauen worden war. Augenblicklich bildete sich ein Lächeln auf meinem Gesicht und ich trat durch den schmalen Gang in das Forschungslabor hinein, in dem Stella die meiste Zeit des Tages verbrachte.

An den Wänden lehnten säuberlich zu vollständigen Skeletten zusammengesetzte Knochen von ausgestorbenen Lebewesen, unzählige Überbleibsel einer hochentwickelten Zivilisation lagen quer auf dem Granitboden verstreut, alles war in düsteres Licht gehüllt und die Luft war stickig, roch meines Erachtens jedoch nicht unangenehm, da ich den Duft meiner Tochter beinahe ebenso sehr liebte wie sie selbst. Je länger man diesen Raum betrachtete, desto mehr wurde einen bewusst, dass sich alles trotz der chaotischen Erscheinung in perfekter Ordnung befand. Die Artefakte waren allesamt nach Alter und Funktion sortiert, die Skelette nach Position in der Nahrungskette aufgereiht und Stellas in Stein gemeisselte Aufzeichnungen stets neben den jeweiligen Objekten platziert.

Meine Tochter kratzte aufgeregt mit ihren Klauen auf einer Schieferplatte herum, bis ihre Schnauzspitze zuckte, sie zu schnuppern begann und mich schliesslich bemerkte. Sofort blickte sie mich mit ihren wunderschönen, tiefblauen Augen an, die im düsteren Licht der Höhle glitzernden Diamanten ähnelten.

Hast du etwas Neues herausgefunden? Fragte ich sie interessiert.

«Ja, ich zeige es dir gleich.»

Um eine telepathische Synchronisierung einzuleiten, konzentrierte ich mich auf all ihre Empfindungen zugleich. Die Fähigkeit, sich auf diese Weise mit dem Bewusstsein eines anderen Drachen zu verbinden, war nicht weit verbreitet und funktionierte ausserdem nur, wenn sich beide Partien sehr ähnlich waren. Je mehr sich Charakter und Denkweise unterschieden, desto schwerer war es, die fünf Sinne des anderen zu empfangen und die Verbindung einzuleiten. Nur die Wenigsten hatten die Begabung, sogenannte inkompatible Verbindungen einzugehen, wobei sie sich voll und ganz der Denkweise des Gegenübers hingeben mussten, ohne sie zuvor wahrnehmen zu können, was ausserordentlich viel Disziplin benötigte.

Da Stella ihre Aufzeichnungen niedergeschrieben hatte, trat sie nun auf mich zu. Währenddessen schleifte sie ihren linken Flügel und ihr linkes Hinterbein schlaff hinterher. Ihren Empfindungen nach waren diese Gliedmassen vollkommen taub und liessen sich kein bisschen bewegen. Ausserdem sendete ihre Wirbelsäule durchgehend ein unangenehmes Kribbeln aus, was mich während jeder telepathischen Synchronisierung mit ihr verstörte. Was diese Lähmung verursacht hatte und weshalb sie sich nicht besserte, wusste keiner von uns beiden. Da die meisten alten Drachen über derartige Beschwerden klagten, vermuteten wir das Alter als Ursache.

Sobald Stella sich vor mich gesetzt und liebevoll meine Schnauze mit ihrer angestupst hatte, erschien ihr Bewusstsein neben meinem. Dank unserer Ähnlichkeiten dauerte es nur wenige Sekunden, um uns telepathisch miteinander zu verbinden, sodass wir uneingeschränkt Wissen austauschen konnten.

Heute hatte Stella herausgefunden, dass eine kleine, mysteriöse Box aus Metall und Glas in Wahrheit ein hochkomplexes Konstrukt aus mikroskopisch kleinen Bauteilen war, was vermutlich zur Kommunikation oder Unterhaltung genutzt worden war. Sie übermittelte mir Einzelheiten der Bauweise, die sie unter einer Lupe analysiert hatte. Dank ihrer hervorragenden Augen war sie in der Lage, Dinge zu erkennen, die nahezu kein anderer von uns sehen konnte.

Was auch immer diese Vorez gewesen sind, sie schienen gewusst zu haben, was sie taten, dachte ich.

Vorez war die Kurzform von «Vorbesetzer». Wir bezeichneten die höchstwahrscheinlich auf zwei Beinen gehenden Wesen, die vor uns die Erde bevölkert hatten und deren Hinterlassenschaften noch immer auffindbar waren, auf diese Weise. Überall auf dem Planeten hatten wir deren Knochen gefunden, meist inmitten von längst zusammengebrochenen Ruinen.

Als Stella bemerkte, dass ich gedanklich abgeschweift war, stellte sie sich die Vorez in ihrem natürlichen Lebensraum vor, wodurch ich es aufgrund unserer telepathischen Verbindung klar vor meinem inneren Auge erkennen konnte, als wären es meine eigenen Gedanken. Vorez waren eigenartige, schlanke Wesen, die mit ihren knapp einen Meter und achtzig Zentimetern Höhe grösser wirkten als einige Drachen, obwohl ihre Körpermasse ungefähr derselben entsprechen musste wie der von Stella und mir. Ihre Schädel waren beinahe rund und sie verfügten über keine Schnauze. Stattdessen war ihr Gesicht flach. Wie genau die Beschaffenheit ihrer Haut war, wussten wir nicht. Stella stellte sie sich bleich, ledrig und mit nur wenigen Haaren vor wie die eines Schweins. Schuppen hatten wir bisher noch keine von ihnen finden können.

Auf einmal verspürte ich Stellas Bedürfnis, zu fliegen. Ich rief meine Erinnerungen an den heutigen Flug auf, wobei sie sich augenblicklich darauf stürzte und all meine Gefühle in vollen Zügen genoss. Aufgrund ihres gelähmten Flügels nicht mehr eigenständig fliegen zu können, war sehr schlimm für sie. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als irgendwann wieder gesund sein zu können.

Lange schwelgte sie in meinen Gedanken, bis ich sie sanft daran erinnerte, dass wir beide noch einiges zu erledigen hatten. Traurig liess sie von meinem Flug ab und bat mich wortlos darum, baldmöglichst wieder nach antiken Relikten zu suchen, sodass sie ihre Forschungen fortsetzen konnte. Wir trennten unsere Bewusstseine voneinander, was wie jedes Mal ein bedrückendes Gefühl der Leere in uns beiden auslöste. Liebevoll drückte ich die Seite meines Kopfes an ihren und schloss die Augen.

Ich liebe dich, mein Schatz, sprach ich gedanklich zu ihr.

«Ich dich auch, Papa.»

Viel Glück bei deinen Forschungen.

Nun begab ich mich wieder auf den Weg nach draussen, wobei mir eine dünne, gelbe Platte mit einem einfach gezeichneten Vorez-Schädel oberhalb von zwei Knochen auffiel. Ich hatte Stella dieses Relikt vor drei Monaten gebracht und mittlerweile befand sich eine in Stein gemeisselte Erklärung daneben.

«Dünne Metallplatte, gefärbt. Vermutlich als Warnschild der Vorez eingesetzt.», stand auf der dazugehörigen Schieferplatte.

Ein leises Kratzen hinter mir verriet, dass Stella abermals damit begonnen hatte, ihre Entdeckungen zu verewigen. Ich warf ihr einen besorgten Blick zu.

Du solltest wieder einmal nach draussen gehen, dachte ich.

«Ja, Papa.»

Ich meine das ernst. Du bist viel zu häufig allein in deinem Labor. Ein wenig frische Luft könnte dir guttun. Wie geht es eigentlich deinem Ei?

«Keine Ahnung.»

Wann hast du das letzte Mal danach gesehen?

«Vor drei Wochen. Es schlüpft aber auch erst in einem Monat.»

Trotzdem benötigt es die Nähe seiner Mutter. Du weisst doch, dass sich die fehlende telepathische Anwesenheit der Eltern negativ auf die Entwicklung auswirkt. Wo ist Manuel momentan?

«Weiss ich nicht. … winzige Leitungen aus Gold …», setzte Stella ihre Aufzeichnungen gedanklich fort, bevor sie die Worte in den Schiefer ritzte.

Seufzend wandte ich mich von ihr ab, wohl wissend, dass sich gerade eine weitere Aufgabe an meine heutigen Tätigkeiten gereiht hatte.

Mein Magen knurrte bereits, als ich den Eingang des komplexen Luftumwälzungssystems betrat, welches die Steinwand oberhalb des Frischwasserbeckens kühlte. Da es bereits Mittag war und ich noch immer nicht meine Inspektion durchgeführt hatte, war ich ein wenig unter Zeitdruck, weswegen ich erst am Abend wieder fressen konnte. Mahlzeiten um einen halben Tag zu verschieben, war glücklicherweise nicht der Rede wert, da wir Drachen notfalls wochenlang ohne Nahrung auskommen und auf Vorrat fressen konnten.

Über fünfzig Grad heisse Luft, die aufgrund der Hitzeabstrahlung des nackten, durch die Sonne beschienenen Steins aufgewärmt worden war, wehte an mir vorbei in das Innere des Höhlensystems. Ich folgte dem Luftstrom, bis es derart düster wurde, dass ich kleine Flammen in meinem Rachen entzündete, die von sich aus brannten. Hierfür musste man lediglich die Luft in den Lungen erhitzen, Feuer ausstossen und sogleich wieder einatmen, bis es den sogenannten Feuerschleim, das brennbare Sekret im Inneren des Rachens, entzündete. Anschliessend durfte man lediglich flach atmen, sodass die Hitze nicht entweichen konnte.

Das düstere, orangerote Licht aus meinem Maul genügte bereits, die umliegenden Wände der Höhle erkennen zu können. In schnellen Schritten eilte ich durch den kilometerlangen Gang, der zwischen einem und zehn Metern breit war. Der Rückenwind half mir bei meinen Bewegungen. Mit der Zeit wurde die Luft kälter, bis ich weitere Hitze in meinen Lungen erzeugen musste, um nicht zu frieren. Am kältesten Punkt, kurz bevor die Höhle senkrecht nach unten abfiel, verharrte ich in meiner Position. Dies war die Stelle, an der sich die immerzu kalte Wand befand. Ich hielt meinen Kopf gegen den Fels, schloss die Augen und lauschte. Ein leises Plätschern an der gegenüberliegenden Seite der Wand bestätigte meine Position. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich keine Risse in den Wänden oder Geröll entdeckt, was ein gutes Zeichen war.

Mit weit ausgebreiteten Flügeln sprang ich in das tiefe, nahezu senkrechte Loch hinab. Ich konnte meine waagerechte Position während des gesamten Sinkfluges halten, da ich über eine ausgezeichnete Balance verfügte. Nicht mit den Flügeln schlagen zu können, hatte einige meiner eher exotischen Flugfähigkeiten stark verbessert.

Mehrere Kilometer tiefer ging es urplötzlich wieder geradeaus weiter. Da ich diese Strecke bereits unzählige Male geflogen war, konnte ich frühzeitig mithilfe einiger Spiralen abbremsen. Hierfür winkelte ich die Flügel asymmetrisch an und nutzte eine Schrägstellung meines Schwanzes, um mich in Drehung zu versetzen. Meine Rotation in Kombination mit dieser eigenartigen Flügelstellung schraubte die Luft nach unten ähnlich zu einem Propeller.

Was man nicht alles tut, wenn man keinen Flügelschlag ausführen kann, dachte ich währenddessen schmunzelnd.

Knapp über dem Boden flog ich in hoher Geschwindigkeit geradeaus weiter und ging nahtlos in einen Steigflug über, da die Höhle einen Knick nach oben machte. Währenddessen flackerte mein Feuer bedrohlich auf, weswegen ich mehr Hitze aus meinen Lungen einsetzte, um es am Leben zu erhalten.

Da der Luftstrom nun ebenfalls aufwärts führte, fiel mir der Aufstieg leicht. Die aufgrund von vulkanischen Aktivitäten erhitzten Granitwände dieses Höhlenabschnitts strahlten dermassen viel Wärme aus, dass sich die eben noch kalte Luft schlagartig erhitzte, ausdehnte und aufstieg. Dieser Bereich des Luftumwälzungssystems war sozusagen der Motor. An einer besonders heissen Stelle, bei der die Steinwand geringfügig glühte, setzte ich zur Landung an. Ich liess mein Feuer erlöschen und bewunderte das schwache, dunkelrote Glimmen, was nun die Höhle erfüllte. Die angenehme Hitze, die von den Steinwänden ausging, verleitete mich dazu, mich zu entspannen. Seufzend legte ich mich flach auf den Felsen, breitete die Flügel aus und schloss genussvoll die Augen. Obwohl mein Flügelgelenk aufgrund der hohen Belastung von vor wenigen Minuten ein schmerzhaftes Stechen aussendete, fühlte ich mich vollständig wohl auf dem schätzungsweise fünfhundert Grad heissen Stein. Die Hitze schien selbst meine Schmerzen zu lindern.

Irgendwann reckte ich plötzlich meinen Kopf hoch. Die ruckartige Bewegung löste Kopfschmerzen aus, die ich jedoch ignorierte.

Ich muss noch nach Stellas Ei sehen und anschliessend Edithas Abfluss entstopfen, erinnerte ich mich in diesem Augenblick.

Da ich mir erneut meiner Pflichten bewusst geworden war, entzündete ich das Feuer in meinem Rachen abermals und flog in Richtung Oberfläche weiter, bis die Höhle schliesslich vier Kilometer von der kalten Steinwand entfernt endete. Die flimmernd heisse Luft, die aus dieser breiten Felsspalte austrat, eignete sich hervorragend für das Ausbrüten von Dracheneiern.

Das dreizehn Zentimeter grosse, giftgrüne Ei spiegelte zweifelsfrei die Schuppenfarbe von Stellas Freund Manuel wider. Dennoch hatte ich aufgrund der bereits wahrnehmbaren, telepathischen Signale das Gefühl, mein zukünftiges Enkelkind hatte den Charakter meiner Tochter geerbt. Bedauerlicherweise liess sich das Geschlecht vor dem Schlüpfen unmöglich bestimmen, es sei denn, man durchleuchtete das Ei mit gebündeltem Sonnenlicht, was jedoch äusserst schädlich war. Demnach verzichteten die meisten auf das frühzeitige Bestimmen des Geschlechts.

Sachte liess ich kleine Flammen aus meinem Maul lodern, um die Schale des Eis zusätzlich zur bereits heissen Luft zu erhitzen. Nach einer Weile empfing ich ein angenehmes Gefühl der Wärme, was zweifelsohne ein Gedanke des ungeborenen Drachenkindes sein musste. Während ich das Feuerspeien fortsetzte, musste ich an die zahlreichen Fehlgeburten denken, die Stella während der letzten Jahrhunderte gehabt hatte. Meinen Aufzeichnungen nach war genetische Vielfalt bereits seit Jahrtausenden ein Problem, was sich fortlaufend zuzuspitzen schien. Zudem schien Manuel nicht sonderlich fruchtbar zu sein, denn von den drei Eiern, aus denen Stellas Gelege zumeist bestand, hatten zwei keinen Fötus beinhaltet.

Gerade als sich die Folgen von genetischen Fehlern vor meinem inneren Auge abspielten und ich abermals an die verkrüppelten Babys denken musste, die oftmals in den ersten Tagen oder gar Stunden nach dem Schlüpfen starben oder in gewissen Fällen nicht einmal schlüpften, vernahm ich ein leises Kratzgeräusch zu meiner Rechten. Augenblicklich stellte ich mein Feuerspeien ein und starrte auf das hellgraue, knapp dreissig Zentimeter grosse Ei neben dem meiner Tochter, was diese Geräusche von sich gab. Geringfügig wackelte es, verharrte still in seiner Position, um gleich darauf wieder zu zucken. Bei einer besonders starken Bewegung des Drachenbabys kippte es plötzlich zur Seite und rollte gefährlich nahe an die tiefe Felsspalte heran, aus der ich vor einigen Minuten gekommen war. Instinktiv sprang ich auf und stoppte die Bewegung des Eis mithilfe meines rechten Vorderbeins.

Typisch Gustav. Ständig prahlt er, welch ein toller Vater er ist, und gleichzeitig vernachlässigt er seine Kinder, dachte ich geringfügig kopfschüttelnd.

Bei genauerer Betrachtung fiel mir ein kleiner Riss in der Eierschale auf, der soeben entstanden sein musste. Interessiert schnupperte ich daran, bis er sich mit einem leisen Knacksen vergrösserte. Ausserdem erreichte mich telepathisch das Bedürfnis, die Schnauze ruckartig nach oben zu stossen. Mithilfe der scharfen Spitze, die neugeborene Drachen an der entsprechenden Stelle besassen, konnten sie die Eierschale aufbrechen, sobald sie bereit zum Schlüpfen waren. Meistens schlüpften Drachen in Anwesenheit ihrer Eltern. In diesem Fall waren weder Gustav noch seine Frau Mia anwesend, weswegen ich vermutete, dass meine telepathischen Signale ihr Kind dazu verleitet hatten, diesen Zeitpunkt auszuwählen. Demnach war es meine Pflicht, ihnen das Ei unverzüglich zu bringen.

Kein Wunder, dass du bei mir schlüpfst, wenn deine Eltern nie anwesend sind und dich nicht einmal sicher positionieren, dachte ich seufzend, als ich das Ei zwischen die Zähne nahm, mit allen Vieren beschleunigte, mich am Felsvorsprung abstiess und die heisse Luft aus der Felsspalte nutzte, um aufzusteigen.

Dass von meinem linken Vorderbein währenddessen ein unangenehmes Zwicken ausgegangen war, ignorierte ich. In engen Kreisen gewann ich an Höhe, bis ich die Brutstätte schliesslich verlassen konnte. Währenddessen war mir das Ei beinahe aus dem Maul gerutscht, obwohl ich es quer transportierte, da es ungefähr dieselbe Grösse besass wie mein Kopf. Um sicherzustellen, dass ich es nicht doch noch fallenliess, nahm ich es zwischen die Klauen meiner Vorderbeine, da ich diese nun nicht mehr zur Beschleunigung benötigte. Trotz meines schmerzenden Gelenks liess ich meine Flügelhaut kraftvoll Wellen schlagen, um schnellstmöglich an Höhe zu gewinnen.

Gustav, Mia, euer Kind schlüpft gerade! Rief ich gedanklich über die Drachenschlucht hinweg, so laut ich konnte.

Aufgrund meiner derzeitigen Position, von der ich dutzende unserer Häuser und Farmen überblicken konnte, war es meinen telepathischen Signalen möglich, kilometerweit vorzudringen. Über solch grosse Distanzen zu kommunizieren, benötigte viel Energie und Übung, die ich glücklicherweise besass. Trotz meiner Bemühungen erreichten mich ausschliesslich die Gedanken anderer Drachen, die meinen Ruf lediglich mitgehört hatten.

Aussagen wie «Typisch Gustav.», «Verantwortungsloses Pack.» und «Die werden sich wohl nie ändern.» schnappte ich auf.

Da mein Sohn Mario ein guter Freund von Gustav war und oft mit ihm zusammenarbeitete, schnupperte ich an der heissen, trockenen Luft und folgte seiner Duftspur, um ihn nach Gustavs Aufenthaltsort fragen zu können. Bald darauf führte mich sein Körpergeruch zu Edithas Haus, was ich in diesem Durcheinander jedoch erst bemerkte, als mich die immerzu nörgelnde Drachenfrau telepathisch ansprach.

«Da bist du ja endlich. Ich dachte schon, du würdest meinen Abfluss nie entstopfen.»

Es tut mir leid, Editha. Momentan bin ich noch zu beschäftigt, Gustav und Mia zu finden. Ihr Kind schlüpft in diesem Augenblick.

«Das kann dir doch eigentlich egal sein. Schliesslich ist es nicht dein Ei.»

Nicht alle von uns sind gleichermassen egoistisch.

«Das sagt derjenige, der keinen Quadratzentimeter seines riesigen Anwesens teilen möchte.»

Sei bitte einen Augenblick still, ich muss Mario finden. Vielleicht weiss er, wo sich Gustav momentan aufhält.

«Ich glaube, dein Sohn kriecht in meiner Frischwasserleitung umher. Seit Stunden stinkt mein Wasser nach ihm. Sag deinem Balg gefälligst, er soll andere Gewässer verunreinigen.»

Das nennt man Wartung des Frischwassersystems. Einerseits ist diese Arbeit essenziell wichtig und andererseits hat er sie bereits seit Wochen angekündigt. Wie geplant reinigt er heute deine Wasserleitungen, morgen die von Gertrud, übermorgen die von Ursula und so weiter.

«Das darf doch nun wirklich nicht wahr sein! Dann werde ich wochenlang kein Wasser mehr ohne Marios Sabber trinken können.», beschwerte sich Gertrud, die dreieinhalb Meter grosse Drachenfrau mit den pinken Schuppen, deren Haus rechts neben dem von Editha stand.

Ursula, ihre violette Freundin, die unter anderem Marios Tochter war, stand dicht an ihrer Seite und blickte mich angewidert an. Obwohl sie meine Enkeltochter war und dieselbe Körpergrösse besass wie ich, hätte ihr Charakter nicht unterschiedlicher zu meinem sein können. Bedauerlicherweise verstand sie sich gut mit Editha und Gertrud, die sich vor Ewigkeiten gegen Mario und mich verschworen hatten. Demnach betrachteten wir sie bereits seit Jahrhunderten nicht mehr als Teil unserer Familie.

In diesem Augenblick hatte ich meine langsamen Kreisbewegungen beendet, die ich stets für meinen Sinkflug nutzte, und setzte vor den drei Drachenweibern auf, wobei ich das Ei abermals mit dem Maul tragen musste, um meine Beine uneingeschränkt verwenden zu können.

«Seht euch mal diesen Krüppel an. Nicht einmal mit den Flügeln schlagen kann er.», meckerte Editha.

Dafür schere ich mich nicht bloss um mich selbst wie ihr drei, entgegnete ich mit gerümpfter Nase.

Behutsam legte ich das Ei auf den erstaunlich staubfreien Felsboden der Strasse und begutachtete die Risse, die während meines Fluges entstanden waren.

«Zumindest ist es nicht so schlimm wie bei seiner Tochter. Die kann sich ja kaum noch bewegen.», warf Ursula ein.

Sofort warf ich ihr einen zornigen Blick zu, der Editha nicht entgangen war.

«Wann führt Stella endlich mal eine sinnvolle Arbeit aus, Nils? Sie sitzt den ganzen Tag in eurer riesigen Höhle herum und macht gar nichts, ausser uns das Fressen und Trinken zu stehlen.», provozierte Editha mich, während sie jede Sekunde auskostete, mich mit ihren gelben Schlitzaugen herablassend anzustarren.

Ihre Forschungen sind alles andere als nutzlos. Wir lernen viel über die Vergangenheit der Erde und vielleicht erfahren wir irgendwann, wie es möglich war, dass die Vorez den gesamten Planeten bevölkern konnten, verteidigte ich meine Tochter.

«Das bezweifle ich. Was haben ihre 'Forschungen' in den letzten Jahrtausenden erreicht? Nichts! Sie vergeudet nur Zeit, die sie wichtigeren Dingen widmen könnte.»

Neben ihren Forschungen hat sie auch noch andere Aufgaben, dachte ich schnaubend vor Wut.

«Welche denn? Weitere Bastarde zur Welt bringen, die wenige Stunden nach dem Schlüpfen sterben?»

Ich knurrte Editha zornig zähnefletschend entgegen, wobei ich meinen Speer unruhig mit meiner Schwanzspitze umherbewegte. Gleich darauf schloss ich die Augen, atmete einmal tief durch und konzentrierte mich auf das derzeit schlüpfende Drachenbaby vor mir, um meine Wut verblassen zu lassen.

«Wie viele Männer hatte sie in den letzten zwei Jahrtausenden? Zwölf?», fuhr Editha fort.

Es waren neun, wobei sie seit über fünfhundert Jahren mit Manuel zusammen ist, entgegnete ich, ohne meinen Blick von der eben aufbrechenden Eierschale zu lösen, hinter der sich bereits die Schnauze des hellgrauen Drachenbabys erkennen liess.

Eine durchsichtige, dickflüssige Masse trat aus dem kleinen Loch hervor und rann dem Ei entlang abwärts. Das Drachenbaby zuckte erneut mit dem Kopf nach oben, wodurch weitere Teile der Eierschale zu Boden fielen.

«Das hat gar nichts zu bedeuten. Manuel sucht sich doch niemals eine langfristige Partnerin aus. Der hat wahrscheinlich schon mit jeder einzelnen Frau dieses Planeten rumgemacht. 'Jede Nacht eine andere', oder wie war sein Leitspruch nochmal? Ich könnte mir keinen anderen vorstellen, der mit solch einem Krüppel wie Stella etwas anfangen würde. Wahrscheinlich hat er seinen kleinen Schwanz zuvor bereits in jede erdenkliche Felsspalte geschoben, bevor er es mit deiner Tochter versucht hat.»

An deiner Stelle würde ich jetzt ganz still sein, du verzogenes Miststück, dachte ich voller Zorn, wobei sich mein gesamter Körper verspannte.

Dennoch gelang es mir, ununterbrochen das Drachenbaby anzusehen, was in diesem Augenblick seinen Kopf erstmals aus dem Ei streckte. Unter der zähen Flüssigkeit, die seinen gesamten Körper überzog, liess sich seine verwachsene Schnauze ohne Unterkiefer erkennen. Allem Anschein nach würde dieses Kind keine Stunde überleben, so massive Gendefekte wie es aufwies. Nicht einmal sein rechtes Auge konnte es aufgrund der wilden Geschwüre in seinem Gesicht öffnen. Mein Mitleid diesem armen Geschöpf gegenüber liess mich meine Wut vorübergehend vergessen.

«Oh, jetzt hast du voll ins Schwarze Getroffen, Editha.», kommentierte Ursula, die unsere Konversation amüsiert mitverfolgt hatte.

«Dieses Kind erinnert mich stark an die von Stella. Das habt ihr davon, wenn ihr andauernd weitere eurer Inzucht-Bastarde erzeugt.»

Sagt diejenige, deren Stammbaum kreisförmig verläuft, konterte ich.

Gertrud sog erstaunt über die neuste Gesprächswendung die Luft ein.

«Ich kann doch nichts dafür, dass sich meine Mutter in ihren Ururgrossvater verliebt hat.», dachte Editha empört schnaubend.

Trotzdem darfst du niemandem einen Vorwurf machen, der sich in einen entfernten Verwandten verliebt. Wir sind nun mal nicht viele.

Sie dachte einen Augenblick angestrengt nach.

«Wenigstens ändern wir normalen Drachen nicht ständig den Partner. Stattdessen heiraten wir und leben für alle Ewigkeiten mit unserem Liebhaber zusammen.»

Bis dass der Tod euch scheidet.

Editha verlor unvermittelt die Beherrschung und sprang zähnefletschend in meine Richtung, da ich eine Anspielung auf ihren vor dreissig Jahren verstorbenen Ehemann gemacht hatte, weswegen sie sich von nun an laut ihren Regeln niemals wieder verlieben durfte, selbst wenn sie noch tausende Jahre lebte. Obwohl dies grosse Schmerzen in meinem linken Flügelgelenk verursachte, legte ich meine Flügel schützend um das eben aus dem Ei kletternde Drachenbaby, was ich als weiblich identifizierte. Ich spielte mit dem Gedanken, meine jahrhundertelange Übung mit dem Speer einzusetzen, um mich zu verteidigen, entschied mich jedoch dagegen, da ich niemanden ernsthaft verletzen wollte. Nur eine halbe Sekunde später hatte Editha mich erreicht. Da ich abgesehen vom Beschützen des Drachenbabys nicht auf ihren Angriff reagiert hatte, kam sie schlitternd zum Stehen, drehte sich einmal im Kreis und schlug mir mit ihrem Schwanz gegen den Kopf. Der harte Schlag weckte meine chronischen Kopf- und Rückenschmerzen, wodurch ich krampfhaft zuckend seitlich zu Boden stürzte und meinen Speer fallenliess. Während ich versuchte, trotz der stechenden Schmerzen, die mir von der Stirn bis zum Schwanzansatz reichten, weiterhin zu atmen, tanzten farbige Punkte über mein Sichtfeld.

Im Augenwinkel erkannte ich, dass Gertrud schadenfreudig grinsend meinen Speer aufhob und in hohem Bogen in Richtung des Salzsees warf. Das laut widerhallende Scheppern gefolgt von einem Platschen verriet, dass sie ihr Ziel nicht verfehlt hatte. Vor Schmerz keuchend und zitternd versuchte ich, aufzustehen, sackte jedoch gleich wieder zusammen.

«Seht euch bloss dieses Elend an. Ein verkrüppelter, alter Mann wälzt sich im Dreck neben einem mindestens genauso verkrüppelten Baby.», dachte Editha, als wäre sie stolz auf ihr Verhalten, was sie vermutlich tatsächlich war, sofern ich ihre Gedanken korrekt interpretiert hatte.

«Was machen wir jetzt mit den beiden?», fragte Ursula.

Bevor Editha ihr antworten konnte, zerbrach urplötzlich ein Fenster ihres Hauses und ihr heiss geliebter Holzschrank fing Feuer, ohne dass eine Ursache erkennbar war.

«Oh nein!», rief sie aus und eilte stürmisch ins Innere.

Ihre beiden Freundinnen folgten ihr, wobei sie mir vorwurfsvolle Blicke zuwarfen, als wäre der eben entstandene Brand meine Schuld. Ich wollte mich gerade nach dem frisch geschlüpften Drachenmädchen umsehen, als ein Schatten über mich hinwegflog, gefolgt von einem kühlen Windstoss. Ohne meine Schmerzen zu verschlimmern, war es mir nicht möglich, aufzusehen. So plötzlich wie der Schatten gekommen war, landete Geist, Mias Bruder vor mir. Diesen Namen verdankte er seinem vollständig weissen, farblosen Schuppenpanzer, seinen tiefrot glühenden Augen und seiner Fähigkeit, sich beinahe lautlos fortzubewegen. Ausserdem verströmte er keinen Körpergeruch, was ihn nahezu unaufspürbar machte und er konnte unsichtbares Feuer speien.

«Dieses Mal ist Editha mit ihrer Clique eindeutig zu weit gegangen.», dachte er, während er seine neugeborene Nichte sachte mit der Schnauze anstupste und begutachtete.

Warst du das mit dem Feuer durch ihr Fenster?

«Ja.», antwortete er verschmitzt schmunzelnd.

Das kratzende Geräusch von Klauen auf Granitboden schreckte Geist auf. Er blickte nervös umher, bis sein Blick auf Edithas Haustür fiel.

«Sie kommt gleich wieder. Ich muss jetzt von hier verschwinden. Danke, dass du meiner Nichte helfen wolltest. Das wäre nicht deine Aufgabe gewesen.», sprach er gedanklich, während er seinen Kopf zur Seite reckte, sodass Edithas tragende Wand im Wohnzimmer seine Telepathie blockierte.

Warte, kannst du mir …?

Bevor ich meine Frage vollenden konnte, war er bereits mit dem Drachenbaby zwischen seinen Klauen hinter einer Hauswand verschwunden. Wie immer hatte er keinerlei Spuren hinterlassen und bewegte sich lautlos.

«Warst du das, Nils?», herrschte mich Editha knurrend an, während sie energisch ihre Tür aufstiess.

Ich? Nein, entgegnete ich, wobei ich an Stella dachte, um Geist nicht zu verraten.

«Jetzt hast du nicht bloss meinen Abfluss, sondern auch noch meinen Schrank auf dem Gewissen.»

Bedrohlich trat sie mit ihren Freundinnen im Schlepptau auf mich zu. Ich kroch mit schmerzverzerrtem Gesicht bis an die kühle, imSchatten gelegene Hauswand hinter mir zurück, jedoch wusste ich, dass dies die momentane Situation nicht bessern konnte.

«Lasst ihn in Ruhe!», fuhr Mario dazwischen.

Keiner von uns hatte ihn bisher wahrgenommen. Wir blickten allesamt fragend umher, bis sich mein Sohn schliesslich triefend nass aus einem schmalen Loch zwischen den Häusern hervorzwängte. Allem Anschein nach hatte er seine Wartungsarbeiten an Edithas Frischwasserleitung soeben beendet.

Mit seinen zweieinhalb Metern Länge war er den drei Frauen zwar körperlich unterlegen, jedoch imponierte ihnen sein selbstbewusstes Auftreten. Ohne sie auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen, trat Mario zu mir, umklammerte meinen Brustkorb mit allen Vieren und schwang seine gut durchtrainierten Flügel, sodass die Wassertropfen von seinem Körper in alle Richtungen stoben. Ich verkrampfte meinen Rücken, da nun wieder ein stechender Schmerz durch meine Wirbelsäule schoss.

«Das nenne ich mal Invalidentransport.», kommentierte Gertrud mit herablassendem Blick.

Mario liess sich nicht provozieren und flog mich zurück nach Hause. Behutsam setzte er mich neben dem Eingang meines Schlafzimmers ab.

«Geht es dir gut, Papa?»

So einigermassen, dachte ich, während ich mich ächzend aufrichtete und versuchte, meine Schmerzen zu unterdrücken.

Dies gelang mir nicht vollständig, da ich aufgrund meiner Rückenschmerzen heftig zuckte. Mitfühlend stupste Mario meinen Kopf mit seiner noch leicht feuchten Schnauze an. Im hellen Licht der Nachmittagssonne glitzerte sein frisch gewaschener Schuppenpanzer in wunderschönen, hellblauen Farbtönen.

«Wo ist eigentlich dein Speer?», unterbrach er meine Gedankengänge.

Gertrud hat ihn in den See geworfen.

Mario schnaubte verächtlich.

«Warte hier, ich werde … oh, das Problem hat sich anscheinend von selbst gelöst. Gustav wurde fertig mit der Reinigung unserer Abwasserkanäle.»

Ich blinzelte der Sonne entgegen und erkannte den fünf Meter grossen, dunkelbraunen Drachen am Himmel, der meinen Speer zwischen den Klauen trug und schnurstracks in unsere Richtung flog.

Die Abwasserkanäle zu säubern wäre doch eigentlich deine Aufgabe, antwortete ich leicht verwirrt.

«Dafür helfe ich ihm mit seinen Hühnern.»

Nebst Marios Worten erreichten mich noch Bilder aus den Abwasserkanälen. Als er an den derben Gestank und das Abschaben von Schmutz mithilfe seiner Klauen dachte, erschauderte er deutlich sichtbar.

Zugegebenermassen ist das eine wirklich schmutzige Arbeit, entgegnete ich verständnisvoll.

Gustav landete in diesem Moment vor uns und schob mir meinen Speer mithilfe einer Klaue entgegen. Sowohl er als auch meine unzerstörbare Waffe waren nass und bildeten in diesem Augenblick weisse Salzkristalle. Ein beissender Gestank erfüllte plötzlich meine Nase, weswegen ich die Luft anhalten musste. Dennoch nickte ich ihm dankbar zu, wobei ich darauf achtete, nicht meine Kopfschmerzen zu verschlimmern.

«Schmutzig ist es tatsächlich. Aber mir macht dieser Gestank nichts aus.», warf Gustav selbstzufrieden schmunzelnd ein.

Heute ist übrigens deine Tochter geschlüpft, entgegnete ich, da mir wieder eingefallen war, weshalb ich bei Editha gewesen war.

Gustavs Augen weiteten sich.

«Was? Du machst doch Witze, oder?»

Nein, Geist hat sie mitgenommen.

Ohne sich zu verabschieden, schwang sich Gustav dem Himmel empor. Nur wenige Augenblicke später war er bereits hinter einer Felswand verschwunden.

«Gibt es noch etwas, wobei ich dir helfen kann?», fragte Mario nun.

Ja, eine Sache wäre da noch. Edithas Abfluss ist verstopft und ich bin emotional gerade nicht in der Lage, zu ihr zu gehen, um das Problem zu beheben. Könntest du das für mich erledigen?

«Selbstverständlich. Ausserdem werde ich ihr ein winziges Loch von ihrem Wohnzimmer zum darunterliegenden Abwasserkanal graben, sodass alles immer schön stinkt. Bis sie das bemerkt, vergehen bestimmt Jahrzehnte.»

Mario und ich grinsten gleichermassen schadenfreudig.

Danke, Mario. Ich hab dich lieb.

Sanft stupste er meine Schnauze mit seiner an, um sich zu verabschieden, und begab sich auf den Weg zu Editha, die seinen bevorstehenden Streich mehr als verdient hatte. Leise kichernd zog ich mich in mein Schlafzimmer zurück und legte mich flach auf den Boden, um meine Rückenschmerzen loszuwerden. Während ich mich entspannte, beobachtete ich das stinkende Seewasser, was langsam auf meinem Speer trocknete und eine weisse Kruste hinterliess. Als ich daran schnupperte, zuckte ich aufgrund des derben Gestanks gleich wieder zurück.

Na toll. Der wird mindestens noch eine Woche nach Seewasser stinken, dachte ich seufzend.

Stundenlang ruhte ich mich mit knurrendem Magen aus. Da meine Schmerzen allmählich verblassten, schweiften meine Gedanken zu anderen Problemen ab. Nebst der stark eingeschränkten genetischen Vielfalt aufgrund unserer kleinen Gesamtpopulation von unter zweihundert Drachen beschäftigte mich die Tatsache, dass der Wasserpegel während der letzten Jahrtausende durchgehend gesunken war. Sollte sich dieser Trend fortsetzen, würden wir in spätestens zehntausend Jahren allesamt verdursten. Dies hatte ich jedoch noch niemandem erzählt, da ich die daraus resultierende Massenpanik vermeiden wollte.

Gerade als ich dachte, dieser Tag könnte nicht noch schlimmer werden, witterte ich plötzlich Brigittes Geruch. Sie war das mit Abstand nervigste Wesen dieses Planeten und ich konnte ihre aufdringliche, übertrieben nette Art nicht ausstehen. Ausserdem war sie dazu in der Lage, inkompatible telepathische Verbindungen einzugehen, weswegen mein Bewusstsein wie eine aufgedeckte Schrifttafel für sie war.

Ich starrte bereits mit finsterem Blick in Richtung Strasse, als Brigitte breit grinsend mit einem gerupften und flammengegarten Hühnchen zwischen den Zähnen mein Schlafzimmer betrat, ohne auch nur zu versuchen, ihr Kommen anzukündigen. Im Halbdunkeln glich ihr magentafarbener Schuppenpanzer dem Meinen stark. Selbst in ihrer Grösse ähnelte sie mir. Von Kopf bis Schwanzspitze war sie lediglich zehn Zentimeter länger als ich.

Nicht schon wieder, Brigitte. Ich habe jetzt echt keine Nerven für dich, dachte ich, da sie ohnehin bereits wusste, was ich von ihr hielt.

«Dein Magen fühlt sich leer an. Deswegen dachte ich, ich bringe dir etwas zu futtern. Ich weiss schliesslich, wie sehr du auf meine gebratenen Hühnchen stehst.»

Dass ich dieses Gericht mochte, war bedauerlicherweise die unbestreitbare Wahrheit. Der leckere Geschmack von perfekt gegartem Fleisch drang mir in die Nase, weswegen sich meine Speichelproduktion unwillkürlich erhöhte. Brigittes Gedanken konnte ich entnehmen, dass sie dies bereits aus meinem Bewusstsein gelesen hatte, da sie jederzeit all meine fünf Sinne anzapfen konnte. Immer noch grinsend platzierte sie das Hühnchen direkt vor mir auf dem Boden. Der himmlische Duft, der davon ausging, zwang mich dazu, es von oben bis unten abzuschnuppern. Das Fleisch roch würzig wie es kein anderer Drache zubereiten konnte. Noch immer fragte ich mich, was ihr geheimes Rezept war.

Wie machst du das? Fragte ich, wobei ich genau wusste, dass sie den Kontext verstand.

«Das ist Betriebsgeheimnis.», entgegnete sie noch breiter grinsend.

Ich versuchte, sie dabei zu erwischen, an die Zubereitung dieses Hühnchens zu denken, jedoch empfing ich von ihrem Bewusstsein stets meine eigenen Gedanken. Wie ein Endlosecho wiederholte sich alles, woran ich dachte, bis ich ihr Bewusstsein ignorierte. Mittlerweile musste ich schlucken, um nicht den Fussboden vollzusabbern, was mich aufgrund Brigittes Anwesenheit in Verlegenheit brachte. Sie starrte mich ununterbrochen mit ihrem durchdringenden Blick an und schien mich wie einen klaren Kristall zu durchleuchten. Mir war bewusst, dass ihr mein gesamtes Bewusstsein zur Verfügung stand, ohne dass ich mich dagegen wehren konnte. Wahrscheinlich kannte sie bereits meine dunkelsten Geheimnisse. Schicksalsergeben biss ich in das gebratene Hühnchen hinein, da ich ohnehin früher oder später meinem Hunger unterlegen gewesen wäre. Wie immer war das Fleisch zart und saftig. Der lecker würzige Geschmack breitete sich in meinem Maul aus und ich wünschte mir, dieser Moment würde niemals enden. Selbstzufrieden beobachtete Brigitte mich, während ich die von ihr zubereitete Mahlzeit verschlang.

Ich hasse dich, dachte ich griesgrämig.

«Ich weiss.», antwortete sie immer noch grinsend.

Nur wenige Minuten später war ich fertig.

War das wieder eines von Gustavs Hühnern? Fragte ich, während ich noch den übriggebliebenen Fleischsaft vom Fussboden leckte.

«Ja. Ich habe es extra für dich getötet, gerupft und gebraten, da ich aus deinem Bewusstsein gelesen habe, wie Editha dich heute behandelt hat.»

Das hätte ich mir bereits denken können. Weisst du eigentlich, was Privatsphäre ist?

«Sicher weiss ich das. Ebenso gut weiss ich, wie ich dir Freude bereiten kann.»

Würdest du dich tatsächlich um mein Wohlergehen scheren, hättest du Edithas Haus dem Erdboden gleichgemacht.

«Das hätte deinen Konflikt mit ihr nur unnötig verschlimmert. Die ist doch bloss sauer, weil sie sich selbst dazu verdammt hat, niemals wieder die Freuden des Lebens geniessen zu dürfen. Am besten wäre es, du würdest gar nicht erst auf ihre Provokationen reagieren.»

Ich war nicht derjenige, der die Beherrschung verloren hat.

«Diese Auseinandersetzung hättest du trotzdem ganz leicht verhindern können.»

Nun blickte ich Brigitte in ihre magentafarbenen Augen. Im düsteren Licht meines Schlafzimmers waren ihre Pupillen nun kreisförmig, was einen beinahe niedlichen Eindruck erweckte. Ausserdem hatte sie aufgehört, zu grinsen.

Wie denn? Ich hatte meine Wut stets unter Kontrolle.

«Du hast dich provozieren lassen und etwas angesprochen, was sie ausserordentlich wütend gemacht hat. Hättest du sie einfach ignoriert, wäre diese dumme Kuh auf ihren Bemerkungen über deine Tochter sitzengeblieben.»

Das, was sie gesagt hat, war unverzeihlich.

«Beleidigungen sagen meist mehr über die Person aus, die sie ausspricht, als denjenigen, der beleidigt wird.»

Ungläubig starrte ich Brigitte an. Ich wollte es zwar nicht eingestehen, jedoch war ihre Aussage vollkommen korrekt. Bevor ich etwas erwidern konnte, schnupperte sie kritisch in meinem Zimmer umher, bis ihre Nase sie schliesslich zu meinem Speer führte.

«Der stinkt ja abscheulich. Ausserdem ist er von einer Salzschicht bedeckt.»

Da ich wusste, dass Brigitte die Ursache dieser Verschmutzung aus meinem Verstand lesen würde, erklärte ich ihr nichts. Ich wollte sie gerade zum Gehen auffordern, als sie unvermittelt meinen Speer ableckte.

Lass das, dachte ich geringfügig zähnefletschend.

«Dieses Ding muss dringend geputzt werden.», entgegnete sie, ohne die Säuberung meines Speers zu unterbrechen.

Aufgebracht fauchte ich sie an, wodurch sie endlich innehielt.

«Wenn du einen schmutzigen Speer bevorzugst, bitte schön.», dachte sie und trat einen Schritt zurück.

Ich glaube, ich bin alt genug, ihn eigenständig zu putzen.

«Wie du meinst. Hast du Lust auf einen Nachtisch?»

Nein, entgegnete ich schnaubend, hob meinen Speer mit der Schwanzspitze auf und verliess das Schlafzimmer, um mich schnellstmöglich von Brigitte zu entfernen, nachdem ich den linken Flügel in meine gewohnte Schonhaltung gebracht hatte.

Da mein Magen nun voll war und ich Ruhe benötigte, wollte ich mich zu Alexios, einem weisen, goldenen Drachen von sechs Metern Länge zurückziehen, der abgelegen am Rand der Drachenschlucht lebte, sechseinhalb Kilometer über dem Salzsee.

«Gehst du etwa schon wieder zu diesem Psycho?», fragte Brigitte vorwurfsvoll.

Alexios ist kein Psycho. Er mag eigenartig sein, jedoch ist er der einzige Drache, dessen Anwesenheit mich vom Alltagsstress beruhigen kann.

Brigitte blickte mir seufzend nach, als wäre sie enttäuscht. Ich liess sie wortlos zurück, breitete die Flügel aus und startete mit hoher Geschwindigkeit wie immer. Langsam gewann ich an Höhe, indem ich immer grösser werdende Kreise flog. Mit der Zeit schrumpften der See, die Häuser, die Tiergehege, die Plantagen und die kalte Wand, bis sie sich aus meiner Perspektive mit einer Pranke umfassen liessen. Erneut war ich von der Schönheit der Drachenschlucht überwältigt, die sich hunderte Kilometer in jede Richtung erstreckte.

Als die Sonne nicht mehr weit vom Horizont entfernt war, erblickte ich endlich den Rand der Schlucht. Dahinter erstreckte sich eine unermesslich grosse, gelbbraune Sandwüste. Meines Wissens nach überzog sie den gesamten Planeten. Heisse Winde wehten mir entgegen, die mit zunehmender Höhe an Intensität gewannen.

Wie haben die Vorez bloss in dieser Ödnis überlebt? Fragte ich mich, während ich meinen Blick über die scheinbar unendlich grosse Landschaft schweifen liess.

Ungefähr eine halbe Stunde später, als mein linkes Flügelgelenk durchgehend stechende Schmerzen aussendete und mein Hals vollständig ausgetrocknet war, erblickte ich das Zuhause von Alexios. Von oben her glich seine eigens erbaute Plantage am Rand der Drachenschlucht einem perfekten Kreis. Die eine Hälfte war von grünen Pflanzen bedeckt, während die andere Hälfte aus kristallklarem Wasser bestand. Die Trennung der beiden Hälften war S-förmig, wobei sowohl im Wasser als auch in der Pflanzenfläche jeweils ein kleinerer Kreis des gegenteiligen Materials eingelassen war. Ich wusste weder, was diese Form bedeutete, noch weshalb Alexios sie gebaut hatte. Genaugenommen wusste ich auch nicht, woher er das frische Wasser bezog, denn er befand sich meines Wissens niemals ausserhalb seiner Wohnfläche. Ich hatte ihn noch nicht einmal fressen gesehen.

Wie immer sass er auf der kleinen, kreisförmigen Insel inmitten der grossen Wasserfläche und starrte mit erhabenem Blick in die Wüste. Selbst als ich zur Landung ansetzte und ihn telepathisch begrüsste, rührte er sich nicht. Aufgrund seiner goldenen Schuppen, die das Sonnenlicht perfekt reflektierten und seiner immerzu gleichbleibenden Haltung glich er eher einer Statue als einem Lebewesen.

Leicht verlegen landete ich neben ihm auf der kleinen Insel, die kaum Platz für uns beide bot. Durstig warf ich einen Blick auf das perfekt reine, kristallklare Wasser. Anschliessend blickte ich verunsichert zu Alexios, der noch immer den Horizont anstarrte und mir keinerlei Beachtung schenkte.

Ist es in Ordnung, wenn ich von deinem Wasser trinke? Fragte ich ihn.

Keinerlei Antwort erreichte mich. Nicht den kleinsten Gedanken konnte ich von ihm empfangen. Sein Verstand glich absoluter Leere, wie ich es noch bei keinem anderen Drachen erlebt hatte, der nicht bereits tot war. Vorsichtig trat ich einen Schritt auf das Wasser zu, während ich mehrere Male zu Alexios blickte, ob er etwas gegen mein Vorhaben einzuwenden hatte. Da er mehr als doppelt so gross war wie ich, wollte ich ihm keinesfalls auf die Nerven gehen. Fortlaufend starrte er auf den Horizont, ohne mich zu beachten. Während der letzten Minute hatte er kein einzelnes Mal geblinzelt.

Ich überwand meine innere Blockade, beugte mich zum Wasser hinunter und trank einen Schluck. Gleich darauf blickte ich Alexios in sein rechtes Auge, was mich immer noch nicht fokussierte. Langsam stillte ich meinen Durst, bis ich fertig getrunken hatte. Da ich ebenfalls meinen Speer reinigen wollte, fragte ich ihn erneut um Erlaubnis, mein Vorhaben durchzuführen. Wie bereits zuvor antwortete er nicht. Zögerlich hielt ich die Spitze des Speers ins Wasser, wobei sich das Salz und der Schmutz deutlich sichtbar darin verteilten und sein perfekt sauberes Gewässer verunreinigten. Verlegen zog ich den Speer wieder zurück und blickte mehrere Male verunsichert zu Alexios. Er schien keineswegs durch die Verschmutzung seines Gewässers gestört worden zu sein. Als ich mit dem Gedanken spielte, den Speer vollständig zu reinigen, entschied ich mich schliesslich dagegen, da ich diesen perfekten Ort nicht beschmutzen wollte.

Ich kann ihn auch mit meinem Wasser waschen, dachte ich.

Seufzend legte ich mich neben Alexios ins hohe Gras und starrte gemeinsam mit ihm in die Wüste. Allmählich neigte sich der Tag dem Ende zu, denn die Sonne schien nun in einem flachen Winkel auf Alexios' goldene Schuppen, deren Lichtreflexe mich vermehrt blendeten. Nichtsdestotrotz fühlte ich mich in seiner Anwesenheit wohl. Er strömte eine Ruhe aus, die mich je länger je mehr ansteckte. Als die Sonne schliesslich den Horizont streifte und die Umgebung in rötliches Licht tauchte, was meinen bereits tiefroten Schuppenpanzer vergleichsweise hell schimmern liess, fühlte ich erstmals die Erschöpfung des Tages. Gähnend rollte ich mich in einer möglichst bequemen Position zusammen und schloss die Augen. Eigentlich wollte ich einschlafen, jedoch unterbrachen mich die Gedanken an meine heutige Auseinandersetzung mit Editha.

Denkst du, sie hat recht damit, dass Stellas Forschungen nutzlos sind? Schliesslich haben wir kein konkretes Forschungsziel und unsere Erkenntnisse während der letzten Jahrtausende waren dürftig. Lohnt es sich, noch mehr Zeit in etwas zu investieren, was eventuell zu nichts führt? Fragte ich Alexios.

Wie erwartet erreichte mich keine Antwort. Ich liess meine Augen geschlossen und konzentrierte mich auf das angenehme Gefühl des lauwarmen Abendwindes, der an meinem gesamten Körper vorbeifloss.

Stella hat mich darum gebeten, erneut nach antiken Relikten zu suchen. Ich glaube, ich sollte mir stattdessen handfeste Lösungen für den permanenten Wasserverlust überlegen. Wahllose Gegenstände vergessener Zivilisationen werden uns wohl kaum weiterhelfen.

«Die Vergangenheit ist der Schlüssel zur Zukunft.»