Point of View - Patrick Bard - E-Book

Point of View E-Book

Patrick Bard

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Beschreibung

Lucas ist elf Jahre alt, als er das erste Mal online einen Porno guckt – eigentlich nur durch Zufall und aus purer Neugier. Mit vierzehn schaut er die Filme bis spät in die Nacht und vernachlässigt seine Hobbys. Er braucht immer mehr für den Kick. Als seine Eltern von Lucas' Sucht erfahren, nehmen sie ihm Handy und Laptop weg. Doch sobald er die Geräte wieder hat, beginnt alles von vorne. Es scheint nur noch eine Lösung zu geben: eine Therapie. Auf dem Weg dorthin springt Lucas jedoch vor Verzweiflung aus dem fahrenden Auto. Gibt es wirklich nichts, das ihm helfen kann?

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INHALT

Prolog

Verschwinden

Kapitel 1 – Lucas! Ich rede …

Kapitel 2 – Am darauffolgenden Tag. …

Kapitel 3 – Als er Jérômes …

Kapitel 4 – Lucas ist sechzehn …

Kapitel 5 – In der darauffolgenden …

Kapitel 6 – Als Folge dieser …

Kapitel 7 – Schon bald hat …

Kapitel 8 – Mit dreizehn hat …

Kapitel 9 – Sébastien hat das …

Kapitel 10 – Sébastien antwortet nicht. …

Kapitel 11 – Jérôme scrollt rasend …

Kapitel 12 – Lucas hat die …

Kapitel 13 – Als Sébastien ihr …

Kapitel 14 – Als Lucas an …

Kapitel 15 – Marie entfernt sich …

Kapitel 16 – Lucas schreckt mitten …

Kapitel 17 – Sébastien kommt die …

Kapitel 18 – Lucas kommt sich …

Kapitel 19 – Einen Monat später …

Kapitel 20 – Sie laufen durch …

Kapitel 21 – Kaum sind sie …

Kapitel 22 – Der Lärm der …

Kapitel 23 – Eine Woche später …

Kapitel 24 – Später, im Büro …

Kapitel 25 – Marie schaut in …

Kapitel 26 – Es ist ein …

Kapitel 27 – Nach ihrer Vorladung …

Kapitel 28 – Lucas erinnert sich …

Das Herz höherschlagen lassen

Kapitel 29 – Danach verschwimmt alles. …

Kapitel 30 – Saint-Brieuc, einen Monat …

Kapitel 31 – Er sollte sich …

Kapitel 32 – Er ist jetzt …

Kapitel 33 – Der Gedanke an …

Kapitel 34 – Trotz der Schlaftabletten, …

Kapitel 35 – Lucas’ Gedanken werden …

Kapitel 36 – Am Nachmittag sorgt …

Kapitel 37 – Mit der Abenddämmerung, …

Kapitel 38 – Sie sitzen auf …

Kapitel 39 – Und so habe …

Kapitel 40 – Es ist anders, …

Kapitel 41 – Es ist der …

Kapitel 42 – Man hört in …

Kapitel 43 – Édouard ist auch …

Kapitel 44 – Der Nachmittag ist …

Kapitel 45 – In ihrem Zimmer …

Kapitel 46 – Lucas nimmt Anlauf, …

Kapitel 47 – Ich versteh das …

Kapitel 48 – Die Saint-Quay ist …

Kapitel 49 – Am nächsten Morgen …

Epilog

Das Problem ist nicht die Sucht an sich, sondern die Art der Sucht […]: Sie kann sowohl negativ als auch positiv sein. Natürlich gibt es nichts Schöneres, als verliebt zu sein. Wenn man verliebt ist, ist man zu unglaublichen Dingen fähig, man wächst über sich hinaus. Aber sobald die Liebe vergeht, beginnt die Hölle: Das nennt man bei Süchtigen den Abstieg.

Bernard Stiegler, Philosoph, in ventscontraires.net, Online-Magazin des Théâtre du Rond-Point, Paris, 2015

Prolog

Chartres, Frühjahr 2017

Lucas, aufstehen!«

Er blinzelt und schlägt die Augen auf. In seinem Zimmer ist es dunkel bis auf die roten Lichter seiner Geräte im Stand-by-Modus. Er grummelt: »Ja, Mama, gleich.«

Der Wecker hat nicht geklingelt. Oder er hat ihn nur nicht gehört. Er dehnt sich, streckt die Hand aus und tastet, bis er auf dem Nachttisch sein Smartphone berührt. Er nimmt es und wischt automatisch mit dem Zeigefinger über den Touchscreen. Nichts passiert. Er runzelt die Stirn, hält sich das Handy näher ans Gesicht und probiert es noch einmal – wieder nichts. Jetzt setzt er sich ganz im Bett auf und schaltet die Nachttischlampe ein. Er ist zwar sicher, es aufgeladen zu haben, aber er benutzt sein Handy so viel, dass es trotzdem am Akku liegen könnte. Er steckt das Ladekabel ein und versucht noch einmal, es wiederzubeleben. Immer noch nichts. Er probiert es immer wieder und wieder und wieder, bis er schließlich wie wild auf dem Startknopf herumdrückt. Verdammte Scheiße!

Er wischt die feuchten Hände an seinem Serial-Gamer-Shirt ab, wirft die zerknautschte Bettdecke von sich, auf der in riesigen Buchstaben Don’t wake me up steht, und springt aus dem Bett. Ohne sich hinzusetzen, tippt er nervös auf dem Touchpad seines Laptops herum. Es muss doch irgendein Forum geben, in dem ihm jemand sagen kann, wie er dieses verdammte Handy wieder zum Laufen bringen kann. Der Bildschirm leuchtet blau auf und ein blinkendes Fragezeichen erscheint. Mehr passiert nicht. Lucas spürt, wie seine Beine weich werden. Nein …

Er zieht den Stuhl heran und lässt sich darauffallen. Kalter Schweiß läuft ihm den Rücken hinunter. Nein, das darf nicht wahr sein. Das kann nicht wahr sein!

Er drückt noch einmal auf den Knopf und der Laptop fährt herunter. Dann schaltet er ihn wieder ein – mit genau demselben Ergebnis: ein blinkendes Fragezeichen. Mit trockenem Mund und zitternden Händen probiert er es noch ein gutes Dutzend Mal und gibt schließlich auf. Er hätte nie gedacht, dass ihm das passieren könnte. Ja, klar, er hat schon von so fiesen Bugs gehört, aber er hat diese Geschichten immer für völlig übertrieben gehalten. Er macht das schon seit Jahren. Natürlich hatte er auch schon mal Probleme, sogar erst vor Kurzem. Doch er ist jedes Mal irgendwie klargekommen. Aber das hier …

Auf der Suche nach einer Lösung sieht er sich unschlüssig in seinem Zimmer um und vergräbt den zerzausten Kopf in den Fäusten, als er keine findet. Nach einer Weile richtet er sich wieder auf. Ohne seine Geräte weiß er nicht einmal mehr, wie viel Uhr es ist. Abgesehen von den Geräuschen, die seine Mutter macht, ist es im Haus fast völlig still. Er hört sie rufen: »Beeil dich! Ich muss los! Bis heute Abend, Schatz!« Die Eingangstür fällt laut ins Schloss. Sein Vater ist schon längst weg.

Verdammte Oberscheiße! Tennis. Benjamin. Das hätte er fast vergessen.

Instinktiv streckt er die Hand nach seinem Handy aus und erinnert sich dann. Egal, dann ruft er eben vom Festnetz aus an. Er zieht sich sein T-Shirt hektisch über den Kopf, schlüpft in ein XXXL-Sweatshirt mit der Aufschrift: Hab keine Zeit, spiele Tennis und steigt in eine Jogginghose. Er ist außer Atem. Ihm ist ganz schummrig, weil er nicht genug geschlafen hat, und er fühlt sich, als wäre er, wie das Betriebssystem seines Laptops, kurz vor dem kompletten Absturz.

Und bis dahin wird es auch nicht mehr lange dauern.

VERSCHWINDEN

1

Lucas! Ich rede mit dir! Als ich angekommen bin, warst du schon weg.«

Lucas, der fast über seinem Teller einschläft, murmelt: »Weil du nach dem Tennis nicht da warst, bin ich halt mit Benjamin nach Hause gefahren.«

Marie erwidert verärgert: »Auf seinem Motorroller? Dann bist du auch mit ihm hingefahren, oder? Ich hab dir schon mal gesagt, dass du nicht auf diese Dinger steigen sollst. Ich hatte versprochen, dich abzuholen. Ja, okay, ich war spät dran, aber ich hab dir doch Bescheid gesagt. Hast du meine Nachricht nicht bekommen?«

Lucas zuckt schwach mit den Schultern. »Mein Akku ist leer, Mama.«

Sein Vater seufzt gereizt. »Herrgott noch mal, Lucas, warum bezahlen wir dir eigentlich einen Handyvertrag? Es ist jetzt schon das fünfte Mal diese Woche, dass wir dir eine Nachricht schicken und du uns erzählst, du hättest sie nicht bekommen. Mal war der Akku leer, mal wusstest du nicht mehr, wo du es hingelegt hattest – und jetzt mal ehrlich, so wie du den ganzen Tag an deinem Handy klebst, glaube ich dir kein Wort und …« Er spricht den Satz nicht zu Ende, runzelt die Stirn. Jetzt, da er darüber nachdenkt, fällt ihm auf, dass er Lucas schon eine Weile nicht mehr mit dem Handy in der Hand gesehen hat. Er hat nicht genau darauf geachtet, weil er selbst oft am Tisch twittert. Denn wie sein Sohn ist auch er meist nicht wirklich anwesend.

»Sag mal, wo ist dein Handy eigentlich?«

Mit der Gabel zieht Lucas Furchen durch den Kartoffelbrei, der auf seinem Teller kalt wird. Sie sitzen alle drei am Esszimmertisch, während nebenan im Wohnzimmer stumme Bilder eines Krieges irgendwo auf der Welt über den riesigen Flachbildfernseher flimmern.

Sein Vater kleckert Soße auf die Tischdecke, die seine Frau sorgfältig auf den Ikea-Tisch gelegt hat.

»Sébastien, pass doch auf, Mensch, das gibt Flecken!«

»Entschuldige, Schatz.«

Er betrachtet Lucas nachdenklich. »Erzähl mir nicht, dass es dir schon wieder geklaut wurde!«

»Hm.«

Sébastien mustert seinen Sohn streng. »Was soll das heißen ›Hm‹? Hör auf, dir zu überlegen, was du antworten sollst. Also, ja oder nein? Hat man es dir geklaut oder nicht?«

»Es ist abgeschmiert. Muss es erst mal zurücksetzen.«

Seine Mutter verdreht die Augen: »Und das sagst du uns jetzt! Warum hast du so lange gewartet? Wie hast du’s bloß mehrere Tage lang ohne dein geliebtes Handy ausgehalten? Es geschehen noch Zeichen und Wunder!«

Lucas legt seine Gabel neben den Teller mit dem mittlerweile kalten Kartoffelbrei.

»Hahaha! Ich lach mich tot, Mama.«

Sébastien schlägt mit der Faust auf den Tisch und Lucas denkt sich, dass seine Eltern doch wirklich die reinsten Witzfiguren sind.

»So redest du nicht mit deiner Mutter! Und dein Handy bringst du sofort nach dem Abendessen wieder zum Laufen, damit wir nicht umsonst für den Vertrag bezahlen.«

»Mann, Papa, reg dich nicht so auf, es gibt Schlimmeres! Und wenn du mich fragst, ist es sowieso tot. Dann müssen wir halt ein neues kaufen oder gleich ein Tablet, ich hab ja noch keins.«

»Sonst noch was, Lucas? Na schön, wenn das so ist, dann setzen wir es sofort zurück. Ich habe deine beschissene Einstellung so was von satt.«

Noch im Sprechen steht Lucas’ Vater auf. Er zeigt auf die Treppe, die nach oben zu Lucas’ Zimmer führt.

Seine Mutter protestiert vergeblich: »Können wir nicht wenigstens erst mal fertig essen?«

Aber es ist schon zu spät. In der Luft liegt zu viel Testosteron. Der Streit eskaliert zu einem offenen Konflikt zwischen Leit- und Jungwolf.

»Also, los!«, befiehlt Sébastien.

Genervt schiebt Lucas seinen Teller weg. Er schlurft seinem Vater hinterher wie ein zum Tode Verurteilter auf dem Weg zur Hinrichtung. Câlin, der dreibeinige Kater, hinkt ihnen hinterher. Schnurrend schmiegt er sich an die Waden seines Herrchens.

Lucas’ schuldbewusster Blick entgeht seinem Vater nicht. Als er die Tür aufmacht, sagt er: »Du verschweigst mir doch was.«

Von der allgemeinen Unordnung einmal abgesehen, würde man nicht meinen, dass das säuerlich riechende Zimmer einem Teenager gehört. Keine Poster an den weißen Wänden. Eigentlich gar nichts an den Wänden, nur kahles Weiß. Sogar die Deckenbalken sind auf Lucas’ Wunsch weiß gestrichen. Ansonsten ist da nur ein ungemachtes, völlig zerwühltes Bett. Schmutzige Socken auf dem Boden. Auf einen Haufen geworfene Klamotten. Einzelne herumliegende Turnschuhe. Der Korb des Katers, den dieser verschmäht. Stattdessen springt er sofort auf die zusammengeknüllte Bettdecke und legt dabei trotz seines fehlenden Beins eine erstaunliche Geschicklichkeit an den Tag. Sein Katzenklo ist blitzblank.

Auf dem Linoleumboden steht ein Drucker und aus den offen stehenden Schubladen einer Kommode quellen T-Shirts und Hosen. Es fliegt nicht einmal genügend Technikkram herum, als dass man vom Zimmer eines Computerfreaks sprechen könnte. Nur eine Lampe, Schulsachen und drei leere Colaflaschen.

»Hier drin stinkt’s zum Himmel! Schon mal was von Lüften gehört?«

Lucas’ Vater dreht sich zu ihm um und wuschelt ihm durch die fettigen Haare, die ihm am Schädel kleben. Lucas weicht reflexartig zurück.

»Sag mal, Lucas, duschst du ab und zu auch mal? Du müffelst, mein Freund. Nur weil du stundenlang vor deinem Computer hockst, heißt das nicht, dass du nicht schwitzt.«

Plötzlich fällt sein Blick auf den Schreibtisch, auf dem der Laptop komplett ausgeschaltet und nicht einmal im Stand-by-Modus ist.

»Sorgst du dich auf einmal um die Umwelt? Seit wann schaltest du deinen Computer ganz aus?«

Wenn es ums Energiesparen geht, kennt sein Vater keinen Spaß. Eine Frage der Überzeugung. Er ist sehr umweltbewusst und kann es nicht ausstehen, wenn alle möglichen elektronischen Geräte ununterbrochen laufen. Ohne auf Lucas’ Antwort zu warten, spricht er weiter: »Also, fährst du ihn wieder hoch?«

Da sich sein Sohn nicht vom Fleck rührt, macht er einen entschiedenen Schritt nach vorne und tut es selbst. Die Bewegung reißt Lucas aus seiner Teilnahmslosigkeit.

»Warte, Papa. Er … er ist auch abgestürzt.«

Sébastien stutzt. »Das ist ja die reinste Epidemie. Was zum Henker hast du angestellt?«

»Nichts, keine Ahnung. Hab mir wohl nen Virus eingefangen.«

»Hast du dir in letzter Zeit Filme von einem Streaming-Dienst heruntergeladen?«

»Nee, also, vielleicht … weiß nich mehr.«

Bei diesem halben Geständnis muss Sébastien schmunzeln und legt seinem Sohn eine Hand auf die Schulter. Lucas schüttelt sie genervt ab.

»Ist nicht schlimm, Lucas, das machen wir doch alle. Sogar ich. Aber du solltest aufpassen. Weißt du was? Morgen nehme ich den Laptop und das Handy mit zur Arbeit. Jérôme bringt das alles wieder in Ordnung und installiert dir im Handumdrehen eine vernünftige Firewall. Das hätten wir schon längst machen sollen.«

Sébastien will nach dem Laptop greifen, als Lucas einen Schritt zur Seite macht und sich seinem Vater in den Weg stellt.

»Ist nicht nötig, Papa. Ich krieg das alleine hin.«

»Und warum hast du’s dann nicht gemacht? Du hängst die ganze Nacht vor dem Computer und den ganzen Tag am Handy und auf einmal interessiert dich das alles nicht mehr? Was ist hier eigentlich los?«

»Ja, aber … ich hab schon einen Kumpel gefragt. Er freut sich drauf, mir zu helfen. Der ist sicher beleidigt, wenn …«

»Okay, das reicht jetzt. Ich arbeite schließlich nicht umsonst in einer Computerfirma. Zwar nur im Vertrieb, aber trotzdem bin ich kein Idiot, Lucas. Damit dein Handy und dein Laptop abstürzen, musst du dir was richtig Fieses eingefangen haben. In meiner Firma gibt es kompetente Leute. Jérôme zum Beispiel. Er wird sich sehr gerne darum kümmern. Ende der Diskussion.« Er geht um seinen Sohn herum und nimmt den Laptop. »Gib mir auch dein Handy.«

2

Am darauffolgenden Tag. Firma Eurosoft, Chartres

Sébastien hat gerade einen lukrativen Ausrüstungsvertrag mit einem Tochterunternehmen des Kosmetikkonzerns Guerlain abgeschlossen und ist sehr mit sich zufrieden. Nachdem mehrere Kosmetikfirmen in die Stadt gezogen sind, ist die Wirtschaft dort sofort wieder angesprungen. Das hat ihr den Beinamen Cosmetic Valley eingebracht, ihren Ruf als dörfliche, etwas spießige Stadt aufpoliert und sie direkt ins 21.Jahrhundert katapultiert.

Dank des wirtschaftlichen Booms hat auch Marie eine Anstellung bekommen, und zwar in der Buchhaltung von Fragrance Productions, einem Parfümerieunternehmen auf der anderen Seite der Stadt, nicht weit vom Großmarkt Métro. Sébastien und Marie mussten zwar ein zweites Auto kaufen, aber mit ihrem doppelten Gehalt können sie problemlos den Kredit für das Haus zurückzahlen, das sie vor zwei Jahren gekauft haben. Sébastien kann sogar den ganzen Anzeigentext immer noch auswendig aufsagen: Großartiges Angebot, 190.000Euro, Schulen, Geschäfte und Bahnhof vor Ort, bezauberndes Haus, 4Zimmer einschließlich Wohnzimmer, voll ausgestattete Einbauküche mit Essbereich, 3Schlafzimmer, Badezimmer mit Toilette, Arbeitszimmer im Dachgeschoss. Reversible Wärmepumpenheizung. Eingezäunter Garten mit Nebengebäude und Carport, alles auf 319 m².

Das lässt er sich auch nicht nehmen, wenn er von ihrer ersten Besichtigung der Immobilie erzählt, in die sie sich auf den ersten Blick verliebt haben. Sogar Lucas war begeistert. Ganz in der Nähe war der Tennisverein, dem er mit ein bisschen gutem Zureden seiner Mutter sofort beigetreten ist. Und das Haus ist wirklich kein Vergleich mit der Wohnung in dem Pariser Vorort, wo er aufgewachsen ist und die viel zu laut und zu klein war. Für Marie hat Sébastien der Form halber den Preis ein wenig heruntergehandelt, um zehntausend Euro. Sie sind mitten im Winter im Schneegestöber eingezogen und haben zwischen den Einzugskartons mit Champagner angestoßen.

Sébastien schwelgt noch in dieser Erinnerung, als das Telefon auf seinem Schreibtisch klingelt. Er schreckt auf und hebt energisch ab: »Sébastien Delveau, guten Tag. Was kann ich für Sie tun?«

»Seb? Ich bin’s, Jérôme.«

»Jérôme! Und, bist du fertig? Hast du Lucas’ Geräte wieder zum Laufen gebracht?«

»Ähm, du solltest dir das mal anschauen …«

»Was ist los?«

»Das kann ich dir nicht am Telefon sagen.«

3

Als er Jérômes Tonfall hört, schrillen bei Sébastien alle Alarmglocken. Er beobachtet die anderen Vertriebsmitarbeiter durch die Plexiglaswände des Großraumbüros. Die meisten sind in Gespräche mit Kunden oder Lieferanten vertieft. Er steht auf. Beim Aufzug angekommen, drückt er auf den Abwärts-Knopf, betritt den Lift und fährt in den zweiten Stock, während er sich die ganze Zeit fragt, was Jérôme wohl entdeckt haben könnte. Jérôme Loison ist nicht nur ein Arbeitskollege. Vor zwanzig Jahren haben sie zusammen Abitur gemacht. Danach ist Sébastien nach Paris gezogen, um zu studieren. Im ersten Semester Jura hat er Marie kennengelernt. Auch wenn solche Uni-Liebschaften selten lange halten, sind sie trotz Maries labilen Gesundheitszustands, der zu zahlreichen Aufenthalten in Fachkliniken geführt hat, zusammengeblieben.

»Eine Depression«, hat der Psychiater ihnen beim ersten Mal mitgeteilt.

Kurz nach Lucas’ Geburt ist sie wochenlang in einer Klinik gewesen, und als er in die Grundschule gekommen ist, hat sie einen Rückfall gehabt. Diesmal war sie sogar noch länger krankgeschrieben. Der Arzt hat Sébastien erklärt, was über Depressionen bekannt ist, auch wenn es nicht viel war. Ein chronisches Leiden, bei dem niemand mit Bestimmtheit sagen könne, ob die Ursache dafür ein Enzymmangel, Vererbung oder gar ein traumatisches Erlebnis sei, wenn nicht gleich eine Mischung aus allen drei Faktoren. Es stehe nur fest, dass man dieses Leiden genau im Auge behalten müsse. Nicht wenige Patienten würden sich das Leben nehmen. Marie bekam Antidepressiva verschrieben. Doch auch die Medikamente konnten nicht verhindern, dass sie lange Zeit jeden Morgen nach dem Aufwachen heftige Weinkrämpfe hatte und daher selten vor Mittag aufgestanden ist. Sébastien musste sich um seine kranke Frau, um die Erziehung seines Sohnes und um seine Arbeit kümmern, und mit allen drei Dingen auf einmal klarzukommen, war alles andere als einfach.

Als wolle er mildernde Umstände geltend machen, wird er dem Richter später erklären, dass Marie, als Lucas sich in der Schule mit Masern angesteckt hat und mit vierzig Grad Fieber aufgewacht ist, nicht in der Lage gewesen sei, aufzustehen und sich um ihn zu kümmern. Bei seiner Rückkehr aus dem Büro hat Sébastien ihn zitternd, zähneklappernd und mit schweißnasser Stirn in seinem Bett vorgefunden, während Marie – von Schlaftabletten außer Gefecht gesetzt – tief und fest in ihrem Zimmer schlief. Er hat den Rettungsdienst angerufen und alles ist gut ausgegangen, aber in der Notaufnahme hat man ihm erklärt, dass Lucas schwere Folgeschäden hätte davontragen können. Nach diesem Vorfall hat Marie drei Monate in einer psychiatrischen Einrichtung verbracht. Völlig mit den Nerven am Ende war Sébastien kurz davor, die Scheidung einzureichen. Aber Maries Zustand hat sich verbessert. Sie haben diese Krise überwunden und letztes Jahr ganz romantisch ihren Vierzigsten zu zweit gefeiert.

Ohne auf die schmalzige, aus einem Lautsprecher triefende Bossa-Nova-Musik zu achten, steigt Sébastien aus dem Aufzug und betritt einen mit Kabeln, ausgehöhlten Computertürmen und geöffneten Festplatten vollgestellten Gang. Trotz der Ventilatoren jagen die Rechner in Jérômes Büro die Temperatur in die Höhe, hier sind es bestimmt an die fünfundzwanzig Grad. Jérôme, der ein blaues T-Shirt mit der Aufschrift I’m not a geek, I’m a level 9 warlord trägt, schaut konzentriert auf einen Bildschirm, der ihn teilweise verbirgt und von dem Sébastien nur den schwarzen Plastikrücken sieht. Im Licht der Leuchtstoffröhren bemerkt er, dass sein Freund dunkle Schweißflecken unter den Achseln hat. Von dort, wo er steht, kann er sein Gesicht nicht sehen.

»Schau dir das an«, sagt Jérôme mit tonloser Stimme.

Sébastien tritt um den Schreibtisch herum und stellt sich hinter ihn. Von dort hat er einen guten Blick auf ein Foto von Lucas, das den ganzen Bildschirm füllt und offenbar vor zwei oder drei Jahren aufgenommen worden ist.

Zu dem Zeitpunkt kann sein Sohn gerade einmal vierzehn Jahre alt gewesen sein. Lucas steht nackt, mit herunterhängenden Armen und zur Kamera gewandt in seinem Zimmer in der alten Wohnung in Bagneux. Er starrt ins Objektiv. Seine Haut ist eingeölt. Er ist von Kopf bis Fuß rasiert und hat eine Erektion. Sébastien schluckt schwer. Er braucht einen Moment, bevor er krächzen kann: »Verdammte Scheiße … ein Pädophiler hat ihn in die Finger gekriegt.«

4

Lucas ist sechzehn und hat noch nie ein Mädchen zärtlich berührt oder gar geküsst. Und schon gar nicht mit einem Mädchen geschlafen. Aber er hat Zehntausenden Menschen aus aller Welt dabei zugesehen, wie sie es in allen möglichen Stellungen und allen möglichen Kombinationen miteinander tun. Ein Mann mit einer Frau, eine Frau mit einer Frau, ein Mann mit einem Mann, mehrere Männer (eins, zwei, drei …) mit einer Frau, mehrere Frauen (eins, zwei, drei …) mit einem Mann, mehrere Männer untereinander, Frauen mit Frauen, in allen möglichen Aufmachungen, von völlig textilfrei bis hin zu Kostümierungen als Sekretärinnen, Krankenschwestern, Schülerinnen, Professorinnen, Fitnessfans, Cheerleaderinnen und Putzfrauen, um nur die gängigsten zu nennen, von Reizwäsche jeglicher Art gar nicht zu sprechen. Bei den Männern hat er auch schon alles gesehen, von Bodybuilder-Pizzalieferanten über Klempner bis hin zu Gärtnern, Sportlehrern und Taxifahrern, die mit Partnerinnen und Partnern jeden Alters zugange sind.

Seinen ersten Pornofilm hat er mit elf gesehen. Darin unterscheidet er sich kaum von anderen Jungen seines Alters. Den hat er sich noch gemeinsam mit ein paar Freunden angeschaut. Genauer gesagt zu Hause bei Jérémie, seinem damaligen besten Freund in der fünften Klasse, als sie noch in Bagneux wohnten. Sie hingen an einem Mittwochnachmittag bei ihm ab und sind beim Surfen im Internet auf eine Pornoseite gestoßen.

Beim Videogucken war Lucas verlegen und ein wenig angewidert, aber auch erregt und vor allem neugierig, verwirrt und fasziniert. Wie die anderen Jungs hat er gleichgültig getan, so ganz nach dem Motto »Kenn ich doch alles schon«. Das Video zeigte eine Nullachtfünfzehn-Nummer zwischen einer Frau, die etwa so alt war wie seine Mutter, und einem jungen Kerl um die zwanzig.

»Ja, die Alten sind echt heiß«, hat Jérémie kommentiert. »Die stehen da voll drauf und wissen, wie man’s macht. Die haben richtig Erfahrung und machen’s am liebsten mit Jungs wie uns.«

Auch wenn Lucas bloß mit den Schultern gezuckt hat, konnte er am Abend nur mit Mühe einschlafen.

Das war es also? So sah das also aus? Nackte Haut, nackte Haut und noch mehr nackte Haut, Stöhnen und Seufzen und sonst nichts? Wenn das alles war, verstand er nicht ganz, warum die ganze Welt so versessen darauf war. Er hat kurz darüber nachgedacht, dass er auf diese Weise gezeugt worden ist, bevor er diese Vorstellung sofort wieder in die hinterste Ecke seines Gehirns verbannt hat, aus der sie nie hätte entkommen dürfen. Stattdessen hatte er sich gefragt, wie es wohl sein würde. Wie es sich anfühlen würde, wenn er zum ersten Mal mit einem Mädchen Sex haben und in sie eindringen würde. Zu dem Zeitpunkt war sein Interesse an Wolverine-Comics aber doch noch größer und er hat das Ganze erst einmal vergessen. Die Erinnerung an das Video, die er tief in seinem Gedächtnis vergraben hat, ist jedoch nie ganz verblasst und regelmäßig wieder an die Oberfläche gekommen. Eigentlich umso häufiger, je mehr sich sein Körper zuerst unauffällig und dann immer sichtbarer verändert hat.

Am Anfang der Sechsten haben ihm seine Eltern ein Handy und zu Weihnachten auch endlich einen Laptop geschenkt. Einen Computer ganz für sich allein.

Der Gedanke, wieder auf Pornoseiten zu gehen, ist ihm nicht sofort in den Sinn gekommen. Er hat sich eher für Webseiten über Superhelden interessiert, für die er sich schon als Kind begeistert hatte. Andere standen auf Dinosaurier, er fuhr voll auf das Marvel